Gefangener der Zeitschleife - Steve Lee - E-Book

Gefangener der Zeitschleife E-Book

Steve Lee

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Beschreibung

Die aufwühlenden Erlebnisse eines Zeitreisenden Lars Gauder lebte bis zu seinem 17. Lebensjahr in Afrika bei den Zulus. Diese Zeit prägte ihn sein ganzes Leben und er blieb sein ganzes Leben ein Zulu. Nach seinem Studium wurde er mit 27 Jahren dem Kriminalhauptkommissar Niclas Wanger zugeteilt. Zwischen ihnen entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Den Mord an einer jungen Syrerin konnten sie nicht mehr aufklären. Bei einem Jagdausflug im Schwarzwald schlug die Zeitschleife zu und beide wurden 2018 in das Jahr 1871 katapultiert. Gauder und Wanger irrten durch ein fremdes, trostloses menschenleeres Land ohne zu wissen, wo sie sich befanden. Nach Tagen der Ungewißheit mußten sie das Unvorstellbare als Wahrheit akzeptieren. Sie befanden sich im Wilden Westen. Am Ende ihrer Kraft stießen sie auf einen Siedlertreck und konnten sich diesem anschließen. Gauder begegnete der 25-jährige Maria Hansen, der Tochter des Treckführers Friedrich Hansen und verliebte sich unsterblich in sie, wohl wissend, dass sie nur ein Schatten der Vergangenheit war. Die Liebe zu Maria ließ ihn verzweifeln. Er durfte sie nicht lieben, konnte sich von ihr jedoch nicht lösen. Der Treck erreichte den Ort Homeland, der von einem früheren Konferierten General mit bestialischer Hand beherrscht wurde. Er und sein Freund gründeten mit den Homelandern den Widerstand. Nach Monaten des Kampfes um Homeland wurden beide ohne Zeitverlust in das Jahr 2018 zurückgeschleudert, führten sechs Jahre ihre Kriminaltätigkeit wieder weiter. Gauder konnte Maria nicht vergessen, trotzdem sie schon lange nicht mehr lebte. Unerwartet schlug die Zeitschleife schlug wieder zu und beförderte beide in das Jahr 1877 zurück. Es folgten glückliche Jahre und Lars betete, dass er von Maria und ihrem Sohn Tom nicht mehr getrennt wird. Durch ein Ereignis wird er aus der Bahn geworfen, wird zu einen hasserfüllten Berserker und Mörder. Marias Liebe zu ihm hatte den Scheideweg erreicht. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, schlug die Zeitschleife erneut zu und versetzte Lars Gauder in das Jahr 2034. Er zog sich in die Einsamkeit von Irland zurück und schrieb in einer zerfallenden Hütte seine Biografie nieder.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Das letzte Kapitel

Prolog

Ausgestoßen

Ich saß auf einem Felsen, blickte auf das stürmische Meer, auf die Brandung und die haushohen Wellen, wenn diese mit ohrenbetäubendem Krachen gegen die vorgelagerten Felsbrocken schäumend zerplatzten. Der Sturm mit seinem Heulen ließ in mir Erinnerungen wach werden, die mich in den Abgrund stießen. Der Sturm und die Meeresbrandung waren zu stark, als das meine Verzweiflungsschreie auf dem Meer wahrgenommen werden konnten. Meine Erlebnisse, die einer teuflischen Fantasie entsprungen zu sein schienen, hatten mich zum einsamsten Menschen gemacht.

Ich war alleine. Niemand wollte meinen Erlebnissen Glauben schenken. Niemand wollte an Zeitverschiebungen glauben. Niemand an die ZEIT, die wie ein Film vorwärts oder rückwärts gedreht werden konnte.

Der Sturm nahm an Heftigkeit weiter zu und steigerte sich zu einem Orkan. Die dunklen Wolken hatten sich zu einer schwarzen Wand zusammengeballt, aus der immer öfters Blitze zuckten und die Umgebung in einem grellen Gold erstrahlen ließen. Schlagartig entluden sich die Wolken mit einem starken Regenguss. Ich rannte gegen den Sturm ankämpfend zu meiner 500 Meter entfernt stehenden Holzhütte und war froh, als ich die Tür hinter mir schloss. Nachdem ich mich meiner nassen Kleidung entledigt hatte, warf ich mich auf das alte Sofa, das bei jeder Bewegung ein quietschendes Geräusch verursachte.

Ich war Gefangener einer Zeitschleife geworden, die mich immer wieder in eine andere Zeitepoche katapultierte. Niemand hatte mir geglaubt. Stattdessen wurde mir nur ein mitleidiges Lächeln entgegen geschleudert. Darüber wollte ich jetzt ein Buch schreiben und hatte die leise Hoffnung, dass man es nicht nur als einen Science Fiktion Roman abtat.

Ich erhob mich von meinem Sofa und schaute durch das kleine Fenster. Die Dunkelheit und die schnell aufeinander folgenden Blitze ließen mich erschaudern und ich wurde daran erinnert, wie alles begann. Ich ging erregt in der Hütte auf und ab, bis ich mich wieder auf das heruntergekommene Sofa setzte. Ich musste an meine Kindheit denken, meine Kindheit in Zululand. Es war eine wunderbare Zeit. Erst als ich 10 Jahre alt wurde, erfuhr ich von meinem Vater, warum wir in Zululand lebten.

Mein Vater Manfred Gauder war ein berühmter Arzt, meine Mutter Lisa Gauder eine bekannte Chirurgin. Sie hatten sich während des Studiums kennengelernt. Es war 1980, als sie nach Südafrika zu einer Ärztetagung flogen. Die Maschine flog durch starke Turbulenzen und als der eine Propeller ausfiel, versuchte der Pilot eine Notlandung, die Maschine zerschellte jedoch an einem Felsen und brach auseinander. Von den 35 Passagieren überlebten nur meine Eltern und der Copilot Cramer. Wie durch ein Wunder hatten mein Vater und Cramer nur starke Schürfwunden. Meine Mutter hatte neben einer starken Kopfverletzung den linken Fuß verstaucht.

Die Lage schien aussichtslos, als sie aus der Maschine herauskrochen. Vor ihren Augen erblickten sie eine Einöde, die sich bis zum Horizont erstreckte. Bestand Hoffnung, dass man nach ihnen suchen und sie finden würde? Sie entfernten sich vom Flugzeugwrack, um den Anblick der Leichen nicht mehr ertragen zu müssen, die alle ein Grab in der Maschine gefunden hatten, oder aus dem Flugzeug herausgeschleudert wurden. Etwa 200 Meter von der Maschine hatten sie sich im Schatten von Sträuchern niedergelassen, in der Hoffnung, dass man sie finden würde. Die Hitze und mangelndes Wasser zerrten nach drei Tagen an ihrer Gesundheit. Sie wussten, dass sie nicht mehr hoffen durften und rafften sich auf. Meiner Mutter ging es stetig schlechter und es fiel meinem Vater und dem Copiloten immer schwerer, sie zu stützen. Kilometer um Kilometer bewältigten sie und ihnen wurde klar, dass sie weiter mussten und wenn sie nicht weiter gehen konnten, es das Ende bedeutet. Bei einer Rast wurde Cramer von einer Schlange gebissen und verstarb. Mein Vater hatte weder die Kraft noch die Möglichkeit, ihm eine Ruhestätte zu geben. Er trug meine Mutter, die nicht mehr ansprechbar war, auf den Armen weiter. Schließlich war es auch bei ihm zu Ende. Er brach unter einem verknöcherten großen Baum zusammen, legte sich neben sie und wusste, dass sie nicht mehr weiterziehen konnten und ihr Ende gekommen war.

Doch es sollte anders kommen. Zulus, die auf der Jagd waren, entdeckten sie und brachten meine Eltern in ihr Dorf Shakalandin, wo sie liebevoll gepflegt wurden und gesundeten. Daraufhin entschlossen sie sich, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren und gründeten mit Eigenmitteln und Spenden ein Krankenhaus. Nach vier Jahren, 1984, kam ich auf die Welt. Meine Eltern versuchten mir die deutsche Sprache, das Lesen und das Rechnen beizubringen, was schon aus Zeitgründen nur teilweise gelang. Da ich mit den Zulukindern jeden Tag zusammen war, beherrschte ich deren Sprache besser als meine Muttersprache. Mit steigernder Spendenbereitschaft konnte das Krankenhaus erweitert werden und sie wurden durch weitere Pflegekräfte unterstützt. Die Menschen aus allen umliegenden Dörfern und von weither kamen in das Krankenhaus und waren zum Teil zwei bis drei Tage unterwegs. Ich fühlte mich in Shakalandin nicht nur geborgen, sondern mit deren Leben und Kultur zugehörig. Immer öfters muss ich an meine Zulufreunde denken, an die gemeinsame Jagd mit Pfeil und Bogen, an die Tänze und die ständigen Übungen, die den Zweck hatten, das Dorf vor Feinden zu beschützen. Mit meinem Freund und Häuptlingssohn Jakob erlebte ich die größten Abenteuer. Die kleine Gemeinde mit ihren runden Lehmhütten hatte in der Mitte des Dorfes eine Kirche aus Holz gebaut. Sie besaßen einen starken christlichen Glauben und waren bestrebt, diesen auch mit Leben zu erfüllen. Hatte Shakalandin 1981 nur etwa 350 Einwohner, so wuchs diese nach ein paar Jahren auf knapp 1000 an.

1999 erkrankte meine Mutter an einer schweren Lungenentzündung und verließ uns das darauffolgende Jahr. Seitdem ging es mit meinem Vater gesundheitlich rapide abwärts. Als er ihr nach einem Jahr folgte, holte mich seine Schwester Else mit 17 Jahren nach Deutschland. Der Abschied von den Zulus und vor allen Dingen von Jakob war ein böser Abschnitt in meinem Leben. Ich schwor Jakob, dass ich wiederkommen werde.

Tante Else zog mich mit viel Liebe auf, aber jeden Abend, wenn ich zu Bett ging, dachte ich immer wieder an meine Eltern und ich verfluchte Gott, weil er sie mir genommen hatte. Deutschland war für mich ein fremdes Land, fühlte ich mich doch mehr als ein Zulu und nicht als Deutscher und es fiel mir unsagbar schwer, mich in diese viel zu moderne Welt einzuordnen. Tante Else bestand auf ein Studium. Nur mit Ach und Krach schaffte ich es und betrat 2007 mit 26 Jahren die Polizeilaufbahn. 2018 wurde das Jahr des Schreckens.

Kapitel 1

Anfang Juni 2018

„Ich bin heute fix und fertig“ hörte ich meinen Freund Niclas Wanger müde sagen. Niclas war Hauptkriminalkommissar in Heilbronn und ich war ihm als sein Assistent zugeteilt worden. Im Laufe der Jahre wurden wir Freunde, auch wenn uns ein 10- jähriger Altersunterschied trennte. Heute war wieder ein Tag, den man verdammen möchte. Wir waren schockiert, als wir gerufen wurden, um dann in das starre Gesicht eines jungen Mädchens zu sehen, das ein Forstmann unter Büschen gefunden hatte. Und wie allzu oft war man nicht sicher, ob der Mörder seine gerechte Strafe erhalten würde. „Dieses Schwein“, fauchte Niclas aufgebracht. „Manchmal glaube ich, wir haben den falschen Beruf gewählt“, fuhr er nach einer Weile fort. Aus seiner Stimme hörte ich Verzweiflung heraus. Er lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und hatte die rechte Hand zu einer Faust geballt. Ich wollte darauf antworten, doch kam er mir zuvor. „Dieses junge Mädchen hat noch nicht einmal richtig gelebt und der Mörder läuft frei herum und wird sich vielleicht an ein neues Opfer wagen. Wenn wir wissen, wer das Mädchen ist, müssen wir den Eltern diese furchtbare Wahrheit überbringen. Und das ist furchtbar, so furchtbar.“

„Wir haben diesen Beruf gewählt“, erwiderte ich. „Gewollt, weil wir gegen jegliche Kriminalität vorgehen wollten. Immer wieder werden wir mit Verbrechen konfrontiert. Doch das ist unser Beruf!“

Niclas nickte. Er richtete sich langsam wieder auf. Seine Augen hefteten sich auf das Bild seiner Frau Claudia und seiner Tochter Alina, die letzte Woche vierzehn Jahre geworden war. „Das könnte ebenso Alina geschehen. Ich werde dieses Schwein finden und bisher habe ich alle gefunden, bis auf wenige Ausnahmen.“

Niclas war ein Bär von einem Mann, der verbissen an allen Fällen arbeitete, ein strenges Regiment führte und bis zur Selbstaufgabe sein Ziel verfolgte. Sein breites markantes Gesicht, seine braune Mähne, sein stechender Blick seiner dunklen Augen und seine befehlende Stimme ließen ihn hart erscheinen. Aber ich kannte ihn viel zu gut und wusste, dass es in seinem Inneren ganz anders aussah. „Lass uns eine Runde drehen“, – schlug ich vor.“ Niclas stand abrupt auf, ging zur Tür und sagte nur: „Fahren wir zu unserer Stelle im Wald, wo wir immer hingehen, wenn wir nachdenken müssen.“

Wir verbrachten öfter an einer bestimmten Stelle Zeit im Wald, die wir Oase nannten, in die wir uns immer zurückzogen, wenn wir uns austauschten, Sorgen hatten und Kraft auftanken mussten. Auf einer Lichtung stand ein großer Eichenbaum, dessen Zweige sich wie zu einem Zelt neigten. Die Lichtung hatte etwa einen Durchmesser von zwanzig Metern, war mit kleinen Buchenbäumen umschlossen und deshalb von außen her nicht einsehbar. Diese Stelle war unsere geheime Oase.

Wir hatten uns auf den Boden gesetzt und jeder nutzte den Baumstamm als Rückenlehne. Niclas und ich liebten die Natur, die Stille, die Abgeschiedenheit und wir mussten diese zuerst auf uns einwirken lassen, bevor wir zu sprechen begannen. „Im Grunde genommen ist alles Scheiße“, knurrte er nach einer Weile bedrückt. Ich nahm wahr, dass ihn Sorgen plagten, von denen er bisher noch nicht gesprochen hatte. War er ernsthaft krank? Doch es wurde mir klar, dass er heute noch nicht so weit war, mit mir darüber zu sprechen. Was bedrückte ihn? Unser Beruf war anstrengend und manchmal hätten wir am liebsten alles hingeschmissen und uns auf eine einsame Insel gewünscht. Meine Gedanken gingen zu Claudia, die sich jeder Mann nur erträumen konnte. Mit Claudia einmal zu schlafen wäre mein größter Wunsch gewesen. Doch das würde ich nie wagen. Im Stillen beneidete ich meinen Freund, dass er mit ihr eine jetzt schon sechzehn Jahre glückliche Ehe führte und sie eine reizende Tochter besaßen. Dieses Glück war mir mit Lea nur für kurze Zeit beschieden. Lea war und ist meine große Liebe. Doch mit den Jahren wendete sie sich immer mehr von mir ab und ich wurde ihr immer gleichgültiger. Meine Bemühungen sie wieder zurückzugewinnen, waren zum Scheitern verurteilt. Zurück blieb nur die Erinnerung an unsere wunderbaren ersten Jahre.

„Was ist los?“, hörte ich seine Frage und es klang wie aus weiter Ferne. Ich schwieg und starrte auf einen Vogel, der sich auf einem Zweig niedergelassen hatte und sein Lied trillerte. „Du brauchst mir nicht zu antworten“, sagte er leise. „Du machst dir Gedanken über Lea. Lars, – du musst das akzeptieren und es hat keinen Sinn darüber nur nachzugrübeln. Du solltest die Konsequenzen ziehen.“ „Weißt du, wie schwer das ist?“, fragte ich ihn. „Lars, das verstehe ich sehr gut“, antwortete er mitfühlend. „Aber du musst den Tatsachen ins Auge sehen. Liebe kann man nicht erzwingen ...... entweder ist sie da oder sie ist nicht da.“

„Weißt du, dass ich mich nach Zulu Land sehne? Es war wohl ein hartes Leben, auch für mich als Kind und Jugendlicher. Aber ich war glücklich. Alle waren glücklich und strahlten trotz des harten Lebens Ruhe und Zufriedenheit aus. Dieser Zusammenhalt untereinander ... nein, das wird es in dieser modernen Welt nie mehr geben.“

Niclas rutschte den Baumstamm herunter und legte sich flach auf den Boden. Sein Blick schien sich in den Himmel bohren zu wollen. Er schien sich wieder gefangen zu haben. Aber dieser Eindruck täuschte. Wir waren so miteinander verwachsen, dass ich seine verzweifelte Aura fühlte. „Du hast ebenfalls Sorgen Niclas! Ich spüre es. Also erzähle mir, was in dir vorgeht.“ Sein Schweigen sagte mir, dass ich Recht hatte. Ich glaubte nicht mehr daran, dass er meine Frage beantworten würde. Doch dann kam die kurze Antwort: „Ja, verdammt ja ... aber ich möchte darüber noch nicht sprechen. Noch nicht!“

„Mensch Niclas, wir sind Freunde.“

„Lass mich“, schimpfte er, sprang erregt auf und ging wetternd fort. Ich folgte ihm. Schweigend gingen wir quer durch den Wald. Wenn wir durch den Wald wanderten, dann niemals auf einem vorgegebenen Weg. Das wollten wir nicht. Wir wollten die absolute Ruhe und keinen Menschen sehen und die Stille auf uns einwirken lassen. In diesem Punkt ähnelten wir uns hundertprozentig.

Vor uns sprang eine Rehfamilie aus einer kleinen Kieferngruppe. Niclas blieb stehen und sagte verträumt „Lass uns wieder auf die Jagd gehen. Du nimmst dein S813 mit und dann vergessen wir alles.“ Ich war zum Scharfschützen ausgebildet worden und hatte bei einem europäischen Scharfschützenwettbewerb in Schweden den ersten Preis gewonnen. Nach dem Tod seiner Eltern, hatte Niclas bei Freudenstadt einen Wald nebst kleiner Jagdhütte geerbt, wo wir von Zeit zu Zeit jagen gingen. „Das würde mich freuen“, entgegnete ich. „Ich könnte dann auch für eine Zeit meine Sorgen vergessen und du ... deine“ Darauf gab er keine Antwort und wir stapften weiter.

Vertieften wir uns sonst in Gesprächen, so schien heute Schweigen angesagt. Nachdem wir eine ganze Zeit wortlos quer durch Wald gewandert waren, wollte ich nicht mehr weiter und setzte mich auf einen Baumstamm. Als Niclas feststellte, dass ich ihm nicht mehr folgte, wendete er und setzte sich neben mich. „Wir sollten wieder umkehren“, schlug ich vor. Niclas nickte und sagte nach einer Pause. „Ich habe Samstag meinen 41. Geburtstag und da möchte ich dich und Lea gerne einladen. Ich gebe weder eine Geburtstagsparty noch will ich es groß feiern. Lass uns fünf einen schönen Tag verbringen.“ Ich willigte ein und mir kamen Bedenken, ob Lea darüber begeistert war. Lea und Claudia waren nicht gerade die besten Freundinnen.

Es war schon recht spät, als wir uns trennten. Auf meinem Heimweg hatte ich die ganze Zeit gegrübelt, was ich heute wieder alles von Lea anhören musste.

Ich betrat das Wohnzimmer. Lea saß auf dem Barhocker und hatte ein Glas Sekt in der Hand. „Du kommst spät“, empfing sie mich gelangweilt. Ich musste daran denken, wie sie mir früher freudig entgegengeeilt kam und mich nicht selten mit einem Kuss empfing. „Wir hatten heute einen schweren Tag,“, antwortete ich. „Ein blutjunges Mädchen ist ermordet worden, im Wald hat sie der Forstmann Hebel gefunden und man weiß noch nicht, wer sie ist. Das hat uns furchtbar mitgenommen.“ Lea schenkte sich ein. „Wenn es dir so nachgeht, dann hättest du einen anderen Beruf ergreifen sollen.“ Was sollte ich dazu sagen? „Hast du die Sachen aus der Reinigung abgeholt?“ wechselte sie das Thema. „Nein, ich hatte heute wirklich andere Sorgen“, entgegnete ich. „Ich kann mich auf dich einfach nicht verlassen“, zischte sie mich an. „Du bist und bleibst ein Zulu.“ Das klingt wieder einmal verächtlich, dachte ich. Um alles in eine andere Richtung zu lenken, frage ich sie: „wie ist es dir heute ergangen?“ Sie stellte die Sektflasche wieder in den Kühlschrank und ich hörte sie mit einem ungehaltenen Ton sagen_ „wie soll es mir gehen? Wenn ich mittags von der Arbeit komme, dann habe ich im Haus genug zu tun. Du hilfst mir ja nicht!“ Lea ging langsam in die Küche, drehte sich noch einmal herum und sagte dabei in einem bissigen Ton: „Du bist und bleibst ein Zulu. In Zukunft warte ich nicht mehr mit den Essen auf dich.“ Mit gemischtem Gefühl folgte ich ihr in die Küche. Doch mir war der Appetit vergangen und ich stocherte in dem Linseneintopf herum. „Niclas hat uns für nächsten Samstag zum Geburtstag eingeladen“, begann ich zaghaft. „Das weiß ich heute noch nicht, ob ich mitkommen kann“, erregte sie sich. „Ich habe mit meiner Freundin etwas ausgemacht. Also, das passt mir gar nicht.“ Ich schob den Teller zur Seite. „Du kannst der Einladung doch nicht fernbleiben“, versuchte ich sie umzustimmen. „Du und Niclas, ihr passt gerade zusammen“, antwortete sie verächtlich und ging ins Wohnzimmer. In diesem Augenblick wurde mir mit absoluter Gewissheit klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Mit Lea unter einem Dach zu leben, die mich nicht mehr gerne sieht und nette Worte für sie ein Fremdwort geworden waren, hatte die Grundlage für eine Ehe verloren. Ich musste Niclas Recht geben und nahm mir vor, jetzt die Konsequenzen zu ziehen. „Ich lass mich von dir scheiden!“, rief ich ihr zu. „Mach das! Ich bin einverstanden“, echote sie zurück. Daraufhin herrschte Stillschweigen und ich trottete in mein Schlafzimmer. Alles fing damit an, erinnerte ich mich, dass wir uns vom gemeinsamen Schlafzimmer trennten.

Die nächsten Tage mit Lea gingen mit weiteren Vorhaltungen dem Ende entgegen und es war Samstag, der Tag an dem wir zu Niclas Geburtstag eingeladen waren. Wie erwartet, hatte Lea strikt abgelehnt, mit mir zu Niclas Geburtstag zu gehen und ich musste gestehen, dass es so richtig war, waren wir doch kein Paar mehr. Lea hatte bereits morgens wortlos das Haus verlassen. Die einstige große Liebe hatte sich in Luft aufgelöst.

Ich wählte eine schwarze Hose aus, dazu ein weißes Baumwollhemd, welches man ohne Krawatte tragen konnte. Eine graue Jacke bildete den Abschluss. Ich stellte mich vor den Spiegel und war mir nicht sicher, ob ich richtig angezogen war. War ich so unattraktiv, dass Lea mich fallen lassen musste? Wie oft hatte sie in meinen roten Haaren gewühlt. Wie oft hatte sie sich an meinen Körper angeschmiegt und ist zum Vulkan geworden. Wie hatte sie Angst um mich gehabt, wenn ich zu spät nach Hause kam. Wie oft hatte sie gesagt, wie glücklich sie war. Dann die Wendung. Schleichend bewegte sie sich von mir immer weiter fort, bis schließlich ihre Liebe zu mir ein Ende fand. Mein Schrei dröhnte im Badezimmer und kam als Echo zurück. Ich wischte die Tränen aus dem Gesicht, die ungewollt die Wange heruntertropften. An der Wand hing noch ein Bild von ihr, das ihren makellosen Körper zeigte und auf dem sie verschmitzt lachte. Ich schlug mit der Faust auf das Bild ein. Als es zerbrochen auf dem Boden lag, stürmte ich aus dem Bad, rannte aus dem Haus, sprang in meinen Golf und raste los.

Ich hatte mich noch nicht beruhigt, als ich in Heilbronn-Böckingen in der Amselstraße 7 eintraf. Langsam stieg ich aus, öffnete die geschmiedete Gartentür und ging den Gartenweg zum Hauseingang. Claudia hatte aus ihrem Garten einen kleinen Park gezaubert. Der Weg war mit roten Rosen flankiert, der Rasen gepflegt und die vielen Blumen erinnerten mich ein wenig an die Insel Mainau. Claudia war unsagbar hübsch und hatte in allen Lebenslagen das gewisse Händchen. Ich streckte meine Hand zur Klingel aus und zog sie wieder zurück. Ich war in einer solch traurigen Stimmung, dass ich mir überlegte, ob ich nicht wieder umkehren sollte. Als die Haustür sich öffnete und mir Claudia ihre schönen Zähne zeigte, mich umarmte und ich ihren warmen Körper spürte, musste ich Niclas schon wieder beneiden.

„Ich freue mich dich zu sehen“, empfing sie mich und verzog ihre Lippen zu einem erotischen Lächeln. Diese Lippen einmal zu küssen oder von ihr geküsst zu werden, wäre göttlich. „Lars, du stehst ja stocksteif da. Mach, dass du reinkommst. Niclas hatte dich schon früher erwartet.“ Ich sah ihn die Treppe heruntereilen. „Warum kommst du so spät, du Ire?“ Das war seine Anspielung auf meine roten Haare, die ich von meiner Mutter geerbt hatte, die aus Irland stammte. Wir umarmten uns. „Ich wünsche dir alles Gute Niclas .........und das sage ich nicht nur so. Ich habe dir auch eine Kiste Wein mitgebracht, ist jedoch noch im Auto.“

„Onkel Lars“, erschall Alinas helle Stimme. Ich sah sie aus ihrem Kinderzimmer springen und sie warf sich in meinen Arm. „Warum kommst du so wenig zu uns?“

„Ich komme doch öfter!“

„Das ist zu wenig, Onkel Lars. Ich mag dich.“

Ich war so gerührt, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Sie schaute zu mir hoch. Sie ist wie ihre Mutter dachte ich. Die gleichen blauen Augen, die gleichen blonden Haare mit ihrem Pferdeschwanz und ihre geschwungenen Lippen. In diesem Moment wurde mir klar, was ich bisher versäumt hatte. Wie gerne hätte ich mir mit Lea ein Kind gewünscht. Ich hatte Alina so gern wie meine eigene Tochter und musste daran denken, dass Lea nie ein Kind gewollt hatte. „Komm mit mir“, forderte Alina mich auf. „Ich muss dir mein neues Zelt zeigen. Ich habe es ganz alleine aufgebaut.“ Etwas widerwillig ließ ich mich in den Garten ziehen, wo sie neben einer Birke ein kleines Zelt aufgebaut hatte. „Komm mit mir in das Zelt!“ Ich krabbelte mit ihr hinein und Alina kuschelte sich neben mich, den Kopf an meine Brust gelegt. „Wann gehst du wieder mit mir in den Zoo?“ Ich spielte mit ihrem Pferdeschwanz. „Sowie ich etwas mehr Zeit habe. Versprochen.“

„Onkel Lars“, sagte sie zaghaft. „Ich will nicht mehr in die Schule gehen.“ Mir wurde klar, dass das Zelt nur der Vorwand war, um mit mir zu sprechen und dass sie mir etwas offenbaren wollte. „Dir macht das Lernen keinen Spaß mehr oder hast du einen anderen Grund?“, fragte ich neugierig. Alina richtete sich auf, kniete vor mir und sagte das, was ich befürchtet hatte. „Nein, ich gehe gerne in die Schule, aber ...... ich werde jeden Tag von Magdalena geärgert und sie macht mich bei den anderen schlecht und hetzt alle gegen mich auf. Onkel Lars was soll ich machen?“

„Alina, du musst versuchen, sie unter vier Augen zu sprechen. Du musst ihr Honig um das Maul schmieren und ...“

„Was heißt Honig um das Maul schmieren?“

„Frage sie, warum sie dich nicht mag. Sag ihr, dir tut es leid, wenn du sie einmal beleidigt oder ihr weh getan haben solltest. Wenn du ihr weh getan hast, dann möchtest du dich entschuldigen. Sag ihr, dass du sie im Stillen immer bewundert hast, die Jungs nach ihr schielen und du sie gerne als Freundin gehabt hättest.“

„Das soll ich sagen? Aber das kann ich nicht. Ich habe ihr doch nicht weh getan.“

„Das ist egal. Aber du hast einen Grund mit ihr zu sprechen. Und sie wird dann am Anfang etwas verdutzt sein, aber dir zuhören. Also mach das Alina. Alle Menschen sind eitel, wollen mehr sein als die anderen und dann ist es gut, wenn man denen, die einen nicht mögen, - schmeichelt. Aber es darf nicht plump geschehen und da muss man diplomatisch vorgehen. Vielleicht ist sie unglücklich oder hat Sorgen.“

„Was heißt diplomatisch?“, fragte sie versonnen.

„Das solltest du aber mi 14 Jahren schon wissen. Also, manchmal sagt man etwas auf diplomatische Weise. Das heißt, dass man etwas höflicher sagt, als man es eigentlich meint. Probiere es und Magdalena wird ihre Meinung über dich ändern.“

Ihre Stirn verzog sich mit kleinen Falten. „Ich versuche es Onkel Lars.“

Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Wir müssen jetzt zu deinen Eltern gehen“, mahnte ich. Wir krabbelten wieder aus dem Zelt. „Danke, ... ich habe dich so lieb“, flüsterte sie mir ins Ohr.

Ich blieb verdutzt eine Weile vor dem Zelt stehen, als sie ins Haus eilte. Niclas kam mir entgegen und rief mir zu: „Mensch Lars, bei Alina hast du aber ganz schön einen Stein im Brett. Sie weiß, dass du sie magst. Aber komm, lass uns wieder ins Haus gehen.“

Wir saßen am liebevoll gedeckten Tisch. „Warum ist Lea nicht mitgekommen?“, wollte Claudia wissen.

Hier musste ich lügen. „Sie fühlt sich nicht wohl. Aber sie wünscht dir, Niclas, alles Gute zu deinem Geburtstag und bedauert, dass sie nicht kommen konnte.“ Der Blick von Niclas sagte mir, dass er mir nicht glaubte.

Niclas gefiel mir gar nicht. Er bemühte sich fröhlich zu sein, doch es war nur Fassade. Claudia spürte es ebenfalls und sie versuchte ihn immer wieder aufzuheitern. Aber es kam keine richtige Stimmung auf und ich begann mir über meinen Freund echte Sorgen zu machen. Schließlich platzte ich heraus: „ich lasse mich von Lea scheiden. Es tut mir sehr weh, aber ich sehe keinen Ausweg mehr.“ Niclas, der gerade Wein einschenken wollte, stellte die Flasche wieder zurück und nickte mir zustimmend zu. Claudia streckte ihre Hand zu mir aus, hielt sie fest und sagte: „wenn die drei Säulen als Geröll am Boden liegen, dann hast du auch keine andere Wahl.“ Ich begriff nicht ganz „Drei Säulen? Verstehe ich nicht.“ Alina hatte ihre Ohren aufgesperrt und sah mich betroffen an.

„Jetzt wollen wir erst einmal anstoßen und dann sage ich dir, was das mit den drei Säulen auf sich hat.“ Nachdem Niclas den Wein eingeschenkt hatte, wir unsere Gläser erhoben und uns zugeprostet hatten, begann Claudia zu sprechen.

„Lars, die drei Säulen sind die Säulen der Liebe. Durch diese Säulen kann man prüfen, ob die Liebe echt ist.“ Ich verstand wieder nicht. „Die große Säule ist die Liebe und die Erotik“, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. „Die zweite Säule ist die Säule des Mitgefühls und des Mitleidens. Die dritte Säule ist die Säule der Angst.“ Ich verstand es noch immer nicht und sah Claudia fragend an. „Besteht nicht mehr das Verlangen nach feurigem Sex, dann stürzt die große Säule in sich zusammen. Die zweite Säule ist die Säule des Mitgefühls. Wenn du zum Beispiel einen großen Erfolg hattest und deine Partnerin sich darüber besonders freut und glücklich ist, – dann ist es Liebe. Hast du ernsthafte Sorgen, aber sie deine Sorgen mit dir nicht ernsthaft teilt, – dann ist es keine Liebe. Jetzt zur dritten Säule, die Säule der Angst. Wenn du zum Beispiel zu spät nach Hause kommst, nachdem du, sagen wir einmal um 20.00 Uhr zu Hause sein wolltest und nach zwei Stunden noch immer nicht eingetroffen bist, muss deine Partnerin um dich Angst haben und die Angst muss sich in Panik ausweiten, falls sie zwei weitere Stunden auf dich wartet und nichts von dir hört. Hat sie diese furchtbare Angst um dich, – dann ist es Liebe. Aber wenn sie dir bittere Vorwürfe macht, warum du so spät nach Hause kommst, ... das ist es keine Liebe.“ Ich begann zu verstehen, stellte mir die drei Säulen vor und dachte nach. Die erste Säule bestand schon lange Zeit nicht mehr. Lea hatte zu wenig Sexinteresse und fand immer einen Grund, um dem auszuweichen. Sie hatte weder Mitgefühl noch zeigte sie mir überschwängliche Freude, wenn ich glücklich war. Damit war auch die zweite Säule zerbrochen. Angst um mich war für Lea ein Fremdwort und damit war auch die dritte Säule eingestürzt.

„Du denkst nach“, sagte Claudia bestimmt „Es hat keinen Zweck, sich an einer Liebe festzuklammern, die keine mehr ist. Und wenn du jetzt meinst, dass jede Säule zusammengestürzt ist ... dann ist dein Entschluss, dich von Lea zu trennen folgerichtig.“ Ich sah Claudia in ihre blauen Augen, die mich erwartungsvoll ansahen und von mir eine Antwort erwartete.

„Jaaa“, sagte ich gedehnt. „Wie recht du doch hast und ich euch sagen muss, dass diese drei Säulen schon lange als Geröll am Boden liegen. Claudia, du bist eine tolle Frau und ich muss gestehen, manchmal beneide ich Niclas ...um dich.“ Claudia lachte aus vollem Halse heraus und antwortete „du bist ein Charmeur, Lars!“

„Tut ihr euch scheiden lassen?“, fragte Alina erregt.

„Ja, das müssen wir Alina.“

„Ich habe Tante Lea nie richtig gemocht“, gestand sie.

Alina wurde von Claudia gemaßregelt und meine Gedanken eilten zu Lea. Der Schlussstrich war mit ihr gezogen und ich musste mich damit abfinden. Als Claudia mit Alina den Tisch abräumte, benutzte ich die Gelegenheit, um Niclas ins Gewissen zu reden. „Niclas, wir kennen uns schon so lange. Nie haben wir voreinander jemals Geheimnisse gehabt. Doch ich finde es fies, wenn du Claudia und mir verschweigst, was dich bedrückt. Claudia leidet, weil sie sieht, dass es dir nicht gut geht.“ Ich sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete und ich war mir sicher, dass er sich noch heute outen würde.

Niclas war aufgestanden und schaute resigniert aus dem Fenster. Plötzlich stand Claudia neben ihm, ihre rechte Hand hatte sich um seine Hüfte gelegt und sie blickte ihn fragend an. Ich war schockiert und die Angst trieb mir die Hitze durch den ganzen Körper, als er mit rauer Stimme sagte „ich habe Krebs.“

Ich hatte verschlafen und kam zu spät ins Büro. Als ich das Büro betrat, hatte Niclas gerade den Telefonhörer aufgelegt und ich spürte seine Niedergeschlagenheit.

Ich hatte Angst um Niclas und wusste nur, dass er Krebs hatte, und von Claudia erfuhr ich, dass er die Operation strikt verweigerte, obwohl ihm gesagt wurde, dass der Krebs schon so stark fortgeschritten war, dass eine sofortige OP erfolgen musste. „Lars, ich kann nicht mehr“, hörte ich ihn mit solch schwacher Stimme sagen, die ich so von ihm noch nie gekannt hatte. „Ich bin am Ende“, fuhr er nach einer Weile fort. „Fühle mich schwach, müde, unkonzentriert und die Sorgen um Claudia und Alina erdrücken mich.“ Seine Augen blickten fernentrückt zum Fenster, als wäre er ein Vogel der weit weg fliegen wollte. „Ich bin nicht mehr in der Lage meine Arbeit hundertprozentig auszuführen. Da mir nur noch kurze Zeit verbleibt, möchte ich die verbleibende Zeit mit Claudia und Alina verbringen. Würdest du für Claudia und Alina sorgen, ihnen beistehen, ihnen Rat geben ... und Trost, wenn ich nicht mehr da bin?“

„Das schwöre ich dir!“

„Danke. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.“ Er schwieg und ich fand nicht mehr die passenden Worte. „Weißt du Lars, wie furchtbar das ist“, fuhr er fort, „wenn man plötzlich erfährt, dass man nicht mehr lange zu leben hat und ich nicht mehr für meine Familie sorgen kann?“

„Niclas, – du hast eine Chance. Du musst der OP zustimmen!“

„Nein, nein und nochmals nein“, erboste er sich. „Man kann den Krebs nicht besiegen“, fuhr er nach einer Pause etwas ruhiger fort. „Nur etwas Zeit gewinnen und immer daran zu denken, ... dass der Krebs wieder zurückkommt. Nein, das will ich nicht. Lars, ich habe nicht mehr viel Zeit und ich weiß nicht, ob ich morgen noch dazu in der Lage bin, dir für deine Freundschaft zu danken. So einen Freund, wie dich, zu haben, ist ein einmaliges Geschenk. Wir beide waren die besten Freunde und dafür muss ich dir danken.“

„Deine Sturheit ist nicht mehr zu ertragen!“, antwortete ich genervt.

„Du bist und bleibst in deiner Hartnäckigkeit ein Zulu“, erwiderte er. „Also höre damit auf0 mich umstimmen zu wollen. Aber ich möchte von dir wissen, was du nach mir machst. Willst du die Arbeit hier fortsetzen oder kündigen?“

„Ich kündige und ziehe in eine andere Stadt“, antwortete ich ihm leicht zornig. „Ob ich nach Zulu Land gehe, kann ich noch nicht sagen. Natürlich würde ich gerne Jakob wiedersehen. Mein Gott, was haben wir doch für Abenteuer erlebt. Mich hatte man Sleuth genannt. Sleuth heißt etwa auf Deutsch Spürhund. Wenn wir jagen gingen, dann sagte mir immer mein Jagdinstinkt, in welche Richtung wir zu gehen haben und ich war auch der beste Bogenschütze. Einmal hat mir Jakob das Leben gerettet. Als ich mit ihm alleine jagen ging, stürzte ich einen steilen Abhang herunter und blieb an einem alten knorrigen, Baum hängen, der bei der leisesten Bewegung schwankte. Wenn sich das spärliche Wurzelwerk von den Felsspalten lösen würde, würde ich mit dem Baum 300 Meter in die Tiefe stürzen. Oben auf dem Felsen stand Jakob und ich wusste, dass nur er mir noch helfen konnte. Aber das schien unmöglich. Und doch machte er das Unmögliche wahr.

Halsbrecherisch kletterte er den Abhang herunter. In der Mitte rutschte er ab, konnte sich aber gerade noch an einem wildwachsenden Strauch festhalten. Stück für Stück kam er mir, immer wieder abrutschend näher. Mein einziger Gedanke war, würde der Baum noch halten? Ich wagte mich nicht zu rühren, denn bei der kleinsten Bewegung gab er nach. Dann war Jakob bei mir. Seinen rechten Fuß hatte er an einem Felsvorsprung verankert und streckte mir seine Hand entgegen. Ich ergriff seine Hand und langsam zog er mich hoch. Meter für Meter krochen wir den Steilhang empor. Unsere Blicke waren nur nach oben gerichtet und wir vermieden in den Abgrund zu schauen. Der Weg nach oben schien uns unendlich zu sein und dann, nach einer halben Stunde hatten wir es geschafft. Zerkratzt, aus vielen Wunden blutend, aber glücklich streckten wir uns erschöpft aus. Röchelnd bedankte ich mich und seine darauffolgenden Worte werde ich nie vergessen: „Ich lasse meinen Freund nicht im Stich.“

Ich hatte mich bei den Zulus so sehr geborgen gefühlt. Jeder achtete auf den anderen und wir waren eine Gemeinschaft. Jedem der Hilfe brauchte, dem wurde uneigennützig geholfen, selbst dann, wenn es lebensgefährlich war. Und Jakob ist dazu der lebende Beweis. Auch heute beherrsche ich die Zulu Sprache immer noch besser als meine Muttersprache und manchmal denke ich wie ein Zulu. Ich bin hier in Deutschland immer noch nicht richtig angekommen. Bei einer Geburtstagsfeier hatte ich meine große Liebe in Lea gefunden. Sie hatte mich geliebt und dann wurde es ruhiger und ihre Liebe schlug in Hass um. Ich begreife es nicht.“

„Lars, ... ich glaube Lea kann dir selbst nicht sagen, warum ihr euch schleichend voneinander fortbewegt habt. Du darfst dir darüber keine Gedanken mehr machen. Akzeptiere es. Schau nach vorne!“

Als das Telefon klingelte, griff Niclas zum Hörer und ich hörte ihn gereizt sagen: „Verdammt, Sie wissen, wie ich mich entschieden habe! Lassen Sie mich in Frieden!“ Er knallte den Hörer auf.

„War das jetzt die Klinik?“

„Ja, ... es war Professor Heinrich. Die wollen mich immer noch umstimmen und akzeptieren einfach nicht, dass ich eine OP ablehne.“

Erneut klingelte das Telefon. Wütend nahm er den Hörer ab, brüllte ins Telefon und knallte den Hörer wieder auf. „Du hättest den Professor anhören sollen“, maßregelte ich ihn. Er murrte verärgert und brummte etwas, was ich nicht verstand. Ich hoffte, dass der Professor es noch einmal probieren würde. Ich stand auf, ging zu Niclas und setzte mich auf seinen Schreibtisch. „Was willst du“, fragte er mich genervt.

Als in diesem Moment wieder das Telefon schellte, ergriff ich es, bevor Niclas es abnehmen konnte. „Sie müssen mir wenigstens nur zuhören“, vernahm ich eine erregte männliche Stimme. Bevor er weitersprach, sagte ich:

„Ich bin Lars Gauder. Sie können mit mir sprechen.“ Niclas katapultierte aus seinem Sitz und wollte mir das Telefon entreißen. „Gebe dir keine Mühe“, brüllte ich ihn wütend an. „ICH spreche jetzt und du setzt dich wieder!“ Schwer ließ sich Niclas wieder auf seinen Schreibtischsessel nieder und stützte seinen Kopf mit den Händen ab. „Sie können mit mir jetzt sprechen, ... mein Freund ist dazu zurzeit nicht in der Lage.“

„Ich bin Professor Heinrich ... es ist etwas Entsetzliches passiert. Wir fühlen uns schuldig und wenn uns Herr Wagner anzeigen wird, dann müssen wir es akzeptieren.“

„Herr Heinrich“ bellte ich ins Telefon, „sagen sie in einem Satz ,was los ist. Spucken Sie es aus!“

„Herr Wagner hat keinen Krebs.“

„Was, was ... was sagen Sie da?“ Ich merkte, wie der Professor nach Worten suchte.

„Es ...... ist durch ...... eine Patientenverwechslung geschehen. Wir ...“

Ohne darauf zu reagieren, streckte ich Niclas den Hörer entgegen und sagte nur „du hast keinen Krebs.“ Mit zittrigen Händen nahm er mir den Telefonhörer ab. Diese Nachricht war so gewaltig und sogleich schockierend, dass ich nicht mehr imstande war das Telefongespräch zu verfolgen. Ich ging wieder zu meinem Schreibtisch und musste an Claudia und Alina denken und ich durfte meinen Freund behalten. Ich vernahm dann nur noch, als Niclas sagte: „Ich werde Sie nicht anzeigen. Aber so etwas darf nie, wirklich nie mehr passieren.“ Langsam, im Zeitlupentempo legte er den Hörer wieder auf.

„Mein Gott, ich habe keinen Krebs“, sagte er mehr zu sich selbst. „Wie mag es dem anderen Patienten wohl jetzt ergehen, der meinte, er wäre gesund und musste nun erfahren, dass er todkrank ist. „Ich muss sofort zu Claudia“, fuhr er mit gefasster Stimme fort. Er erhob sich. „Und du Lars kommst mit! Ich danke dir für deine Hartnäckigkeit.“

„Nein Niclas, du alleine bringst deiner Familie diese erfreuliche Botschaft. Aber ich verspreche dir, dass ich gegen Abend zu euch komme. Ich habe noch etwas zu erledigen.“

„Du willst mit Lea sprechen?“

„Ja, – aber vergiss nicht die Rosen für Claudia“ Er lachte kurz auf und rannte zur Tür, drehte sich noch einmal um und sagte in einem befreienden Tonfall: „Wenn ich dich Zulu nicht hätte.“

Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaute ich auf die Uhr. Es war inzwischen 17.00 Uhr und Lea müsste jetzt zu Hause sein. Mit einem Gefühl der Trostlosigkeit ging ich zu meinem Wagen.

Zu Hause angekommen, kramte ich den Hausschlüssel aus meiner Hosentasche und es fiel mir unsagbar schwer, die Tür zu öffnen. Zuhause? Nein, ich hatte kein Zuhause mehr. Schweren Herzens betrat ich das Wohnzimmer. Lea saß auf der Couch und legte die Zeitung zur Seite. Schweigend blickte sie zu mir herüber. „Ich muss mit dir sprechen Lea“, begann ich.

Sie nickte. „Setze dich zu mir und sage, was du mir zu sagen hast.“

„Uns beiden ist bekannt, dass wir uns trennen werden. Da jedem das Haus zur Hälfte gehört, sollten wir einen Makler beauftragen.“

„Das habe ich bereits getan“, gab sie trocken zurück. „Aber ich will dir sagen, obwohl wir kein Paar mehr sind, so will ich, bis wir das Haus verkauft haben, alles so weiter machen wie bisher.“

„Und das will ich nicht!“, entgegnete ich entschlossen. „Ich kann mit dir nicht mehr an einem Tisch sitzen. Ich brauche bis dahin nur noch das Schlafzimmer und werde dir aus dem Wege gehen, – so gut ich irgend kann.“

Lea lehnte sich zurück. „Ich werde deine Wäsche weiter versorgen und dir die gewaschene Wäsche in einen Korb legen, die du dann versorgen kannst. An einem Tisch möchte und kann ich auch nicht mehr mit dir sitzen.“

Somit war jetzt unsere einstige große Liebe endgültig zu Ende gegangen. „Lea“, begann ich erneut. „Wir waren doch einmal so sehr glücklich. Wie konnte es geschehen, dass du dich von mir abgewendet hast?“

Lea stand auf, ging mit langsamem Schritt zum Fenster und schaute schweigend heraus. Würde sie mir eine Antwort geben? Sie starrte schweigend aus dem Fenster, als würde es da etwas zu sehen geben. Schließlich erwiderte sie.

„Lars, ich weiß es auch nicht. Ich war in dich einmal maßlos verknallt und auch die Nächte waren berauschend. Aber dann wurde es in mir immer ruhiger, du wurdest mir immer gleichgültiger und ich wendete mich immer mehr von dir ab. Du begannst mich zu nerven und ich weiß nicht warum. Ich habe deine Liebe zu mir weiter gespürt, ... du hast dir viel Mühe gegeben und du hast alles versucht, damit ich wieder zu dir komme. Aber es ging nicht. Ich empfinde für dich keinerlei Gefühle mehr und deshalb müssen wir den Schlussstrich ziehen. Ich habe auch keinen neuen Freund, falls du das meinst. Es geht einfach nicht mehr. Verzeih mir, aber es ist jetzt besser so. Sowie das Haus verkauft wurde, ziehe ich zu meiner Schwester nach Kanada. Ich habe mit ihr schon Kontakt aufgenommen. Lars, ich habe nichts mehr weiterzusagen. Bitte dringe in mich nicht weiter ein. Lass mich bitte jetzt alleine und gehe einfach.“

Ich hatte ja schon lange gespürt, wie es mit uns stand, aber das nun von Lea direkt bestätigt zu bekommen, wühlte mich auf und ich fühlte mich leer und verlassen. Ohne noch ein Wort zu verlieren, trottete ich langsam aus dem Zimmer. Als ich die Tür hinter mir schloss, wusste ich, dass es endgültig vorbei war. In meinem Golf musste ich noch eine Weile ausharren, bis ich langsam losfuhr.

Kapitel 2

wissen und schweigen

Ich stand vor der Haustür und mich überkam ein gewisses Glücksgefühl. Bevor ich auf den Klingelknopf drücken konnte, hatte Claudia die Haustür aufgerissen und flog in meine Arme. Was hat doch Niclas mit dieser Frau für ein Glück, dachte ich. Ich sah in ihren roten verweinten Augen und mir wurde bewusst, was für ein großes Leid sie in den vergangenen Tagen ausstehen musste. „Du hast so rote Augen und ich kann nur erahnen, welches Leid du ertragen musstest“, sagte ich mitfühlend.

„Ich hatte um Niclas nur geweint. Aber jetzt weine ich vor lauter Freude und Erleichterung, weil alles ein so gutes Ende genommen hat. Es war gut, dass du so hartnäckig warst, denn ich kenne meinen Niclas. Er kann manchmal so furchtbar stur sein. Bitte komm herein.“

Ich kam nicht weit. Alina sprang die Treppe herunter und empfing mich überschwänglich „Onkel Lars, du bist der Beste. Wir mögen dich so sehr.” Ihre Herzlichkeit und ihre warmen Worte nahmen mich immer wieder gefangen und mir wurde dabei erneut schmerzlich bewusst, dass mir das mit Lea nicht vergönnt war. „Du bist auf einmal so traurig“, vernahm ich ihre melodische Stimme. „Ich habe zurzeit vielleicht auch ein paar Sorgen“, entgegnete ich zurückhaltend. „Onkel Lars, – was ist es? Können wir dir helfen?“ Ihre Augen hatten sich fragend in mein Gesicht fixiert. „Alina, lass ihn bitte in Ruhe“, fuhr ihre Mutter dazwischen. „Ja, er hat auch Sorgen ... aber darüber wird er dir vielleicht später erzählen.“ Nur zum Teil gab sich Alina damit zufrieden und schlich uns in das Wohnzimmer hinterher.

Niclas stand an der Bar, öffnete den Champagner mit einem Flop und forderte mich mit Handzeichen auf, mich an die Bar zu setzen. Die Ehrlichkeit und ihre Gefühle, die sie mir alle schenkten, ließen mich für einen Augenblick Lea vergessen. Du bist nicht alleine, dachte ich. Für mich war dieser Tag seit langem, der schönste Tag. Als ich Anstalten machte, mich zu verabschieden, hörte ich Alina mit ihrer hellen Stimme sagen: „Ich wollte dir etwas erzählen. Und du wolltest auch etwas über deine Sorgen erzählen.“

„Ja, kleine Prinzessin.” Spitzbübisch sah sie mich an. “Ich bin neugierig, was du mir zu erzählen hast. Komm, wir gehen in dein Zimmer.” Ich sah, wie Claudia ein befreiendes Lächeln um ihre Lippen hatte. Niclas machte mit einem Kopfnicken ein Zeichen, Alina anzuhören.

Ich setzte mich auf ihre Bettkannte und war gerührt, weil Alina sich, wie so oft, auf meinen Schoß setzte. “Ich bin dir so dankbar“, begann sie, „nicht nur wegen Dad, sondern darum, weil Magdalena und ich gute Freundinnen geworden sind. Ich habe es so gemacht, wie du mir geraten hattest. Wir hatten uns einfach ausgesprochen und der Rest war gar nicht so schwer. Sie erzählte mir, dass sie kein Zuhause besaß. Ihre Eltern ständig streiten und ihr Vater oft nachts betrunken nach Hause kam. Ihre Eltern hatten sich nie um sie gekümmert, sie war vollkommen auf sich alleine gestellt und war auf mich neidisch, weil ich so tolle Eltern habe und die mich lieben. Sie wurde immer nur angeschnauzt und manchmal wurde ihr Vater auch handgreiflich. Wir treffen uns jetzt öfters und wir tauschen uns gegenseitig unsere Sorgen aus. Da Dad jetzt keinen Krebs hat, werde ich Magi morgen wieder treffen und wir wollen ins Kino gehen.” Ich hörte ihr weiter zu und war erleichtert, weil ich beitragen konnte, dass zwei Feindinnen zu Freundinnen geworden waren. Alina hatte, nachdem sie ihr Herz ausgeschüttet hatte, mich aufgefordert, über meine Sorgen zu sprechen. Ich winkte ab und sie akzeptierte, dass ich darüber nicht sprechen wollte. „Dann erzähle mir etwas über dein Zulu Land“, forderte sie. Doch als es an der Tür klopfte und Claudia bat, dass wir herunterkommen sollten, versprach ich Alina dieses nachzuholen. Alina zog es vor, Schlafen zu gehen und wollte versuchen, noch mit Magi zu telefonieren.

Mein Versuch, mich zu verabschieden, hatte sich bald in Luft aufgelöst. Als es bereits nach 23.00 Uhr war, Niclas eine weitere Champagnerflasche geöffnet hatte, sagte er leicht beschwipst „Lars, ...... Claudia und ich wollen, dass du dein Zelt bei uns aufschlägst, wenigstens so lange, bis du alles wieder geordnet hast.” Ich überlegte. Ja, – so würde ich dadurch Lea aus dem Wege gehen. „Ich nehme euer Angebot gerne an“, gab ich meine Zustimmung. Die Morgendämmerung hatte bereits Einzug gehalten, als ich ins Bett segelte und kurz darauf einschlief.

Nachdem wir am nächsten Tag ausgiebig gefrühstückt hatten, aber uns allen die Müdigkeit und die Kopfschmerzen ins Gesicht geschnitten waren, machten wir uns auf den Weg ins Büro. Bevor ich Niclas folgte, hielt mich Claudia am Ärmel fest und flüsterte mir ins Ohr: „Ich brauche deinen Rat. Versuche morgen um 15.00 Uhr ins Café Herold zu kommen. Aber nichts Niclas sagen.“

„Ich werde kommen“, antwortete ich betroffen. „Claudia, ... was ist passiert?“ Sie hatte ihren Zeigefinger auf meine Lippen gelegt. In ihren Augen meinte ich ein verzweifeltes Flackern zu erkennen und ich ahnte, dass sich ein Taifun zusammenzog. Ich drückte ihre Hand und ging Niclas benommen hinterdrein.

Was mir Claudia offenbaren wollte, ließ mir keine Ruhe. Immer und immer wieder musste ich daran denken, was sie von mir wollte. Hatte sie womöglich einen Freund? Nein, das war ausgeschlossen. Wenn jemand eine ehrliche und glückliche Ehe führte, dann waren es Claudia und Niclas. Oder war sie ernstlich krank? Den ganzen Vormittag lief ich wie neben der Kapp. Niclas versuchte mich aufzurichten, war er doch der festen Meinung, dass mir immer noch Lea nachging. Um 14.30 Uhr meldete ich mich ab, weil ich noch etwas erledigen musste. Als Einverständnis nickte Niclas nur mit dem Kopf.

Mit ungutem Gefühl fuhr ich nach Lauffen und betrat das Café Herold. Ich sah Claudia an einem kleinen runden Tisch am äußersten Eck sitzen. Ich spürte ihre Erregung, ihre Nervosität und ... ihre große Verzweiflung. Ich begrüßte sie mit einem Kuss auf ihrer Wange. Ihr Lächeln, was sie mir dabei zuwarf, war ein verkrampftes Lächeln. Wir saßen uns beide gegenüber und mir schien, als ob Claudia bereits bereute, dass wir uns hier trafen. Mein Gott, dachte ich wieder, ist das eine rassige Frau mit so viel Einfühlungsvermögen, Intelligenz und Schönheit. Claudia begann über Lea und mich zu sprechen und da es nicht der Grund war, warum sie mich sehen wollte, unterbrach ich sie in ihrem Redefluss.

„Claudia“, ermahnte ich. „Wir wollen jetzt nicht über mich sprechen, sondern über ... dich. Claudia, du hast ernste Sorgen und bitte spreche mit mir darüber.“

„Ich bin so furchtbar verzweifelt“, begann sie traurig, „Lars, ich weiß nicht weiter , weiß nicht was ich machen soll, weiß nicht wie ich mich entscheiden soll. Lars, ich brauche deinen Rat. de in e n Rat.“ Sie stocherte in ihrer Schwarzwälder Kirschtorte herum. „Ich finde keine Worte, ... meine Zunge ist so schwer.“

„Erzähle einfach Claudia. Ich bin nicht nur Niclas Freund, ich bin auch dein Freund.“

„Ja, ... das ist es ja, was es noch schlimmer macht ... ich hatte es die ganze Zeit verdrängt. Aber durch die letzten Tage mit Niclas wurde alles wieder hochgespült. Wie schnell kann alles zu Ende sein. Und dann wäre es für eine Aussprache zu spät.“ Als sie die Kaffeetasse in die Hand nahm, zitterte diese. Nachdem sie diese wieder abgesetzt hatte, sah sie mich an. Ihre Augen waren feucht geworden und eine Träne rann ihre Wange herunter. Dann kam dieser eine Satz heraus: „Alina ist nicht seine Tochter.“

In meinem Hirn tobte ein Orkan. „Was soll ich machen?“, hörte ich ihre drängenden Worte. Ich überlegte und versuchte mir die Folgen vorzustellen, und mir wurde die entsetzliche Tragweite bewusst. Ihre Augen hefteten sich auf meine Lippen.

„Du musst jetzt stark sein“, begann ich. „Du hast nur zwei Möglichkeiten und für einer musst du dich entscheiden. Entweder du erzählst alles, also nicht nur Niclas, sondern auch Alina. Oder du schweigst und behältst es für dich. Wills du mir sagen, wie das geschehen konnte?“ Und sie offenbarte sich mir.

„Du weißt ja nicht, dass Niclas noch einen Bruder hat“, eröffnete sie erregt. „Niclas und Steffan haben sich nie verstanden. Dazu kam, dass Steffan nach mir maßlos verrückt war. Er wollte, dass ich mich von Niclas trenne, obwohl wir schon ein Jahr verlobt waren. Das hat natürlich auch Niclas mitgekriegt. Steffan konnte es nicht mehr ertragen, dass ich mich Niclas zugewendet hatte und ihn abwies. Er zog die Reißleine und wanderte nach Australien aus. Doch einen Tag bevor er fortflog, wollte er sich von mir verabschieden und da hat er eine Zeit gewählt, in der Niclas nicht zu Hause war. Dann stand er plötzlich vor mir und sagte, dass er sich verabschieden wollte. Nichts Böses ahnend, bat ich ihn herein. Doch er zögerte nicht lange und sagte, bevor er Deutschland verließ, würde er mich durchficken. Ich wollte schreien. Doch er verband mir den Mund mit einem Klebestreifen, trug mich ins Schlafzimmer und warf mich aufs Bett. Ich wehrte mich, aber er war zu stark. Er war wie ein besessenes Tier, riss mir die Kleider vom Leib, warf sich auf mich und vergewaltigte mich. Daraus entstand dann Alina. Steffan flog am nächsten Tag nach Australien und er erfuhr nie, dass er eine Tochter besaß.“ Claudia hatte sich mit den Händen ihr Gesicht zugedeckt und schluchzte leise.

„Aber du hättest Niclas sofort von der Vergewaltigung erzählen müssen“, warf ich ihr vor. „Dann wäre nach einen Gefühlssturm bald alles wieder geglättet gewesen. Niclas konnte dir keine Vorwürfe machen, hätte dich sogar getröstet, ... denn er liebt dich viel zu stark.“

„Mein Gott, ja, ja, ja. Aber es ist jetzt zu spät. Was soll ich jetzt machen? Wie soll ich mich verhalten? Soll ich Niclas beichten oder mich weiter in Schweigen hüllen?“

Das war jetzt die große Frage. Verschweigen oder beichten? Wie sie sich jetzt auch entschied, beides hätte unsagbare Folgen und ich versuchte ihr meine Meinung zu erläutern. „Wenn du jetzt Niclas beichtest, dann hat es böse Folgen. Er wird geschockt sein, dir bittere Vorwürfe machen, weil du die ganzen Jahre geschwiegen hattest. Er könnte an deiner Liebe zweifeln und wird sich eine ganze Zeit von dir abwenden. Und danach wird es wohl nicht mehr so sein, wie es einmal war. Außerdem wird und muss es Alina erfahren. Sie wird verzweifeln, weil sie Niclas liebt und jetzt erfahren muss, dass man ihr verschwiegen hat, dass Niclas nicht der leibliche Vater ist. Sie wird darauf bestehen Steffan kennenzulernen. Dann tritt Steffan wieder in Erscheinung und er wird in eure Ehe eindringen und Turbulenzen verursachen.“ Ich bemerkte, wie sich Claudias Zustand ständig verschlechterte und ich dachte daran, dass wir besser das Café verlassen sollten. Aber sie fing sich wieder und sagte:

„Lars, wie Recht du hast. Es ist furchtbar, aber ich muss damit fertig werden. Bitte sage mir, wie du dich entscheiden würdest. Bitte gib mir einen Rat.“

„Niclas zu beichten, ... halte ich für zu spät und somit falsch. Denn ihr drei liebt euch, seid glücklich – und seid eine glückliche Familie. Das ist wichtig! Sonst nichts! Und dann läuft alles, wie bisher, weiter in geordneten Verhältnissen ab. Nur du Claudia, du musst damit leben und damit fertigwerden. Das ist für dich eine schwere Bürde. Aber du hast die ganzen Jahre geschwiegen und was hält dich davon ab, weiter zu schweigen? Schweigst du nicht, dann ist das Drama nicht aufzuhalten. Auch für mich ist es eine Bürde, die ich zu tragen habe, ...... weil ich Mitwisser geworden bin. Zum ersten Mal betrüge ich Niclas, indem mir die Fessel des Schweigens auferlegt wird. Aber dir zuliebe, – euch dreien zuliebe, ... will auch ich diese Bürde mit dir teilen.“

„Ich danke dir Lars.“ Ich wischte ihre Tränen von ihren Wangen. Sie versuchte ein zaghaftes Lächeln. „Ich habe dich immer geschätzt und ich kann mir keinen besseren Freund vorstellen. Lars du bist einmalig, ... und ich bin so froh, dass ihr beide euch gefunden habt.“

Ich empfinde viel mehr für dich als nur Freundschaft, – hätte ich am liebsten ausgesprochen. Meine Gedanken ließen mich still werden und durch mein Schweigen hörte ich sie, wie von einer anderen Welt, sagen:

„Lars, mein lieber Lars, ... ich weiß sehr wohl, dass du mehr als nur Freundschaft für mich empfindest. Ich mag dich auch und ein Hauch einer Liebe ist dabei. Aber ich bin nicht nur mit Niclas verheiratet, sondern er ist meine große Liebe und daran hat sich auch nach Jahren nichts geändert.“

„Das hast du bemerkt?“, fragte ich überrascht. „Wie willst du das festgestellt haben?“

„Deine Blicke zu mir verraten dich. Das sind deine warmen Blicke, manchmal wurde mir unheimlich, weil ich dein Verlangen spürte mit mir zu schlafen.“

„Mein Gott, du hast mich durchschaut.“

„Entschuldige, wenn ich dir jetzt gestehe, dass ich euch beide liebe, – aber die Liebe zu Niclas ist intensiver und stärker. Aber ich würde auch niemals Niclas betrügen. Kann ich mich auf dich verlassen, dass du auch darüber schweigst?“

„Ja Claudia. Worüber wir heute gesprochen haben, muss für uns beide in alle Ewigkeit unser Geheimnis bleiben.“

Claudia legte 25 Euro auf den Tisch und erhob sich. „Wir sollten jetzt besser gehen“, sagte sie leise. Sie kam zu mir, unsere Augen trafen uns, diese kleine Frau zog meinen Kopf herunter und brannte mir einen feurigen Kuss auf meine Lippen, – den ich erwiderte. „Das war einmal und wird nie wieder geschehen“, hörte ich sie flüstern und sie verließ abrupt das Café, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich spürte ihre Zerrissenheit, die sich in mir ausbreitete und sah ihr so lange nach, bis sie aus meinen Augen verschwunden war.

Als ich wieder im Auto saß, verharrte ich eine Weile. Ich verfluchte diesen Tag. Mit durchdrehenden Reifen raste ich los.

Es waren bereits zwei Wochen her, seit ich mein Domizil bei Niclas und Claudia aufgeschlagen hatte. Heute sagte ich mir, dass es falsch war. Das Wissen, mit dem ich konfrontiert wurde, war eine Last, die mich aufs Tiefste belastete. Doch ich wusste, dass es zum Schweigen keine Alternative gab, wenn ich nicht einen Tsunami auslösen wollte.

Ich hatte wieder einmal verschlafen und machte Claudia Vorwürfe, dass sie mich nicht geweckt hatte. Nur ein Lächeln umspielte ihre Lippen und sie dachte nicht daran zu antworten. Doch mein Ärger gegenüber Niclas hatte sich in Zorn gesteigert. Er, als mein Chef hätte mir die Leviten lesen müssen. Aber er dachte nicht daran und nahm es mit der Arbeitszeit nie genau. Nicht die starre Pünktlichkeit ist ausschlaggebend, hatte er mir einmal gesagt, sondern wieviel Erfolg man in dieser Zeit einpacken kann. Im Grunde genommen musste ich ihm Recht geben, hatten wir, wenn es die Lage erforderte, oft bis spät in die Nacht an einem Fall gearbeitet. Ich zog mich eilig an und verweigerte Claudia das Frühstück, worüber sie mich verärgert anblitzte.

Ich betrat das Polizeigebäude und mir begegnete Jürgen Fritsche, ein Mitarbeiter, den ich nicht ausstehen konnte. Fritsche, ein dickbäuchiger, schmieriger Mann, der noch immer nicht vergessen konnte, dass mich Niclas als Assistenten vorgezogen hatte.

„Sie sind schon wieder zu spät“, schleuderte er mir verächtlich entgegen. „Aber so ist es eben, wenn man aus dem Busch kommt“, schob er nach, als ich an ihm wortlos vorbeigegangen war.

Ich betrat das Büro und sah Niclas über seinen Schreibtisch gebeugt. „Hast du dich geärgert?“, fragte er mich. In seiner Stimme lag eine Bestimmtheit. „Nicht direkt“, erwiderte ich. Das waren wieder Fritsches bekannten Seitenhiebe. Niclas spielte mit dem Kugelschreiber und nickte verständnisvoll. „Du sonderst dich auch von den anderen sehr weit ab und bist im Grunde genommen ein Einzelgänger und Einzelkämpfer. Du bist ein Zulu und bleibst einer. Bitte sehe es nicht als Beleidigung an. Aber deine Kindheit und Jugendzeit in Zulu Land haben dich geprägt.“

„Ja“, antwortete ich zerknirscht. „Obwohl ich nun schon so lange in Deutschland lebe, bin ich hier noch immer nicht angekommen.“

„Es ist schon eine ganze Weile her“, wechselte Niclas das Thema, „seit wir das unbekannte Mädchen in aller Stille beerdigt haben. Die Beerdigung hatten wir mit einem Bericht in den Zeitungen veröffentlicht, in der Hoffnung, dass sich der Mörder einfinden könnte, wie es schon öfter der Fall war. Doch es blieb ein Wunschtraum, obwohl ich mich wunderte, wie viele Menschen sich eingefunden hatten.“

„Wir haben keinen Anhaltspunkt“, ergänzte ich. „Alles was wir mit aller Wahrscheinlichkeit wissen, ist, dass das Opfer eine Syrerin ist. Wenn wir nichts von ihr wissen und der Mörder keinerlei Spuren hinterlassen hat, können wir nicht weiterkommen.“

„Leider ist es so. Doch wir müssen dran bleiben und vielleicht macht der Mörder noch einen Fehler, oder, was ich nicht glauben will, er macht sich an ein nächstes Opfer ran und wir erwischen ihn vorher.“

Ich lehnte mich zurück und versuchte mir in Gedanken vorzustellen, was der Beweggrund war, dass er die Leiche 200 Meter vom Waldweg in die Büsche warf. Bevor ich mich weiter vertiefte, begann Niclas zu sprechen.

„Lars ... wir haben die Leiche gefunden, an einem Platz, der ein ganz schönes Stück vom Weg entfernt liegt. Wir haben festgestellt, dass er sie dort nicht vergewaltigte und erdrosselt hatte. Bei der Vergewaltigung muss sie sich gewehrt und Spuren im Waldboden hinterlassen haben. Hat sie aber nicht.“ Er hielt kurz inne. „Wir sind davon ausgegangen, dass das Mädchen schon tot war und er sich ihr nur entledigte. Und das ist, was mir Gedanken macht. Was für ein Interesse kann er gehabt haben, die Leiche ein so großes Stück zu tragen, um sie dann ins Gebüsch zu werfen?“

„Ich gebe dir Recht“, pflichtete ich ihm bei. „Wenn wir den Grund wissen würden, wären wir schon weiter. Vielleicht ... vielleicht“, fuhr er halbabwesend fort, „hat er etwas verloren und es nicht mehr gefunden. Stell dir einmal vor, er hat sie nur 50 Meter vom Weg ermordet und wir würden da einen Gegenstand von ihm finden.“

„Das wäre für ihn gefährlich“, erwiderte ich. „Niclas, wir müssen noch einmal dorthin.“

„Ja, wir machen das.“

„Wir marschieren noch einmal los. Noch einen Moment“, sprach er mich an. „ Er bediente die Freisprechanlage. „Ja, Ruppert,“ hörte ich den Angerufenen sprechen. „Mir fehlt der Bericht von Palinski!“, ermahnte Niclas. Ich vernahm ein tiefes Durchschnaufen. „Ich... ich habe ihn noch nicht gesprochen.“ Niclas rechte Hand ballte sich zu einer Faust zusammen und brüllte: „Wenn ich etwas anordne, dann verlange ich, dass das erledigt wird. Verdammt noch mal. Sie scheinen sich ihrer Arbeit noch nicht bewusst geworden zu sein ... Sie setzen sich jetzt sofort mit Palinski in Verbindung. Ich verlange morgen früh ihren Bericht auf meinem Schreibtisch!“ Er unterbrach wütend die Verbindung. Er wandte sich zu mir. „Ich kann nicht ausstehen, wenn meine Mitarbeiter meine Forderungen nicht erfüllen.“ Er erhob sich abrupt. „Los Zulu, komm.“

Niclas Verärgerung stand noch in seinem Gesicht geschrieben, als wir losfuhren. Ich wusste, dass Niclas manchmal aufbrausend sein konnte und mit seinen Mitarbeitern oft barsch umsprang. Er war zurzeit sehr genervt, weil er mit dem Betriebsunfall Hansen nicht weiterkam, der allen Anschein nach kein Unfall war. Und auch jetzt traten wir auf der Stelle. Ich hoffte inbrünstig, dass wir heute den Ort fanden, an dem der Meuchelmörder zugeschlagen hatte.

Nach einer halben Stunde fuhren wir in den schmalen Waldweg ein. Doch wo hatte das Schwein seinen Wagen abgestellt? Gleich am Anfang des Weges? Oder war er 100 Meter weitergefahren? Wenn ja, dann vergrößerte sich das Suchgebiet. Nach 50 Metern stellten wir den Wagen ab und stiegen aus. Wir sprangen über einen Graben, der etwas Wasser führte und mit Schilf bewachsen war. In zehn Meter Abstand voneinander durchkämmten wir den lichten Nadelwald, ohne einen Hinweis zu finden. Nach einer Stunde wollte Niclas aufgeben. Doch ich glaubte nach wie vor, dass hier irgendwo die Stelle war, an der der Mörder zugeschlagen hatte. Dass er sie hierher schon tot im Wagen befördert hatte, um sie dann 200 Meter ins Gebüsch zu werfen, – nein, das war unlogisch.

Ich änderte mein Suchgebiet seitwärts in Richtung Weg zurück. Außer ein paar kleinen Tannen war der Wald gut zu durchqueren. Die Bäume standen recht weit auseinander, der Boden war eben und hier einen Platz zu finden, an denen Spuren einer Vergewaltigung stattgefunden haben konnten, erschien mir unmöglich. In mir begannen sich Zweifel zu regen.