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Befreit in die Zukunft So geht es nicht weiter! – Wie oft fällt dieser Satz, und dann bleibt doch alles, wie es ist: Unsere Art des Wirtschaftens und unser Lebensstil stehen im krassen Widerspruch zum notwendigen Klima- und Umweltschutz; Unternehmen fehlt es angesichts rasanter Veränderungen an Wendigkeit; überforderte Menschen bräuchten Leichtigkeit und Spontaneität, um ihre Situation zu überdenken. Warum fällt es uns so schwer, tatsächlich etwas zu ändern? Ein Grund ist, dass wir an eingeschliffenen Denkmodellen, Glaubenssätzen und Narrativen festhalten, die unser Handeln (mit)bestimmen. Diese "Störnarrative" waren vielleicht einmal funktional, sind es aber nicht mehr. Jetzt erscheinen sie als alternativlose Wahrheiten und stehen neuem Denken und Handeln im Weg. Aktanz nennen Michael Müller und Christine Erlach eine Haltung, die es erlaubt, mit Leichtigkeit und offen auf sich verändernde Bedingungen zu reagieren und ihnen auf innovative Weise zu begegnen. Praxisnah vermitteln sie in Beispielen und Mitmach-Experimenten Werkzeuge, die die eigenen Narrative und Glaubenssätze verändern helfen und Wege ins Neue ebnen. In Aktanz gehen können sowohl Einzelne wie auch Organisationen oder die Gesellschaft als Ganze, denn letztlich geht es in allen Fällen um das Gleiche: zukunftsfähig zu werden. Die Autor:innen: Michael Müller, Prof. Dr.; Studium der Germanistik, Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie; nach Tätigkeiten beim Siemens-Kulturprogramm und bei ProSieben Mitgründung der Beratungsfirma "System + Kommunikation"; Beratung von Unternehmen mit narrativen Methoden bei Kommunikation, Organisations- und Kulturentwicklung sowie im Marketing; Ausbildung zum systemischen Berater (Familienkolleg München); seit 2010 Professor für Medienanalyse und Medienkonzeption an der Hochschule der Medien Stuttgart; Gründung und Leitung des "Instituts für Angewandte Narrationsforschung (IANA)" der Hochschule der Medien. Arbeitsschwerpunkte: narrative Methoden in Kommunikation, Coaching und Organisationsentwicklung; Medienanalyse; Medienkonzeption; Semiotik; Erzähltheorie. Arbeitsschwerpunkte: narrative Methoden in Kommunikation, Coaching und Organisationsentwicklung; Medienanalyse; Medienkonzeption; Semiotik; Erzähltheorie. Christine Erlach, Dipl.-Psych.; Systemische Beraterin; Mitgründerin des Beraternetzwerkes NARRATA Consult; Leiterin von zertifizierten Weiterbildungen in den Bereichen "Professionelles Storytelling im Unternehmen" und "Narrative Organisationsberatung".
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Seitenzahl: 309
Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.
Joseph von Eichendorff
Michael Müller / Christine Erlach
WIE MAN HINDERLICHE GESCHICHTEN LOSWIRD
Mit Illustrationen von Tobias Grewe
2024
Reihe »Fachbücher für jede:n«
Reihengestaltung und Satz: Nicola Graf, Freinsheim, www.nicola-graf.com
Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich
Umschlagfoto: ©istock/BessHamiti
Illustrationen: Tobias Grewe, tobias-grewe-communication.de
Redaktion: Nicola Offermanns
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2024
ISBN 978-3-8497-0551-0 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8503-1 (ePUB)
© 2024 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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EINLEITUNG: SO GEHT ES NICHT MEHR WEITER! ODER?
1 ANNÄHERUNG AN DIE AKTANZ
AKTANZ IST KEIN ZIEL. ES IST EIN ANFANG
Warum in Aktanz gehen?
Drei Aufbrüche in die Aktanz
NARRATIVE WÄLDER
Am Waldrand: Eine kleine narrative Begriffsklärung
Der Hochwald
Das narrative Unterholz
DIE TANZBÖDEN DER AKTANZ
Der erste Tanzboden: Mensch – Welt – Handeln
Der zweite Tanzboden: Vernunft – Körper – Emotion
2 DIE NEUN RINGE DER AKTANZ
HINFÜHRUNG: IN AKTANZ GEHEN
DER ERSTE RING: AKTANZ IST BEWEGUNG UND HANDELN – UND HÖREN
Experiment 1: Der Story Circle – Erzählräume öffnen
Experiment 2: Die Ereigniskurve – wie man Erinnerungen in den Erzählraum holt, ohne gezielt danach zu fragen
Experiment 3: Storylistening im (Selbst-)Coaching
Experiment 4: Kartografie der Glaubenssätze
DER ZWEITE RING: AKTANZ BEDEUTET, LEICHTIGKEIT ZU GEWINNEN
Experiment 5: Das Streichkonzert
Experiment 6: Raumsprünge
Experiment 7: Die einzig mögliche Zukunft herbeierzählen
DER DRITTE RING: AKTANZ BEDEUTET, SPIELERISCH AUF DIE WELT ZU REAGIEREN
Experiment 8: Der Hofnarr
Experiment 9: Erfinden von Experimenten
DER VIERTE RING: AKTANZ BEDEUTET, KONTROLLE ZU LOCKERN
Experiment 10: Der Zeitstrahl
Experiment 11: Bildwandlung
DER FÜNFTE RING: AKTANZ BEDEUTET, NARRATIVE INS FLIESSEN ZU BRINGEN
Experiment 12: Der Schieberegler
Experiment 13: Das narrative Tetralemma
Experiment 14: Störnarrative aufweichen und verändern – die A-T-E-Verschiebung
Experiment 15: Drei-Ebenen-Fragen – Fällen von Entscheidungen mit Vernunft, Körper und Emotion
DER SECHSTE RING: AKTANZ BEDEUTET, HILFREICHES SICHTBAR ZU MACHEN
Experiment 16: Tischleindeckdich
Experiment 17: Schatzkiste
DER SIEBTE RING: AKTANZ BEDEUTET, IDEEN AUS DER LUFT ZU GREIFEN
Experiment 18: Der Nebelfänger – wie man Neues aus der Luft greift
Experiment 19: Das Rad der Varianten
Experiment 20: Zufallsgeschichten
DER ACHTE RING: AKTANZ BEDEUTET, IN RESONANZ ZU GEHEN
Experiment 21: Weg-Gabelungen
Experiment 22: Welten der Resonanz
DER NEUNTE RING: AKTANZ BEDEUTET, SICH DIALOGISCH ZU VERNETZEN
Experiment 23: Retelling in Aktanz
3 MIT AKTANZ IN DIE ZUKUNFT
EIN MÖGLICHER PFAD IN DIE AKTANZ
Der Aktanz-Canvas
WARUM UNSERE ZUKUNFT AKTANZ BRAUCHT
SCHLUSSWORT
LITERATUR
ÜBER DIE AUTOR:INNEN
In den gegenwärtigen Auseinandersetzungen, Diskursen und Diskussionen in Unternehmen und Gesellschaft scheint eine Erkenntnis sich mehr und mehr durchzusetzen: dass wir mit unseren bisherigen Denk- und Handlungsmodellen, Glaubenssätzen und Narrativen denkbar schlecht für die Zukunft gerüstet sind. Auf globaler und gesellschaftlicher Ebene stehen unsere Art des Wirtschaftens und unser Lebensstil in einem krassen Widerspruch zu den Erfordernissen von Klima- und Umweltschutz. Auf Unternehmensebene hat man längst erkannt, dass eine bewegliche, schnelle und resonante Form der Organisation in einer Zeit, die zunehmend von VUCA (die Abkürzung steht für volatility, uncertainty, complexity und ambiguity) geprägt ist, unerlässlich ist. Und unser Leben als Individuen ist häufig geprägt von Überforderung, Zeitmangel und der schwierigen Vereinbarkeit unserer Rollen als Mitarbeiter:in, Mutter/Vater oder Partner:in; meist fehlt uns die Leichtigkeit und Spontaneität, die eine Voraussetzung für neues Denken und Handeln ist.
Und selbstverständlich interagieren diese Ebenen miteinander, denn als Individuen sind wir auch Mitarbeitende von Unternehmen und Mitglieder von Gesellschaften; wir prägen die Organisationen mit unseren Grundannahmen, und diese prägen uns.
Wir alle sehen diese Widersprüche schon sehr lange, und dennoch fällt es uns so schwer, tatsächlich etwas zu ändern.
Ein wichtiger Grund dafür ist, dass wir – teils bewusst, teils unbewusst – an eingeschliffenen Denkmodellen, Glaubenssätzen und Narrativen festhängen, die unser Handeln (mit)bestimmen. Solche »Störnarrative« waren oft irgendwann einmal in unserem (persönlichen, organisationalen, gesellschaftlichen) Leben funktional, sind es aber nicht mehr. Jetzt nehmen sie unserem Denken die Leichtigkeit, erscheinen als »alternativlose« Wahrheiten, hemmen neues Handeln und neues Denken für die Zukunft. Solche Störnarrative können etwa das Wachstumsnarrativ sein (»Nur wenn die Wirtschaft wächst, ist sie gesund«; globale Ebene), das Narrativ der Leistungsgesellschaft (»Jeder kann durch Leistung alles gewinnen«; gesellschaftliche und wirtschaftliche Ebene) oder persönliche Narrative, die uns Selbstzweifel, Entscheidungsschwierigkeiten und Unsicherheit bescheren. Vergleichbar sind sie mit »hemmenden Bewegungsmustern«, wie sie der Bewegungslehrer Moshé Feldenkrais beschreibt: Oft sind an bestimmten Bewegungen unseres Körpers sehr viel mehr Muskeln beteiligt, als nötig sind. Wenn es uns gelingt, diese wegzulassen, bewegen wir uns leichter und gesünder. Wenn es uns analog gelingt, Störnarrative wegzulassen, sind wir offen für Leichtigkeit und neues Denken.
Der Umgang mit Störnarrativen ist ein zentraler – aber nicht der einzige – Baustein der in unserem Buch dargestellten Praxis, mit der Individuen und Organisationen in Aktanz gehen können. Unter Aktanz verstehen wir eine Haltung, die Voraussetzung für bewegliches, flexibles Handeln und situatives Verhalten ist. Aktanz ermöglicht ein leichtes, kreatives und passendes Reagieren auf sich verändernde Bedingungen und ist daher eine wichtige Voraussetzung für Zukunftsfähigkeit. Aktanz ist ein Begriff, den wir für diese Haltung geprägt haben, ein Neologismus, den es – mit Ausnahme einer sehr seltenen Verwendung für einen sprachwissenschaftlichen Sonderfall – bisher nicht gab. Uns war wichtig, einen Begriff zu finden, der anschlussfähig für möglichst viele semantische Aufladungen ist, ohne zugleich schon allzu feste Vorstellungen bei unseren Leser:innen auszulösen. Wir wollen mit dem Begriff der Aktanz ein Bedeutungsfeld aufspannen, das die Haltung(en) und Verhaltensweisen benennt, die wir unserer Meinung nach in unserem täglichen Leben, in Organisationen und in der Gesellschaft entwickeln könnten, um den Gang in die Zukunft leichter und erfolgreicher zu machen.
Zu diesem Bedeutungsfeld gehört einerseits die Aktivität, die Handlungsfähigkeit, die wir haben sollten, um nicht passiv einfach nur unser Schicksal zu erwarten. Andererseits steckt aber auch der Tanz in diesem Wort, der eine Beweglichkeit voraussetzt, die über das alltäglich Gewohnte hinausgeht. Und natürlich impliziert der Tanz auch das Spielerische, Leichte, das in Aktanz steckt: Wir werden sehr viel kreativer und innovativer werden, wenn wir unseren Alltag, unsere Arbeit, aber auch unsere Pläne und Strategien mit Leichtigkeit und einer spielerischen, tänzerischen Haltung angehen. Dazu gehört auch die Offenheit, sich auf Neues einzulassen und zu experimentieren, auszuprobieren, was neben dem anscheinend Selbstverständlichen noch alles möglich ist. In dem Begriff Aktanz stecken außerdem die »Aktanten« – die Kraftfelder, die jede Geschichte (und damit auch unsere Störnarrative) bestimmen, z. B. Protagonist:innen und ihre Wünsche, Helfende, Gegenspieler:innen etc. (wer oder was diese Aktanten genau sind, werden Sie, liebe Leser:in, in einem späteren Abschnitt erfahren). Und schließlich steckt in Aktanz die Fähigkeit, in Resonanz zu anderen zu gehen, zu unseren Kolleg:innen und Mitarbeitenden, zu den Welten innerhalb und außerhalb unserer Organisationen und gesellschaftlichen Gruppen. Häufig bringt die Fähigkeit, in Resonanz zu anderen zu gehen, auch mehr Verständnis, eine höhere Toleranz gegenüber anderen Perspektiven und anderen Lebensentwürfen mit sich – eine weitere Bedeutung, die für uns in dem Begriff Aktanz steckt.
Abb.
1
: Das Bedeutungsfeld von Aktanz
Wir wollen mit diesem Bedeutungsfeld von Aktanz (vgl. Abb. 1) keine geschlossene Definition anbieten, sondern Ihnen – wenn es uns gelingt – zunächst einmal ein Gefühl dafür vermitteln, was Aktanz sein kann. Wir wollen Sie einladen, weitere, eigene Bedeutungen an diesen Begriff zu heften.
Wir werden uns in diesem Buch daher der Aktanz mithilfe verschiedener Metaphernfelder annähern, die diesen Bedeutungsraum umschreiben und größer machen sollen. Da ist einerseits der metaphorische Raum der narrativen Wälder, die wir durchwandern werden und so zu verstehen lernen, was Narrative sind, welche davon »Störnarrative« sind und hinter welchen sich hilfreiche Glaubenssätze verbergen. Wir werden mit der Metaphernwelt des Tanzes und des Tanzbodens die Räume aufspannen, in denen wir mit der Aktanz experimentieren können. Und wir werden mit den Metaphern des Flüssigen und Festen und auch des Dampfförmigen arbeiten, um die Veränderung von Glaubenssätzen und Narrativen zu erläutern. Schließlich wir werden immer wieder Bilder des Körpers und der körperlichen Bewegung bemühen, um Aspekte der Aktanz zu verdeutlichen. Aber keine Angst, wir bleiben in diesen Metaphernwelten nicht stecken, sondern werden mit konkreten Experimenten, die wir Ihnen zum Ausprobieren anbieten, sehr anwendungsorientiert. Wir sprechen dabei gezielt von »Experimenten« und nicht von Übungen, Methoden oder Aufgaben. Experimente sind nicht etwas, was man »abarbeiten« sollte, sondern etwas, das man versuchen kann – und auch wieder lassen kann. Experimente können auch schiefgehen und nicht die erwarteten Resultate zeigen. Dann probiert man eben etwas anderes aus. Wir schlagen Ihnen in diesem Buch eine Reihe von Experimenten vor, die sich für uns bewährt haben, die wir in Coachings und mit Teams ausprobiert haben.
Im ersten Teil dieses Buches werden wir uns mit den Hintergründen und Aspekten der Aktanz beschäftigen und beschreiben, warum diese Haltung wichtig ist, um auch in Zukunft handlungsfähig zu bleiben. Wir werden die narrativen Grundlagen und den Begriff der Störnarrative erläutern und genauer darauf eingehen, warum unsere Glaubenssätze Narrative sind und wie wir sie verändern können. Und wir werden uns damit beschäftigen, welche Aspekte unseres Menschseins vor allem im Kontext der Aktanz wichtig sind: Körper, Vernunft und Emotionen, und unser Handeln in unserer (Um-)Welt.
Im zweiten Teil des Buches gehen wir dann auf die wichtigsten neun Bedeutungs- und Handlungsfelder der Aktanz ein – wir haben sie die »Neun Ringe der Aktanz« genannt. Zu jedem dieser Ringe finden Sie ein oder mehrere Experimente, mit deren Hilfe Sie den jeweiligen Aspekt im (Selbst-)Coaching oder in Teams ausprobieren können.
Im dritten Teil schließlich finden Sie unseren »Aktanz-Canvas«, der einen idealtypischen Experimentier-Pfad in die Aktanz aufzeigt. Sie können ihm folgen, wenn Sie mögen. Sie können aber ebenso einfach die Experimente ausprobieren, die Ihnen am meisten zusagen, um mit mehr Leichtigkeit in die Zukunft zu wandern.
Wir freuen uns, wenn Sie mit uns in Aktanz gehen.
Christine Erlach und Michael Müller
Viele Menschen haben schon länger das Gefühl, nicht mehr so weitermachen zu können wie bisher. Das Gefühl, ihr eigenes Leben – aber auch die Prozesse im eigenen Unternehmen und besonders in der Gesellschaft – bestünde zu großen Teilen im besten Fall aus einem Durchwursteln, im schlechtesten aus einem stetigen Kampf gegen immer neue Gegner, Widerstände und Hindernisse, die unser Leben negativ beeinflussen oder sogar zerstören. Besonders deutlich wurde dies im Krisenjahr 2022, als wir begannen, dieses Buch zu schreiben. Die Klimaerwärmung gab den Krisen-Hintergrund, die Corona-Krise war noch aktuell, dann kam der russische Angriffskrieg in der Ukraine, daraus folgte die Energiekrise, dazu kam die Inflation, die alles teurer machte. Sehr viele Menschen – wir auch – hatten das Gefühl, dass man gar nicht mehr zum Durchatmen komme, weil es so viele Baustellen gab (und gibt). Plötzlich wurden längst beschlossene Problemlösungen, wie zum Beispiel für die Klimaerwärmung, auf Halde gelegt, weil die Energiekrise sich in den Vordergrund schob. Die Politik, ja die ganze Gesellschaft agierte, wie wir es in unserem beruflichen Leben oft tun, wenn uns alles zu viel wird, wenn wir im Stress und in der Überforderung sind: Man stopft die wichtigsten Löcher und verliert langfristigere Vorstellungen, Ziele und Visionen aus dem Blick – auch auf dieser Ebene also das Weiterwursteln wie oben beschrieben.
Die Frage, die wir uns gestellt haben, ist: Wie können wir aus diesem Hamsterrad herauskommen, das uns davon abhält, uns mit den langfristigeren Problemen oder überhaupt mit unserer Zukunft zu beschäftigen? Denn, so unsere Beobachtung: Wenn wir uns überhaupt mit der Zukunft beschäftigen, dann meist in einer sehr kurzfristigen Perspektive, die eher dem Hamsterrad geschuldet ist als einer klaren Vorstellung, wie wir als Einzelne oder als Gesellschaft leben oder als Unternehmen und Mitarbeitende arbeiten wollen:
Als Individuum haben wir häufig das Gefühl, immer nur das Nötigste tun zu können und vor lauter Stress nicht mehr über den Tellerrand sehen zu können.
Als Unternehmen – sei es von der Börse oder allgemein vom Finanzmarkt abhängig – sind wir entweder im Takt der Quartalszahlen gefangen oder begeben uns häufig ohne Not in eine »freiwillige« Gefangenschaft, indem wir glauben, dass sich alles recht kurzfristig rechnen muss. Auch Führungskräften gibt man meist nicht mehr die Zeit, mittelfristig etwas zu entwickeln, sondern allenfalls die ominösen hundert Tage.
Und als Gesellschaft? Siehe oben: Jede neue Krise lässt die bisherigen Maßnahmen gegen die alte Krise obsolet erscheinen. Maßnahmen gegen die Klimaerwärmung scheinen im Gegensatz zu Maßnahmen zur Energiesicherheit zu stehen, und so denkt man paradoxerweise darüber nach, Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen.
Mehr oder weniger glaubt man, auf allen drei Ebenen den Stoßseufzer hören zu können: »Wenn ich mal Zeit habe, dann überlege ich mir alles grundsätzlich neu, dann regle ich alles.« Menschen, Unternehmen und auch Gesellschaften sprechen oft davon, sich »neu zu erfinden«, aber selbst, wenn diese Neuerfindung glückt, ist man bald wieder in einem anderen, vielleicht andersfarbigen Hamsterrad gefangen. Bezüglich des Neuanfangs leben wir offenbar in einer ähnlichen Lage, wie sie der Wiener Wissenschaftsphilosoph und Ökonom Otto Neurath beschreibt:
»Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.«(vgl. Neurath 2011, S. 277)
Ähnlich ist es mit unserem Leben als Individuum, als Organisation, als Gesellschaft: Wir sind immer mittendrin, selbst wenn wir uns eine Auszeit gönnen, um uns neu zu erfinden, schleppen wir doch den »alten Adam« oder die »alte Eva« mit all ihren Stärken und Schwächen, mit all den Narrativen, in die er oder sie verstrickt ist, mit.
Wenn wir einsehen, dass wir immer unterwegs sind, dass die Wirklichkeit nicht aufhören wird, Krisen zu produzieren (und vor allem, dass wir, die Gattung Homo sapiens, an den meisten selbst schuld sind), die Wirtschaft nicht plötzlich harmonisch sein wird und unser privates und berufliches Leben nicht plötzlich aufhören wird, Forderungen und Überforderungen an uns zu stellen – dann stellen sich für uns die Fragen:
Mit welcher Haltung können wir einerseits mit dieser Lage so umgehen, dass sich nicht mehr alles so schwer anfühlt?
Und: Mit welcher Haltung können wir dennoch handlungsfähig bleiben, Vorstellungen von einem besseren Leben entwerfen und Schritte entwickeln, um diese Vorstellungen zu verwirklichen?
Wir nennen die Haltung Aktanz, und die Aktivitäten, die uns handlungsfähig für die Zukunft machen, In Aktanz gehen.
Aktanz ist einer der Begriffe, für die der Hirnforscher Ernst Pöppel das schöne Etikett »Kernprägnanz und Randunschärfe« geprägt hat. Viele wichtige Begriffe unserer Sprache sind so, der Begriff »Liebe« zum Beispiel. Wir alle wissen, was Liebe ist, das Wort ist kernprägnant. Aber für jeden bedeutet es ein bisschen etwas anderes, je nach den eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen. Für uns, die Autor:innen dieses Buchs, ist »Aktanz« auch so ein kernprägnanter wie randunscharfer Begriff, der erst während unserer Arbeit an dem Buch zu uns gekommen ist. Bei der Arbeit an diesem Buch haben wir manchmal gesagt, das Wort ist wie ein glitschiger Fisch, der immer wieder den Händen entgleiten will. Aber je länger wir uns mit ihm beschäftigt haben, desto besser ist es uns gelungen, diesen Fisch zumindest in der Luft zu halten, ihn immer wieder aufzufangen, wenn er unseren Händen entglitten ist.
Bevor wir diesen Begriff fanden (oder er uns, manchmal weiß man das nicht so genau), und auch danach, sind wir selbst viele Kilometer gelaufen, rund um Stuttgart, wo wir uns immer wieder zum Arbeiten getroffen haben. Wir haben viel über Leichtigkeit, Offenheit, Möglichkeitsräume und Ähnliches gesprochen und über unsere Erfahrungen als Organisationsberatende, und dass wir beide festgestellt hatten, dass diese Leichtigkeit, die Offenheit für ungewöhnliche Möglichkeiten, das Verlassen der ausgetretenen Bahn des »Alternativlosen«, in vielen Organisationen, aber auch bei Einzelmenschen (inklusive uns selbst) Qualitäten sind, die in unserem (Arbeits-)Alltag oft fehlen. Nicht selten empfinden wir den Alltag und die Prozesse in Organisationen als schwer, eindimensional, dysfunktional und Energie raubend. Auf unseren Spaziergängen schien es uns immer klarer, dass wir in unserem alltäglichen Leben, in unseren Unternehmen und Organisationen, aber auch in unserer Gesellschaft und Kultur uns oft in dysfunktionalen Glaubenssätzen und nicht mehr hilfreichen Grundüberzeugungen verfangen haben, die das Leben, das Arbeiten, langfristig vielleicht sogar unser gesellschaftliches Über-Leben schwer machen. In dem Begriff In Aktanz gehen haben sich dann für uns die Auswege aus diesem Dickicht an hemmenden, belastenden Glaubenssätzen und Störnarrativen gebündelt.
In Aktanz zu gehen bedeutet ganz grundsätzlich, unsere Gewohnheiten zu hinterfragen, die Art und Weise, wie wir Dinge tun, wie wir gewohnt sind zu denken, mit unseren Emotionen umzugehen, manchmal auch mit unserem Körper oder unserer Präsenz im Raum.
Das ist ein weites Feld, natürlich. Und wahrscheinlich kommt man damit nie zum Ende. Und es ist auch gar nicht die dahinterstehende Absicht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. In Aktanz zu gehen bedeutet einfach auch, mit einer Haltung durch den Alltag, das berufliche Leben, das Unternehmen oder auch in beliebige soziale Kontexte zu gehen, die es uns ermöglicht, etwas anderes, Neues, Ungewohntes, vielleicht sogar Verrücktes auszuprobieren und zu schauen, was sich dadurch ändert. Wird es dadurch leichter? Oder vermehren sich die Optionen? Wird das Feld, in dem ich mich gerade befinde, offener, kann ich zum Beispiel, vielleicht in einem einzigen Punkt, das Schwarz-Weiß-Denken verlassen und so neue Möglichkeiten entdecken? Entdecke ich Glaubenssätze, Störnarrative, die mich an der Leichtigkeit und der Resonanz hindern? Und kann ich feste, »gefrorene« Denk- und Glaubensmuster »verflüssigen«, Alternativen ausprobieren, neue Ideen »aus der Luft greifen« und mein Denken, Handeln, meine Netzwerke und Beziehungen, meine Resonanz in der Welt verändern – in kleinen, überschaubaren, leichten und vielleicht sogar vergnüglichen Schritten? In Aktanz zu gehen bedeutet nicht, die ganz große Veränderung zu planen und umzusetzen, sondern kleine Schritte und Wege auszuprobieren. Und dann diejenigen weiterzugehen, die gut funktionieren, und diejenigen wieder sein zu lassen, die sich nicht bewähren oder keinen Sinn ergeben. Wir mögen die Metapher gerne, dass in Aktanz zu gehen bedeutet: Man fängt an zu tanzen, wo man vorher gegangen oder gelaufen ist – sich spielerischer, leichter und offener zu bewegen, als man es »normalerweise« gewohnt ist.
Für Sie als Individuum könnte diese andere Art der Bewegung zum Beispiel bedeuten:
Eine Tätigkeit, bei der Sie immer viele Widerstände überwinden müssen, die Ihnen schwerfällt, wird ein wenig leichter, weil es Ihnen gelungen ist, das Störnarrativ, dass Sie das sowieso nicht können, mal eine Zeit lang wegzulassen, zu parken. Etwa, wenn es um das Schreiben eines Texts geht. Das Störnarrativ sagt, dass Sie nicht schreiben können, dass Ihre Texte immer schlecht werden. Sie parken es, indem Sie den Druck herausnehmen: Der Text muss nicht gut werden, Sie schreiben einfach mal eine Seite, und dann dürfen Sie wieder aufhören, und erst am nächsten Tag schauen Sie den Text an und überlegen, ob etwas davon brauchbar ist. Sie werden überrascht sein, wie viel davon schon ziemlich gut ist.
Oder: Das Verhalten einer anderen Person triggert Sie, ärgert Sie immens, weil es genau das Gegenteil von dem ist, was Sie für richtig halten. Gibt es irgendetwas zwischen den beiden gegenteiligen Verhaltensweisen, das auch noch denkbar wäre? Etwa wenn Sie und Ihr:e Partner:in immer wieder darüber streiten, wie die Spülmaschine richtig eingeräumt wird – ein Klassiker unter Paaren. Der Streit wird sich immer weiter verhärten, je länger jede:r auf seinem oder ihrem »richtig« beharrt. Man könnte aber auch die Idee haben, mit einem Schieberegler zwischen diesen beiden Polen zu spielen und auszuprobieren, ob es nicht noch zahlreiche andere Arten des Spülmaschinen-Einräumens geben könnte, für die auch etwas spräche? Und dadurch könnte sich vielleicht zwischen den verhärteten Fronten sogar eine gemeinsame Experimentierfreude entwickeln.
Oder: Sie stecken beruflich fest, Ihre berufliche Tätigkeit befriedigt Sie nicht mehr, Sie können sich nicht vorstellen, das, was Sie jetzt machen, noch lange weiterzutreiben. Aber Sie haben keine Idee, was Sie ändern könnten, wohin Sie schauen oder sich bewegen sollten. Dann könnte es vielleicht hilfreich sein, neue Ideen »aus der Luft zu greifen« – indem Sie versuchen, Inspirationen aus Ihrer Umgebung zu finden, wo Sie nie welche zu finden erwartet hätten. Wie wäre es, einen Spaziergang durch die Natur zu machen und alles zu fotografieren, was Ihnen irgendwie interessant vorkommt: knorrig gewachsene Bäume, ein Stück Papier, das halb ins Gras getreten ist, ein Stein, eine Blumenwiese. Und dann zu Hause die Fotos anzuschauen und bezüglich Ihrer Frage, was Sie denn beruflich anders machen könnten, zu diesen Fotos zu assoziieren. Wild und frei. Die Assoziationen auf Kärtchen schreiben und auf den Tisch legen. Und irgendwann kristallisieren sich weiterführende Ideen heraus. Schräg? Probieren Sie es aus! Genauer beschreiben wir dieses Experiment auf Seite 177 (DER NEBELFÄNGER).
Das klingt jetzt alles sehr leicht und einfach – vielleicht ein wenig zu einfach, denn oft gibt es Situationen oder Probleme, aus denen man ohne Hilfe, etwa durch eine:n Berater:in, Coach oder durch Freund:innen, nicht herauskommt. Aber manchmal ist es dann doch leichter, als man es sich selbst immer vormacht: Tief verwurzelte Glaubenssätze, die in Wirklichkeit Störnarrative sind, weil sie uns daran hindern, besser, leichter, mit mehr Spaß und vielleicht auch größerem Erfolg zu »agieren«, tun so, als ob sie unerschütterliche Wahrheiten wären. Doch manchmal genügt nur ein kleiner Schubs, um so ein Störnarrativ zumindest probeweise und vorübergehend außer Kraft zu setzen. Und wenn man dann einmal die Erfahrung gemacht hat, dass sich die Kraft solcher Narrative auch einmal zumindest für eine Weile ausschalten lässt, ist seine Magie gebrochen: Wir können dann immer öfter ausprobieren, ob es noch Macht über uns hat – und sehen, dass sie kleiner geworden ist.
Für Teams oder Abteilungen in Unternehmen oder ganze Unternehmen könnte das bedeuten: In Ihrem Unternehmen oder Ihrer Abteilung verlaufen Diskussionen über Problemlösungen, Veränderungen oder Neuerungen immer in den gleichen Schwarz-Weiß-Mustern: Die einen bringen Argumente für die Veränderung, andere »wissen« genau, dass das nie im Leben funktionieren kann, und erzählen Erfahrungsgeschichten aus ihrer langjährigen Berufstätigkeit. Oft ist da etwas dran, und man tut gut daran, die Argumente zu hören oder darüber zu diskutieren. Trotzdem: Vielleicht sind die Rahmenbedingungen jetzt andere, und es könnte ja sein, dass eine Neuerung diesmal bessere Chancen hat. Teams können dann in einem Kompromiss vereinbaren, dass einige Kolleg:innen, als Task Force, das Neue einmal ausprobieren und diejenigen, die dagegen sind, zunächst einmal außen vor bleiben. Dann kann man vielleicht in einem kleinen Rahmen testen, ob die Neuerung funktioniert. Danach ist man auf jeden Fall klüger.
Oder: Sie stellen fest, dass Meetings meistens sehr unkonzentriert ablaufen und sich zudem ein Diskussionsstil eingeschlichen hat, bei dem sich immer nur einige wenige beteiligen, diese aber zu einer »Basta-Argumentation« neigen, das heißt, sie wissen genau, wie es geht, und so wird es gemacht! Das klingt jetzt ziemlich spezifisch, aber unserer Erfahrung in vielen unterschiedlichen Unternehmen nach ist genau dieser Stil häufig zu beobachten. Die meisten Teilnehmer:innen sitzen ihre Zeit im Meeting pflichtschuldig ab, erwarten aber nicht, Relevantes zu erfahren. Um solche erstarrten, eingefrorenen Meetingkulturen aufzubrechen, gibt es ein einfaches Mittel: jede Sitzung mit einem STORY CIRCLE zu beginnen. Alle Teilnehmer:innen erzählen zu Beginn, was ihre wichtigste Erfahrung in der vergangenen Woche war, z. B. in Bezug auf ein Projekt oder den Arbeitsbereich des Teams. Das geht schnell, man kann auch die Redezeit auf zum Beispiel zwei Minuten begrenzen und hat unschätzbare Vorteile: Jede:r kommt einmal zu Wort und ist dadurch zumindest etwas mehr beteiligt als sonst, man informiert sich gegenseitig, was an den unterschiedlichen Baustellen gerade los ist, man erfährt mehr über die Tätigkeiten der anderen, und oft entstehen im Anschluss an einen solchen STORY CIRCLE neue Ideen. Vielleicht muss man am Anfang die Kolleg:innen ein wenig dazu überreden, diese neue Methode, »die uns nur aufhält«, einmal auszuprobieren. Erfahrungsgemäß ist nach spätestens zwei bis drei Versuchen die Mehrheit überzeugt, dass dies eine gute Sache ist.
Oder: Sie stellen fest, dass in Ihrem Team, in Ihrer Abteilung kein guter Teamgeist herrscht, viele Teammitglieder sich über das für die Arbeit unbedingt Notwendige hinaus kaum austauschen und oft auch Konflikte schwelen, die, wenn überhaupt, dann sehr destruktiv ausgetragen werden. In einem Unternehmen, das wir beraten haben, wurden in so einer Situation »Kuchenrunden« in regelmäßigen Abständen eingeführt: Die Teamleiter:innen haben Kuchen spendiert, und die Teammitglieder konnten bei diesen Kuchenrunden miteinander reden, über was sie wollten – es musste nichts mit der Arbeit zu tun haben. Nach kurzer Zeit konnte man die Veränderung allein schon an der Atmosphäre bemerken: Die Menschen verstanden sich besser (in jeder Bedeutung dieses Ausdrucks), Konflikte konnten ausgetragen werden, Informationen flossen schneller. Wenn man mit Mitarbeiter:innen auch in anderen Kontexten sprach, betonten sie immer, wie gut sie die Kuchenrunden fanden (und das nicht nur wegen des Kuchens). Ein kleines negatives (vorläufiges) Ende der Geschichte: In Gefahr kam das Erreichte, als eine neue Führungskraft, die auf Effizienz getrimmt war, der Meinung war, dass die Zeit in den Kuchenrunden doch besser zu nutzen sei, und einen Meetingplan mit arbeitsbezogenen Themen aufsetzte. Damit wurden die Kuchenrunden zu einem »Meeting mit Kuchen«, und die positiven, teambildenden Effekte verloren sich.
All diese Beispiele führen zu mehr Leichtigkeit, mehr Offenheit gegenüber anderen und neuen Ideen und dadurch letztlich auch zu mehr »Effizienz«, als wenn diese immer nur scheinbar und vordergründig postuliert wird.
Josefine K. fühlt oft, wie sie an ihre Grenzen stößt. Nicht an die Grenzen ihres Könnens, sondern an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Seit 14 Monaten ist sie Teamleiterin in einem großen Unternehmen der Elektrobranche, in dem die 38-Jährige seit acht Jahren arbeitet, mit 15 Monaten Unterbrechung durch die Elternzeit, als ihre heute vierjährige Tochter Anna geboren wurde. Ihr Sohn Marco ist zehn Jahre alt.
Über die Beförderung hatte sie sich sehr gefreut. Heute ist sie sich manchmal nicht mehr sicher, ob das nicht ein Danaergeschenk war. In dem Team, das sie leitet, hat sie selbst schon lange gearbeitet. Das bedeutet, dass sie plötzlich mit der Beförderung zur Chefin ihrer Kolleginnen und Kollegen wurde. Sie fühlte den Druck, sich den Respekt der Kolleg:innen erwerben zu müssen, in ihrem Kopf blinkte immer wieder wie eine Leuchtschrift der Satz auf: »Warum bin ausgerechnet ich Teamleiterin geworden – und nicht eine(r) von den anderen?« An ihren guten Tagen weiß sie mehrere Antworten, die zwischen »weil ich wirklich die Beste bin« und »weil ich auf jeden Fall so gut wie jede(r) andere im Team bin« pendeln. An den schlechten Tagen, die sich in letzter Zeit häufen, lautet die Antwort: »Es gibt keinen Grund, die anderen denken bestimmt, dass sie es mehr verdient hätten als ich«. Und auch gegenüber den anderen Teamleiter:innen hat sie oft Probleme, sich als ebenbürtig einzuschätzen – obwohl diese sie sehr kollegial behandeln, was sie durchaus wahrnimmt. Aber sie kann einfach nicht vergessen, dass diese sie ja noch als einfache Mitarbeiterin kennengelernt haben und sie daher, so befürchtet sie, nicht als Führungskraft ernst nehmen können. Auch ihrer eigenen Chefin gegenüber hat sie ständig das Gefühl, beweisen zu müssen, dass ihre Beförderung richtig war, auch wenn sie – an ihren guten Tagen – zugeben muss, dass sie ihr keinen großen Druck macht und sie in der Einarbeitungsphase sehr fürsorglich begleitet hat. Zu all diesem Druck kommt als zweiter Teil ihrer Misere auch noch die Familie dazu. »Nicht falsch verstehen«, sagt sie immer zu ihren Freundinnen, wenn sie sich wieder einmal über ihren Stress auskotzt, »ich liebe meinen Mann und meine Kinder. Aber es ist alles zu viel.« Ihr Mann ist selbstständiger Kommunikationsberater; bisher war es so, dass er meist von zu Hause arbeiten konnte. Doch in letzter Zeit läuft sein Geschäft immer besser, und er ist nun öfter mal zwei, mal drei Tage unterwegs bei Kunden. In diesen Fällen kommt ein wahnsinnig komplexes Management von Kita, Hort, Nachmittagsbetreuung, Babysittern und Oma-Services zum Einsatz (der Oma-Service eher selten, die Oma hat »wenig Bock, die ganze Kindernummer ein zweites Mal durchzumachen«). Josefines Mann tut zwar, wie sie an ihren guten Tagen zugeben muss, sein Bestes, aber manchmal denkt sie auch, er könnte doch, solange die Kinder klein sind, ein wenig kürzertreten; jetzt, als Teamleiterin, verdient sie doch genug, um die Familie durchzubringen. Und kaum hat sie es gedacht, fällt ihr auf, dass das ja die alten Rollenmuster sind, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Oft hat sie das Gefühl, zu Hause die Rolle als Managerin stärker ausfüllen zu müssen als in der Firma. Und dann sind da auch noch die Schuldgefühle gegenüber den Kindern, an diesen Tagen, an denen sie von der Kita über die Tagesmutter zur Babysitterin (Anna), von der Mittagsbetreuung in den Hort zu einem Übernachtungsfreund oder ebenfalls zur Babysitterin (Marco) weitergereicht werden. Ihr Mann bemüht sich wirklich, nicht so oft weg zu sein, und seit in der Corona-Zeit die meisten Unternehmen gelernt haben, wie man auch remote zusammenarbeiten kann, funktioniert das immer öfter. Aber sie versteht auch, dass Reisen nötig sind und dass für ihn seine Arbeit und die Anwendung einer speziellen Methode, die er selbst entwickelt hat, wichtig und sinnstiftend ist. Aber oft in den letzten Monaten denkt sie, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch stehe, dass es nur irgendwann einmal »Klick« machen müsse, damit sie in den Burn-out falle. All diese Aufgaben, und dann immer noch die Schuldgefühle gegenüber den Kindern, dem Mann, das Hadern mit der eigenen Mutterrolle, die Zweifel über ihre Anerkennung durch die Kolleg:innen, die Teammitglieder, die Chefin – all das verdichtet sich zu einem so massiven Druck, der sich manchmal nur noch in Tränenströmen ein Ventil schaffen kann.
Ein verlängertes Wochenende auf einem Yoga-Retreat – ganz allein ohne Familie. Das hat ihr Mann ihr geschenkt, vielleicht in letzter Minute, bevor sie wirklich zusammengeklappt wäre. Früher hat sie viel Yoga gemacht, sogar schon mal mit einer Ausbildung als Yoga-Lehrerin geliebäugelt, aber dann kamen die Kinder, der Beruf und das, was in den Medien immer so schön als die »Rushhour des Lebens« bezeichnet wird. Manchmal hat sie schon versucht, wieder damit anzufangen – aber immer kam etwas dazwischen.
Zu Beginn des Retreats fiel es Josefine schwer, die Gedanken an Beruf und Familie, die sie verfolgten, loszulassen. Aber das in einer wunderschönen Landschaft gelegene Hotel, der helle Yoga-Raum, die Gemeinschaft der anderen Teilnehmer:innen und natürlich die ersten Übungen taten ein Übriges, und nach dem ersten Tag war sie »gelandet«.
Die Kursleiterin schaltete zwischen die eigentlichen Yoga-Einheiten immer »Feldenkrais-Lektionen« ein. Dabei ging es – soweit Josefine es verstand – darum, neue Bewegungsmuster zu lernen und sich dabei genau zu beobachten, welche Muskeln oder Gelenke helfen könnten, eine Bewegung – zum Beispiel das Drehen des Oberkörpers – leichter und harmonischer zu machen, und welche dabei eher störten. Ihr Körper sollte, so die Yoga-Lehrerin, herausfinden, welche Muskeln sich mitbewegen, ohne dass es für die Bewegung nötig wäre, und sie dadurch schwieriger und anstrengender machten, als es eigentlich nötig wäre. Josefine war sich zunächst nicht sicher, wie sie die Muskelaktivitäten, die helfen, und die störenden unterscheiden könnte, aber je länger sie in ihren Körper hineinfühlte, desto deutlicher wurde der Unterschied, und damit das Gefühl der Leichtigkeit, wenn sie die störende Bewegung wegließ.
Die Ideen der Leichtigkeit und des Weglassens faszinierten sie.
Bei einem Spaziergang vor dem Abendessen begann sie, darüber nachzudenken, ob sie die Idee der Leichtigkeit auch auf ihr Leben übertragen könne. In der belastenden Situation zwischen Arbeit und Familie, in der sie steckte, hatte sie schon manchmal darüber nachgedacht, die Führungsposition wieder aufzugeben, um damit zumindest einen Teil des Stresses loszuwerden. Aber alles in ihr sträubte sich dagegen. Ihre jetzigen Aufgaben waren genau das, was sie immer hatte tun wollen, und auch die Führungsrolle erfüllte sie, und wenn ihr gerade nicht all ihre Zweifel im Weg standen, war sie auch überzeugt, sie ausfüllen zu können.
Als ihr dieser Gedanke kam, blieb sie elektrisiert stehen. Waren die Zweifel etwa das, was den störenden Muskelaktivitäten in der Feldenkrais-Lektion entsprach? Könnte sie ein wenig aus ihrer Belastung herauskommen, wenn sie das, was sie tat (und tun musste), mit mehr Leichtigkeit tun könnte? Und das, was es schwer machte, weglassen? Josefine nahm sich vor, in nächster Zeit immer wieder ihr Arbeiten und ihre Gedanken dazu zu beobachten – und vielleicht so feststellen zu können, was sie weglassen könnte, um mehr Leichtigkeit zu gewinnen.
Ihr war klar, dass dies erstmal nur ein Gedanke war, und noch kein neues Gefühl zu ihrem Leben. Und dass der Alltag bald wieder Tribut fordern würde. Aber sie beschloss, zumindest diesen Gedanken am Leben zu halten und damit zu experimentieren, wie sie Leichtigkeit in ihr Leben bringen könnte.
Die Eleno Versa GmbH ist ein mittelständisches IT-Unternehmen mit etwa 900 Mitarbeitenden an drei Standorten in Deutschland – wir haben den Firmennamen und einige andere Details zum Zwecke der Anonymisierung verändert, jedoch existiert die Firma in ähnlicher Form tatsächlich. Das Unternehmen war vor etwa 50 Jahren als Familienunternehmen gegründet worden und versteht sich als ein Pionier der Digitalisierung, der schon im Lochkarten- und Großrechner-Zeitalter »Datenverarbeitungs-Services« für B2B-Kunden angeboten hatte. Vor wenigen Jahren war es jedoch an ein größeres internationales Unternehmen – Serveflow – verkauft worden, das seine Wurzeln in den 1990er-Jahren im Silicon Valley hatte. Da die Mutterfirma vor allem an den Kunden von Eleno Versa interessiert war, wurde diese als Tochterfirma geführt und nicht in die Mutter integriert. Von der ursprünglichen Gründerfamilie war mittlerweile niemand mehr im Unternehmen, die Geschäftsleitung setzte sich aus »altgedienten« Führungskräften aus dem Unternehmen und Vertretern des Konzerns zusammen.
Die Strukturen in dem Unternehmen waren seit langer Zeit gewachsen, und da der Gründer vom Typus her eher ein Patriarch gewesen war, war die Führungskultur – bei allen Modernisierungen im Lauf der Jahrzehnte – doch noch immer sehr hierarchisch. Und auch die Organisationsstruktur hatte sich über die Jahrzehnte immer mehr verfestigt, es gab klare Geschäftsbereiche und Abteilungen, und die jeweiligen Führungskräfte wurden intern als »Kurfürsten« bezeichnet. Die Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitenden der einzelnen Geschäftsbereiche musste immer top-down eingefädelt werden, abteilungsübergreifende Projekte gab es nur über die Genehmigung der jeweiligen Kurfürsten. Intern wurden die Abteilungen und Geschäftsbereiche oft als »Silos« bezeichnet.
Soweit die gewachsene Führungs- und Organisationskultur. Der neue Eigentümer dagegen hatte flache Hierarchien und schon mehrere Jahre vor dem Kauf ganz auf agiles Arbeiten gesetzt. Und natürlich legte der Mutterkonzern Wert darauf, diese auch bei Eleno einzuführen. Im momentanen Status herrschte dort daher eine Matrixstruktur mit drei Layern: dem alten hierarchischen Organigramm, der hergebrachten Projektstruktur, in der mit Genehmigung der Kurfürsten abteilungsübergreifende Projekte durchgeführt wurden, und die neuen, agilen Projekte. Viele Mitarbeitende fanden sich also in drei Rollen wieder: als Mitarbeitende in der Abteilung mit einer Führungskraft, Projektmitarbeitende mit einem Projektleiter und als Mitarbeitende in einem agilen Prozess, mit Scrum oder OKR, mit den in diesen Methoden üblichen Verantwortlichen. Der Versuch, agile Prozesse im Unternehmen einzuführen, war nach hinten losgegangen: Anstatt schneller, wendiger und spontaner zu werden, wurde alles nur noch komplexer und damit langsamer. Die Anzahl der Meetings für die einzelnen Mitarbeitenden wuchs, viele von ihnen waren in drei Verantwortlichkeiten mit den jeweiligen Führungskräften konfrontiert, von denen mindestens zwei »vom alten Schlag« waren, also hierarchisch ausgerichtet. Das lag im Übrigen nicht an den manifesten Überzeugungen der Führungskräfte und Mitarbeitenden; eine Mitarbeitenden-Befragung ergab, dass fast alle von ihnen den Weg hin zu mehr Agilität begrüßten. Und doch ging wenig vorwärts: Die scheinbare Einführung von agilen Prozessen hatte das Unternehmen eher schwerfällig gemacht.
Nachdem die Geschäftsleitung eine Weile auf der Klaviatur der gängigen Change-Methoden – von der Entwicklung von Visions- und Mission-Statements über die Schulung aller Führungskräfte in agilen Prozessen wie Scrum bis hin zu Motivationsworkshops – gespielt hatte (die alle für sich gesehen natürlich sinnvoll waren, aber offenbar lag das Problem tiefer), wurde Helena F. in die Geschäftsleitung geholt. Sie stammte aus Deutschland, hatte ihre ersten beruflichen Schritte in deutschen Großunternehmen und dann bei Serveflow in Amerika Karriere gemacht. Sie kannte also beide Mentalitäten, die deutsche und die des Silicon Valley, und man traute ihr zu, eine Lösung zu finden. Helena nahm sich Zeit, die Abläufe im Unternehmen genau kennenzulernen. Sie führte zahlreiche Gespräche mit Führungskräften und einfachen Mitarbeiter:innen, bei denen sie sich vor allem aufs Zuhören konzentrierte: Ohne konkrete Fragen zu stellen, forderte sie ihre Gesprächspartner:innen dazu auf, einfach von ihren Erlebnissen und Erfahrungen in den letzten Wochen und Monaten zu berichten. Ihr fiel auf, dass allein schon dieser offene Zugang gerade bei den Führungskräften große Befremdung auslöste. Bei ihnen dauerte es, bis sie anfangen konnten, tatsächlich von ihren Erlebnissen und Erfahrungen zu erzählen, zu Beginn fragten sie immer wieder nach genauen Fragen: »Was wollen Sie konkret wissen?«, »Auf welche Projekte beziehen Sie sich?«, »Das habe ich doch in meinem letzten Bericht schon ausführlich mit KPIs1 belegt!«
Helena fiel dies vor allem deshalb auf, weil sie, wenn sie ähnliche Gespräche in Amerika geführt hatte, keinerlei solche Reaktionen gewohnt war. Als sie alle Gespräche nochmals Revue passieren ließ, fasste sie für sich als Resümee vor allem zwei Beobachtungen zusammen: Einerseits, dass Mitarbeitende, je höher sie in der Hierarchie waren, Kommunikation eher als Berichten denn als Erzählen auffassten,