Gelassenheit - Die Kunst der Seelenruhe -  - E-Book

Gelassenheit - Die Kunst der Seelenruhe E-Book

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Beschreibung

Gelassenheit ist ein erstrebenswerter Zustand, nur: Wie stellt er sich ein? Bücher lesen, Harfe spielen, auf den "inneren Körper" hören - es gibt viele Wege. Dieses E-Book berichtet, welche Methoden es gibt, um Stress, Angst und Erschöpfung zu entrinnen. Sehr unterschiedliche Experten kommen zu Wort: Der Sozialphilosoph Hartmut Rosa, der erklärt, warum er im überfrachteten modernen Alltag eine "neue Form des Totalitarismus" sieht - und was dagegen zu tun ist, Jon Kabat-Zinn, der Erfinder der westlichen Achtsamkeitslehre, die Putzfrau Anna Backhaus, die sich als Meisterin der Gelassenheit erweist oder der Facharzt für Innere Medizin und Psychotherapie Dietmar Hansch, der weiß, wann bei Erschöpfung professionelle Hilfe notwendig ist.

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Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

Die Diktatur der Zeit
„Ich leiste, also bin ich“
Das Tief in der Mitte
Der tägliche Horror zu Hause
„Der Kitzel der Medien“

KAPITEL 2

Im Reich der Achtsamkeit
Goethe? Kästner! Lenz!
High vom Häkeln
Fahrstuhl zum Ich
Lob der Langeweile
Wenn Meditation nicht reicht
Mit aufgeräumtem Kopf
Die größte Tugend

KAPITEL 3

Helden des Alltags
Frau Burmester hat einen Termin ... beim Angeln

ANHANG

Impressum
KAPITEL 1 • ENTFREMDUNG

Die Diktatur der Zeit

Angst, Hektik, Erschöpfung: Unser überfrachteter Alltag macht uns kaputt. Der Sozialphilosoph Hartmut Rosa zeigt Wege zu einem besseren Leben. Von Gabriele Riedle; Illustrationen: Florian Schommer
KURZ VOR NEUN UHR abends wird er ein halbes Käsebrötchen aus der Instituts-Cafeteria gegessen haben, die andere Hälfte wird noch immer auf dem Schreibtisch neben den Papierstapeln und den Büchern liegen, und die Besucherin kann nur hoffen, dass, wenn sie sich endlich verabschiedet hat, um in letzter Sekunde auf den Zug vom Bahnhof Jena-Paradies in Richtung Berlin zu springen, Hartmut Rosa wenigstens noch die paar Bissen zu sich nehmen wird, bevor er nach diesem Zwölfstunden-Tag den halben Abend damit verbringt, Mails zu beantworten.
Warum haben Sie denn nicht wenigstens mittags etwas gegessen?
„War keine Zeit dazu. Ausufernde Gremiensitzung“, antwortet Rosa, ein Mann mit geraden Worten und geradem Blick. Außerdem, so fügt er hinzu, mache ihm das wirklich nichts aus und er sei an dergleichen gewöhnt. Die Besucherin zieht trotzdem ein bedenkenvolles Gesicht und ist kurz davor, ihm Ratschläge zu geben. Er ist ja ohnehin eher schmächtig.
Dabei hat sie inzwischen verstanden, dass es Wichtigeres gibt als Mittag- oder Abendessen beziehungsweise langsam vor sich hin trocknende Brötchenhälften.
Schließlich geht es Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena, derzeit einer der einflussreichsten deutschen Gesellschaftstheoretiker, um nichts weniger als um die zumindest vorletzten Dinge, die das Diesseits kennt. Um die Grundfrage der abendländischen Philosophie seit Platon: danach, was ein gutes beziehungsweise ein gelingendes Leben ist. Wobei sich daran, laut Rosa, die nächste Frage gleich anschließt: warum wir kein gutes Leben haben.
Dass es mit unserem persönlichen und gesellschaftlichen Dasein unter den gegenwärtigen Bedingungen so nicht weitergehen kann, versteht sich dann praktisch von selbst.
Das Problem?
Eigentlich alles.
Wachstumsdenken. Beschleunigung. Allumfassender Wettbewerb.
Also genau das, was unser gegenwärtiges kapitalistisches Gesellschaftssystem hauptsächlich ausmacht.
Der Einzelne, so Rosa, sei darin ohnmächtig, alles und jeder unterliege dem Diktat der Zeit und der Steigerungslogik des Immerschneller und Immermehr. Schnellere Autos, schnellere Handys, mehr Arbeitsproduktivität, mehr Waren, mehr Absatz, mehr Kontakte. Alles, um wenigstens den Status quo zu erhalten. Und wer sich dem zu entziehen versuche und auch nur eine Sekunde stehen bleibe bei dem, was er schon erreicht hat, sei sofort verloren. Weil wir ständig weitermachen müssen, nur um nicht zurückzufallen, spricht Rosa vom „rasenden Stillstand“ und davon, dass die ganze Gesellschaft vor der kollektiven Erschöpfung stehe. Und dass umgekehrt das System ohne Wachstum zusammenbreche und Modernität nun einmal vor allem Geschwindigkeit sei, sei ja ebenfalls bekannt. Das Bruttosozialprodukt muss in einer kapitalistischen Gesellschaft einfach ständig gesteigert werden, sonst sind wir alle am Ende.
Unsere gesamte Existenzweise sei „dringend reformbedürftig“, hat Rosa einmal geschrieben, womit er allerdings stark untertrieben hat. An diesem Dienstag in Jena benutzt er, was die Voraussetzungen für unser zukünftiges gutes Leben betrifft, lieber das Wort „Revolution“. Dabei zieht er genüsslich die Luft durch die Zähne und lacht so fröhlich, dass gar nichts anderes übrig bleibt als mitzulachen.
Winzige Unterbrechung eines Wasserfalls von Worten. Rosa spricht mit bezaubernd singender Schwarzwälder Melodie, aber in einem Tempo, das Zuhörer nach Luft schnappen lässt. Irgendwie schafft er es, andere Leute innerhalb kürzester Zeit zu so etwas wie Komplizen zu machen. Konspiration, fällt der Besucherin ein, heißt ja nichts anderes als gemeinsam zu atmen.
„Ja, genau!“, ruft Rosa, „das ist letztlich auch das, was ich Resonanzverhältnis nenne. Und da sind wir fast schon beim guten Leben.“
Revolution? Resonanz? Das gute Leben?
Moment bitte noch.
Jetzt sind wir erst einmal bei heftiger Arbeitsverdichtung, und zwar im Leben des Hartmut Rosa. Auch so ein Schlüsselbegriff aus dem Sündenregister des Kapitalismus. Nur scheint Rosa zu denjenigen zu gehören, die unter all ihren Verpflichtungen nicht leiden. Im Gegenteil.
ZWEI VOLLZEITJOBS, einer als Professor hier an der Uni Jena, wo er an diesem Dienstag in einem Büro mit Zimmerpflanzen und Fotos von Berglandschaften sitzt, einer als Direktor des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Uni Erfurt. Gleichzeitig Direktor des Jenaer Forschungskollegs Postwachstumsgesellschaften. Tagungen hier, Kongresse dort, Bücher, Aufsätze, aber auch viel Hochschulgrau mit endlosen Gremiensitzungen und Verwaltungsarbeit.
Daneben all die Interviews und öffentlichen Auftritte. Zeitungen, Radio, Fernsehen, kaum ein Tag ohne irgendeine Anfrage, irgendwie ist Rosa im Moment überall. Bei seinen Vorträgen müssen manchmal Säle wegen Überfüllung geschlossen werden, und im Frühsommer erschien er sogar beim Kirchentag in der Stuttgarter Schleyer-Halle. Podiumsdiskussion mit Joachim Gauck, auch hier zum Thema „Gutes Leben, kluges Leben“. Fast zehntausend Zuschauer, der Bundespräsident, mit Kirchentags-Fan-Schal und staatstragender Gemächlichkeit, und der jungenhafte Rosa mit maximalem sprachlichem Furor. Mehrzweckhallenjubel für sozialphilosophische Thesen. Wann hat es so etwas schon einmal gegeben?
Gleichzeitig kommt in Rosas Leben aber auch immer noch ein Heimatdorf in der Nähe des Schluchsees im Hochschwarzwald vor. Samt Häuschen, Garten, Bienenstöcken, Katze und Griff in die Tasten der Kirchenorgel zu hohen Feiertagen. Später Höhepunkt einer frühen Karriere als Keyboarder in einer dörflichen Heavy-MetalBand. Sei übrigens eine gar nicht allzu seltene Entwicklung, sagt Rosa lachend, „bei Menschen mit einem gewissen Hang zum Gedröhn“. Außerdem hat er einen verbundenen und geschienten rechten Zeigefinger vorzuzeigen: „Hammerfinger nennen die das, schauen Sie sich das an.“ Sehnenverletzung, zugezogen beim Volleyballspielen. Dafür findet er tatsächlich auch noch Zeit? Aber das ist doch sicher alles viel zu viel!
Entspanntes Kopfschütteln.
„Nö.“
Die Erklärung folgt auf dem Fuß. Das Stichwort heißt „Selbstwirksamkeitserfahrung“. So nennt Rosa das, was er, anders als so viele andere heutzutage, durch seine Arbeit erlebt und was man in einer weniger sozialwissenschaftlichen Terminologie womöglich auch als „Erfüllung“ bezeichnen könnte. Oder womöglich einfach als Glück.
Schlimm werde es hingegen, wenn es an dieser Erfahrung mangele. Die Leute, sagt Rosa, mache ja oft nicht so sehr die schiere Masse dessen, was sie zu tun haben, fertig. Sondern dass ihnen das, was sie machen, gar nichts mehr sagt und sie damit auch nichts bewegen und niemanden berühren können – ein Gefühl völliger Entfremdung von dem, was sie umgibt. Obendrein wüssten sie, dass es ihnen nicht einmal etwas hilft, wenn sie sich ständig abstrampeln. Wenn sie heute schnell arbeiteten, müssten sie, gemäß der Steigerungslogik des kapitalistischen Systems, morgen noch schneller werden. Aber übermorgen seien sie womöglich trotzdem ihren Job los, weil er wegrationalisiert wird. Ein schon strukturell grauenhaft anstrengendes Dasein, zusätzlich zu den täglichen Aufgaben und Mühen, weshalb Rosa eine „wachsende Erschöpfung des spätmodernen Subjekts“ diagnostiziert.
UND ER FORMULIERT dazu Sätze, die so viele in der einen oder anderen Weise berühren, weil jeder mit ihnen eigene Erfahrungen verbinden kann. Kein Wunder, dass die Leute an Rosas Lippen hängen.
Es sind dies meist keine grundstürzend neuen Erkenntnisse. Aber immerhin hat Rosa damit eine Diskussion begonnen, die sonst kaum geführt wird in Zeiten, in denen selbst in der Krise positives Denken, gute Laune am stressigsten Arbeitsplatz, fröhlicher Konsum der überflüssigsten Waren, freudiges Einverständnis in die Gesetze des Marktes und generelle politische Alternativlosigkeit angesagt sind. „Kulturpessimismus“, schimpfte deshalb der Bundespräsident beim Kirchentag, „Schlechtreden des westlichen Freiheitsmodells“, „Verächtlichmachung der Welt“, wo die Leute doch vielmehr dankbar sein sollten für Freiheit und Wohlstand und überhaupt alles Erreichte. Selbst eine so liebenswürdig vorgetragene Kritik wie die von Rosa gilt offensichtlich schon als Sakrileg, erst recht, wenn er dazu noch die Systemfrage stellt.
Rosa spricht jedenfalls unbeirrt von den rutschenden Abhängen, an denen wir stehen. Von der Angst zu versagen und missachtet zu werden. Vom Kampf um Wertschätzung und Anerkennung, der in unserer Wettbewerbsgesellschaft jeden Tag von Neuem beginnt. Vom Ausgeliefertsein an etwas, das unseren Bedürfnissen radikal zuwider läuft. Von existenzieller Unsicherheit. Von der Furcht vor sozialem Abstieg, der uns nachts schweißgebadet aufwachen lässt. Vom Gefühl, dass alle unsere Bemühungen umsonst sind.
Schließlich erkennt Rosa gar eine „neue Form des Totalitarismus“. Weil wir dem System einfach nicht entrinnen können. „Was hat das“, ruft Rosa, „noch mit den Versprechen der Moderne von Glück, Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung zu tun?!“
Hört sich so an, als sei jetzt doch die Sache mit der Revolution dran.
Rosa: „Sag ich ja.“
Wobei die Revolution allerdings ein weiteres Mal kurz warten muss.
ERST NOCH GREMIENSITZUNG, Doktorandensprechstunde und jetzt gleich Vorlesung. Einführung in die theoretische Soziologie, heute Karl Marx und Theodor W. Adorno, komplexe Denker, die einstigen Hausheiligen der 68er-Bewegung, die mit ihren Analysen und ihrer Kritik des Kapitalismus etwas aus der Mode geraten sind.
Adorno und die Kritische Theorie der Frankfurter Schule gehören zu den Grundlagen von Rosas Gedankengebäude. Einige Denkfiguren hat er von ihr übernommen. Die Kritik an der Kultur- und Bewusstseinsindustrie etwa. Oder die an der Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen und schließlich auch an der Entfremdung des Menschen von dem, was ihn umgibt.
„Wie soll ich das nur schaffen“, stöhnt Rosa, „Marx und Adorno in 90 Minuten“, und schon stürzt er durch die trüben Uni-Flure und die Vorhallen mit ihrem Zweckbau-Charme. Im Laufen beklagt er sich darüber, dass er immer wieder als Entschleunigungsguru bezeichnet werde.
Nachdrücklich macht er noch einmal klar, dass gelegentliche Entschleunigung mit dem Ziel, anschließend umso länger im Hamsterrad durchhalten zu können, das Allerletzte sei. Nichts gegen Slow Food, nichts gegen Yoga oder was immer sich der Wellnessmarkt sonst so ausgedacht hat, „aber da wird das Problem doch wieder nur dem Einzelnen in die Schuhe geschoben. Der sich dann womöglich noch schuldig fühlt, wenn er sich nach seinem verdichteten Arbeitstag, dem Besuch im Fitnessstudio zur Verbesserung des Body-Mass-Index und der Quality Time mit der Familie nicht auch noch möglichst effektiv entspannt“. Dabei gibt es kein richtiges Leben im falschen, das habe doch schon Adorno festgestellt, und deshalb gehe es um viel Grundsätzlicheres.
Und schließlich auch: um die Revolution.
Und zwischen dem Kampf mit dem Beamer im Hörsaal, dem Erwerb eines Käsebrötchens in der Cafeteria, der Gremiensitzung, der neuesten Terminanfrage eines Fernsehsenders und der Abfahrt des letzten Zuges nach Berlin geht es jetzt tatsächlich ums Ganze. Nicht um die Revolutionierung des Systems. Sondern um eine umfassende Veränderung des Verhältnisses, das der Mensch zur Welt hat. Das Ziel ist die Aufhebung der Entfremdung von dem, was diesen umgibt. Und nun also doch: das gute Leben.
Damit beginnt jetzt der romantische, der utopische Teil.
Folgendes kommt darin nicht vor: Arbeit, die wir nicht tun wollen und die uns nicht wichtig ist. Güter, die wir nicht brauchen. Freundschaften mit Leuten, die wir nicht kennen. Und auch keine 10 000 Musiktitel, die uns zwar zur Verfügung stehen, mit denen wir aber doch nichts verbinden. Kurz: die gesamte gekaufte und verfügbar gemachte Welt, die aber leider, wie Rosa es ausdrückt, nicht zu uns spricht und uns nichts sagt. Und die das Gefühl der Entfremdung von unserer Umgebung, das uns so sehr erschöpft, nur noch verstärkt.
Stattdessen finden nun die tollsten Begegnungen statt. Antwort- und Resonanzverhältnisse nach Rosas Begrifflichkeit. Mit Menschen und Gedankenwelten, mit Kunst und Musik, mit Natur und womöglich auch mit irgendeinem Gott. Auf dass uns etwas berühre. Auf dass wir mit etwas mitschwingen können.
Und es kommen in dieser Utopie dörfliche Heavy-Metal-Bands vor und die Berglandschaften auf den Fotos an Rosas Bürowänden. Und in gewisser Weise auch Soziologen, denen am Ende des Tages der Magen knurrt, weil es Interessanteres zu tun gab als zu essen, und die so schnell sprechen, dass Zuhörerinnen nach Luft ringen.
Indessen knurrt der Magen der Besucherin, die jetzt, an diesem Dienstagabend kurz vor neun, zum Bahnhof Jena-Paradies rennt, übrigens mit.
Zur Gelassenheit, sagt die Autorin Gabriele Riedle, findet sie, indem sie keinen Mucks mehr sagt und Löcher in die Luft starrt, gern stundenlang.
BÜCHER
Hartmut Rosa: „Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“. Suhrkamp Verlag; 154 Seiten; 20 Euro.
Im Januar 2016 erscheint vom selben Autor: „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung.“ Suhrkamp Verlag; ca. 30 Euro.
KAPITEL 1 • ARBEIT

„Ich leiste, also bin ich“

Burnout kommt nicht vom Job, und Wellness entspannt nicht, sagen zwei Experten. Was hilft dann bei Krisen? Interview: Annette Bruhns
Helen Heinemann ist Sozialpädagogin und Autorin mit einer psychotherapeutischen Ausbildung, arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der Gesundheitsförderung und gründete 2005 das „Institut für Burnout-Prävention“ in Hamburg. Sie ist Expertin zum Thema Stress und Erschöpfung. Ihr Buch „Warum Burnout nicht vom Job kommt“ war ein Bestseller.
Rüdiger Striemer hat Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Dortmund studiert, promovierte in Berlin in Informatik und fing 1999 im Management bei Adesso an, einem IT-Dienstleister mit rund 1400 Mitarbeitern. Bis Juli 2015 war er Kovorsitzender des Vorstands, heute ist er für die Auslandsgesellschaften und die Unternehmenskoordination verantwortlich.
SPIEGEL: Frau Heinemann, Herr Striemer, auf einer Skala von null bis zehn, wie hoch ist Ihre Gelassenheit heute?
Striemer: Vielleicht fünf. Ich bin kein Meister der Gelassenheit.
Heinemann: Meine Gelassenheit sank erheblich, als ich vorhin einen Parkplatz suchte und Angst bekam, mich zu verspäten. Da war ich bei drei oder vier. Das fällt sogar auf null, wenn ich einen Termin habe und mein Zug auf einem Gleis feststeht. Mein seelisches Barometer schwingt also sehr durch den Tag. Jetzt bin ich bei sechs bis sieben.
SPIEGEL: Sie, Herr Striemer, hatten vor vier Jahren Ihren inneren Kompass völlig verloren. Sie litten unter Depressionen und Panikattacken bis hin zu Todesangst. Wovor haben Sie sich gefürchtet?
Striemer: Schlimmer als die nächtlichen Panikattacken war ein dauernder Angstzustand, der 24 Stunden lang anhielt. Diese Angst hatte gar kein konkretes Bezugsobjekt, ich wusste nicht, wovor ich mich fürchtete. Sie war einfach immer da.
SPIEGEL: Sie sind für zwei Monate in eine psychosomatische Klinik gegangen. Sind Sie da geheilt worden?
Striemer: Inwieweit man bei psychischen Dingen von Heilung sprechen kann, weiß ich nicht. Aber man kann solche Erkrankungen sehr gut therapieren.
GUIDO MIETH / GETTY IMAGES
SPIEGEL: Wie muss man sich das vorstellen? Viel schlafen und Medikamente nehmen?
Striemer: Viel Schlafen im Sinne von „Herunterkommen“ war sicherlich hilfreich in den ersten Tagen. Aber es ging ja nicht um eine Wellnesskur, sondern darum, das zugrunde liegende psychische Problem zu therapieren. Mit Gesprächstherapie, Gestaltungstherapie, mit all diesen Dingen.
SPIEGEL: Beim ersten Mal in der Gruppentherapie ...
Striemer: ... da wurde ich gefragt, woran ich denke. Ich sagte: an grobe Leberwurst, weil ich tatsächlich gerade ans Frühstück dachte. Ich habe mich am Anfang ziemlich schwergetan. Bei einem Informatiker ist die Fallhöhe vielleicht besonders hoch: Den ganzen Tag hat man mit der Strukturierung von Wissen und mit logischen Entscheidungen zu tun, und nun soll man einsehen, dass es einem hilft, ein Bild zu malen. Das ist schon ein komisches Gefühl.

Die Stressexpertin Helen Heinemann und der Topmanager Rüdiger Striemer, der einen Burnout erlitten hat, über die innere Balance am Arbeitsplatz – und zu Hause.

SPIEGEL: Was hat Ihnen die Gruppentherapie gebracht?
Striemer: Zunächst habe ich mich wirklich gefragt, wieso es mir helfen soll, wenn ich mir die Probleme wildfremder Menschen anhöre. Nur: So unterschiedlich die Lebenslagen sind, die Symptomatik ist ähnlich. Die Krankheit ist dieselbe. Sehr häufig werden Situationen geschildert, bei denen man denkt: Okay, das kennst du auch. Davon habe ich viel profitiert.
SPIEGEL: Frau Heinemann, Sie raten davon ab, bei Erschöpfungszuständen gleich krankzuschreiben. Warum?
CHRISTOPH NEUMANN / SPIEGEL WISSEN, GUIDO MIETH / GETTY IMAGES
Heinemann: Wir haben in unserem Institut für Burnout-Prävention Erfahrung mit 1800 Seminarteilnehmern gesammelt. Die meisten von ihnen sind Leistungsträger unserer Gesellschaft – durch die Bank intelligente und feinfühlige Menschen, die gern arbeiten, häufig in ihrem Traumjob. Wenn die jetzt von einem Tag auf den anderen aus der Arbeit herausfallen, stellt sich für viele die Sinnfrage. Ich sehe noch diesen Mann vor mir, der sich ernsthaft fragte: Wofür bin ich jetzt noch gut? Das Krankschreiben macht die Krise oft richtig akut. Wenn man von 100 oder sogar 180 auf null heruntermuss, ist das wie gegen eine Wand zu fahren.
SPIEGEL: Sollten Stresskranke also lieber weiter arbeiten?
Heinemann: Auf jeden Fall sollten sie in Bewegung bleiben – vielleicht so, wie Hape Kerkeling es gemacht hat. Der war ja offenbar in einen Burnout oder eine depressive Verstimmung hineingerutscht und ist dann den Jakobsweg gegangen. Er hat nicht dasselbe weitergemacht wie vorher, ist aber aktiv geblieben. Auch Sie, Herr Striemer, sind ja von Anfang an lange Strecken gelaufen. Das hat doch sicherlich geholfen?
Striemer: Ja, allerdings nur in Kombination mit der Therapie. Ich hatte ja anfangs, vor der Klinik, versucht, meine Symptome mit Laufen und Saunabesuchen allein in den Griff zu kriegen. Das ist gescheitert. Ich war schon zu tief in der Abwärtsspirale. Die Angststörung war so manifest, dass die Entscheidung, in eine Klinik zu gehen, alternativlos war.
SPIEGEL: „Warum Stress glücklich macht“, heißt der Titel von Frau Heinemanns neuem Buch. Wie klingt diese Behauptung in den Ohren des gestressten Managers?
Striemer: