Rebecca - Steve Lee - E-Book

Rebecca E-Book

Steve Lee

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Beschreibung

Der bekannte Architekt Jürgen Wernau geht für ein Jahr nach Kalifornien. Dort lernt er die Hotelbesitzerin Diana Lee kennen. Doch Diana wendet sich seinem Bruder Michael zu. Jürgen Wernau verfällt dem Alkohol. Durch einen Verkehrsunfall sterben Diana und seine beiden Töchter. Michael verzweifelt. Der Fremde Arnold Kaiser rettet ihn vor dem Selbstmord. Michael erfährt, dass Arnolds Frau Rebecca brutal entführt wurde und bietet ihm seine Hilfe an. Helmut Fechter, Kriminalkommissar und Freund von Arnold Kaiser, schaltet sich aktiv ein. Als Rebecca in Kroatien mit einem Mann vor einer Jacht gesehen wird, kommen erste Zweifel auf. Wurde die Entführung nur gestellt? Es spricht jedoch viel dagegen und so wird die Suche nach Rebecca in Kroatien fortgeführt. Sie stoßen dort auf eine Mafia, die Frauenhandel im großen Stil betreibt. Durch die Sklavin Rubia Vasilescu erfahren sie, wie die Frauen mit Brutalität und Menschenverachtung gefügig und in die arabische Welt verkauft werden. Rebecca zu finden und aus den Klauen der Mafia zu befreien, schwindet von Tag zu Tag mehr.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Rebecca

Andrina

Jürgen Wernau

Arnold Kaiser

Kein Lichtblick mehr.

Offenbarung

Carlos Lopez

Der erste Schritt

Gewissenbisse

Budapest

Erwachen

Tag der Erniedrigung

Wiedersehen und Versöhnung

Spurensuche

Eine Woche später

Der nächste Tag

Abschied

Gemeinsamkeiten

Geschäftsführer Walter Niemann

Versuch des Vergessens.

Besprechung

Der falsche Weg

Pläne

Was nun?

Die Abreise nach Kroatien

Spurensuche

Ein Schritt weiter

Endlich

Dunkelheit

Fortschritte

Tötende Ungewissheit

Tränen und Verzweiflung

Ausmusterung

Tag der Entscheidung

Das Tor zum Frauengefängnis

Verzweiflung

Die Zeit drängt.

Der Telefonanruf.

Furchtbare Botschaft

Zukunftspläne

Der Abschied

Und wieder am Abgrund

Zerwürfnisse

Erneutes Suchen

Eine Woche später

Ungewissheit

Ende November

Aufgewacht

Heiligabend

2018

Prolog

Es war heiß. Sehr heiß. Die Junisonne schickte schon seit zwei Wochen ihre glühenden Strahlen auf die ausgetrocknete Erde. Selbst der Wind hatte sich verabschiedet und die dünne heiße Luft drückte auf die Atemwege. Eine Mittagstemperatur von 35 Grad zwang viele Menschen in ihren Häusern zu bleiben und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Atmosphäre mit einem Orkan entlud.

Viele Trauernden hatten sich trotz der unbarmherzigen Hitze zu der Beerdigung von Diana Wernau und den beiden Töchtern Lydia und Carmen eingefunden. Sehr viele hatten in der Leichenhalle keinen Platz mehr und so konnten sie die Predigt des Pfarrers nur aus den angebrachten Lautsprechern hören. Bei den Trauergästen meinte man, eine undefinierte Spannung zu erkennen. Ein leises Tuscheln und Murmeln machte immer wieder die Runde. Dann kam der Zeitpunkt, wo der weiße Sarg mit Rosen bedeckt aus der Halle gezogen wurde. Zwei gleiche, aber kleinere Särge, mit weißen Rosen, wurden jeweils von vier Grabträgern getragen. Der Trauerzug setzte sich in Bewegung. Die Trauergäste gingen mit versteinerten Mienen den breiten Friedhofsweg, flankiert von Hängebirken, bis sie am Ende des Weges angelangt waren. Neben einer großen Linde war ein breites Grab ausgehoben. Immer wieder sah man, wie viele den Friedhofweg zurückblickten, als ob sie jemanden erwarten. Der hagere, aber sehr große Pfarrer hielt eine aufwühlende Grabpredigt und er konnte seinen Unmut und Ärger nicht unterdrücken, als er mit ungehaltener Tonart sagte, dass es der Ehemann der verstorbenen Diana Wernau und seinen beiden Töchtern Lydia und Carmen nicht für nötig hielt, sich zu verabschieden. Danach sang der Schützenverein von Kaiserslautern Time to say goodbye Die darauffolgende Stille, die dann eintrat, ließ die Anwesenden wie zu Statuen versteinert erscheinen. Selbst der Pfarrer war in sich versunken, hielt die Bibel verkrampft fest und starrte auf den Friedhofsweg. Schließlich gab er den Grabträgern ein Zeichen, die Särge zur letzten Ruhestätte herunterzulassen. Diese blickten zuerst mit unverständlicher Miene zum Pfarrer, dann in die Runde der Anwesenden, um dann langsam den großen weißen, mit roten Rosen bedeckten Sarg in die Gruft herunterzulassen. Dann folgten die beiden kleinen Särge. Leise stimmte der Kirchenchor an So nimm, denn meine Hände.

Plötzlich kam Unruhe auf. Alle Blicke richteten sich auf den Friedhofsweg. Ein Mann mittleren Alters rannte mit hohem Tempo der Trauergemeinde entgegen. Er hatte große Mühe gerade zu laufen, er schwankte, stürzte, richtete sich wieder auf, lief weiter und erreichte schnaufend die Grabstätte. Er war mit einer schwarzen Jeans und einem pastellfarbigen blauen Hemd bekleidet. Die Anwesenden starrten den großen, kräftig gebauten Ankömmling an, als wäre er vom Himmel gefallen. Seine blonde Löwenmähne hing wirr herunter, seine blauen Augen waren rot unterlaufen und sein Gesicht von seelischem Schmerz entstellt. Am Grab faltete er die Hände und sprach mit schluchzender Stimme das Vaterunser. Als er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, versuchten ihn zwei seiner Mitarbeiter zu stützen. Er stieß sie ab und beachtete auch nicht den herbeigeeilten Pfarrer. Er kniete nieder, sein Kopf fiel auf den Boden und er verharrte dort weinend in dieser Stellung. Die Zeit schien still zu stehen und man bekam das Gefühl, dass er nicht mehr fähig war, aufzustehen. Plötzlich warf er den Kopf in die Höhe, schaute zum Himmel und mit einem markerschütternden Schrei stieß er aus: „NEIN! NEIN! NEIN!“ Viele der Trauergäste falteten ihre Hände zum Gebet und einige hatten Tränen in den Augen. Michael Wernau erhob sich abrupt, wendete sich vom Grab ab, rannte schreiend den Friedhofweg zurück und verschwand.

Wie eine Antwort Gottes hatte sich der Himmel verdunkelt. Ein gewaltiger Blitz ließ die Trauernden zusammenzucken und der Donner gab seine Antwort.

Rebecca

25. Mai 2001

Rebecca Kaiser durchstöberte die Modehäuser in der Stuttgarter Königstraße. Sie musste unbedingt noch das Kleidungsstück zu der morgigen Geburtstagsparty von Leo Kaucher finden, den Freund ihres Mannes Arnold. Sie konnte ihn nicht ausstehen und wäre dieser Party am liebsten ferngeblieben. Leo Kaucher besaß viel Charme, eine stark männliche Figur, breites Gesicht mit ausgeprägten Augenbrauen und ein einnehmendes Lächeln. Trotzdem sie verheiratet war, versuchte er immer wieder mit ihr ein Date zu bekommen. Davon hatte sie Arnold bisher noch nichts gesagt und so war es sinnlos ihn zu überreden, mit seinem zweifelhaften Freund Schluss zu machen. Sie war es gewöhnt, dass sie bei den Männern sehr begehrt war. Die Natur hatte ihre Schönheit und eine sagenhafte Figur mitgegeben und sie hatte wohl deshalb ein bewegtes Leben geführt. Das änderte sich schlagartig, als sie das erste Mal Arnold begegnete. Arnold Kaiser, keine überragende Schönheit, - aber sie fühlte sich bei ihm geborgen und sie liebte ihn, wie sie vorher noch keinen Mann geliebt hatte. Es reizte sie, wenn er sie im Bett dominierte und dann drehte sich immer wieder ihr Trieb und dann kostete sie ihre Dominanz aus. Bei diesen Gedanken verzogen sich unwillkürlich ihre Lippen zu einem Lächeln.

Vor lauter Gedanken hatte sie nicht mehr auf ihren Weg geachtet und stand plötzlich vor dem Hauptbahnhof. Verärgert wendete sie und konzentrierte sich wieder auf ihr eigentliches Ziel. Sie ging von Geschäft zu Geschäft, ohne zu finden, was ihr vorschwebte. Bei Breuninger hielt sie sich über eine Stunde auf und bewegte sich danach wieder langsam auf das Parkhaus zu. Beim Überqueren der Calwerstraße stieß sie auf eine Boutique, von dessen Auslagen sie magisch angezogen wurde. Sie betrat das Geschäft und ließ sich vom Schaufenster den Zigeunerrock zeigen. Ein langer schwarzer Rock, besetzt mit farbigen Ornamenten, dazu ein breiter roter Gürtel, dessen Schließe mit einem Schlangenmotiv endete. Der Rock besaß auf der rechten Seite einen großen Schlitz und zeigte damit ihr makelloses rechtes Bein. Da der Rock um das Gesäß sehr eng geschnitten war, würden sich noch mehr Männerblicke auf diese Stelle richten. Sie fand die passende weiße Bluse, welche tief ausgeschnitten war und ihren Brustansatz freigab. Danach wählte sie noch eine große bunte Kette und große Ohrringe aus. Als sie die Boutique verlassen wollte, stolperte sie über kurze rote Wildlederstiefel, welche sie sich auch noch einpacken ließ. Die Zigeunerin ist fertig, dachte sie und verließ zufrieden die Boutique.

Rebecca machte sich auf den Heimweg. Sie hatte für den morgigen Tag wohl die Klamotten gekauft, aber sie würde Arnold trotzdem zu gerne überreden, die Einladung platzen zu lasen. Zu Hause setzte sie sich an die kleine Hausbar und starrte das Bild von ihr an, welches er auf Leinen hatte aufziehen lassen und seit letzter Woche an der Wand neben einer Palme hing. Warum liebte sie ihn so stark? Dabei war ihr Bär korpulent gebaut und mit einem kleinen Bauch. Und doch war sie auf seinen Körper versessen und die enorme Liebe zu ihr, welcher er ausstrahlte, nahm sie gefangen. Seine braunen Augen hatten einen Blick, dem sie nicht widerstehen konnte. Seine Küsse waren brennend und leidenschaftlich. Bevor sie weiter in sich gehen konnte, betrat er das Zimmer. Sie flog ihm entgegen, schlang ihre Arme um ihn und brannte ihm einen Kuss auf seine Lippen. Er streichelte ihre Haare und flüsterte ihr leise ins Ohr:

„Rebecca, deine Liebe macht mich zum glücklichsten Menschen.“

„Ich weiß. Aber ich brauche auch dich und ich brauch auch deine Liebe. Lass uns mit einem Glas Champagner anstoßen.“

Er stand hinter der Theke, während sie ihm gegenüber saß und sie wollte jetzt versuchen, ihm die Geburtstagsparty auszureden.

„Können wir morgen nicht daheim bleiben?“, versuchte sie ihn zu umzustimmen.

Über diese Frage war er leicht ungehalten und erwiderte:

„Es ist ein Freund von mir, welcher uns eingeladen hat. Wir haben einmal im Sandkasten zusammengespielt.“

Sie sah ihm fest in die Augen und machte den letzten Versuch:

„Ich trau ihm nicht. Er ist wohl nach außen hin ein Gentleman, aber ich spüre aus ihm eine gefährliche Ausstrahlung. Er versucht ………“

„Rebecca, nein, wir gehen morgen zu der Party“, sagte er bestimmt. „Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst. Aber dann mach es wenigstens mir zuliebe.“

Rebecca gab es auf.

Sie wachte auf, als die Sonne auf ihr Gesicht schien. Sie streckte ihre Hand zu Arnold aus, aber die Hand ging ins Leere. Abrupt sprang sie aus dem Bett und rannte ins Esszimmer, wo Bär sie verschmitzt ansah.

„Warum hast du mich nicht geweckt?“, erzürnte sie sich.

„Warum sollte ich? Aber mein Engel, - wie du jetzt so dastehst, würde ich dich jetzt gerne vernaschen.“

„Du hast die ganze Nacht dazu Zeit gehabt. Aber du warst gestern Abend ja sooooo müde.“

Er sprang auf, ging auf sie zu und sagte:

„Lass uns das jetzt nachholen.“

„Nein, nicht jetzt. Aber ich mach jetzt Toilette und zeige dir dann, was ich gestern eingekauft habe.“

Nach einer ausgiebigen Dusche betrachtete sie sich in dem Wandspiegel. Die Natur hatte mit ihr nicht geknausert. Ihre schwarzen langen Haare schmeichelten ihrem schmalen Gesicht. Der klare durchdringende Blick ihrer dunklen Augen hatte schon manchen starken Mann bezwungen. Ihre Lippen hatten einen frechen erotischen Ausdruck. Sie war eine schlanke Person, aber ihre weiblichen Rundungen wurden von allen Männern angezogen. Sie war mit sich zufrieden. „Du spinnst Rebecca, du beschreibst Dich, als müsstest Du einen Steckbrief abgeben. Hör auf zu fantasieren!“ Sie wachte wieder auf und zog ihre Errungenschaft von gestern an. Sie fand, dass das zu gewagt war und Leo Kaucher wieder entsprechende Bemerkungen machen wird. Mit diesen Gedanken ging sie zu Arnold zurück, welcher sie mit bewundernden Augen ansah. Sie war so glücklich mit ihm und hatte Angst, dass es einmal zu Ende sein könnte. Rebecca, was hast Du heute für blöde Gedanken, dachte sie verärgert. Er hatte sie zu sich herangezogen und streichelte ihren Hintern.

Die Party sollte um 15.00 Uhr im Garten stattfinden. Kaucher hatte am Ortsrand von Weissach ein großes Grundstück. Er liebte große Feste, große Partys mit Musik und auch mit viel – Alkohol. Nach einer Zeit artet es dann aus und sie hatte darauf bestanden, dass sie vorher die Heimreise antreten. So trafen sie nach 16.00 Uhr ein und die Band hatte die Geräuschkulisse aufgedreht. Sie zählte gut und gerne an die 60 Besucher. Viele Gäste richteten sich zu ihnen und Rebecca bekam dabei ein besonderes Augenmerk. Leo Kaucher war seit zwei Jahren geschieden, war noch solo und so kam er ihnen alleine entgegen.

„Ich freue mich, dass ihr gekommen seid“, begrüßte er Rebecca und warf ihr dabei einen bohrenden Blick zu.

Dieser Gauner hat es immer noch nicht aufgegeben, dachte sie mit Verärgerung. Wenn er noch einmal das Thema eines Dates einschlagen sollte, dann musste sie es Arnold sagen. Während Leo Kaucher sie zum Stehtisch führte, beobachtete sie die Gäste, welche sehr gut aufgelegt waren und viele Paare das Tanzbein schwangen. Kaucher war ein Partylöwe und hatte einen großen Frauenverschleiß. Sie verstand nicht, was ihr Bär an seinem „Sandkastenspieler“ fand. Er besaß drei bekannte Möbelhäuser und hatte dazu noch letztes Jahr eine große Erbschaft gemacht. An dem Stehtisch stand ein hochgewachsener, gutaussehender Mann mit schwarzen Haaren und einem kleinen Oberlippenbart. Er machte auf sie einen guten Eindruck Kaucher stellte ihn mit Lars Larsen vor, er wäre Pharmavertreter und dadurch sehr viel im Ausland unterwegs. Doch wie er sie anstarrte, schockierte sie. Sie war es gewöhnt, dass sie oft angestarrt wird und sich die Männer für sie interessieren. Aber dieser Blick ging ihr durch Mark und Bein. Dieser Blick, das wäre, als ob sie verschlungen werden sollte. Seine Sprache und seine Bewegungen drückten eine starke Dominanz aus. Dieser Mann war ihr unheimlich und sie wäre am liebsten wieder umgekehrt. Sie schaute nur auf den Mann und bekam von den Gesprächen nichts mit, bis sie Arnold sagen hörte:

„Ich habe dort einen Kunden von mir gesehen. Ich will ihn nur begrüßen und komme gleich wieder zurück.“

Sie war mit den beiden Männern alleine und sie wendeten sich jetzt zu ihr. Und was der Lars Larsen sagte, verschlang ihr die Sprache:

„Sie sind verheiratet?“

„Natürlich“ entgegnete sie. „Warum diese Frage?“

„Weil ich Sie sofort geheiratet hätte.“

„Dazu gehören immer zwei. Aber geben Sie sich keine Mühe.“

„Aber ich darf Sie vielleicht trotzdem einmal einladen?“

„Nein“, antwortete sie energisch. „Nein Herr Larsen das dürfen Sie nicht.“

„Ich gebe nie auf“, antwortete er mit seiner Baritonstimme. „Und ob Sie verheiratet sind oder nicht, das interessiert mich nicht.“

Der ist ja noch dreister als der Kaucher, durchfuhr es sie und sie bekam Angstzustände. Um Zeit zu gewinnen, bis Arnold wieder zurückkehrte, ging sie auf die Toilette. Sie zitterte über diese bodenlose Frechheit am ganzen Körper. Nach einer Weile ging sie wieder langsam zum Tisch. Kaucher und Larsen standen mit den Rücken zu ihr und so merkten sie nicht, dass sie näher kam und was sie da von Larsen hörte, brachte sie in Panik:

„Diese Frau macht mich wahnsinnig. Koste es was es wolle. Die hole ich mir.“

Ihre Augen blitzten, als sie vor ihm stand und ihn anfauchte:

„Sie sind ein ungehobelter Flegel! Und mit solchen Menschen will ich nichts zu tun haben! Gehen Sie zum Teufel!“

Sie drehte sich auf ihrem Absatz und ging geradewegs auf Arnold zu, zupfte ihn am Ärmel und sagte nur:

„Komm!“

„Was ist los?“ hörte sie ihn nur noch überrascht fragen, während sie zum Wagen rannte. Er lief ihr hintendrein. Seine Fragen beachtete sie nicht, sie holte den Autoschlüssel aus ihrer Tasche, stieg ein und fuhr sofort los, nachdem er eingestiegen war. Sie schwieg lange Zeit, denn was dieser Kerl gesagt hatte, sprengte alle Unverschämtheiten. Nach viertelstündiger Fahrt redet sie wie ein Wasserfall und machte sich Luft. Er ließ sie reden. Nachdem sie sich langsam beruhigt hatte, sagte er:

„Dass selbst der Kaucher dir nachgestellt hat, hätte ich nie gedacht. Und dieses Schwein Larsen werde ich morgen anzeigen.“

„Mein Bär“, sagte sie nach einer Weile, „vergessen wir einfach diese Schweine und lass uns diesen Tag in einem schönen Restaurant ausklingen.“

Die halbe Nacht hatte Arnold darüber nachgedacht, was dieses Schwein gesagt hatte. Die hole ich mir.

Dieser Satz machte ihm große Sorgen. Langsam stand er auf, um Rebecca nicht zu wecken, Er hatte keine Ruhe, zog sich an und unternahm einen Spaziergang. Er griff zum Handy und wählte Leo Kaucher an, trotzdem es gerade kurz nach 8.00 Uhr war.

„Kaucher“, hörte er nach einer Weile seine verschlafene Stimme.

„Leo“, schrie Arnold ins Telefon. „Du bist wohl ganz von Sinnen, dieses Schwein einzuladen. Wenn du mit solchen Freunden verkehrst, dann sagt es alles über deinen miesen Charakter aus. Mit dir will ich nie mehr etwas zu tun haben.“

„Mensch Arnold, wir hatten doch schon eine Menge Alkohol intus.“

„Selbst dann sagt man nicht koste es, was es wolle, die hole ich mir. Ich verlange, dass sich dein zweifelhafter Freund bei Rebecca in aller Form entschuldigt. Und dir kündige ich die Freundschaft!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, unterbrach er die Verbindung, eilte nach Hause und war erleichtert, dass Rebecca noch schlief. Eilig machte er das Frühstück und war gerade fertig, als Rebecca erschien. Sie stutzte, ein Lächeln flog über ihre Lippen und sie sagte verschlafen:

„Mein Bär. Habe ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?“

„Heute noch nicht. Aber du machst mich immer wieder glücklich, wenn du es sagst.“

Wie eine Katze schlich sie sich zu ihm, nahm seinen Kopf in beide Hände und brannte ihm einen Kuss auf seine Lippen. Seine leuchtenden Augen sprachen dabei mehr als tausend Worte.

Inzwischen war es Nachmittag geworden. Der Herrgott ließ seine Sonne strahlen und nur ein paar Federwolken zogen am Himmel vorbei. Arnold reizte es mit Rebecca in ihr Ferienhaus nach Freudenstadt zu fahren. Nach dem gestrigen Tag war er nicht in der Lage in sein Geschäft zu gehen, doch er wusste, dass durch seinen Geschäftsführer alles ohne Ärgernisse ablief. Freudig stimmte Rebecca zu. Als sie aus dem Haus traten, sah er einen roten Rosenstrauß auf ihrem Kühler liegen. In ihm kochte es. Rebecca übergab ihm den Rosenstrauß und öffnete den Brief, der daneben lag. Sie öffnete diesen und las vor:

Liebe Rebecca.

Darf ich Sie so nennen? Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Was ich gesagt habe,

konnte nur durch den starken Einfluss des Alkohols geschehen. Aber ich darf Ihnen

doch sagen, dass Sie eine außergewöhnliche Frau sind und Ihr Mann zu beneiden ist?

Bitte verzeihen Sie mir. Ich wünsche Ihnen alles Gute.

Lars Larsen

Rebecca las zwei Mal den Brief und überreichte ihm diesen. Danach schaute sie ihn erwartungsvoll an und wartete auf seine Meinung. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Die Entschuldigung fand er okay. Aber musste es dann dazu noch so ein so großer roter Rosenstrauß sein? Sie wartete wohl nicht mehr auf seine Entgegnung, schüttelte nur den Kopf und er verstand, dass sie an seine Entschuldigung nicht glaubte.

Andrina

Andrina Suker starrte aus dem Fenster ihrer 3-Zimmer-Wohnung in Leonberg in der Schillerstraße 12. Alles da unten schien so friedlich. Viele gingen heute am Sonntag in die Kirche. Eine Gruppe Fahrradfahrer war auf dem Weg zu einer Sonntagstour. Ein altes Ehepaar ging Hand in Hand, was Seltenheitswert besaß. Andrina wendete sich vom Fenster ab, ging zu ihrer kleinen Bar und schenkte sich ein Glas Champagner ein. Sie setzte sich auf den Barhocker und dachte zurück. Sie war alleine, wenn man einmal von ihrem langjährigen Verlobten Alfred Schulz absah, welcher sie ständig bedrängte, ihn zu heiraten. Nach zwei Jahren Zusammensein hatte jeder immer noch seine eigene Wohnung und ihre Zweifel für eine Ehe mit ihm wurden ständig größer. Inzwischen war sie 33 Jahre und wusste, dass sie bald in den Ehehafen einfahren sollte.

Ihre Gedanken gingen nach Kroatien. An ihre Eltern, welche eine kleine Landwirtschaft betrieben, an ihre Schwester und an ihre Flucht. Es war das Jahr 1991, als der Krieg ausbrach und ihre Eltern verlangten, dass sie mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester Alisa nach Deutschland flüchten sollte. Bei der Flucht wurden sie und Alisa in Slowenien von einer Bande aufgegriffen und über acht Wochen waren sie schwerster Erniedrigungen ausgesetzt. Nach acht Wochen gelang ihnen die Flucht, wurden jedoch von der Bande verfolgt und Alisa starb durch einen Schuss in den Rücken. Andrina musste sie zurücklassen. Dass sie ihre Schwester nicht einmal beerdigen konnte, bescherte ihr immer wieder schwere Albträume. Sie machte sich auch bittere Vorwürfe, dass sie ihre Eltern zurückgelassen hatte, welche dann später von Partisanen ermordet wurden. Andrina war so aufgewühlt, dass sie sich erneut einen Champagner einschenkte und diesen, ohne abzusetzen austrank. Nach zwei Jahren ihres Aufenthaltes in Deutschland, erhielt sie bei Reifen-Hager in Ludwigsburg eine Arbeitsstelle als Sekretärin. Der Betrieb wurde vor einem halben Jahr an den Autohof Bertrich verkauft. Der neue Besitzer des Betriebes wollte sie mit Zuckerbrot und Peitsche zwingen, dass sie ihn auf den Geschäftsreisen begleitet und willig ist. Hätte sie zugesagt, dann hätte sie ein Leben in Luxus führen können. Nach ihrer Absage wurde sie sofort entlassen und war seitdem arbeitslos. Heute bereute sie, dass sie es nicht fertiggebracht hatte, mit ihm zu schlafen. Sie wusste, dass sie hübsch war. Sie maß nur 1,67, besaß jedoch eine stark weibliche Figur. Ihre schmale Taille hob ihren strammen Po ins richtige Blickfeld. Jeder Mann fühlte sich von ihm angezogen, denn alle Männerblicke richteten sich sofort auf diesen Teil ihres Körpers. Die neidvolle Blicke ihrer Geschlechtsgenossinnen sprachen eine besondere Sprache. Stolz war sie über ihre kleinen, aber festen Brüste. Stolz war sie auch auf ihre kastanienroten lockigen Haare und ihre großen rehbraunen Augen. Durch ihr schlankes Gesicht, ihren erotischen Mund und ihre strahlend weißen Zähne, schlugen ihr Sympathiewellen entgegen. Das alles wusste sie. Dabei hätte sie schon längst die Ehefrau eines Managers oder Fabrikbesitzers sein können. Doch sie suchte immer noch, trotz ihres Alters mit 33 Jahren, die große Liebe. Nach einem halben Jahr wollte sie jedoch unbedingt wieder arbeiten und hoffte, dass sie morgen beim Vorstellungstermin als Sekretärin bei der Drogeriekette Entress Erfolg hat. Sie nahm sich vor, dieses Mal mit ihren weiblichen Waffen zu kämpfen und war jetzt bereit, diesen Weg einzuschlagen.

Der Gedanke, welcher sich bei ihr eingenistet hatte, verwirrte sie. Der Entschluss, das Leben zu ändern, indem sie bereit war, ihren Körper zu verkaufen, - war für sie ein neuer Lebensabschnitt. Dadurch hatte sie es in der Hand, ein Leben in Luxus zu führen. Sie wusste, dass sie aufgrund ihrer starken weiblichen Figur jeden Mann an sich ziehen und ihn auch gefügig machen konnte. Dass ihr Verlobter davon nicht begeistert sein würde, das musste sie in Kauf nehmen.

So bummelte sie in Stuttgart in der Königstraße und versuchte das passende Kleidungsstück zu erhaschen. Nach über drei Stunden erfolglosem Bummeln wurde es ihr leid. Auf dem Weg zum Parkhaus ging sie durch eine Passage und wurde von den Auslagen einer Boutique magisch angezogen. Ein schwarzer kurzer Lederrock fand ihr Interesse. Sie betrat das Geschäft und schlupfte in den Rock. Durch den hautengen geschnittenen Rock und dem anschmiegsamen Leder wurde ihr knackiger Hintern in das richtige Blickfeld gerückt. Schwarze, wadenlange Schnürstiefel rundeten ihr Outfit ab. Das, was sie da jetzt trug, war schon sehr gewagt und hatte schon einen Touch ins zwielichtige Milieu hinein. Sie entschloss sich, die Sachen gleich anzubehalten. Sie war es gewöhnt, dass sich alle Männer nach ihr umdrehten, aber als sie nun zu dem Parkhaus ging, wurde sie mit den Augen buchstäblich ausgezogen. Sie begann zu zweifeln, ob sie sich richtig entschieden hatte. Doch sie wollte aus dem normalen Leben ausbrechen, dazu war sie jetzt bereit, ihren Körper zu verkaufen und es sollte ein Bestandteil ihres Lebens werden. Sie steuerte das Café Königsbau an und wählte einen kleinen Tisch am Fenster aus. Sie bestellte sich einen Eiskaffee und holte noch einmal aus ihrer Handtasche das Schreiben von Entress hervor. Sie hatte bereits über das Internet in Erfahrung gebracht, dass er 55 Jahre alt war und seit 32 Jahren mit einer Russin verheiratet ist. Seine zwei Söhne im Alter von 31 und 24 Jahren waren in seinem Geschäft eingebunden. Sollte sie sich dem 55-jährigen Mann ausliefern? Egal, - sie würde es tun. Und sie würde es so anstellen, dass sie sich als letzte Bewerberin vorstellt. Als sich ein älterer Herr mit grauen Schläfen zu ihr setzte, bezahlte sie und ging ins Parkhaus.

Es war schon 17.00 Uhr, als sie sich auf den Heimweg machte. Ihre Gefühlswelt nahm sie gefangen. Wie sollte sie sich jetzt gegenüber ihrem Verlobten verhalten? Früher oder später musste sie ihm ihre Entscheidung mitteilen, aber sie wusste auch, dass Alfred nicht der Mann war, den sie heiraten konnte. Schweren Herzens schloss sie die Wohnungstür auf. Er kam ihr entgegen, stutzte und empfing sie mit den Worten:

„Wie siehst denn du aus? - Willst du mich reizen?“

Andrina hing ihre Handtasche an den Garderobenständer und sagte zaghaft:

„Alfred, - wir sollten uns einmal über uns unterhalten.“

Sein Gesicht verfinsterte sich. Er trat näher zu ihr und wollte sie in den Arm nehmen. Sie wendete sich langsam von ihm ab, ging ins Wohnzimmer und erschrak. Er hatte den Tisch liebevoll gedeckt und in der Mitte des Tisches stand in einer kleinen Vase eine rote Rose. Konnte sie ihm klaren Wein einschenken? Zwei Jahre Zusammensein war eine lange Zeit. Aber sie hatte nie das Feuer gespürt, welches sie sich immer so gewünscht hatte. Sie wusste, dass sie ihn nie heiraten konnte. Und sie durfte ihn darüber nicht mehr länger im Unklaren lassen. Ihre Zunge weigerte sich jedoch, das Unausweichliche auszusprechen.

„Was ist los, Andrina?“ hörte sie ihn wie aus weiter Ferne sagen. „Hast du einen neuen Freund?“, bohrte er weiter. „Willst du dich von mir trennen? Sprich!“

Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und sah ihn schweigend an. Er war schon ein gutaussehender durchtrainierter Mann mit viel Charme. Viele Frauen hätten sich gewünscht, ihn an ihrer Seite zu haben. Selbst ihre Freundin Gabriela hatte einmal versucht, ihn an Land zu ziehen. Aber sie hatte zu Alfred einfach nur freundschaftliche Gefühle, auch wenn sie einmal eine Zeit glaubte, es könnte mehr werden.

„Warum schweigst du?“, unterbrach er sie bei ihren Gedanken. Sie blickte ihm fest in seine grauen Augen und sagte mit verkrampfter Stimme:

„Ich, - - ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.“, dabei schaute sie ihn traurig an.

„Du willst dich also von mir trennen! Ich habe schon die ganze Zeit gespürt, dass du dich langsam von mir abwendest. Wenn ich Sex mit dir haben wollte, dann ziehst du dich von mir zurück. Und wenn es dann doch dazu kommt, dann spüre ich deine tötende Passivität.“

„Ja, Alfred. du hast es richtig empfunden. Ich …“

„Hör auf dich zu rechtfertigen! Ich habe es schon die ganze Zeit geahnt. Die letzten zwei Jahre waren wunderbar und ich hatte immer gehofft, dass ich irgendwann dein JA-Wort erhalte. Das war ein großer Trugschluss.“

Tränen standen ihm in den Augen. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Sie sah, wie er litt und auch sie hatte mit sich zu kämpfen, lebten sie doch wie ein Ehepaar zusammen und hatten gemeinsam sehr schöne Stunden verbracht. Sie mochte ihn. Aber sie mochte ihn eben nur. Ihr Blick richtete sich auf den Boden. Sie kam sich schäbig vor und war nicht mehr imstande noch etwas zu sagen.

„Also ist es wahr“, sagte er erregt.

„Ja. - - - Ich wollte es dir schon viel früher sagen, hatte bisher jedoch nicht den Mut aufgebracht.“

Alfred ging erregt im Zimmer auf und ab und fasste sich immer wieder in die Haare. Schaute kurz aus dem Fenster, drehte sich abrupt um und fragte:

„Gibst du uns noch eine zweite Chance?“

„Darum geht es nicht. Ich liebe dich nicht stark genug und deshalb müssen wir uns trennen.“

Diesen traurigen Blick, den er ihr zuwarf, würde sie nie vergessen. Sie wusste, dass er sie abgöttisch liebte, aber sie konnte ihm diese Liebe nicht erwidern. Schweigend trafen sich ihre Blicke, er legte ihr den Wohnungsschlüssel auf den Tisch, drehte sich langsam um und verließ mit schnellen Schritten die Wohnung. Das kräftige Zuschlagen der Tür hallte in ihr noch lange nach.

Zwei Jahre Gemeinsamkeit hatten sich in Luft aufgelöst. Der liebevoll gedeckte Tisch mit Champagner und der roten Rose brachten ihre Gefühlswelt in Wallung. Aber sie wusste schließlich, dass sie Alfred nie geheiratet hätte und auch er hatte gespürt, dass sie mit ihm immer weniger Sex wollte und die Passivität ihm gegenüber immer stärker geworden war. Ihre Wut und Verzweiflung bekamen die Oberhand. Sie zog mit einem Ruck die Tischdecke vom Tisch. Das Porzellan zerbrach, die Vase mit der roten Rose zerschellte in tausend Stücke. Heulend ging sie in ihr Schlafzimmer, warf sich ins Bett, zog das Kissen über ihr Gesicht und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Sie hatte die ganze Nacht schlecht geschlafen. Immer wieder musste sie an Alfred denken. Und dann ihre Sinnesänderung. Langsam erhob sie sich aus dem Bett und musste feststellen, dass sie immer noch die neuen Klamotten anhatte. Sie betrachtete sich im Spiegel. Nicht schlecht. Aber für die Vorstellung zu sehr gewagt. Sie machte die Schranktür auf und wechselte ihre Garderobe. Sie wählte ein lindgrünes, figurbetontes Kostüm aus und hing sich eine große Bernsteinkette um den Hals. So gefiel sie sich schon besser. Aber sie war sicher, dass sie das abgelegte Outfit irgendwann einmal brauchen würde.

Andrina war es mulmig, als sie um 13.00 Uhr mit ihrem roten Polo langsam in die Industriestraße einbog. Am Ende der Straße stand der große Glaspalast. Das Gebäude selbst hatte eine weiße Fassade und der Parkplatz mit den Birkenbäumen hinterließ einen freundlichen Eindruck. Da sie sich vorgenommen hatte, sich als letzte Bewerberin vorzustellen, auch wenn ihr Vorstellungstermin bereits um 13.30 war, parkte sie eine halbe Stunde vor ihren Vorstellungstermin 50 Meter vom Betriebseingang entfernt, von wo sie einen guten Überblick hatte. Um 14.00 Uhr erschien die erste gut gekleidete Bewerberin mit einem kleinen schmalen Lederkoffer. Im Rhythmus von 20 Minuten erschien eine Bewerberin nach der anderen. Sie zählte schließlich 9 Bewerberinnen. Nachdem keine mehr erschien, machte sie sich auf den Weg, stieg die breite Marmortreppe hoch und betrat den Empfangsraum. Eine ältere, etwas bucklige hagere Frau kam ihr entgegen, fragte Andrina nach dem Grund ihres Besuches und rümpfte die Nase, als sie ihren Namen nannte.

„Sie haben die Zeit nicht eingehalten“, antwortete die Empfangsdame in einem leicht barschen Ton. „Ich muss erst Frau Entress fragen, ob sie noch interessiert ist.“

Sie ging an das Telefon, sprach eine Weile und forderte dann Andrina auf, sich zu setzen. Sie nahm auf einem schwarzen Ledersessel Platz. Frau Entress? Suchte womöglich seine Frau seine Sekretärin aus? Sie griff nach dem Firmenbuch, welches auf dem kleinen Tisch aus Rauchglas ausgelegt war. Ihr wurde dabei die Größe des Betriebes bewusst. Entress hatte in Europa 112 Filialen und über 1555 Angestellte beschäftigt. Andrina ahnte, wenn seine Frau die Sekretärin aussucht, dann hatte sie schlechte Karten. Schließlich wurde sie in die oberste Etage zum Büro begleitet. Hinter dem massiven Schreibtisch saß eine etwas starkgebaute kleine Frau, welche sie, wie es Andrina schien, ein wenig misstrauisch betrachtete. Sie war keine Schönheit, aber hatte ein freundliches, aber auch sehr energisches Auftreten. Frau Entress erhob sich von ihrem weißen Ledersessel, begrüßte Andrina und bat sie, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Ohne Umschweife begann sie:

„Die langjährige Sekretärin meines Mannes ist leider vor vier Wochen verstorben und so suche ich für ihn die Nachfolgerin. Ich habe vor Ihnen bereits 9 Bewerbungsgespräche geführt und muss Ihnen gestehen, dass ich hinsichtlich Ihrer Kompetenz nichts einzuwenden hätte“

Frau Entress blätterte ihre Bewerbungsunterlagen durch und nickte immer wieder mit dem Kopf.

„Alles spricht für Sie. Dass Sie fünf Fremdsprachen perfekt beherrschen, wäre für die Tätigkeit sehr von Nutzen, da wir im Ausland stark expandieren. Wo haben Sie das gelernt?“

„Ich hatte es bereits angegeben. Deutsch habe ich in Deutschland gelernt. Kroatisch ist meine Muttersprache, denn ich bin Kroatin. Meine Mutter war Russin und bei meiner Tätigkeit bei Reifen-Hager war ich viel im Ausland und musste deshalb die englische und spanische Sprache lernen.“

„Oh ja, Entschuldigung. Hier steht es ja. Obwohl Sie die richtige Person für meinen Mann wären, muss ich Sie ablehnen.“

Frau Entress ließ sich in den Sessel fallen und spielte mit ihrem Kugelschreiber. Hinter ihrer Stirn schien es zu arbeiten. Sie lehnte sich zurück, schaute Andrina fest in die Augen und sagte dann mit einem gewissen Mitgefühl:

„Es gibt nur einen Grund, warum ich Sie ablehnen muss.“ Sie machte eine kleine Pause und sagte dann: „Frau Suker, Sie sind zu hübsch für meinen Mann. Sie wären nicht nur fast den ganzen Tag mit ihm zusammen, sondern auch auf Geschäftsreisen. Und das ist mir zu gefährlich, wenn Sie im gleichen Hotel absteigen müssen.“

„Ich habe an Ihrem Mann kein Interesse.“

„Nein Frau Suker. Natürlich nicht. Aber Sie sind leider zu gut gebaut und außerdem zu intelligent. Früher oder später wäre die Versuchung für meinen Mann zu groß und er wird Ihnen auf Dauer nicht widerstehen können. Es tut mir leid, Frau Suker.“

„Da haben sich doch auch gewiss mehrere hübschen Bewerberinnen vorgestellt.“

„Ja, natürlich. Aber ich muss aufpassen und will meinem Mann keine Gelegenheit bieten. Wenn ich meinen Mann nicht so lieben würde, wäre das für mich leichter. Aber bei Ihnen Frau Suker, wäre der Fehltritt meines Mannes unausweichlich. Jeder Mann wird Ihnen auf Dauer nicht widerstehen können und ich begreife nicht, warum Sie noch ledig sind.“

„Ich suche die große Liebe.“

„Na, - da kann ich Ihnen nur viel Glück wünschen.“

„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit Frau Entress und dann will ich mich von Ihnen verabschieden und wünsche auch Ihnen, dass Sie die richtige Person für Ihren Mann finden werden.“

„Wenn ich für mich eine Sekretärin suchen würde, hatte ich Sie sofort eingestellt.“

Andrina verabschiedete sich und ging mit Ihren Bewerbungsunterlagen mit gemischten Gefühlen nach Hause.

Als Andrina ihre Wohnung betrat, fühlte sie sich verlassen und ausgelaugt. Ihrem Verlobten hatte sie den Laufpass gegeben, sie war ohne Arbeit und ihr neuer Weg hatte auch nicht gefruchtet. Sie fühlte sich einsam und musste wieder an Alisa denken. Immer wieder bekam sie Zweifel, ob sie wirklich tot war. Wollte sie nur, dass sie sich in Sicherheit bringt? Wieso musste sie jetzt daran denken? Warum kamen ihr immer wieder Zweifel? Sie musste mit jemandem sprechen. Kurz entschlossen griff sie zum Telefonhörer und telefonierte mit ihrer früheren Kollegin und Freundin Anita Renner.

Jürgen Wernau

Er hatte das Saufen angefangen. Angefangen, weil sein Bruder Michael ihn in den Abgrund gestürzt hatte. Was waren sie doch für Brüder. Niemand konnte sie jemals auseinanderbringen. Und dann hatte er schlagartig zugeschlagen. Das war vor 10 Jahren. Er hatte ihn danach gehasst, - gehasst wie ein Mensch einen anderen Menschen nur hassen konnte. Zeitweise wurde der Hass so stark, dass er die ernste Absicht hatte, ihn zu töten. Denn er war es, welcher ihn in diese ausweglose Lage katapultiert hatte. Er war es, dass er zum Alkoholiker wurde. Er war es, dass aus einem bekannten Architekten ein Müllbauer wurde. Er war es, dass er ein Luderleben begonnen hatte. Dann lernte er die Krankenschwester Carola Lister kennen und lieben. Vor fünf Jahren heirateten sie und sie brachte es fertig, dass er trocken wurde und das Luderleben aufgab. Als sie voriges Jahr starb, verfiel er erneut dem Alkohol. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich ständig. Er wusste, dass er sich dagegen auflehnen musste oder zugrunde gehen würde. In Gedanken an Carola raffte er sich auf, schaffte den Sprung zu einem halbwegs normalen Leben und wohnt in dem alten reparaturbedürftigen Haus seiner verstorbenen Frau.

Doch dann fiel er zurück und ahnte, dass er wieder dabei war seinen Halt zu verlieren. Es war 14.00 Uhr, als er auf dem Weg zu der Kneipe Zerrupfter Hahn ging. Seit letzter Zeit hatte er öfters Herzstiche in der Brust. War das das erste Anzeichen eines Herzinfarktes? Als er in die Straße Mühlengasse einbog, ging gleich sein Blick zu der Beschriftung Zerrupfter Hahn. Darüber hing aus verwittertem Holz ein zerrupfter Hahn, der sich im Wind leicht bewegte. Der Gedanke, dass er der zerrupfte Vogel war, brachte ihn in eine depressive Stimmung. Er trat ein und ihm wurde übel, als er die heruntergekommenen Gestalten sah, die, wie er, im Abseits standen oder gestoßen wurden. Einige Kumpane drehten sich zu ihm und begrüßten ihn lässig mit Handzeichen. Manfred Huber, ein Obdachloser, kam ihm entgegen, legte lallend seine Hand über seine Schulter und zog ihn zu seinem Tisch, wo schon zwei heruntergekommene Trinkbrüder saßen.

„Lange dich nicht mehr gesehen“, sagte Huber und es fiel ihm sichtlich schwer, den Satz normal auszusprechen. Er bestellte für sich und für ihn ein Bier.

Mein Gott, er war wieder menschlich heruntergekommen, musste an Carola denken und spürte in der Herzgegend wieder die brennenden Stiche. Warum hatte Carola ihn verlassen? Warum musste Gott das ihm antun?

„Hey, mach nicht so ein Gesicht“, lallte ihn der eine an, den er bisher noch nie gesehen hatte. Jürgen Wernau hob den Bierkrug hoch, prostete seinem Gegenüber zu und spürte zugleich eine Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich herum und sah in das Gesicht seines einzigen verbliebenen Freundes Stefan Grater.

„Jürgen was machst du hier? Komm wir gehen zu mir.“

Er legte ein 10 Euroschein auf den Tisch, zog ihn energisch hoch, legte seinen Arm über seine Hüfte und führte ihn aus der Kneipe. Widerstrebend schob er ihn ins Auto und fuhr sofort los. Stefan Grater, Abteilungsleiter in einem bekannten Möbelgeschäft, ein korpulenter Mann mit einem runden dicken Gesicht, etwas wulstigen Lippen, dunklen fülligen Haare, Vollbart und braunen Augen, welche sich hinter einer dicken Hornbrille versteckten, machten aus ihm einen Kumpel, mit welchem man gerne zusammen ist. Unterwegs wendete er und steuerte in Heilbronn den Neckarpark an. Durch das herrliche Wetter am Samstag, war der Park gut besucht. Nachdem die beiden schweigend durch den Park gingen, begann Jürgen Harter:

„Du lässt dich wieder gehen. Das hat Carola nicht verdient. Sie hat dich aus dem Dreck herausgeholt und wie würde es ihr wehtun, wenn sie das jetzt mit dir ansehen müsste?“

„Ich weiß“, stotterte er. „Aber ich fühle mich so einsam und verlassen.“

„Du bist nicht alleine. Du hast Gott und - mich.“

„Du bist ein so guter Freund. Aber es ist so schwer zu vergessen, trotzdem ich jetzt dabei bin, nachdem ich vieles erfahren habe. Meine Hörigkeit zu dieser Frau war schuld.“

„Lass uns dort hinsetzen“, und er zeigte zu einer gerade freigewordenen Bank am Rosenteich. Nachdem sie sich niedergelassen hatten, forderte er seinen Freund auf:

„Sprich! Erzähle!“

Nach einer kleinen Pause begann er zu sprechen:

„Dass mir Michael das angetan hatte, nein, das kann ich ihm nie vergessen. Dabei hatte ich ihm einmal das Leben gerettet. Manchmal habe ich solche Wut auf ihn - dass ich mir gewünscht hätte, ihn ……“, er schwieg und machte Anstalten nicht mehr weitersprechen zu wollen und vergrub sein Gesicht mit den Händen.

„Weiter, erzähle!“, forderte ihn sein Freund erneut auf.

„Wir waren mit unseren Eltern in Ferien. Er war 5 und ich 11. Es war ein sehr, sehr heißer Sommertag im August. Der kleine Bergsee in Österreich verführte zum Baden, trotzdem das Wasser recht kalt war. Weil es landschaftlich so wunderschön war, wir alleine waren, wollten unsere Eltern zum Einkaufen fahren, um hier in der Natur zu picknicken. Nach einer Stunde wollten sie wieder zurück sein und ich sollte in dieser Zeit auf meinem kleinen Bruder aufpassen.“

Jürgen Wernau nahm wieder die Hände vom Gesicht und schaute abwesend auf den Teich. Zwei Buben plantschten mit den Händen in dem Teich. Die Mutter kam hinzu und verbot es ihnen. Dabei wurde er in die Vergangenheit katapultiert und es schien alles wieder real vor seinen Augen. Mit starker Erregung sprach er weiter:

„Die Eltern waren fortgefahren und ich war mit Michael allein. Ich hatte nicht viel Lust auf meinen Bruder aufzupassen und so kletterte ich auf den Baum. Als ich ziemlich oben auf der Spitze des Baumes angelangt war, hörte ich Michael schreien und sah, dass er von einem laufähnlichen Steg ins Wasser gefallen war. Er konnte nicht schwimmen und ich stürzte vom Baum, rannte zum Wasser, konnte Michael nicht mehr sehen und sprang ins Wasser. Ich tauchte herab, konnte ihn ausmachen und zog ihn aus dem Wasser. Ein Wanderer, welcher glücklicherweise in der Nähe war, machte Wiederbelebungsversuche und schaffte es, dass er wieder zu sich kam. Durch das Herabstürzen vom Baum hatte ich mir meinen linken Fuß gebrochen und vor lauter Angst um Michael nichts gespürt. Dieses ging mir lange Zeit nach und in der Zukunft achtete ich immer ganz besonders auf Michael. Und dass er mir dann nach vielen Jahren so böse mitgespielt hatte, war für mich die größte Enttäuschung meines Lebens. Ich begann ihn zu hassen.“

„Du musst ihm nach den vielen Jahren endlich verzeihen.“

„Nein, niemals. Er hat mir 10 Jahre gestohlen. 10 lange Jahre meines Lebens. Ich bin dabei zu vergessen. Aber verzeihen nie! Nie!“

Arnold Kaiser

Arnold Kaiser, ein etwas übergewichtiger, mittelgroßer Mann um die 40, schlenderte in Stuttgart durch die Königstraße. Es herrschte auf der Straße ein reges Treiben. Viele, besonders junge Paare, gingen Hand in Hand und betrachteten die Auslagen. Ein Straßenmusikant spielte auf eine Panflöte mexikanische Lieder. Er blieb stehen und lauschte. Dabei wurde er schwermütig und dachte an das Geschehen vor einem Jahr zurück. Seine Hände ballten sich zu Fäusten zusammen. Er musste zusehen, was geschah, war machtlos gewesen und musste den aufkommenden Verzweiflungsschrei unterdrücken. Sein neugewordener Freund Helmut Fechter tat alles ihm zu helfen, aber das Geschehen konnte auch er nicht rückgängig machen.

Er blieb vor den Auslagen eines Modegeschäftes stehen. Das ganze Schaufenster war mit hellgrüner Damenoberkleidung ausgelegt. Grün, die Lieblingsfarbe von Rebecca. Und sie liebte es, die Kleidung immer figurbetont auszuwählen. Ihre langen schwarzen Haare, dazu die erotische Figur, - das konnte nicht besser passen. Wie gerne würde er ihr jetzt alles zu Füßen legen. Aber, - das Schicksal hatte zugeschlagen. Er ging weiter und machte auf dem Schlossplatz halt, wo er sich ächzend niederließ. Seine Hände bedeckten sein Gesicht und er musste dagegen ankämpfen, nicht in Verzweiflung auszubrechen. Mit zittrigen Händen steckte er sich eine Zigarre an. Seit dem Tag, als das geschah, hatte er mit dem Rauchen begonnen. Die Versuchung durch Alkohol den Schmerz zu verdrängen, hatte er bisher wiedererstanden. Als sich ein älterer gehbehinderter Mann neben ihn setzte, stand er auf und ging zum Parkhaus. Er stieg in seinen weißen Porsche und steuerte sein Ferienhaus in Freudenstadt an.

Kein Lichtblick mehr.

Michael Wernau hatte sich in seinen Passat gestürzt und war davongerast. Er wusste nicht wohin, er wollte nur fort, weit fort. Dann hatte sich die Hitze des Tages mit einem gewaltigen Sturm, Blitz und Donner verabschiedet. Der Regen peitschte mit voller Wucht gegen die Frontscheibe seines Wagens. Der tornadoartige Sturm ließ nicht zu, dass er die Fahrspur einhalten konnte.

Seit vielen Stunden war er unterwegs und wusste nicht wohin. Er kannte kein Ziel und keine Zeit. Das gleichmäßige Brummen seines Diesels verstärkte seine Qualen. Mit den gewaltigen Regenmassen, welche vom Himmel stürzten, fühlte er sich verbunden. Düstere Gedanken überlagerten die Normalität. Er fuhr und fuhr, fand kein Ziel und hatte jeden Halt verloren. Er war auf der Flucht. Auf der Flucht vor sich selbst und er wusste nur, dass er sich inzwischen im Schwarzwald befand. Die Bäume, welche bedenklich schwankten, der Sturm, welcher seinen Wagen durchschüttelte, die Blitze und der darauffolgende Donner verstärkten seine depressiven Gedanken und ließen ihn in den Abgrund stürzen. Tiefe Resignation beherrschte seine Seele, er war verzweifelt, hatte jeglichen Halt verloren und wollte nicht mehr. Er schrie immer wieder seine Verzweiflung heraus. Als das Unwetter noch weiter an Stärke zunahm, steuerte er einen Parkplatz an, stellte den Motor ab, schloss die Augen und versuchte durch Nichtdenken seine Stabilität zurückzugewinnen. Doch die Verzweiflung hatte ihn voll im Griff und ließ ihn nicht mehr los. Sein Kopf fiel auf das Lenkrad und er konnte die Tränenflut nicht zurückhalten. Körper und Geist waren am Ende angelangt und der Schlaf holte ihn für eine Zeit in das Reich des Vergessens.

Er wachte auf, als er im Genick heftige Schmerzen verspürte und auf seiner Brust lasteten Mühlensteine. Sturm und Regen hatten sich verzogen und die Hitze des Tages hatte ihr Ende gefunden. Als die ersten Sonnenstrahlen wieder durch die Bäume schienen, trat er aus dem Wagen. Er streckte sich, um dem Körper wieder seine Flexibilität zurückzugeben. Gedankenversunken blickte er in die Tiefe des Waldes und musste daran denken, wie oft er mit Diana und ihren beiden Töchtern durch den Wald spazieren gegangen war. Jetzt war er alleine. Mit einem Schlag hatte das unvorstellbare Ereignis in sein Leben eingegriffen. Leben? Nein, er wollte nicht mehr. Er ging in den Wald hinein, schrie seine Verzweiflung heraus und legte weinend sein Gesicht an einen Baumstamm. Unfähig sich zu bewegen. Er wurde aufgeschreckt, als ein Fremder ihm zurief:

„Sind Sie in Ordnung?“

Langsam drehte sich Michael herum und sah einen korpulenten aber kräftigen Mann mittleren Alters vor einen weißen Porsche stehen. Für den Fremden empfand er eine gewisse Sympathie und irgendwie strömte er Ruhe und Mitgefühl aus. Er war nicht sehr groß, besaß eine breite Kopfform und seine fülligen braunen Haare hatten schon einen Grauschimmer angenommen. Der warme Blick seiner dunklen Augen, welche durch kräftige Augenbraunen umrahmt waren, flößte ihm Vertrauen ein.

„Kann ich Ihnen helfen?“, sprach er Michael erneut an.

„Nein, nein“, antwortete er mit leiser Stimme.

„Das glauben Sie doch selbst nicht. Sie haben ganz verheulte Augen. Was ist passiert?“

Gedankenverloren sah Michael den Fremden an und war nicht imstande zu antworten. Der Fremde war an ihn herangetreten, legte seine prankenartige Hand auf seine Schulter und sagte:

„Kommen Sie in mein Fahrzeug und erzählen Sie mir etwas!“

Michael stieg wie eine Marionette in den Wagen. Eine ganze Zeit saßen sie nebeneinander, ohne dass ein Wort fiel. Er versuchte zu sprechen, aber es kam nur ein Krächzen heraus. Der Fremde sah ihm in die Augen und sagte mit eindringlicher Stimme:

„Mein Gott, was haben Sie erlebt? Ihnen muss etwas Furchtbares widerfahren sein. Erzählen Sie, vielleicht kann ich Ihnen helfen.“

Michael verdeckte mit seinen Händen das Gesicht und krächzte:

„Niemand kann mir helfen.“

Erzählen Sie, es erleichtert Ihre Seele.“

Sollte er dem Fremden von seinem Schicksalsschlag erzählen? Doch er musste sprechen, musste unbedingt reden und so begann er:

„Ich habe meine Familie verloren. Heute war die Beerdigung. Nachdem ich meine Frau Diana und unsere beiden Töchter mit sieben und acht Jahren zu Grabe getragen hatte, konnte ich es nicht mehr aushalten, heulte und rannte wie ein gehetztes Tier zu meinem Wagen, stieg ein und raste ohne Ziel los und schrie meinen Kummer heraus. Dann das heranziehende Unwetter, was meine Lage noch verschlimmerte. Schließlich bin ich auf diesen Parkplatz eingebogen, wo Sie mich dann ja auch gefunden haben.“

Der Fremde legte beide Arme auf das Lenkrad und starrte schweigend aus dem Fenster. Es herrschte Totenstille. Schließlich brach er das Schweigen:

„Ich kann mit Ihnen mitfühlen. Eine ganze Familie zu verlieren, muss einen in den Abgrund stürzen. Aber wollen Sie mir sagen, wie Sie Ihre Familie verloren haben?“

Michael beugte sich nach vorne und bedeckte sein Gesicht mit den Händen und musste zurückdenken, dass sie alle vor einer Woche noch zusammensaßen. Doch heute war er alleine und konnte nicht glauben und nicht begreifen, dass Diana, Lydia und Carmen nicht mehr da waren. Er begann erneut zu weinen.

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich mit meiner Frage Ihre Lage noch verschlimmert habe“, hörte er ihn sagen.

„Sie können die Lage gar nicht mehr verschlimmern. Irgendwie muss ich dieses schreckliche Ereignis verarbeiten und ich sollte darüber reden. Aber es fällt so entsetzlich schwer.“

Er richtete sich wieder auf, schaute aus dem Seitenfenster und begann:

„Letzte Woche war Diana mit Lydia und Carmen zu ihrer Tante nach Ulm gefahren. Bei ihrer Heimfahrt, kurz nach der Autobahnausfahrt in Wendlingen kam ihnen ein Geisterfahrer entgegen. Den Zusammenstoß überlebten Diana, Lydia und Carmen nicht. Die Kinder waren sofort tot. Diana wurde mit dem Hubschrauber in das Eßlinger Krankenhaus geflogen. Doch es kam jede Hilfe zu spät. Ich konnte mich nicht beherrschen, verließ verzweifelt den Friedhof, sprang in meinen Wagen, raste los und wollte alles hinter mir lassen, - als ob ich das schreckliche Ereignis abschütteln konnte. Schließlich bin ich hier gelandet.“

„Ich fühle mit Ihnen und würde Ihnen so gerne helfen. Was wollen Sie jetzt machen?“

Was sollte er antworten? Er wusste es doch selbst nicht, wie es weiter gehen soll. Nur war ihm klar geworden, dass er nicht mehr nach Kaiserslautern zurückgehen würde. Sollte er ihm vertrauen? Er wusste nur, dass er nicht mehr die Kraft aufbringen konnte, das alles alleine durchzustehen. Nach einer Bedenkzeit erwiderte er:

„Sie wollen mir wirklich helfen?“

„Ja, soweit es mir möglich ist. Erzählen Sie.“

„Wir haben ein wunderschönes Haus in Kaiserslautern, ich bin Architekt und habe drei Mitarbeiter beschäftigt. Aber ich kann nicht mehr zurück. Gehe ich in das Haus, dann sehe ich in Gedanken Diana und die Kinder. Renne dann von Raum zu Raum und suche sie und ich werde immer wieder schmerzlich an das Geschehen erinnert. Jeder Gegenstand erinnert mich an sie. Das ertrage ich nicht. Ich muss das Haus verkaufen, mein Geschäft aufgeben und dort hinziehen, wo ich nicht mehr an dieses schreckliche Ereignis erinnert werde.“

„Es wird für Sie aber auch sehr schwer, wenn Sie das Haus verkaufen, denn dem eventuellen Käufer zeigen Sie die Räumlichkeiten und werden immer wieder auf schmerzliche Weise an Ihre Familie erinnert.“

„Aber was soll ich tun?“

„Überlassen Sie alles einer dritten Person.“

„Ich habe niemanden. Mit meinem sechs Jahren älteren Bruder habe ich kein gutes Verhältnis, es ist zerrüttet und ich habe mit ihm keinen Kontakt mehr. Mein alter Freund wohnt in Hamburg, den ich seit 6 Jahren auch nicht mehr gesehen habe. Die Entfernung ist einfach zu weit, als das ich das von ihm verlangen könnte.“

„Darf ich Ihnen behilflich sein?“

„Wollen Sie die 3. Person sein?“

„Ja, - wenn Sie mir das nötige Vertrauen entgegenbringen.“

Die Enge im Auto schnürte ihm die Luft ab. Er stieg aus und sein Blick richtete sich wieder in den Wald und er hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten. Sollte er dem Fremden Vertrauen schenken? Aber wenn er seine Hilfe ausschlug, - was dann?

Der Fremde stieg ebenfalls aus dem Wagen, legte seinen Arm über seine Schulter und sagte mitfühlend:

„Sie dürfen mir wirklich voll vertrauen. Kommen Sie zu mir nach Hause nach Freudenstadt. Steigen Sie wieder in meinen Wagen. Ihr Auto lasse ich von zwei meiner Mitarbeiter abholen.“

„Ich kann hinter Ihnen fahren.“

Auf der Stirn des Fremden bildeten sich tiefe Falten und er sagte zweifelnd:

„Ich hoffe Sie schaffen es. Aber ich werde Sie im Auge behalten. Also fahren wir los, es sind nur etwa 15 Minuten von hier.“

Ohne darauf zu antworten, stieg Michael in seinen Passat und fuhr dem Fremden hintendrein. Nach einer viertel Stunde betrat Michael das Haus des Fremden. Michael ließ sich wie in Trance in das Wohnzimmer führen. Die vielen Blumen und Pflanzen strömten eine beruhigende Atmosphäre aus. Neben einem Klavierflügel befand sich eine kleine Hausbar. Michael setzte sich auf einen Barhocker. Der Fremde öffnete eine Flasche Champagner, schenkte sich und Michael ein, erhob das Glas und sagte: