Gebrauchsanweisung für Südtirol - Reinhold Messner - E-Book

Gebrauchsanweisung für Südtirol E-Book

Reinhold Messner

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Beschreibung

»Die Dolomiten sind nicht die höchsten Berge der Welt, auch nicht die gefährlichsten, aber bestimmt sind es die schönsten.« Reinhold Messner zeigt uns seine dreisprachige Heimat mit ihrer einzigartigen Dichte an Burgen, Schlössern und Museen. Er weiht uns in ihre geologischen Schätze ein, nimmt uns auf Höhenwege und in malerische Hütten mit. Geht dem Mythos um Andreas Hofer auf den Grund und dem Rätsel Ötzis, der alpines Leben in der Kupferzeit entschlüsseln half und bei den Amerikanern »Frozen Fritz« heißt. Er spürt den Seligkeiten von Bozen nach und der Frage, wie Fremdbestimmtheit und Selbstbehauptung miteinander ringen. Wir erfahren die Geheimnisse des Jodelns und der Bergfeuer, die Feinheiten der Küche zwischen Speckknödel und Spaghetti. Warum Fensterln und Frömmigkeit eng zusammengehören. Und wie der Ausgleich zwischen Freizeitvergnügen und Verantwortung für die Natur gelingen kann. Eine liebevoll-kritische Würdigung vom berühmtesten Südtiroler unserer Zeit Reinhold Messner, Südtiroler mit Leib und Seele, der vom Bauernbuben zum bekanntesten Bergsteiger der Welt wurde, ist seiner Heimat immer eng verbunden geblieben. Hier treffen Südeuropa und der Norden des Kontinents aufeinander und lebt seit jeher ein ganz eigener Menschenschlag. Reinhold Messner spürt mit kritischer Heimatliebe den Besonderheiten der Region nach – zwischen Italien und Österreich, Dolomiten und Ortler, Brenner und Meran, zwischen Ötzi und Wellness-Oasen, Fremdbestimmheit und Selbstbehauptung. Mit neuen Passagen u.a. zu Tourismus, Nachhaltigkeit und politischer Autonomie

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Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe 2023

© Piper Verlag GmbH, München 2006, 2010, 2018 und 2023

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildung: Diane Messner

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Tirolischer Reiter, verwurzelt

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

Karte von Südtirol

I

Mitten in Europa

II

Heimat aus Gottes Hand

III

Südtiroler Seligkeiten

IV

Heldenlieder

V

Bildstöcke und Wetterkreuze

VI

Macht und Medien

VII

Einödhöfe und Berghütten

VIII

Unwetter in Südtirol

IX

Heroische Landschaft

X

Wein, Weib und Gesang

XI

Das Erbe der Berge

XII

Spaghetti und Speckknödel

XIII

Heilige Gewohnheiten

XIV

Verkehr und Fremdenverkehr

XV

Mein Südtirol

XVI

Hinterm Gartenzaun

XVII

Erblast

XVIII

Zukunft

XIX

Endgültig zurück

XX

Kein Wintermärchen

XXI

Südtirol-ABC

XXII

Die Qual der Wahl

MMMDas Gesamtkonzept

Verzeichnis der verwendeten Zitate

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Motto

»Die Talbewohner von Villnöß sind verständige, arbeitsame Leute, welche die Landwirtschaft mit Auszeichnung betreiben …«

Johann Jakob Staffler

Karte von Südtirol

I

Abenteurer

»Ich frage mich, wie viele Horizonte das Land hat, den von oben gesehenen, den aus Tälern gesehenen und den innen im Stein. Ich frage mich: wie viele ungesehene Horizonte, und welcher Teil den Teil überwiegt, der offen liegt; und um wie viel in diesem offenen Teil der abseits unbekannte, kaum je von einem Blick betretene, den überwiegt, mit dem wir uns begnügen müssen und uns zurechtfinden: hier die Straße, Richtung, Einteilung des Landes auf seinem uns zugänglichen, unvollständigen Teil.«

Franz Tumler

Mitten in Europa

Wer von Berlin, Warschau oder Zakopane nach Rom fahren will – im Zug, mit dem Auto oder auf dem Fahrrad –, kommt um Südtirol schwer herum. Denn Südtirol liegt als eine Art Nadelöhr nicht nur auf dem Weg ins ehemalige Machtzentrum des antiken Europa, es liegt auch im Gebirge, im vielfältigsten Stück der Alpen, genau dort, wo der Süden Europas auf den Norden des Kontinents trifft. Dieses Land ist schon lange nicht mehr das Ende der Welt. Südtirol liegt heute mitten in Europa.

Vor mehr als 110 Jahren war das nicht anders, und das Land Tirol war ungeteilt. Damals wagte es der Lehrer Sepp Schluiferer alias Carl Techet, seine Heimat in einem geistreichen Büchlein mit dem Titel »Fern von Europa. Tirol ohne Maske« als weltfremd, undemokratisch und hinterwäldlerisch zu schildern. Er wurde in die Verbannung geschickt. Nur weil er recht hatte. Heute würde ein solches Buch womöglich gar nicht erst gedruckt. Denn in Südtirol sind Publikationen in erster Linie dazu da, um das Land zu preisen. Weder jene gut 530 000 Einwohner, die im Lande leben, noch all jene – es sind viel mehr, es sind Millionen –, die auf ihrer Urlaubsreise das lokale Bruttosozialprodukt aufbessern, sollen mehr über Land und Leute wissen als unbedingt notwendig. Gegen die Aufklärung haben schließlich schon die Schützen unter Andreas Hofer gekämpft.

Einen objektiven Ratgeber in Sachen Südtirol allerdings werden Sie auch in mir nicht finden, denn wie alle Südtiroler liebe auch ich meine Heimat. Nicht etwa, weil dies meine Pflicht wäre. Zuallererst weil sie so einzigartig ist.

Wenn ich von meinen Reisen nach Tibet, in die Antarktis oder nach Patagonien zurückkomme, empfinde ich dies in besonderem Maße. Denn aus der Ferne sieht man seine Heimat immer »schöner«. Es liegt also allein an mir, wenn meine Erwartungen beim Zurückkommen oft enttäuscht werden. Vielleicht hat mich nur diese Sehnsucht und dann der Schock, wenn das »Ideal« nicht den vorgefundenen Tatsachen entsprach, zu einem kritischen Südtiroler werden lassen. Trotzdem bin ich Südtiroler geblieben. Für mein Selbstwertgefühl allerdings brauche ich kein Vaterland und keine Heimatfahne, keine Nation und keine Revolution, auch keine Nationalhymne. Ich bin nicht stolz, Südtiroler zu sein, höchstens dankbar dafür, in diesem kleinen »Land an der Etsch und im Gebirge« groß geworden zu sein, und bereit, Verantwortung für die Zukunft dieses Landes zu übernehmen.

Als Südtiroler habe ich kein national geprägtes Selbstverständnis. Mir reicht ein lokales. Also bin ich weder Italiener noch Österreicher oder Deutscher. Ich bin Südtiroler, als solcher italienischer Staatsbürger, auch Europäer und ein bisschen Weltenbürger. Bin ich doch viel auf diesem Planeten herumgekommen. Vor allem dort, wo die Erde wild geblieben ist: in den Sand- und Eiswüsten, in den großen Gebirgen und auf menschenleeren Hochflächen. Das Überleben war dort oft das einzige Problem.

Leicht hat man mir das Leben auch daheim nicht gemacht. Denn als moderner Nomade war ich rasch zum heimatlosen Gesellen abgestempelt, gar zum Egomanen, zum Nestbeschmutzer auch, weil ich vergessen hatte, die Heimatfahne am Gipfel des Everest zu hissen. Als gelte die Selbstbestimmung, die wir Südtiroler unentwegt fordern, nur im Kollektiv, nicht für den Einzelnen.

Trotz alledem aber bin ich Südtiroler geblieben. Auch werde ich immer wieder in dieses Land zwischen Ortler und Dolomiten, zwischen Brenner und Salurn zurückkehren. Ich habe vor hierzubleiben. Nicht nur, weil ich mit meinem Bergmuseum endlich eine Chance erhalten habe, mich auch hier auszudrücken, meine Erfahrungen einzubringen, vor allem, weil ich kein lebenswerteres Fleckchen Erde in Mitteleuropa kenne. Zwischen Weinreben und Gletscherfirn, zwischen Dörfern und Höfen sind es gerade dieses Landschaftsbild, dieses Licht, dieser Menschenschlag, die zu mir gehören. Dieses mir Eigene, das Lokale, das Unsere ist es, das mir Heimat bedeutet. Ja, ich stehe zu Südtirol, dieser kleinen Provinz, und ich bin überzeugt davon, dass es vor allem das Provinzielle ist – sollten wir es bewahren können –, das uns Südtiroler in einer globalisierten Welt auszeichnet und bestehen lässt. Meine Lieblingshütten will ich hier indessen nicht nennen; sie sollen nicht zu überlaufenen Hotspots werden. Aber es gilt: Je weiter weg von der Straße, desto ruhiger und desto größer der Erholungswert.

 

Vor 5300 Jahren, als sich ein fellbekleideter Mann in den Ötztalern, einen Steinwurf weit vom Alpenhauptkamm entfernt, zum Sterben niederlegte, gab es weder nationale noch regionale Grenzen. Die Menschen lebten als Halbnomaden und zogen sommers, Steinböcke jagend und Beeren sammelnd, mit ihren domestizierten Tieren umher. Im Frühling ging es bergwärts, im Herbst talwärts. An ihren Winterplätzen, wo sie Hirse und Gerste anbauten, blieben sie nur ein paar Monate lang. Dort, in festen Behausungen, wurden Kraxen, Hausrat, Waffen und Kleider ergänzt, alles, was sie zum Überleben brauchten, wenn sie im Sommer wieder auf die Weideflächen über der Waldgrenze zogen, wo die Tiere stark und widerstandsfähig für die harten Winter wurden. Diese späten Steinzeitmenschen wussten nichts von Vitaminen und Mineralien. Sie teilten sich ihr Territorium, das sie in Tagesmärschen ausmaßen, mit anderen Sippen und gehorchten den Gesetzen der Natur. Ihre Religion entsprach der Natur draußen, der Menschennatur und dem Lauf der Gestirne.

Wir wissen nicht, wie der Mensch, den wir heute Ötzi oder Similaunmann nennen – für die Amerikaner heißt er Frozen Fritz –, in einen Hinterhalt geriet. Auch nicht wann und wo. Ausgekannt allerdings hat er sich gut zwischen den Fernern und Felsen hoch oben über der Baumgrenze. Er ist wohl ein Stück weit geflohen – nach überstandenem Nahkampf, angeschossen, die Pfeilspitze im Rücken, am Schulterblatt. Ob er an seinen Verletzungen, an Schwäche oder an Unterkühlung gestorben ist, muss vorerst offenbleiben. Jedenfalls hatte er alles bei sich, was ein Halbnomade damals so brauchte: Kupferbeil, Bärenfellmütze, Messer, Pfeile, bestens isolierte Schuhe und einen noch unfertigen Langbogen.

Als man ihn 1991 am Hauslabjoch in Südtirol aus dem Eis pickelte, entschlüsselte sich der Wissenschaft das alpine Leben in der Kupferzeit. Heute ist die Eisleiche weltberühmt. Gewebeproben des ausgetrockneten, spindeldürren Körpers, mit einer Haut wie gegerbt, wurden von Wissenschaftlern rund um den Globus angefordert. Sein Mageninhalt, sein Stuhl, seine Tätowierungen wurden untersucht, seine Lebensweise studiert. Diese Mumie ist inzwischen Forschungsobjekt und Ausstellungsstück zugleich, sie wird weiter untersucht, beschrieben und ausgestellt. Ihre Zelle im großzügig gestalteten Archäologiemuseum in der Bozener Altstadt ist ein- und ausbruchsicher, bestens isoliert und offensichtlich anziehender als jeder Reliquienschrein. Denn Ötzis Anblick lässt niemanden kalt. Auch wenn er den meisten Museumsbesuchern einen kalten Schauer ins Herz jagt. Obwohl Temperatur und Luftfeuchtigkeit nur in der Zelle konstant wie im Gletschereis gehalten werden. Das kleine Guckloch, durch das Millionen einen Blick geworfen haben, besteht aus acht Zentimeter dickem Panzerglas. Niemand allerdings fragt sich: Ob sich Ötzi auch jodelnd unterhalten hat? Wie die Südtiroler es heute noch tun, wenn sie von Bergkamm zu Bergkamm rufen. Aber das Einsteigen in fremde Behausungen, »Fensterln« genannt, gehörte sicherlich schon damals zum männlichen Vorspiel im Sexualverhalten! Denn es gibt seit alters her sonderbare Verhaltensmuster der Gebirgler. Auch seltene Krankheitsbilder. Wie das »Ausrichten«, die schlechte Nachrede hinterm Rücken des Betroffenen zum Beispiel. Vermutlich waren die Regeln des menschlichen Zusammenlebens vor gut fünftausend Jahren lockerer als jene in einem modernen Südtirol, wo fast alles verboten ist, was Bürokraten der EU in Brüssel und das Heer von Beamten in Rom oder Bozen nicht ausdrücklich erlaubt haben.

Ötzi hat seine Tiere noch selbst geschlachtet, das Fleisch zerlegt, gekocht oder gebraten und zuletzt mit den Seinen verspeist. Für den Selbstgebrauch ist diese Vorgehensweise bei uns heute noch erlaubt. Will ich das Öko-Fleisch vom eigenen Hof aber Gästen, die vorbeikommen, vorsetzen, brauche ich neben einer Gasthauslizenz ein Schlachthaus, das EU-konform sein muss und damit mehr kostet, als ein Hof in einer Generation abwirft. Die EU-Regeln erlauben das Schlachten und Vermarkten am eigenen Hof zwar ohne besondere Auflagen, Rom duldet es, Bozen aber hat so strikte Regelungen erlassen, dass dem professionellen Schlachter mindestens ein Rechtsanwalt und ein Verwalter zur Seite gestellt werden müssten, will er als Öko-Bauer nach einer Hofschlachtung straffrei bleiben. Die Tiere in ein gemeinschaftliches Schlachthaus zu liefern, was Stresshormone im Fleisch zur Folge hat, bedeutet zwar weniger Sorgen, verursacht aber viel mehr Kosten, als das Tier auf dem freien Markt wert ist. Weil die allermeisten Bauern aber Subventionsempfänger sind, dulden sie diese gesetzlichen Regelungen aus der Landeshauptstadt und sind still.

Nur was der Papst sagt, nimmt kaum jemand mehr ernst. Auch wenn ihn in seiner Weltfreundlichkeit alle beklatschen. Das bringt die Popkultur so mit sich, die inzwischen Berg und Alm, Vatikan und Kirche gleichermaßen erobert hat.

Jedem Land, jedem Sender, jeder Sekte ihre Stars. Wir Südtiroler haben Ötzi. Dabei wissen wir nicht einmal, ob Ötzi ein neolithischer Häuptling, eine Art Clanchef also, ein Schamane oder ein Händler gewesen ist. Nein, wir wissen es nicht wirklich. Vielleicht war er ja auch nur unterwegs, um nach seinen Schafen zu sehen. Er war tätowiert, besaß wohl heilende Fähigkeiten, denn in seinem Medizinbeutel fand man einen bewusstseinsverändernden Pilz. Hexen aber konnte er so wenig wie spätere Generationen von Südtirolern. Auch zaubern nicht. Er kannte sich nur gut aus in seinem Gebirge. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass auch er schon das heutige Hoch- oder Niederjoch als Übergang über den Alpenhauptkamm gewählt hat, ehe er irgendwo hoch oben im Gebirge in einen Hinterhalt geriet. Was in den letzten Stunden im Leben des Eismannes dann geschah, bleibt ein unaufgeklärter Mordfall, ein »Steinzeitcrime«, zu dem die Wissenschaft zwar immer neue Indizien, aber keinerlei Beweise liefern kann. Dass es Mord war, ist klar. Die Pfeilspitze in Ötzis Schulter und Blutspuren von vier Menschen an seinen Kleidern und Waffen sind Beweise genug. Der alte Mann – immerhin 47 – muss sich also mächtig gewehrt haben. Dann ist er wohl geflohen. Dorthin, wo er sich verstecken konnte? Dorthin, wo sich seine Verfolger nicht auskannten? Dorthin, wo er sie abschütteln konnte? Zwischen Hoch- und Niederjoch gibt es nur diesen einen Fluchtweg über den Gletscher, den Übergang, den Ötzi gewählt hat. Kein Problem für einen Steinzeitbergsteiger. Auch vor 5300 Jahren nicht. So vereist, wie es heute ist, würde auch ich mich dort aus dem Staub machen, wenn ich in Bedrängnis geriete. Nein, Ötzi hat sich nicht im Gebirge verlaufen, er hat seine Kenntnisse von den Bergen zur Flucht nach vorne genutzt. Wie wir Südtiroler es heute noch tun.

Hinterhältigen Mord gab es also zu allen Zeiten. »Im Land an der Etsch und im Gebirge« ebenso wie im Zweistromland oder in den zentralasiatischen Steppen. Auch in unseren Bergen ersannen die Menschen folglich Möglichkeiten des Entkommens, der Verteidigung und der Abgrenzung. Berge sind schließlich keineswegs nur als hoch gelegene Weide- und Jagdgründe zu gebrauchen. Bereits Jahrtausende vor dem Zeitalter der Nationen und Nationalismen muss es also im hiesigen Gebirge so etwas wie ein lokales Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben haben, das später in Freiheitskämpfen, Sonderrechten – über Jahrhunderte hinweg zusammen mit dem Rest von Tirol – und einem selbstbewussten Bauernstand seinen Ausdruck gefunden hat. Kein Wunder, trotz verbreiteter Armut und zeitweise vernachlässigt von den Habsburgern, blieb der Großteil der Südtiroler bis zum Ersten Weltkrieg kaisertreu, bodenständig und konservativ. Dann erst geriet das dreisprachige Land, das zu keiner »Kulturnation« passen wollte, in den Sog nationalstaatlicher und nationalistischer Auseinandersetzungen, deren Folgen bis heute nachklingen. Erst ein wachsendes Europabewusstsein hat Südtirol zur Brücke zwischen Süd und Nord, uns Südtiroler zu einem lebendigen Teil im Gärteig des Europa der Vielfalt werden lassen. Südtirol ist heute zugleich Grenzregion und Kontaktzone zwischen dem deutschen und dem italienischen Kulturraum. Bei inzwischen offenen Grenzen sind wir Südtiroler dabei, uns zu positionieren, unsere Nische, unseren Stellenwert zu finden. Dass dabei immer wieder Abgrenzung und Vereinnahmung, Selbstbehauptung und Fremdbestimmung hochkochen, ist wohl normal in einem Land, das erst seit zwei, drei Generationen eine klare territoriale Eingrenzung kennt.

 

Auch weil Südtirol im Norden des Brenners Jahr für Jahr zur österreichischen »Herzensangelegenheit« erklärt wird, verstummen die Forderungen nach Wiederherstellung der Landeseinheit im Süden des Brenners nicht mehr. Dazu immer diese Bitte um Schutz. Auch wenn die Vision eines »Europa der Regionen« an Strahlkraft verliert, die politische und kulturelle Eigenständigkeit des autonomen Südtirol wäre stark genug, um seine Kinderkrankheiten zu überstehen.

Zum Beispiel die Toponomastik. 2010 kam es wieder zum Streit zwischen staatlichen Behörden und Südtiroler Landesregierung, weil der Südtiroler Alpenverein mehr als 30 000 nur deutschsprachige Wegweiser aufgestellt hatte. Der Landtagsabgeordnete der SÜD-TIROLER FREIHEIT, Sven Knoll, warnte lautstark davor, das Militär nach Südtirol zu schicken, auf dass dieses alle deutsch- und ladinischsprachigen Hinweisschilder entfernt, wie angedroht. Dies sei eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.

»Nicht auszudenken, was passieren kann, wenn bewaffnete Militäreinheiten durch die Wälder Südtirols streifen und es zu Auseinandersetzungen mit Bürgern kommt, die gegen dieses Vorhaben protestieren, oder sich die Eigentümer von Privatgrund weigern, die auf ihrem Grund befindlichen Hinweisschilder zu entfernen.

Wenn Italien seine Drohungen wahr macht, ist damit nicht nur die Autonomie am Ende, sondern auch der Schutz der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung.

Auf erschreckende Art und Weise wird der Bevölkerung vor Augen geführt, mit was für einem Staat man es mit Italien zu tun hat, der zur Durchsetzung seiner nationalistischen Politik sogar vor militärischen Initiativen in Südtirol nicht zurückschreckt.

Angesichts derart besorgniserregender Entwicklungen ist die Einschaltung der Schutzmachtfunktion Österreichs absolut notwendig. «

Nun, Südtirol ist seit 1919 Teil von Italien, und auch die Italienisch sprechenden Südtiroler haben das Recht, sich im Land anhand von italienischen Hinweisschildern zu orientieren. Deswegen müssen nicht, wie es während des Faschismus leider passiert ist, Eigennamen ins Italienische übersetzt werden. Aber wir Deutsch sprechenden Südtiroler dürfen die Landeshauptstadt auch weiterhin Bozen nennen, obwohl die Mehrheit in dieser Stadt von Bolzano spricht. Toleranz, Augenmaß und die Kunst des Miteinander sind in diesem Zusammenhang gefordert und nicht das alte »nationale« – oder Kirchturm-Denken: »Siamo in Italia« und »Mir sein mir«. Schließlich leben wir von einem internationalen Tourismus und sind stolz auf unsere Mehrsprachigkeit.

Die Autonomie, die alle drei Südtiroler Sprachgruppen schützt, garantiert dem Land heute weitgehende Selbstverwaltung in Italien und im Rahmen der EU. Ob diese Südtirol-Autonomie allerdings zum Modell für andere Minderheiten wird, hängt zuletzt wohl davon ab, wie weit sich die drei Sprachgruppen mit ihrer gemeinsamen Verwaltung identifizieren können. Selbstbestimmung garantiert nicht nur Rechte, sie ist auch Verpflichtung. Ich gehöre gerne dazu und verteidige wo auch immer unsere Autonomie. Meinen starken Drang zu einem selbstbestimmten Leben allerdings will ich für das Dazugehören nicht opfern müssen. Deshalb werde ich als Südtiroler weiterhin für mehr Südtiroler Selbstverständnis, für mehr Autonomie des Einzelnen und vor allem für den Erhalt unserer einmaligen Landschaft streiten.

Ich bin in diesem Land nicht nur deshalb auf Widerstände gestoßen, weil dieses Land von Tälern zerfurcht, von Wildbächen durchflossen und von schroffen Bergen umstanden ist. Es waren immer wieder Monopole – Verwaltungsmonopol, Sammelpartei, Medienmonopol –, die versuchten, sich das Land zur Beute zu machen. Dabei gehört Südtirol uns allen gemeinsam, vor allem jenen, die bereit sind, die Verantwortung für das Morgen zu übernehmen. Denn unser Reichtum ist schnell verspielt, wenn wir im weltweiten Wettbewerb unser Südtiroler-Sein, unsere Landschaft und unsere persönliche Autonomie dem billigen und schnellen Erfolg opfern. Und damit meine ich auch und vor allem die Selbstbestimmung des Einzelnen. Ob wir dabei Dichter, Handwerker oder Bergbauern sind, bleibt sekundär.