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Putins Krieg gegen die Ukraine ist ein Schlag ins Gesicht der selbstgerechten westlichen Welt. Der Krieg ist nicht zu rechtfertigen, aber er hat eine Vorgeschichte, die nicht so einfach ist, wie sie in der öffentlichen schwarz-weiß-Debatte dargestellt wird. Ein regionaler Konflikt hat eine geostrategische Bedeutung erlangt, weil nicht die Sprache der Vernunft und Diplomatie gesprochen wird, sondern die des Militärs. Statt einer Militarisierung der Welt brauchen wir eine europäische Initiative für Frieden. Die europäische Selbstbehauptung verlangt Gemeinsame Sicherheit, die auch entscheidende Weichen für die künftige Weltordnung stellt. Sie wird nicht zuletzt zur Überlebensfrage für die globale Klimakrise, die mehr Gemeinsamkeit notwendig macht, andernfalls drohen erbitterte Verteilungskämpfe und neue Kriege.
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Seitenzahl: 202
Ebook Edition
Michael MüllerPeter BrandtReiner Braun
Selbstvernichtungoder Gemeinsame Sicherheit
Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise
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ISBN: 978-3-86489-892-1
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2022
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Titel
Einleitung
I. Krieg in der Ukraine – Aufriss und Einordung
Ein Wendepunkt in Europa
Der Kampf um Einflusszonen
Das erneute Rendezvous mit dem Schicksal
Der Krieg wird keinen Sieger haben
Zermürbungskrieg statt schneller Sieg
Operation Täuschung
Zeitenwende
Appelle an die Vernunft bleiben ungehört
Ein konventioneller Krieg unter dem Atomschirm Russlands
15 Atomreaktoren in der Ukraine
Die Waffen nieder
Der Krieg hat eine Vorgeschichte
Die historischen Wurzeln des Konflikts
Die schwierige Suche nach der nationalen Identität
Die Entwicklung des ukrainischen Staates
Internationale Einordnung
Gebrochene Versprechen
Von der Suche nach Gemeinsamkeit zur neuen Konfrontation
Ein neuer Nationalismus in Russland
Die Hoffnung auf gemeinsame Sicherheit wurde enttäuscht
Trügerische Sicherheit
Meinungen
II. Ein Plan für den Frieden: Die Selbstbehauptung Europas
Wer stoppt die Eskalation?
Die Rolle der Europäer
Wer baut neue Brücken?
Erwartungen an Deutschland
Entspannungspolitik oder wertegebundene Außenpolitik
Dominanz der USA
Die Charta von Paris für ein neues Europa
Chancen bestehen nicht ewig
Die Rolle der Nato – das Konzept 2030
Die Allianz vor einer Neuorientierung
Die globale NATO 2030
Meinungen
III. Die Welt am Rande des Friedens
Die doppelte Gefahr der Selbstvernichtung
Kriege können verhindert werden
Grenzüberschreitungen
Kipppunkte rücken schnell näher
Aus Risiken werden Gefahren
Klimakrise spitzt neue Kriegsgefahren zu
Die Welt ist unterschiedlich vom Klimastress betroffen
Die Zeit zum Handeln ist knapp
Meinungen
IV. Gemeinsame Sicherheit 2022
Das Versprechen der UNO
Sicherheit in Zeiten der Transformation
Ein Ende des Schneller, Höher, Weiter
Die ökologischen Grenzen des Wachstumsmodells
Der Palme-Bericht II – Hoffnung auf eine friedliche Welt
Beide Seiten brauchen Sicherheit
Gemeinsame Sicherheit 2022
Meinungen
Anmerkungen
Einleitung
I. Krieg in der Ukraine – Aufriss und Einordung
II. Ein Plan für den Frieden: Die Selbstbehauptung Europas
III. Die Welt am Rande des Friedens
IV. Gemeinsame Sicherheit 2022
Titel
Inhaltsverzeichnis
»Es gilt sich gegen den Strom zu stellen, wenn dieser sich wieder einmal ein falsches Bett zu graben versuchte.«
Willy Brandt
In der Nacht zum 24. Februar 2022 befahl der russische Präsident Wladimir Putin den Angriff auf die Ukraine. Der erste große Krieg des 21. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent, der unter dem Atomschirm Russlands stattfindet. Zumindest anfangs war die Ukraine bei den Streitkräften zahlenmäßig überlegen, während bei Russland von einer anhaltenden Luftüberlegenheit und hohen Feuerkraft auszugehen ist. Die Erwartung Moskaus, die Ukraine schnell zu besiegen, hat sich nicht erfüllt, stattdessen entwickelte sich ein schrecklicher Stellungs- und Zermürbungskrieg. Zivilisten werden Opfer von Kriegsverbrechen. Der Krieg hinterlässt tiefe Spuren der Zerstörung und Verletzung. Internationale Einschätzungen sehen die Chancen für einen Waffenstillstand erst für das Ende des Jahres 2022 oder gar Anfang 2023. Doch, das steht schon fest, es kann keinen Gewinner geben, nur ein in weiten Teilen zerstörtes Land voller Trauer, Hass und Wut seiner Bewohner.
Der Krieg hat eine längere und komplizierte Vorgeschichte, sowohl national als auch international. Die Ukraine ist kein längerfristig gefestigtes Staatswesen, sondern ein Land mit höchst unterschiedlichen Ausrichtungen, Bindungen und Hoffnungen. Es hat eine komplexe Geschichte und eine polyethnische Zusammensetzung der Bevölkerung. Beides ist eng mit Russland verbunden, was in der vorherrschenden Berichterstattung meist verdrängt wird. Diese Verflechtungen und die strategische Bedeutung des Landes für Nahrungsmittel und als Brücke zwischen Ost und West sowie die Fehler und Enttäuschungen nach dem historischen Jahr 1989 gehören dazu, den Krieg und seine Wucht zu verstehen. »Verstehen« heißt dabei nicht im emphatischen Sinne dafür »Verständnis zu haben«, was Putin anrichtet und welche Folgen das für die beiden Länder und die Ordnung der Welt hat. Politiker sollten nicht für ihre Entrüstungsbereitschaft gewählt werden, sondern für ihre Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen, Spielräume realistisch zu bewerten und Lösungen zu entwickeln, die in Europa auch über das Regime Putin hinausweisen. Nichts wäre schlimmer als auf Dauer eine Feindschaft Deutschlands mit Russland, dem größten bzw. ressourcenreichsten Land Europas.
Der Konflikt zwischen Ost und West lebte nach den historischen Jahren 1989–1991, als die Zweiteilung der Welt zu Ende ging, die Sowjetunion auf Russland reduziert wurde und deutlich an Einfluss verlor, in der Ukraine neu auf. Er wurde mit der Maidan-Revolution von 2013/2014 zugespitzt, als es nach der letztendlichen Ablehnung des EU-Assoziierungsantrages durch das zweite Kabinett Mykola Asarow (Partei der Regionen) vom 29.11.2013 bis Februar 2014 vor allem in Kiew zu prowestlichen Massenprotesten auf dem Platz der Unabhängigkeit (Euromaidan) kam. Dabei gewannen auch rechtsnationalistische Kräfte einen Einfluss, und die Bewegung wurde von westlichen Organisationen in einem erheblichen Ausmaß unterstützt. Die Forderungen der Demonstranten waren die Amtsenthebung von Präsident Wiktor Janukowytsch, eine vorzeitige Präsidentschaftswahl und die Unterzeichnung des ausgehandelten EU-Vertrages.
Im Dezember 2013 intensivierten sich die Proteste. Am 08.12. demonstrierten bis zu eine Million Menschen auf dem Maidan. Die Spezialeinheit »Berkut« reagierte mit brutalen Einsätzen. Am 18. Februar 2014 spitzte sich der Konflikt weiter zu, mehr als 100 Todesopfer wurden beklagt. Der Präsident flüchtete nach Russland, die Regierung trat zurück. Gegen die Verfassung und auch entgegen einer Vereinbarung westlicher Außenminister wurde durch Intervention der USA eine neue Staatsspitze eingesetzt. Oleksandr Turtschynow wurde Übergangspräsident, Arsenij Jazenjuk bildete eine Übergangsregierung, der auch Vertreter von »Swoboda« angehörten, einer nationalistischen, rechtsradikalen Partei. Die Diskriminierung linker oppositioneller Kräfte nahm zu. Gleichzeitig verlor Russland deutlich an Einfluss in der Ukraine.
Ende Februar 2014 reagierte Russland auf die wachsenden Proteste der lokalen, überwiegend russischen Bevölkerung in der Ostukraine und der Krim gegen den Maidan in Kiew mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Bewaffnete Kräfte besetzten das Regionalparlament und drückten ein Referendum durch, bei dem sich nach offiziellen Angaben 96 Prozent der Bevölkerung der Krim für einen Beitritt zur Russischen Föderation ausprachen, die dann am 21.03.2014 erfolgte. In den beiden östlichen Oblasten der Ukraine Donezk und Luhansk nahm die Gewalt zu, es begannen bewaffnete Konflikte.
2014 endete also die »Schaukelpolitik« der Ukraine zwischen Ost und West, immer deutlicher bildete sich die klare Orientierung auf den Westen heraus. Doch es blieb die innere Spaltung zwischen dem Norden und Westen des Landes gegen den stärker russisch orientierten Süden und Osten bestehen. Die Situation wurde auch geprägt von den divergierenden Interessen der Oligarchengruppen und einem hohen Ausmaß an Korruption.
In einem Beitrag für die Washington Post befürchtete Ex-US-Außenminister Henry Kissinger bereits 2014 die kommende Eskalation:
»Viel zu oft wurde die ukrainische Frage als Showdown dargestellt, ob sich die Ukraine dem Osten oder dem Westen anschließt. Doch wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren.«1
Und weiter heißt es:
»Der Westen muss verstehen, dass die Ukraine für Russland niemals nur ein fremdes Land sein kann. Die russische Geschichte begann in der sogenannten Kiewer Rus. Von dort aus begann die russische Religion. Große Teile der Ukraine waren seit Jahrhunderten Teil Russlands und die Geschichte der beiden Länder war schon vorher miteinander verflochten.«2
Seit 1990 breiteten sich EU und NATO immer weiter nach Osten aus, aus eigenen Interessen der früheren Ostblock-Länder, aber auch ermutigt von den USA insbesondere unter der Präsidentschaft von George H. W. Bush. Die alten Einflusszonen, die sich nach 1945 in Europa gebildet hatten und bis 1989 eine prekäre Stabilität zwischen Ost und West garantierten, verschoben sich. 1991 wurden der »Warschauer Vertrag für den militärischen Beistand« und der »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe« (RGW) aufgelöst. Eine gesamteuropäische Friedensordnung wurde möglich, aber in Washington nicht gewollt.
Die Chancen für ein »Gemeinsames Haus Europa«, die sich 1990 im Schlussdokument der »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE), der Charta von Paris für ein neues Europa3, aufzutun schienen, haben sich schnell wieder zerschlagen. Die USA wollten keine neue paneuropäische Sicherheitsordnung unter Beteiligung Russlands, die EU allein war zu einer Verständigung nicht fähig, einige der Mitgliedsstaaten (Polen und die baltischen Staaten) wollten sie auch nicht. Damals warb vor allem der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher für die Vertiefung der Friedens- und Entspannungspolitik mit Russland.
Die beiden Minsker Abkommen für eine Befriedung der Ukraine scheiterten, wurden selbst von großen Teilen der Ukraine nicht gewollt. »Minsk I« war die Zusammenfassung der trilateralen Verhandlungsgruppe (bestehend aus Russland, der Ukraine und der OSZE) über einen Friedensplan von Wladimir Putin und dem damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko vom 05.09.2014. Doch bereits am 28.09. flammten die Kämpfe neu auf. »Minsk II« wurde unter deutsch-französischer Moderation (Angela Merkel und Francoise Hollande) am 12.02.2015 unterzeichnet. Am 21.02.2022 sah Putin die Abkommen als gescheitert an und erkannte die selbstproklamierten, international nicht legitimierten Volksrepubliken Donezk und Lugansk de facto an.
Auch der im Mai 2019 gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj konnte sein Wahlversprechen nicht erfüllen, Frieden mit Russland zu erreichen. Kompromissbereitschaft gab es beiderseits kaum. Die Ukraine blieb ein gespaltenes Land, das nicht kompromissfähig war. Erst durch den Krieg ist es paradoxerweise stärker zusammengerückt.
Natürlich ist das alles keine Rechtfertigung für Putins »Präventionskrieg«, wie er von russischen Militärexperten genannt wird, aber er kann nicht mit der hierzulande vorherrschenden Einbahnargumentation um den Autokraten Putin und seine »gelenkte Demokratie« erklärt werden. Die öffentliche Debatte kennt momentan nur den Zustand der berechtigten Empörung über den Krieg, thematisiert aber nicht die westliche Mitverantwortung für sein Zustandekommen.
Die Welt steht am Rande des Friedens. Nicht nur, weil es der erste große Krieg des 21. Jahrhunderts ist, der unter dem Atomschirm Russlands an der Grenze zur NATO stattfindet, deren Mitglieder die Ukraine wirtschaftlich und mit Waffen unterstützen. Die Wiederkehr der atomaren Doktrin der Abschreckung wird sichtbar, während der Einsatz immer schwererer Waffen lässt der Diplomatie keine Chance ließ. Und das alles in einer Zeit, in der sich die Welt in einem generell schlechten Zustand befindet. Negative Synergien mit unvorhersehbaren Folgen sind zu befürchten.
In Anlehnung an eine Formulierung des britischen Historikers Eric Hobsbawm droht der Welt ein »Jahrzehnt der Extreme«.4 Eingeleitet wurde dieses 2020 durch die globale Pandemie von COVID-19, von der bisher weit über 600 Millionen Menschen betroffen wurden, brachte 2022 der Krieg in der Ukraine einen ersten Höhe- oder Tiefpunkt und schon 2024 wird eine Konzentration von Treibhausgasen in der Troposphäre erreicht sein, die nach der Anpassungsfrist des Klimasystems unwiderruflich zu einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad Celsius führen wird.
Bei der Erderwärmung rücken die befürchteten Kipppunkte im Erdsystem schnell näher. Die Entwicklung wird sich bei deren Erreichen rasant beschleunigen und kann völlig außer Kontrolle geraten.5 Wenn die Welt nicht zu einem gemeinsamen Handeln findet, drohen künftig Kriege, die eng mit der globalen Klimakrise und erbitterten Verteilungskämpfen verbunden sein werden. Nie zuvor waren die Herausforderungen so gewaltig wie heute, lautet die Einschätzung der globalen Klimakrise in den Human Development Reports der Vereinten Nationen.6
Die Pandemie, der Krieg und die Klimakrise sind Brandbeschleuniger in Hinsicht auf die Unsicherheit, Spaltung und Ungleichheit der Welt. Die dabei heraufziehende Inflation gefährdet den Wohlstand und wirkt sich auf Heizung und Nahrungsmittel aus. Obwohl die Menschheit mehr denn je eine »Weltinnenpolitik«7 braucht, um zu einer sozialen und ökologischen Gestaltung der Transformation zu kommen, erleben wir eine tiefe Spaltung der Welt. Statt Gemeinsamkeit und Vertrauensbildung wächst die Konfrontation. Die Gefahr einer Selbstvernichtung unserer Zivilisation nimmt zu.
Was wir brauchen, ist »Gemeinsame Sicherheit«8 in erweiterter Form, die auch die nichtmilitärischen globalen Gefahren einbezieht. Der erste Schritt zu diesem Ziel wäre ein genereller international überwachter Waffenstillstand – nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Teilen der Welt, in denen Krieg geführt wird. Die Ukraine wie Europa insgesamt benötigen – in Anschluss an einen schnellstmöglichen Waffenstillstand – ernsthafte Verhandlungen über einen nachhaltigen Friedensprozess als Bestandteil einer umgreifenden europäischen Friedensordnung. Diese verlangt eine Absage der Ukraine an eine NATO-Mitgliedschaft, eine konföderative Reform der Verfassung und eine international abgesicherte Neutralität des Landes sowie eine gemeinsam ausgehandelte dauerhafte Lösung für den Donbass und die Krim. Das Ergebnis könnte ein »Helsinki 2« sein.
Eine solche europäische Friedensordnung kann zum Vorbild für eine nachhaltige und gemeinsame Zukunft auch in anderen Teilen der Welt werden. Von der Sprache des Militärs zur Sprache des Friedens: Dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten – gegen die vorherrschende, oft selbstgefällige publizistische Behandlung des Ukraine-Kriegs. Es wendet sich gegen die Verengung der Debatte, die die Suche nach einer Friedenslösung erschwert.
Die Ukraine – Land zwischen Ost und West
Die Ukraine ist mit 603 700 km2 nach Russland der flächenmäßig größte Staat Europas, in dem 42 bis 44 Millionen Menschen wohnen. Geografisch gesehen waren die weiten Ebenen der Ukraine immer schon von strategischem Interesse, als Brücke zwischen Ost und West und als Transportroute zwischen dem europäischen und asiatischen Kontinent.
Die Hauptstadt der Ukraine ist Kiew. Es liegt auf beiden Seiten des Dnjepr, der mit 2 201 Kilometern nach der Wolga und der Donau der drittlängste Fluss ist, der Europa durchzieht. Kiew ist berühmt für seine religiöse Architektur, seine weltlichen Denkmäler und seine Geschichtsmuseen. In Friedenszeiten lebten dort knapp drei Millionen Einwohner.
Das Land grenzt im Osten und Nordosten an Russland, im Norden an Belarus und im Südwesten an die Republik Moldau. Die Ukraine, Belarus und Russland gehen gleichermaßen auf das mittelalterliche Kiewer Reich (auch Altrussland) zurück. Anfang 1918 befand sich Kiew in den Händen der Roten Armee. 1919 wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen, die 1922 eines der Gründungsmitglieder der UdSSR war.
Seit 1954 gehört die Krim, eine Halbinsel zwischen dem nördlichen Schwarzen Meer und dem Asowschen Meer, zur Ukraine. Die größte Stadt der Krim ist Sewastopol, Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte. Nikita Chruschtschow, der Parteichef der KPdSU, der selbst aus Kalinowka in der Ukraine stammte, übergab die Krim anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Russisch-Ukrainischen Einheit. Viele Russen sehen das bis heute als Fehler an, zumal mehr als die Hälfte der Bevölkerung auf der Halbinsel russisch ist.
Das Donezbecken, kurz Donbass, ist ein großes Steinkohle- und Industriegebiet beiderseits der russisch-ukrainischen Grenze. In der Ukraine gehören dazu die Oblaste Donezk und Lugansk.
Seit der ukrainischen Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 ist die Beziehung zwischen den beiden Ländern verfahren. Die Ukraine blieb trotz ihrer Unabhängigkeit wirtschaftlich und finanziell stark abhängig von Russland. Ihre Identität und die Wahrung ihrer Interessen suchte die Ukraine zwischen einer Westorientierung in Richtung EU und NATO und den historischen Bindungen an das östliche Nachbarland.
»Krieg hat keine Grenze in sich.«
Carl von Clausewitz
Der russische Angriff auf die Ukraine wurde zu einem Krieg von geostrategischer Tragweite, der weit über Europa hinausreicht. Er hat sowohl eine komplexe Vorgeschichte als auch eine hochriskante Nachgeschichte und kann grundlegende Weichen für die Neuordnung der Welt stellen, bei der es zu neuen Blockbildungen kommt, auch von Russland mit China. Die westliche Welt hat nur wenig dazu beigetragen, dass es zu einer Welt der Zusammenarbeit und Nachhaltigkeit gekommen ist. Das rächt sich nun.
In der Nacht auf den 24. Februar 2022 geschah das schwer Vorstellbare: Die Ukraine wurde auf Befehl von Wladimir Putin zum Opfer eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges. Es ist ein Krieg mit hoher geostrategischer Bedeutung in Europa, in dem fast das ganze Arsenal verfügbarer Kriegsmittel genutzt wird, auch Hyperschallraketen und Waffen mit künstlicher Intelligenz (Lancet-Dronen). Und dieser Krieg findet unter dem Atomschirm Russlands statt und beinhaltet die latente Gefahr, sogar eine atomare Katastrophe auszulösen.
Der Angriff, in Russland »Spezialoperation zur Entnazifizierung und Entwaffnung der Ukraine« genannt, ist mit nichts zu rechtfertigen. Die Ukrainer haben ihrerseits das Recht auf Selbstverteidigung. Aber die wichtigste Aufgabe im Krieg heißt Frieden schaffen, und diese Aufforderung richtet sich nicht nur an die Kriegsparteien, sondern auch an die übrigen europäischen Regierungen. Diese sollten sich verpflichtet fühlen, schnellstmöglich eine Lösung vorzuschlagen, die zu einem Ende des Krieges führt. Das wird immer mehr zur entscheidenden Frage für die Selbstbehauptung Europas. Während die Weiterführung des Krieges die (relative) politisch-strategische Eigenständigkeit der EU und ihrer Mitgliedsstaaten auf ein Minimum reduziert.
Die russische Armee und ihre Verbündeten zerstören die Ukraine, zertrümmern Städte und Dörfer, vernichten die Infrastruktur des Landes. Der Krieg tötet und verwundet Zehntausende Menschen, bringt Leid und Elend über das Land. Er erschüttert den ganzen Kontinent. Selbst die Weltordnung ist tangiert. Die Folgen werden gravierend sein. Sie gehen weit über die Ukraine hinaus, sie rufen Konflikte und Spaltungen hervor, die für Europa und die Weltgemeinschaft in der nächsten Zukunft prägend sein werden.
Der Welt drohen neue Spannungen zwischen dem Westen und Russland und weit darüber hinaus eine zunehmende Militarisierung der internationalen Politik, möglicherweise ein Kalter Krieg in neuer Form, dessen negative Folgen auf die Wirtschaft, die soziale Sicherheit und die Demokratie kaum auszumalen sind. Die USA, die EU, die NATO, die sich als »Sieger der Geschichte« verstanden haben, müssen neue Antworten geben. Antworten, die auf eine gemeinsame Sicherheit ausgerichtet sind.
Offenkundig scheint nämlich vergessen zu sein, dass die großen globalen Herausforderungen, die immer schneller auf die Menschheit zukommen, nur von der gesamten Weltgemeinschaft bewältigt werden können. Dabei geht es nicht nur um die globale Klimakrise, die wahrscheinlich größte Bedrohung für die Menschheit seit je, sondern um weitaus mehr. Die Welt kann sich keinen Krieg leisten.
Das Ukraine-Drama geschieht zu einer Zeit von tiefgreifenden Umbrüchen und externen Schocks, die von COVID-19 über den Zusammenbruch von wirtschaftlichen Lieferketten, sozialen Verwerfungen bis zu ökologischen Gefahren reichen, die in Tiefe und Komplexität völlig neuartig sind. Umso mehr fehlt unserer Zeit die historische Einordnung und Sichtweise.
Kriege haben auch immer eine Vorgeschichte – auch der Krieg in der Ukraine. Diese muss einbezogen und reflektiert werden, in aller Schärfe, ohne billige Vorurteile. Dazu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: Der Krieg liegt in Putins Verantwortung, aber das darf nicht heißen, »dass wir nicht einiges zu überdenken haben, wo es unsererseits Fehler gegeben hat«.1
Der Ausgangspunkt ist die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Welt, vornehmlich Europa, in zwei Einflusszonen geteilt wurde: in den Westen unter der Führung der USA und den Osten unter der der Sowjetunion. Die Konfrontation zwischen zwei unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen spitzte sich zum Kalten Krieg zu. Die Elbe wurde zur Grenze für die Ausdehnung des sowjetischen Einflusses und sollte es bleiben. Um diese Aufteilung zu sichern, wurde am 04.04.1949 die NATO gegründet und als Reaktion darauf am 14.05.1955 der Warschauer Pakt. Lord Hastings Ismay, erster Generalsekretär der NATO, nannte als Ziel des westlichen Verteidigungsbündnisses: »To keep the Americans in, the Russians out and the Germans down.” (»Die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten halten.«)
Der amerikanischen wie der sowjetischen Führung ging es seitdem um die Bewahrung ihrer Einflusszonen, die sich nach 1990, also nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, drastisch zugunsten des Westens verschoben. Am 12.06.1991 wurde Boris Jelzin zum Präsidenten der Russischen Teilrepublik gewählt. Als Nachfolger von Michail Gorbatschow war er maßgeblich an der Auflösung der Sowjetunion beteiligt. Am 08.12.1991 wurde die »Belowescher Vereinbarung« beschlossen, die feststellt, dass die »Sowjetunion ihre Existenz beendet« habe. Die UdSSR wurde auf Russland reduziert, der Warschauer Pakt und der RGW wurden aufgelöst.
Tatsächlich sah sich der Westen als Sieger im Kampf der Systeme, der Osten hatte verloren, zu einer Selbstkritik schien es keinen Grund zu geben. Der englische Schriftsteller John LeCarré beschrieb das in seinem Buch Der heimliche Gefährte in den Worten des fiktiven englischen Geheimdienstchefs George Smiley:
»Wir haben gewonnen. Womöglich haben wir auch gar nicht gewonnen. Vielleicht haben die anderen bloß verloren. Vielleicht fangen unsere Schwierigkeiten erst an, nachdem die Fesseln des ideologischen Konflikts abgestreift sind.«2
Die Neuordnung Europas wurde nicht als Chance für eine neue partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Russland gesehen. Die globalen Herausforderungen der zusammenwachsenden Welt wurden ignoriert, denn deren Bewältigung würde eine soziale und ökologische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft notwendig machen, sie verlangt mehr Gemeinsamkeit und – nach den Worten von Carl-Friedrich von Weizsäcker – eine Weltinnenpolitik.3
Während der Westen nach 1990 stetig an Einfluss gewinnen konnte, ist Russland, das größte und rohstoffreichste Land der Erde, zurückgefallen. Die Gewichte haben sich verschoben. Vor diesem Hintergrund scheint der Krieg seitens Russlands von zwei Hauptmotiven angetrieben zu sein:
Zum einen die Wahrnehmung Moskaus von der Verwundbarkeit des Landes durch die NATO-Osterweiterung, was im Kreml grundlegende Fragen der Sicherheit aufwarf.
Und zum anderen der Wunsch der russischen Führung, zumindest einen Teil dessen wiederherzustellen, was durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks verloren gegangen war.
Auch in der UdSSR wurden nach 1990, als in dem Land faktisch alles auf den Kopf gestellt wurde, schwere Fehler gemacht. Das Land geriet ökonomisch und sozial in eine desolate Situation. Es entfernte sich politisch und gesellschaftlich weit von dem, was die Sowjetunion in ihrer Spätphase ausmachte. Russland wurde kapitalistisch und zunehmend autoritär regiert.
Das russische Parlament räumte Boris Jelzin im November 1991 dafür außerordentliche Vollmachten ein. Es kam zum Ende der Planwirtschaft, zur Freigabe der Preise und zu einer kapitalistischen Rosskur durch Liberalisierung und Privatisierung. Durch einen Inflationsschub stiegen die Preise für Alltagsgüter in kurzer Zeit auf das Achtzehnfache. Weite Teile der Bevölkerung erlitten einen sozialen Absturz, während die Privatisierung eine neue Oberschicht von Superreichen hervorbrachte, die Kaste der Oligarchen.
Jelzin verlor in der russischen Bevölkerung bald an Zustimmung und konnte sich nur mühsam im Amt halten. Unter seiner Regierung erodierte das zuvor stabile Verhältnis zwischen den drei großen staatlichen Machtblöcken, Partei, Militär und Geheimdienst. Die Partei löste sich im Anschluss an das Verbot auf, es entstand dann eine neue »kommunistische Partei« Russlands als eine der im Land bis heute existierenden politischen Formationen. Es blieben Geheimdienst und Militär. Russland wurde von einem etatistisch-kommunistischen System zu einer zentral gelenkten und überwachten Demokratie.
Im August 1999 ernannte Jelzin den damaligen Leiter des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) Wladimir Putin zum russischen Ministerpräsidenten. Knapp ein Jahr später, am 07.05.2000, wurde Putin zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Er stabilisierte die Verwaltungsstrukturen, konsolidierte die Wirtschaft, und es kam zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Das verschaffte ihm zusammen mit seinem selbstbewussten Auftreten und einer rigorosen »Terrorismusbekämpfung« eine hohe Popularität in der russischen Bevölkerung. Die »gelenkte Demokratie« nahm im Lauf seiner Regierungszeit zunehmend autoritäre Züge an und stützte sich auf eine nationalistische Großmachtideologie.
Zu Beginn seiner ersten Amtszeit schien Putin auf Vertrauensbildung und Kooperation mit den europäischen Staaten im »Gemeinsamen Haus Europa« zu setzen, insbesondere auf eine Zusammenarbeit mit Deutschland, das in der Entspannungspolitik in den 1960er- und 1970er-Jahren entscheidende Impulse gesetzt hatte.
1989/90 war in Europa eine Aufbruchsstimmung vorhanden gewesen. Ein Sondergipfel der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Paris beschloss die Charta für ein neues Europa, die von den europäischen Staaten sowie von den USA und Kanada unterzeichnet wurde. Die Charta deutete eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung an, die Abrüstung und vertrauensbildende Zusammenarbeit versprach.4 Sie lag auf der Linie des Konzepts der »Gemeinsamen Sicherheit«, die die von dem schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme geleitete Kommission 1982 der UN-Generalversammlung vorgelegt hatte.5
Vorbehalte und anhaltender Widerstand gingen allerdings von den USA aus, die keine »Europäisierung« der Friedens- und Sicherheitspolitik, sondern ihren dominanten Einfluss in Europa, der »strategischen Gegenküste«, behalten und ausbauen wollten. Die Charta von Paris blieb Papier, ihre Umsetzung hätte die Chance für eine europäische Selbstbehauptung in der Welt unter Einschluss Russlands eröffnet. Diese Hoffnung wurde enttäuscht, die Friedens- und Entspannungspolitik geriet in den 1990er-Jahren in den Hintergrund.
Dabei erhielt Putin noch am 25. September 2001 im Deutschen Bundestag große Zustimmung für sein Bekenntnis zu einer europäischen Sicherheitsordnung:
»Heute sind wir verpflichtet zu sagen, dass wir uns von unseren Stereotypen und Ambitionen trennen sollten, um die Sicherheit der Bevölkerung Europas und der ganzen Welt zu gewährleisten.«
Doch nach dem parteiübergreifenden Applaus kam eigentlich nichts mehr.
Putins Kurswechsel begann wahrscheinlich mit der zweiten NATO-Osterweiterung 2004, als Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien beitraten, ohne dass Russland in den Prozess in irgendeiner Weise einbezogen worden wäre. Die Annahme Russlands, dass die Ausweitung der NATO