Gegendarstellungen - Michael Müller - E-Book

Gegendarstellungen E-Book

Michael Muller

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Beschreibung

Ganz wie sein berühmter, junger Vorgänger ist auch dieser W. ein Idealist, Außenseiter und - wie könnte es unter diesen Umständen anders sein - ein Verlierer. Im Gegensatz zum Original hat er seine erste große und unerfüllte Liebe überlebt. Allerdings um den Preis, im Leben und seiner, unserer Gesellschaft nie angekommen zu sein...

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Nicht wenige Menschen, ich gehöre leider zu ihnen, haben die Angewohnheit, das Vorwort eines Buches zu überspringen, bzw. es, wenn überhaupt, erst am Schluss zu lesen. Deshalb sind diese Zeilen nicht mit Vorwort überschrieben, obwohl es sich um eins handelt. Das Risiko, Sie, den Leser, mit dieser Täuschung schon zu Beginn zu verstimmen, muss ich eingehen, weil Sie den folgenden Roman ohne seine Vorgeschichte, also all dem, was dazu geführt hat, dass Sie ihn in Händen halten, nicht oder falsch verstehen würden. Deshalb bitte ich Sie, mir mein Vorgehen zu verzeihen.

Es begann mit einem halbgeöffneten Karton, der an einem Samstag im Juli 2018 vor dem Zehn-Parteien-Haus am Westpark lag, in dem Freunde von mir wohnen. Ich war unverrichteter Dinge aus der Innenstadt zurückgekommen, wollte, einer Eingebung folgend, kurz bei ihnen vorbeischauen und wartete auf das Summen des Türöffners. Auf einer Klappe des Kartons stand mit krakeliger, kaum lesbarer Schrift Zu verschenken. Ich läutete noch ein zweites Mal, vorsichtshalber, obwohl ich ahnte, dass sie nicht zuhause sein würden und warf, mir die Wartezeit zu verkürzen, einen Blick in die Kiste. Sie enthielt offensichtlich Bücher, wobei zuoberst Mein Name sei Gantenbein lag. Ich hatte schon zwei Romane von Max Frisch mit Vergnügen gelesen, diesen jedoch nicht. Also ging ich in die Hocke, öffnete auch die andere Klappe und überflog die nächsten Titel: Sauwaldprosa von Uwe Dick, Die Zimtläden von Bruno Schulz, Hildesheimers Lieblose Legenden, eine eigenwillige Mischung, aber durchweg anspruchsvoll, deshalb beschloss ich, den Karton mitzunehmen, um mich zuhause eingehender mit seinem Inhalt zu beschäftigen.

Als ich Tage später Zeit dazu fand, stieß ich, neben weiteren interessanten Werken, zuunterst auf zwei Mappen für Hängeregistraturen, die ich, weil ebenfalls kartonfarben, zunächst übersehen hatte. Die obere enthielt persönliche Dokumente wie Schulzeugnisse, ein Studienbuch, einen studentischen Fahrtausweis etc. und ein schmales, schon etwas geplündertes Album mit Familienfotos, in der unteren Hängetasche fand ich das ausgedruckte Manuskript eines Romans, dazu mehrere Absagen renommierter Verlage. Alles zusammen bezog sich teils eindeutig, teils indirekt auf eine Person namens Michael Müller.

So unvermittelt intime Einblicke in das Leben eines Unbekannten zu bekommen, und seien es auch nur punktuelle, löst zwiespältige Gefühle aus, aber auch Neugier. Ich las also das Manuskript, das exakt so betitelt ist, wie das vorliegende Buch, um sehr bald festzustellen, auch dank der beiliegenden Urkunden, dass es sich dabei um eine nur notdürftig getarnte Autobiografie handelt. Das M im Namen des Autors ergibt umgedreht ein W. Geboren ist dieser zu alt gewordene W. 1947, der Roman (und er?) endet im Jahr 2005, aus dem auch die Verlagsabsagen stammen.

Müller, d.h. W. wächst in einer Demokratie auf, die von der Vorgängergeneration „betrieben“ wird, die noch durch und durch vom Nationalsozialismus, seinem Dünkel, seinem autoritären Stil und seiner Verachtung für Minderheiten und Außenseiter geprägt ist, aber weder daran erinnert werden, noch sich selbst so sehen will. Er erlebt die Unstimmigkeiten geradezu körperlich, erträgt die Kluft zwischen Schein und Sein nur schwer und verschafft sich schreibend Luft. Sein unbeirrbarer bis abwegiger Blick auf unsere Gesellschaft hat mich beeindruckt, gelegentlich auch belustigt, und erklärt bisweilen sogar, wie wir dorthin kommen konnten, wo wir jetzt sind und worüber wir uns die Augen reiben.

Nachforschungen über diesen Autor, die ich in bescheidenem Umfang betrieb, erbrachten nichts, bei einem Allerweltsnamen wie diesem sicher kein Wunder. Weder meine Freunde, vor deren Haus ich den Karton fand und die seit über 30 Jahren dort wohnen, noch in der Nachbarschaft konnte mir jemand weiterhelfen.

Dabei wäre es geblieben, hätte ich nicht vor ein paar Monaten einem Bekannten – ich bin Grafiker – eine Art Familienchronik layoutet, die er im Selbstverlag herausbringen wollte. Bei der Gelegenheit erfuhr ich, wie einfach und kostengünstig es sein kann (jedenfalls für jemanden, der es gewohnt ist, Druckvorlagen zu erstellen), bei beispielsweise BoD, die mir bisher nur vom Hörensagen bekannt waren, ein Buch zu verlegen.

Anläßlich einer Auftragsflaute, wie sie bei Freiberuflern immer mal wieder eintritt, beschloss ich – plötzlich und selbst für mich unerwartet – diesen Roman herauszugeben, auch in der Hoffnung, vielleicht durch den einen oder anderen Leser noch etwas mehr über den Autor zu erfahren. Dazu dienen die Fotos im Anhang und einige der Anmerkungen, die ich eingefügt habe, andere bestätigen die Schauplätze und Personen der Handlung und sollen politisch weniger versierten Lesern das Verständnis erleichtern. Ein paar weitere sind meinem Übermut geschuldet.

Natürlich steht zu befürchten, dass Müller alias W. sich an sein berühmtes Vorbild gehalten und seine letzte Reise wie angedeutet abgeschlossen hat.

Wie auch immer, eine Gesellschaft, die sich als demokratisch und frei bezeichnet und sich unaufhörlich so ausloben lässt, muss auch ein paar „Gegendarstellungen“ aushalten, selbst wenn sie dem einen oder anderen nicht gefallen werden und partout nicht in die Selbstdarstellung dieser Bundesrepublik passen wollen.

Der Herausgeber

Ende des Vorworts

Wie meist, wenn es draußen kalt war, empfand W. seine Wohnung als überheizt, nachdem er sie betreten hatte. Aber er wusste, das würde sich schnell geben. Und wie meist hatte er befriedigt festgestellt, dass sie neutral roch. Er prüfte das immer, wenn er heimkehrte, wohl wissend, dass er auch hierbei nur bei den ersten zwei, drei Atemzügen objektiv sein würde.

Von allen Empfindungen traute W. dem Geruchssinn am wenigsten. Einerseits überempfindlich und sofort bereit, hysterisch Alarm zu schlagen, wenn etwas ungewohnt oder unangenehm roch, schien er sich andererseits verblüffend schnell daran zu gewöhnen, sich zu arrangieren oder komplett auszufallen. W. kannte genug Personen in seinem Umfeld, die bei gemäßigten Temperaturen und ohne sich vorher körperlich verausgabt zu haben, einen unüberriechbaren Schweißgeruch verströmten. Und immer wieder war er fassungslos, dass sie ihn nicht wahrnahmen oder einfach verdrängen konnten. Allein die Vorstellung, er, W., könnte so riechen, veranlasste seinen Magen, sich schmerzhaft zusammenzuziehen.

W. war ins Wohnzimmer gegangen und hatte sich automatisch die Fernbedienung des Fernsehers gegriffen, um ihn einzuschalten. Als das Bild aufsprang, fiel ihm ein, dass er eigentlich hatte lesen wollen. Er ärgerte sich über sein Verhalten, wurde aber abgelenkt von seinem Bundespräsidenten, der in hochoffizieller Haltung und einer mechanisch wirkenden Gangart zwei uniformierten Kranzträgern folgte. Und das ohne dieses staunend-kindliche Grinsen im Gesicht, mit dem er alle bisherigen Auftritte seiner noch nicht allzu langen Amtsinhaberei bestritten hatte.

W. nannte ihn deswegen GRINSE-KÖHLER. Schließlich hatte der Mann allen Grund, fröhlich dreinzuschauen. Eben noch nur ein besserer SPARKASSEN-FUZZI und schon holterdiepolter – wie ein Witz aus heiterem Himmel – Bundespräsident. Die Mitteilung seines Arztes, er sei im vierten Monat schwanger, hätte ihn auch nicht mehr verblüffen können. Da kann einer schon ins Grienen kommen und es so schnell nicht wieder lassen.

Doch jetzt war dieses den Mann prägende Grinsen wie weggeblasen und hatte einem staunend-ernsten Ausdruck Platz gemacht. W. mochte wie jeder in seinem Alter einschließlich Köhler derlei Kranzniederlegungen schon viele duzendmal gesehen haben, jedenfalls die in den Nachrichten gezeigten Kurzfassungen davon. Sie alle folgten ein und demselben Zeremoniell, das ihm, W., immer bescheuert vorgekommen war. Deshalb war er jetzt gespannt, wie Köhler die FORMALIE handhaben würde. WÜRDE er ein ZEICHEN setzen und damit hoffen lassen, dass die VERSTEINERTE POLITIK im Lande doch noch zu Neuerungen, wenigstens im gestischen Bereich, imstande wäre?

Die beiden Kranzträger hatten den Kranz abgelegt und waren aus dem Bild gegangen. Jetzt kam der entscheidende Augenblick und: alles wie gehabt! Köhler tat, was alle anderen vor ihm auch getan hatten: vor den Kranz treten, sich bücken und erst mal an den Bändern herumzupfen. Sie so zurechtrücken WIE ES SICH GEHÖRT. Weil dieses Kranzträgerpersonal offensichtlich zu bescheuert ist, Kränze so abzulegen, dass nachträgliche Korrekturen unnötig sind. Selbst nach Jahrzehnten kriegen sie es nicht hin. Kranz schleppen und hinknallen, dazu reichts gerade noch. Kaum sind Feinmotorik oder ästhetisches Empfinden gefragt – Fehlanzeige! Da muss der Chef ran und sich persönlich bücken.

Als Köhler einen Schritt zurück trat und in die vorgeschriebene Körperstarre fiel, stellte sich W. die Frage nach dem Anlass. Prompt bekam er die Antwort: 60 JAHRE HOLOCAUST. Bingo! HÖCHSTE GEDENKSTUFE im demokratischen Deutschland. Da wird vom Bundespräsidenten bedingungsloser Einsatz verlangt, körperlich wie geistig. Da muss er 100 Prozent liefern. Während und damit der Rest der Nation unbehelligt seinen Alltagsbeschäftigungen nachgehen kann – PRAHLEN/PRASSEN/POPELN (um nur mal den Buchstaben P herauszugreifen) – hat der BUPRÄ stellvertretend zu erscheinen. In vollendeter Demutshaltung nebst Absonderung sämtlicher Anzeichen von Betroffenheit. Wenn dann der Rest der Nation abends an die heimische Glotze zurückkehrt, erschöpft von seinen Alltagsbeschäftigungen wie MECKERN/MASSREGELN/ MAULAFFENFEILHALTEN (um einen anderen Buchstaben zu nehmen), erfährt er in einem Kurzbeitrag, welchen Gedenktermin er wieder mal versäumt hat. Dass er sich aber deshalb keine Gedanken machen muss, weil das sein BUPRÄ für ihn tut – und zwar so tadellos und (form)vollendet, dass nicht einmal SPIEGELS PAUL, der mit seinem Zentralrat wie ein Angelhaken im DEUTSCHEN VOLKSKÖRPER festsitzt, was auszusetzen hat. Von einem Staatsschauspieler, sprich: Berufspolitiker durfte man das erwarten, aber von einem, dessen Leben sich bis dahin ausschließlich um GELD gedreht hatte?

Woher, so fragte sich W. weiter, wussten A. Merkel und G. Westerwelle, die ERFINDER dieses Bundespräsidenten, dass Köhler dazu imstande sein würde? Bekam er einen speziellen Trainer? Gibt es dafür Seminare? Wie lange wurde er geschult? Übte er zuhause vor dem Spiegel? Oder ahmte er nur seine Vorgänger nach: an dieser NIE!NIE!NIE! korrekt liegenden Schleife fummeln und erstarren? Darf das Volk, das diesen Mann bis ans Ende seiner Tage mit 200.000 Euro per anno honorieren muss, mehr erwarten?

W. fragte sich, ob Köhler sein Grinsen vorübergehend auf dem Hintern trug und woran genau er beim Gedenken wohl gedacht haben mochte? Da ihm bei derlei Amtshandlungen noch jede Routine fehlte, wird er beim Thema geblieben sein. Und nicht etwa einen Hexenschuss beim Bücken befürchtet oder sich seine Dolmetscherin nackt bei einem Handstand vorgestellt haben.

Malte er sich die UNGEHEUERLICHKEIT des ANLASSES dieser Gedenkfeier bildlich aus oder blieb er dabei mehr im Vagen? Stellte er sich den organisatorischen, verwaltungstechnischen und logistischen Aufwand vor, der anfiele, wollte man heute beispielsweise die SACHSEN… äh, ELIMINIEREN? Also erst die nichtsächsische Bevölkerung gegen sie aufbringen, dann alle erfassen, verhaften, enteignen, internieren und schließlich verg…? Und das in wenigen Jahren und zwar so, dass diese Bevölkerung dann, wenn Deutschland ENDLICH SACHSENFREI wäre, sagen könnte, sie hätte es nicht gewusst? Nichts davon mitbekommen? Jedenfalls NICHT BEWUSST?

Vielleicht, so mutmaßte W., scheute Köhler die völkerrechtlich eventuell fragwürdige Gleichsetzung von Juden mit Sachsen, vielleicht wählte er etwas Unverfänglicheres, sofern das in diesem Zusammenhang überhaupt möglich ist? Vielleicht PHILATELISTEN? Oder dachte er sich – zur ansatzweisen Vergegenwärtigung dieser auch schon mal FASZINOSUM genannten Unfasslichkeit – eine ENDLÖSUNG der WELLENSITTICHBESITZERFRAGE aus?

Wohl eher nicht! Wer wie Köhler so durchdrungen ist von… …sich selbst, der eigenen Aufrichtigkeit und der Überzeugung, sein Land retten zu können, indem er ihm Vorbild ist und bei den üblichen Gelegenheiten die passenden Plattitüden absondert, der kommt nicht auf derart krause Gedanken. Köhler bestritt diesen Auftritt mit einer Art GANZKÖRPEREREKTION, nach W.s Geschmack ein bisschen ZU AUFRECHT. Übelwollende könnten da Trotz hineininterpretieren, ein wenig mehr Demut in der Haltung, etwa eine gebücktere, hätte ihm besser angestanden. Indessen wollte bei W., bei allem Bemühen Köhlers, keine Assoziation an eine DEUTSCHE EICHE aufkommen, dieser Buprä strömte bestenfalls das Charisma eines Gummibaums aus. Dennoch, die DEUTSCHE FRAU (also etwa jede zweite hierzulande), das glaubte W. irgendwo gelesen haben, träumte von einer Nacht mit ihm. Das konnte niemanden verwundern, wo doch zehntausende von ihnen vor 50 Jahren noch ein KIND vom FÜHRER wollten – von einem Giftzwerg, einem EINEIIGEN! Die DEUTSCHE FRAU scheint es in diesem Punkt wie ihre frühen Vorfahren zu halten: ein Mann ist so mies wie der andere, auf seinen RANG kommt es an. So wie Köhler zu seinem gekommen war – ohne EIGNUNGSNACHWEIS und dem Amt entsprechende QUALIFIKATIONEN – hätte er niemals Mitarbeiterin bei SCHLECKER werden können. Aber so wenig irgendwer Zweifel an seiner Befähigung hatte (je höher die Posten umso abwesender sind Bedenken), so wenig zweifelte Köhler selbst an sich. W. hielt das für AMTSANMASSUNG und dachte sich eine angemessene Strafe aus, eine Art FEGEFEUER, bis ihm die EWIGE RUHE gewährt würde. Nämlich nacheinander die Nächte mit all diesen DEUTSCHEN FRAUEN durchstehen zu müssen. Und das im ehelichen Schlafzimmer, vermutlich mit HÜLSTA-Möbeln (Esche, hell) ausgestattet. Es würde immer dasselbe Ritual ablaufen: Köhlers Abendessen bliebe auf ein Dutzend Austern beschränkt, dann ginge es ab ins Bad, wo seine Frau, die ja ihrerseits unverdientermaßen vom Glanz des Bundespräsidentenamtes profitiert hatte, zu überprüfen hätte, dass seine Zähne richtig geputzt sind und die Bügelfalten an der Schlafanzughose korrekt sitzen. Sie würde ihm dann ein Glas Wasser und eine 100 mg Viagra-Filmtablette reichen, ihn zu Bett bringen, in dem er zunächst sitzend Platz nähme und die in einem Vorzimmer wartende DEUTSCHE FRAU hereinführen. Herr Köhler hätte nun ein paar einleitende Worte zu sagen, bis das Sildenafil wirken würde. Frau Köhler müsste daraufhin das Licht löschen, auf einem Stuhl Platz und jetzt im Stockdunkeln so gewissenhaft Anteil nehmen wie sie das bei den Auftritten ihres Mannes im Lichte der Öffentlichkeit tat. Bei, sagen wir mal 16 Millionen Frauen im begattungsfähigen Alter, hätte das Ehepaar Köhler ein paar Äonen lang zu tun und tagsüber ausreichend Zeit, über PFLICHTERFÜLLUNG nachzudenken, über SELBSTÜBERSCHÄTZUNG und darüber, ob Horst nicht besser bei seinen LEISTEN, also hinter dem Bankschalter geblieben wäre...

Was mochte das sein, das ihn, W., auf solche Gedanken brachte? Wieso gingen ihm derlei Schrägheiten durch den Kopf? Offensichtlich stellte sich ihm die Welt ANDERS dar als seinen Mitmenschen. SEHR anders. Ja eigentlich GRUNDVERSCHIEDEN. Das wäre ihm nicht ungewöhnlich oder beklagenswert erschienen, hätte er sich weismachen oder darauf hinausreden können, er sei ein Kauz, ein seltsamer. Wie beispielsweise der Achternbusch Herbert. Von dem weiß man: der muss so sein, der kann nicht anders. Wie’s ihm in den Kopf hineinschießt, so spuckt er’s wieder aus. Eine CHANCE (darüber nachzudenken) hatte er nach eigenem Bekunden NIE. Umso ergriff er sie. Und seitdem hielt man ihn für ein ORIGINAL.

Für W., der Karl Valentin vergötterte, war Achternbusch dessen Gegenteil. Er fand seine Originalität verkrampft, seinen Humor verbissen und dass er deutlich mehr Chancen bekommen als verdient hatte, sie aber ausgiebig zu nutzen wusste. Das Vakuum und mit ihm der Bedarf an Originalen war im München der 70er und 80er Jahre einfach zu groß. Wer ausreichend wirr im Kopf war, dem richtigen Freunderlkreis angehörte oder einen Draht ins Kulturdezernat hatte, der konnte es bei den ROTEN weit bringen. Und sei es nur, um wie Achternbusch die SCHWARZEN zu schrecken (so gesehen trug er das Seine zur Stadthygiene bei). Im Olymp der bayerischen Komiker hatte er nach W.s Meinung nichts verloren, dorthin gehörten Zimmerschied und Ringsgwandl, die sich politisch nie einspannen ließen.

W. hielt sich selbst nicht für kauzig oder wirr im Kopf, sondern für halbwegs normal und einigermaßen vernunftgesteuert. Er dachte gern nach, bevor er sich Meinungen bildete und prüfte immer mal wieder, ob er dabei bleiben konnte. Und obwohl er sie offen vertrat (und zwar umso lieber und lauthalser, je mehr sie von denen der Mehrheit abwichen), hatten sie wenig Absolutes und Endgültiges, wie er das bei seinen Mitmenschen beobachtete. Deren Meinungsgebilde kam ihm oft wie Bunker vor, die so sturmfest wie möglich gemacht und dann mit Zähnen und Klauen verteidigt wurden. Seins glich eher einem wild zusammengeschraubten, verbogenen und vielfach geflickten Klettergerüst, das jedoch offen und ausbaufähig war. Er stritt sich oft, wobei es ihm eher darum ging, seine Ansichten auf Haltbarkeit zu überprüfen, als auf ihnen zu beharren. Und scheute sich nicht, sie, wenn erforderlich, zu erweitern oder zu revidieren. Der VERSTAND, der sich neuen EINSICHTEN verschließt, verhält sich wie WASSER bei Minustemperaturen, das nicht in BEWEGUNG bleibt: es wandelt sich zu EIS, er in DUMMHEIT.

Was W. angesichts des staatsaktenden BUPRÄ brennend interessiert hätte: War er – als Mensch oder als OFFIZIÖSER – auch in diesem Augenblick – beim Gedenken an 60 Jahre Holocaust – STOLZ darauf, ein DEUTSCHER zu sein? Wie die, die ihn ins Amt gewählt hatten, das bei jeder Gelegenheit von sich behaupten und ins Land hinauskrähen. Die, die diese deutsche Vergangenheit an Nichtgedenktagen so gedankenlos abschütteln wie Wasser von einem Regenschirm. Die sich und ihre Landsleute zu einem VOLK VON OPFERN er- und verklären, das, eigentlich schuldlos, sich NUR von einer kleinen NAZI-CLIQUE hatte verführen lassen. Selbst wenn’s denn so gewesen wäre, müsste sich dieses erbärmliche Volk dann nicht wenigstens für TAUSEND JAHRE seine PATRIOTISMUSDEBATTEN verkneifen? NUR für die lumpige Zeit, in der es seinen ÜBERLEGENHEITSDÜNKEL samt HERRENRASSEWAHN hätte ausleben wollen? EINEN Grund, um seinen Verführern auf den Leim zu gehen, wird dieses Volk ja wenigstens gehabt haben. Umsonst macht man eine mit Pathos aufgeblasene WITZFIGUR nicht zu seinem Führer und folgt ihm in den ABGRUND. Der Mensch mag vom Affen abstammen, der DEUTSCHE offensichtlich von den LEMMINGEN. Nur mit deren eingeschränkter Hirntätigkeit konnte sich W. erklären, dass so viele seiner Landsleuten nichts über ihren ADOLF kommen ließen und lassen. Der – als Mensch und ÖSTERREICHER – letztlich vom DEUTSCHEN VOLKE ja bitter enttäuscht war. Der es (ebenso wie seine GENERALITÄT) für FEIGE und EHRLOS hielt (andernfalls es die Weltherrschaft ja errungen hätte) und es ebenfalls AUSRRADIERRT sehen wollte...

Der Mensch mag aus seinen Fehlern lernen – ein RECHTER DEUTSCHER zieht selbst aus KATASTROPHEN keine Lehren. Ohne seinen PATRIOTISMUS scheint er ein NICHTS zu sein, ein NIEMAND. Er braucht ihn, um sich für etwas BESONDERES zu halten. Andere Gründe dafür kann er nicht finden, es gibt sie wahrscheinlich auch nicht. Man müsste ihn eigentlich bedauern, den armen Tropf! Nur kein Mitleid jetzt, dachte sich W., die Sorte DEUTSCHER war dir schon immer über. Sie ist in der Mehrheit, setzt sich meist durch und glaubt sich grundsätzlich im Recht. Und sie ist glücklich, wenn sie herhalten darf, als Knetmasse für Demagogen, als Fersehquotenlieferant, Stimmvieh, Ja-Sager, Konsumtrottel und Kanonenfutter.

W. hingegen litt daran, Deutscher zu sein und schämte sich seit seiner Jugend dafür. Die HYPOTHEK, die die Nation von den Nazis aufgehalst bekommen hatte, überwog jeden anderen Aspekte seines DEUTSCHSEINS. Da halfen kein Tucholsky, kein MADE IN GERMANY und keine Autobahnen. Ihm war unerklärlich, wie andere Deutsche, respektive KONSERVATIVE POLITIKER, mit Patriotismus hausieren gehen konnten, ohne vor SCHAM in GRUND und BODEN zu versinken. Scham scheint hierzulande (allen VORAN bei EX-Kanzler SCHMIDT) nicht einmal als TERTIÄRtugend anerkannt zu sein. Wo sie fehlt, das war W. klar geworden, baut man MAHNMÄLER und richtet DOKUMENTATIONSZENTREN ein. Und schickt einen wie Köhler hin zum Gedenken.

W. konnte nicht finden, dass Köhler wärend seiner Gedenkstarre Scham erkennen ließ, es waren eher VERBLÜFFUNG und RATLOSIGKEIT, die sich in seinem Kindergesicht spiegelten. Vielleicht auch darüber, dass ihm, einem ehemaligen PFADFINDER und BURSCHENSCHAFTLER, eine derartige VERGANGENHEIT anhing. Gleich würde ein RUCK durch Köhler gehen. Ein Ruck, wie er einst von seinem Vorvorgänger und seitdem von vielen anderen immer wieder für das ganze Land gefordert wurde, und dieser fast noch neue Bundespräsident würde sein Gedenken beenden. Ihn, den RUCK auszulösen, würde W. ihm, Köhler jetzt für sein Leben gern einen WITZ eingeflüstert haben. Einen zutiefst DEUTSCHEN Witz, den er selbst als etwa Zehnjähriger Ende der 50er Jahre erzählt bekommen hatte, also inmitten der Blüte des Wirtschaftswunders, und der ihm soeben wieder eingefallen war. All jenen, denen die Gnade einer noch späteren Geburt zuteil wurde, sei zum besseren Verständnis vorausgeschickt, dass, wer damals VW sagte, den KÄFER meinte (in Wolfsburg hatte man die Glücksverheißung der automobilen Vielfalt noch nicht erkannt, es gab praktisch nur dieses PKW-Modell):

Wieviele JUDEN passen in einen VW?

VIERUNDZWANZIG! Vorne ZWEI, hinten ZWEI und ZWANZIG in den ASCHENBECHER.

Köhlers Ruck wurde zu W.s Bedauern im Fernsehen nicht gezeigt. W. war beim Erinnern des Witzes verblüfft, wie schnell doch die Zwangsdemokratisierung eines Volkes dieses zu seinem SELBSTBEWUSSTSEIN, seinem HUMOR, ja ZU SICH SELBST zurückfinden lässt. Dabei fiel W. eine ebenfalls aus seinen Kindertagen stammende Definition ein: Humor ist, wenn man TROTZDEM lacht. Konnte es sein, dass Kinder sich diesen Witz ausgedacht hatten und er nur unter ihnen kursierte? Von Kindern, die gegen Ende oder nach dem Krieg geboren wurden und WIRKLICH NICHT wissen konnten, von was sie da sprachen? Hatten sie die hier zutage tretende ROHHEIT oder (bei Berücksichtigung aller strafmildernden Einwände) GEDANKENLOSIGKEIT mit der Muttermilch aufgesogen? Oder als väterliches ERBE mit auf den Weg bekommen? Das hätte W. im VORFELD der nächsten Patriotismusdebatte doch gern mal angesprochen haben wollen!

Aber apropos Witz, worüber lacht einer wie Köhlers Horst, der, von Holocaust-Gedenkfeiern abgesehen, beständig lächelt? Würde er gelacht haben (also z.B. befreit auf), wenn man ihm am Morgen nach dem 31. März 05 berichtet hätte, soeben sei eine von Terrroristen entführte Verkehrsmaschine erfolgreich abgeschossen worden, nachdem sie Kurs auf Schloss Bellevue, also seinen Amtssitz genommen habe. Um dann, wenn der Schreck seine Augen weit genug geweitet hätte, ein verschmitztes APRIL, APRIL! hinterherzuschicken? Würde er ein wenig erröten und sich an den Kampf KÖHLER VS. KÖHLER erinnern, der monatelang in seinem Inneren getobt hatte, nachdem man ihm sein ERSTES (?) GESETZ zur Unterschrift vorgelegt hatte? An den Kampf des GUTMENSCHEN gegen den FUNKTIONÄR? Bei dem dann letzterer obsiegte, nicht ohne einzugestehen, dass der ABSCHUSS entführter Passagierflugzeuge BEDENKLICH sei.

Eine Unbedenklichkeitsbescheinigung könne er diesem Gesetz erst ausstellen, wenn das Bundesverfassungsgericht seine, Köhlers Zweifel, die – man neige anerkennend das Haupt – ERHEBLICHER NATUR seien, beseitigt habe. Natürlich musste er – in dem Fall der Beamte in ihm – UNTERSCHREIBEN. Wie auch ein KZ-KOMMANDANT praktisch alles unterschreiben MUSSTE, was ihm vorgelegt wurde. Vielleicht wollte er auch kein SPIELVERDERBER sein und der Bundeswehr nicht im Wege stehen, wenn sie denn endlich mal wieder einen Abschuss genehmigt bekäme? Unterschreiben, jawohl! Aber wie gesagt nicht ohne den MENSCHEN in diesem HÖCHSTEN AMT der Republik per Randvermerk zum Zuge kommen zu lassen bzw. den Humanrest in diesem BEAMTEN ALLER BEAMTEN zu würdigen – mit eben der Einschränkung: BEDENKLICH!

Das war SUPER, Horst!, dachte sich W., damit trafst Du den Nagel präzise auf den Kopf eines Volkes von BEDENKENTRÄGERN. Und zwar ohne die IDEEN (ja, auch in einem Gesetz könnten welche stecken!!!) zu BLOCKIEREN, die Du bei Deinem Amtsantritt eingefordert hast. (Anm. d. Hrsg.: Horst Köhler trat 2010 nach einer Äußerung zurück, in der er militärische Einsätze zur Sicherung von Wirtschaftsinteressen für vertretbar gehalten hatte).

Apropos HORST… W. fragte sich, ob Köhler auch mit dem Vornamen ADOLF zum Bundespräsidenten gewählt worden wäre? Man stelle sich nur vor: Erst ein Adolf als VERURSACHER des Holocaust, dann einer als OBERSTER GEDENKER und MAHNER des Deutschen Volkes. Puuuuhhhh, das wäre der Hammer der Ironie eines nationalen Schicksals. Man hätte dann doch wohl auf einen anderen Sparkassenfilialleiter zurückgreifen müssen. Horst ging zum Glück für Köhler. Vornamensvetter und STURMBANDFÜHRER WESSEL ist so gut wie rehabilitiert: er findet sich längst im VIRTUELLEN Rathaus von Bielefeld in der Rubrik BERÜHMTE BÜRGER wieder. Vermutlich singt der Stadtrat zu Beginn jeder Sitzung DIE FAHNE HOCH, DIE REIHEN FEST GESCHLOSSEN, denn – mal ehrlich! – das hat genau den Biss, den es braucht, um ein LAND AUS DER KRISE zu FÜHREN.

Stattdessen wird AUFGERUFEN, GEFORDERT, APPELLIERT und GEMAHNT. Herr Hinz ruft Herrn Kunz zu mehr SOLIDITÄT auf. Oder wars SOLIDARITÄT? Egal, was zählt ist der Aufruf! Herr Kunz fordert Frau Krethi auf, BESSERE RAHMENBEDINGUNGEN zu schaffen für… sie weiß es schon. Frau Krethi appelliert an Herrn Plethi, den WIRTSCHAFTSSTANDORT BUNDESREPUBLIK nicht kaputtzureden… Es wird GELABERLABERT im Lande, man möchte LÄTZCHEN ausgeben. Eins in SCHWARZROTGOLD und irgendwie präsidial bestickt für den ERSTEN MAHNER. Denn das Mahnen, das war W. klar, seit er den Politzirkus mit der gebotenen Abscheu betrachtete, das Mahnen ist die ERSTE PFLICHT des Bundespräsidenten. Als ranghöchster Mahner der Republik dient er ihr zugleich als Feigenblatt. Altgediente Politiker, nur sie bekamen vor Köhler den Posten, mussten/durften plötzlich frei von PARTEI- und SACHZWÄNGEN auftreten und die Sonntagsreden halten, die sich in den Kirchen niemand mehr anhören wollte. Als BUPRÄs fühlten sie sich plötzlich BERUFEN, all das einzufordern und anzuprangern, was sie als Parteipolitiker selten zur Sprache brachten und wonach sie bestimmt nicht handelten. Um ja keine Parteigenossen/Lobbyisten/Wähler/Gönner etc. zu vergrätzen. Jetzt hingegen sollten und konnten sie den UNBEQUEMEN MAHNER spielen, weil sie nicht mehr wiedergewählt werden mussten (wie gesagt: Bezüge auf Lebenszeit!). Und ihre Exkollegen erwarten das auch von ihnen: dass sie den ANSTÄNDIGEN, EHRLICHEN STAATSMANN geben. Um ihn als ALIBI zu nutzen und hinter seinem Rücken ihre versauten Süppchen hübsch weiterzukochen.

Das Volk, schlaudumm wie Volk nun mal ist, nimmt seinen Bundespräsidenten ebenfalls als Alibi. Nickt beruhigt, wenn er den Finger in die WUNDEN legt und die RICHTUNG weist. Und verläßt sich drauf, dass die Wunden versorgt und die Richtungen eingeschlagen werden. Geschieht das nicht, wird der Bundespräsident einfach erneut den Finger… UNDDASBISINEWIGKEITAMEN.

Das Volk schickt seinen BUPRÄ als Musterdeutschen und Vorzeigedemokraten zu den lästigen Gedenkfeiern und hält es wie seine VERTRETER für NORMAL (oder wie man in gut unterbelichteten Kreisen zu sagen pflegt: EIN STÜCK WEIT normal), dass Synagogen immer noch unter Polizeischutz gestellt werden müssen. Es findet nicht viel dabei, wenn Fussballfan-Horden auf dem Weg ins Stadion gröhlen: WIR BAUEN EINE U-BAHN, VON GIESING BIS NACH AUSCHWITZ. Und es erzählt sich weiter Judenwitze. So wie dieses Volk und seine Vertreter ihren Bundespräsidenten BENUTZEN… …ist das AMTSMISSBRAUCH. Dachte sich W. und fand sich mit seinem Fazit wie so oft allein auf allen Fluren. Konsequenter Amtsmissbrauch. MILLIONENFACHER.

Aber darf man diesen Missbrauch dem DEUTSCHEN VOLKE wirklich anlasten? Muss nicht zu seiner Entlastung endlich und wieder einmal festgehalten werden: Was er macht, der Deutsche, das macht er GRÜNDLICH, in Rekordzeit und Höchstauflage? Stimmt’s: Er kann nicht anders und ist stolz darauf! Vermutlich wird man eines Tages ein GEN entdecken, das dafür verantwortlich ist. Das wäre ein FREISPRUCH ERSTER KLASSE! Und ein Hinweis auf? Die HERRENRASSE.

W.s Stimmung war wieder im Keller, wie so häufig in letzter Zeit. Irgendein verfluchtes Gen in ihm sorgte dafür, dass er sich von allem und jedem provozieren ließ, um zu mentalen Rundumschlägen anzusetzen und gedanklich AMOK zu laufen. Schon als Kind hatte er als VORLAUT und WIDERSPENSTIG gegolten und es gegenüber AUTORITÄTSPERSONEN an Respekt fehlen lassen. Allerdings hielt sich im Bayern der 50er und 60er Jahre jeder Erwachsene für eine Autoritätsperson, der Kinder blindlings zu folgen hatten. Der BEDIGUNGSLOSE GEHORSAM saß der Nation noch tief in den Knochen. Wer selbst unter der Schreckensherrschaft von ZUCHT und ORDNUNG aufwächst und sie akzeptiert, der gibt die Prügel frohgemut an die Nachkommen weiter. W. erinnerte sich an ein Fernsehinterview, in das er sich zufällig hineingezappt hatte: mit LOKI SCHMIDT, der immerwährenden Gattin des Sekundärtugendkanzlers, die von ihrer Tätigkeit als Lehrerin berichtete und dabei stolz betonte, dass sie sich nie gescheut habe, WENN NÖTIG OHRFEIGEN zu verabreichen. Klar, dachte sich W., wer ein Leben hinter Sehschlitzen und an der Seite eines WK II–Unteroffiziers verbringt, erwirbt zwangsläufig den Scharfblick und das Urteilsvermögen, um jederzeit exakt ermessen zu können, wann eine ZÜCHTIGUNG NOT tut.

Und die Not war groß, zumal damals, in den ersten Nachkriegsjahrzehnten… Irgendwo musste der Frust über den verlorenen Weltkrieg ja hin, irgendwie der Absturz vom Herrenmenschen zum Kippensammler verarbeitet werden. Ventile waren gefragt, da kam die Kindsaufzucht gerade recht.

Wer sich so freimütig und hoch erhobenen Hauptes wie Loki S. zu Ohrfeigen bekennt, der sollte nach W.s Meinung sofort selbst eine gescheuert bekommen – für seine Selbstgerechtigkeit. Und gleich noch eine für sein MANGELHAFTES ERZIEHERLATEIN. Und weil er letzteres nicht für verbesserungswürdig hält, eine dritte. Und weil aller guten Dinge vier sind, noch eine hinterher, um ihn (oder sie) zum Nachdenken anzuregen, z.B. über den Sinn und Nutzen von Gewaltanwendung. Aber würde das geschehen? Wohl kaum. Eine vierfach geohrfeigte Loki S. wäre TIEF VERLETZT und zu empört, um SINE IRA ET STUDIO nachzudenken.

Was bliebe ihr übrig? Dasselbe wie allen Geprügelten: parieren oder sich verstockt zurückziehen. Wenigstens vorübergehend wäre die Ruhe wiederhergestellt. Und das ist das Ziel aller handgreiflichen Pädagogen: dem Paragraphen 2 unseres Grundgesetzes Geltung zu verschaffen: RUHE IST DIE ERSTE BÜRGERPFLICHT.

W., das renitente Kind, war den frustrationsbedingten Abreaktionen der Erwachsenen, die das 1000jährige Reich überlebt hatten, häufig ausgesetzt - unter dem Sammelbegriff und Deckmantel ERZIEHUNGSMASSNAHMEN. Die seiner Eltern nahm er nicht weiter krumm. Bis auf wenige Ausnahmen hielt er es für gerechtfertigt, wenn sie ihn übers Knie legten. Die Dreistigkeit, mit der er immer wieder seine Grenzen überschritt, musste geahndet werden, das sah er ein. Er schätzte daran, dass es nur sein Hintern war, der büssen musste und dass die auslösenden Ereignisse dann auch abgehakt und erledigt waren. Der verlängerte Rücken schien auch nicht der Hauptwohnsitz seiner Würde zu sein.

W., das Kind, ahnte, dass ihn seine Eltern oft nur aus Hilflosigkeit schlugen oder aus Zeitmangel. Beide mussten arbeiten gehen, weshalb W. bis zu seiner Einschulung entweder im Kindergarten oder bei seiner Großmutter untergebracht wurde. Seine Oma war anders als die seiner Freunde. Sie kam aus OBERSCHLESIEN und das hörte man ihr an. Manchmal war W. der Dialekt, den sie sprach, peinlich, beim Einkaufen oder in der Trambahn, aber er liebte sie wie man seine Oma nur lieben kann. Und dennoch genoss er es, sie mit seinen Fragen und seiner Aufsässigkeit zu reizen, oft bis zur PLATZE. Wollte sich nie mit einem DAS TUT MAN NICHT abfinden. Ebensowenig mit den Antworten auf sein WARUM, auf die seine Großmutter nicht vorbereitet und mit denen sie meist überfordert war. Immer wieder keuchte sie mit fuchsteufelsrotem Gesicht und dem Teppichklopfer hinter ihm her, was ihn, flink wie er war, mehr belustigte als erschreckte. Vor allem ihr: ICH WERD DICH PRIEGELN, BIS DIR DIE ROTE SUPPE RUNTERLEIFT.

Weil sie ihm leid tat, versuchte er, ihr wenigstens hin und wieder eine Freude zu machen. Dabei entdeckte er, wie einfach das sein konnte. Als wieder einmal Verwandte oder Bekannte zu Besuch waren (fast alle sprachen ein für W. befremdliches Deutsch), antwortete er auf die stets gestellte Frage, was er denn WERDEN wolle, nicht wie sonst mit LOKFÜHRER oder FEUERWEHRMANN, sondern mit APOTHEKER. Er hatte beiläufig mitbekommen, dass seine Großmutter ihn für den erstrebenswertesten aller Berufe hielt. Aber dass er sie mit dieser Antwort derart glücklich und stolz machen würde – wenigstens in diesem Augenblick – das konnte er nicht erwarten. Die Anwesenden beneideten sie um diesen Enkel und sie verzieh ihm dafür seine Ungezogenheit, unter der sie so viel zu leiden hatte. Immer wenn Besuch kam, konnte sie es kaum erwarten, dass man ihn nach seinem Berufswunsch fragte. Oft griff sie vor und tat es selbst. Und immer und immer wieder ließ sein APOTHEKER ihr gutmütig-bäuerliches Gesicht vor Freude aufglühen.

W.s insgeheime Helden trugen keine weißen Kittel und taten auch nicht hinter einer Theke Dienst. Sie hießen Tarzan, Prinz Eisenherz, Pecos Bill, Phantom und Sigurd und setzten ständig Leib und Leben für irgendjemanden aufs Spiel. Dagegen waren die eigenen Auseinandersetzungen mit dem Teppichklopfer seiner Oma Kinderkram.