9,99 €
Ein Blick in die Zukunft
Claire Belmont, Ehefrau eines Angestellten der U. S. Robot Company, soll das Modell TN3, genannt Tony, als Haushaltshilfe testen. Nur widerwillig stimmt sie dem Projekt zu, Robots sind ihr nicht ganz geheuer. Aber Tony ist darauf programmiert, ihr jeden Wunsch zu erfüllen – und er erkennt mehr als nur die offensichtlichen … In insgesamt zehn Kurzgeschichten wirft Isaac Asimov in „Geliebter Roboter“ einen Blick in die Zukunft, deren Grundsteine heute schon gelegt werden. Zusammen mit „Ich, der Roboter“ und „Der Zweihundertjährige“ legt Asimov hier auch den Grundstein zu seiner gigantischen Future History, dem Foundation-Zyklus.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 258
Das Buch
Claire Belmont, Ehefrau eines Angestellten der U.S. Robot Company, soll den Roboter TN3, genannt Tony, als Haushaltshilfe testen. Nur widerwillig stimmt sie dem Projekt zu, denn Robots sind ihr nicht ganz geheuer. Aber Tony ist darauf programmiert, ihr jeden Wunsch zu erfüllen – und er erkennt mehr als nur die offensichtlichen … Was passiert, wenn sich eine Frau in einen Roboter verliebt, wenn Großrechner das Verhalten von Menschen bei Wahlen so genau vorhersagen können, dass die Wahl an sich überflüssig wird, wenn ein Schachcomputer philosophische Probleme löst, professionelle Träumer dafür sorgen, dass wir unterhalten werden und vieles mehr ist in zehn Kurzgeschichten hier versammelt.
Mit Geliebter Roboter wirft Isaac Asimov einen Blick in die Welt von morgen, für die der Grundstein heute schon gelegt wurde. Zusammen mit Ich, der Roboter und Der Zweihundertjährige bilden die sogenannten Roboter-Geschichten den Ausgangspunkt für Asimovs gigantische Future History, den Foundation-Zyklus.
Der Autor
Isaac Asimov zählt gemeinsam mit Arthur C. Clarke und Robert A. Heinlein zu den bedeutendsten SF-Autoren, die je gelebt haben. Er wurde 1920 in Petrowitsch, einem Vorort von Smolensk, in der Sowjetunion geboren. 1923 wanderten seine Eltern in die USA aus und ließen sich in New York nieder. Während seines Chemiestudiums an der Columbia University begann er, SF-Geschichten zu schreiben. Seine erste Story erschien im Juli 1939, und in den folgenden Jahren veröffentlichte er in rascher Folge die Erzählungen und Romane, die ihn weltberühmt machten. Neben der SF schrieb Asimov auch zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher zu den unterschiedlichsten Themen. Er starb im April 1992.
Mehr über Isaac Asimov und seine Romane auf:
ISAAC ASIMOV
GELIEBTERROBOTER
ERZÄHLUNGEN
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe
EARTH IS ROOM ENOUGH
Deutsche Übersetzung von Walter Brumm
Copyright © 1957 by Nightfall Inc.
Mit freundlicher Genehmigung der Erben des Autors
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung von shutterstock 108364796
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-63205-2
www.diezukunft.de
INHALT
Das Chronoskop
1956 · THE DEAD PAST
Wahltag im Jahre 2008
1955 · FRANCHISE
Das verschlossene Zimmer
1956 · THE BRAZEN LOCKED ROOM
Sternstunde in Twin Gulch
1956 · THE WATERY PLACE
Die Nachricht
1956 · THE MESSAGE
Geliebter Roboter
1951 · SATISFACTION GUARANTEED
Höllenfeuer
1956 · HELL-FIRE
Die Posaune des Jüngsten Gerichts
1955 · THE LAST TRUMP
Die Schule
1954 · THE FUN THEY HAD
Der Witzbold
1956 · JOKESTER
Der Märchenerzähler
1956 · SOMEDAY
Die Träumer
1955 · DREAMING IS A PRIVATE THING
DIE GRUNDREGELN DER ROBOTIK
DAS NULLTE GESETZ
Ein Roboter darf der Menschheit keinen Schaden zufügen oder durch Untätigkeit zulassen, dass der Menschheit Schaden zugefügt wird.
DAS ERSTE GESETZ
Ein Roboter darf einem menschlichen Wesen keinen Schaden zufügen oder durch Untätigkeit zulassen, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird, es sei denn, dies würde das nullte Gesetz der Robotik verletzen.
DAS ZWEITE GESETZ
Ein Roboter muss dem ihm von einem menschlichen Wesen gegebenen Befehl gehorchen, es sei denn, dies würde das nullte oder das erste Gesetz der Robotik verletzen.
DAS DRITTE GESETZ
Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, es sei denn, dies würde das nullte, das erste oder das zweite Gesetz der Robotik verletzen.
Das Chronoskop
Dr. Arnold Potterley war Professor für Alte Geschichte. Das allein war noch nicht gefährlich. Was aber die Welt verändern sollte, war die Tatsache, dass er auch wie ein Professor für Alte Geschichte aussah.
Thaddäus Araman, Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät und Leiter der Abteilung Chronoskopie, hätte vielleicht geeignete Schritte unternommen, wenn Dr. Potterley mit einem eckigen Kinn, blitzenden Augen, einer Adlernase und breiten Schultern ausgestattet gewesen wäre.
Stattdessen sah sich Thaddäus Araman einem zurückhaltenden Individuum gegenüber, dessen blassblaue Augen ihn versonnen ansahen und dessen kleine, sauber gekleidete Gestalt von den gelichteten braunen Haaren bis zu den blank geputzten Schuhen alles andere als aggressiv wirkte. Die gemütliche Knollennase seines Gegenübers vervollständigte den Eindruck der Harmlosigkeit.
»Nun, was kann ich für Sie tun, Dr. Potterley?«, fragte Araman mit wohlwollendem Lächeln.
Dr. Potterley sagte mit einer leisen, unaufdringlichen Stimme, die gut zu seiner ganzen Erscheinung passte: »Mr. Araman, ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie auf dem Gebiet der Chronoskopie der entscheidende Mann sind.«
Araman schien sich geschmeichelt zu fühlen. »Nicht ganz, möchte ich einschränken. Über mir steht der Weltkommissar für Forschung, und er ist wiederum dem Generalsekretär der Vereinten Nationen verantwortlich. Und beide haben den souveränen Staaten dieser Erde gegenüber nur empfehlende Befugnisse.«
Dr. Potterley schüttelte den Kopf. »Diese Leute interessieren sich nicht für Chronoskopie. Ich bin zu Ihnen gekommen, Sir, weil ich mich seit zwei Jahren um die Erlaubnis bemühe, die Mittel der Zeitbetrachtung für meine Forschungen über das alte Karthago einzusetzen. Ich habe eine solche Erlaubnis bisher nicht erhalten können. Mein Forschungsetat ist bewilligt. Meine Arbeit ist als förderungswürdig anerkannt worden, und doch …«
»Ich bin überzeugt, dass niemand daran denkt, Ihnen Unregelmäßigkeiten vorzuwerfen«, sagte Araman beschwichtigend. Er durchblätterte die dünnen Reproduktionsblätter, die Potterleys Namen trugen. Die Angaben darin hatte Multivac geliefert, dessen Speichersystem unter anderem auch sämtliche Unterlagen verwaltungstechnischer und personeller Art verwahrte. Nach diesem Gespräch konnten die Reproduktionsblätter vernichtet werden, weil es bei Bedarf möglich war, sie innerhalb weniger Minuten erneut abzurufen.
Und während Araman die Seiten wendete, sprach Potterley mit leiser, monotoner Stimme weiter.
»Ich muss erläutern, dass mein Problem von erheblicher Wichtigkeit ist. Karthago war der Höhepunkt antiken Handelsgeistes, das größte kommerzielle Zentrum in der Welt des Altertums. Das vorrömische Karthago war geradezu das Gegenstück zum voratomaren Amerika, zumindest was seine nahezu ausschließliche Hinwendung zu kommerzieller Betätigung, zu Handel und Industrie betrifft. Die Leistungen der Karthager als Seefahrer und Entdecker blieben bis zur Zeit der Wikinger unübertroffen und waren weit bedeutender als die der auf diesem Gebiet überbewerteten Griechen.
Es wäre sehr aufschlussreich, Karthago genauer zu kennen, doch alles Wissen, das wir darüber besitzen, stammt aus den Schriften seiner erbitterten Gegner, der Griechen und Römer. Karthago hat nie eine eigene Geschichtsschreibung gehabt, und wenn Schriften existierten, haben sie doch seinen Untergang nicht überdauert. Als Resultat hat man die Karthager stets – und vielleicht zu Unrecht – als eine halbbarbarische, kulturlose Nation von Händlern und Seeräubern betrachtet. Die Anwendung der Zeitbetrachtung könnte helfen, einer neuen Anschauungsweise den Weg zu ebnen.«
Er sagte noch viel mehr.
Araman benutzte eine Pause, um einzuwerfen: »Sie müssen verstehen, Dr. Potterley, dass die Chronoskopie oder die Zeitbetrachtung, wenn Sie diese Bezeichnung vorziehen, ein schwieriger Prozess ist.«
Potterley fühlte sich durch die Unterbrechung irritiert. »Ich bitte nur um einige ausgewählte Ansichten bestimmter Orte und Zeitpunkte, die ich genau angeben würde.«
Araman seufzte. »Selbst ein paar Ansichten, sogar eine … Es ist eine unglaublich heikle und diffizile Kunst. Da ist die Frage des richtigen Brennpunktes, um die gewünschte Szene ins Bild zu bekommen und festzuhalten. Da ist die überaus schwierige Klangsynchronisation, die von ganz anderen Schaltkreisen abhängt.«
»Meine Forschungen sind sicherlich wichtig genug, um erhebliche Anstrengungen zu rechtfertigen.«
»Gewiss. Zweifellos«, antwortete Araman schnell. Die Wichtigkeit fremder Forschungsprobleme zu leugnen, wäre ein unverzeihlicher Beweis schlechter Manieren gewesen. »Aber Sie müssen verstehen, wie zeitraubend selbst die einfachste Einstellung ist. Wir haben eine lange Warteliste für das Chronoskop und eine noch längere für Multivac, den wir zur Errechnung der nötigen Daten ebenfalls brauchen.«
Potterley regte sich unbehaglich. »Ist denn wirklich nichts zu machen? Seit zwei Jahren …«
»Es ist eine Prioritätsfrage, Dr. Potterley. Tut mir leid … Zigarette?«
Der Historiker schreckte zurück und starrte voll Abneigung auf das hingehaltene Päckchen. Araman machte ein erstauntes Gesicht, zog das Päckchen zurück, wollte sich selbst eine Zigarette nehmen und verzichtete.
Potterley seufzte erleichtert, als der andere die Zigaretten einsteckte. »Gibt es keine Möglichkeit, die Wartezeit abzukürzen? Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …«
Araman lächelte. Andere hatten ihm unter ähnlichen Umständen schon Geld geboten, was ihnen natürlich nichts genützt hatte. »Die Prioritätsfrage«, sagte er, »wird von übergeordneten Instanzen entschieden, und zwar mithilfe eines Computers. Ich könnte diese Entscheidungen in keiner Weise eigenmächtig ändern.«
Potterley erhob sich steif. »Dann, guten Tag.«
»Guten Tag, Dr. Potterley. Und mein aufrichtiges Bedauern.«
Er streckte seine Hand aus, die Potterley leicht berührte.
Der Historiker ging, und ein Druck auf den Summerknopf ließ Aramans Sekretärin eintreten. Araman händigte ihr Potterleys Personalakte aus.
»Diese Blätter«, sagte er, »können vernichtet werden.«
Als er wieder allein war, lächelte er bitter. Ein weiterer Posten in seinem fünfundzwanzigjährigen Dienst an der menschlichen Spezies. Dienst durch Verneinung. Wenigstens hatte sich dieser Mann leicht abfertigen lassen. Manchmal musste Druck ausgeübt oder sogar mit dem Entzug von Forschungsbeihilfen gedroht werden.
Fünf Minuten später hatte er Dr. Potterley vergessen.
Im ersten Jahr seines vergeblichen Wartens hatte Arnold Potterley nur Enttäuschung verspürt. Doch im zweiten Jahr gebar seine Enttäuschung eine Idee, die ihn zuerst erschreckte und dann faszinierte. Zwei Umstände hinderten ihn daran, sie in die Tat umzusetzen, aber keines dieser Hindernisse war die unzweifelhafte Tatsache, dass sein Einfall in grober Weise gegen sein Berufsethos als Wissenschaftler verstieß.
Das erste Hindernis war nur die ständige Hoffnung, dass die Regierung endlich doch ihre Erlaubnis zu seinem Projekt geben würde. Diese Hoffnung aber hatte das soeben beendete Gespräch mit Araman zerstört.
Das zweite Hindernis war die Erkenntnis seiner eigenen Unfähigkeit. Er war kein Physiker, und er kannte keine Physiker, die ihm Unterstützung gewähren würden. Die Fakultät für Physik bestand aus Männern, die reichlich mit finanziellen Mitteln ausgestattet und in ihre jeweiligen Spezialgebiete vertieft waren. Bestenfalls würden sie nicht auf ihn hören. Schlimmstenfalls würden sie ihn wegen intellektueller Anarchie melden, und dann könnte es leicht passieren, dass man ihm die Forschungsbeihilfen strich.
Das durfte er nicht riskieren. Und doch war die Chronoskopie der einzige Weg, seine Arbeit erfolgreich fortzusetzen. Ohne sie gab es keine Hoffnung, mehr über das alte Karthago zu erfahren, als die Wissenschaft bereits wusste.
Eine vage Andeutung, dass sich das zweite Hindernis vielleicht überwinden ließe, war eine Woche vor seinem Gespräch mit Araman gekommen, aber er hatte ihr damals keine Beachtung geschenkt. Es war bei einem der Fakultätstees gewesen. Potterley pflegte an diesen Zusammenkünften stets teilzunehmen, weil er es für seine Pflicht erachtete, und er nahm seine Pflichten ernst. Einmal dort, fühlte er jedoch keine Neigung, Konversation zu treiben oder sich bei anderen anzubiedern. Gewöhnlich beschränkte er sich darauf, mit dem Dekan oder anderen anwesenden Professoren ein höfliches Wort zu wechseln, seinen Tee mit Rum zu trinken und bald wieder zu gehen.
So hätte er normalerweise den jungen Mann unbeachtet gelassen, der still und beinahe schüchtern in einer Ecke stand. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, ihn anzusprechen. Doch eine Verkettung seltsamer Umstände veranlasste ihn, dieses eine Mal von seinen Gewohnheiten abzuweichen.
Am gleichen Morgen hatte seine Frau verkündet, dass sie wieder einmal von Laurel geträumt habe; aber diesmal von einer erwachsenen Laurel, die von der Dreijährigen nur das Gesicht behalten hatte. Potterley hatte sie reden lassen, ohne ihr viel Aufmerksamkeit zu schenken. In früheren Zeiten hatte er ihre ständige Beschäftigung mit der Vergangenheit und dem Tod bekämpft. Weder Träume noch Wünsche konnten ihnen Laurel wiedergeben. Aber wenn es Caroline Potterley erleichterte, ließ er sie eben reden und ihren Träumen nachhängen.
Doch auf dem Weg in die Universität hatte er sich wieder mit ihrem Traum konfrontiert gesehen. Laurel erwachsen! Sie war vor annähernd zwanzig Jahren gestorben, ihr einziges Kind. Wann immer er an sie gedacht hatte, war sie in seiner Vorstellung die Dreijährige geblieben.
Nun dachte er: Wenn sie jetzt lebte, wäre sie nicht drei, sondern dreiundzwanzig.
Hilflos versuchte er sich Laurels Heranwachsen auszumalen. Wie sie in die Schule ging. Wie sie sich mit Jungen verabredete. Wie sie heiratete.
So kam es, dass ihm angesichts jenes jungen Mannes am Rande der plaudernden und fachsimpelnden Fakultätsmitglieder plötzlich einfiel, dass ein junger Mann wie dieser Laurel geheiratet haben könnte. Vielleicht sogar dieser junge Mann selbst …
Laurel hätte ihm hier in der Universität begegnen können, oder bei einer Dinnerparty zu Hause. Sie wäre gewiss ein hübsches Mädchen geworden, und dieser Bursche sah eigentlich nicht übel aus. Sein Gesicht war schmal und intelligent; er benahm sich zurückhaltend und doch selbstbewusst.
Der Tagtraum verging, doch Potterley merkte, dass er den jungen Mann die ganze Zeit angestarrt hatte. Nicht wie man ein fremdes Gesicht ansieht, sondern wie man einen möglichen Schwiegersohn musterte. Der andere war bereits aufmerksam geworden, und Potterley fand nur einen Weg, die Situation zu retten.
Er streckte seine Hand aus und trat auf den Mann zu. »Ich bin Arnold Potterley von der Historischen Fakultät. Sie sind ein Neuling bei uns, nicht wahr?«
Der junge Mann blickte verwundert und nahm sein Glas in die Linke, um mit der rechten Hand Potterleys unerwartete Begrüßung erwidern zu können.
»Jonas Foster ist mein Name. Ich habe einen Lehrauftrag für Physik erhalten. Ich fange erst mit diesem Semester an.«
Potterley nickte. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Zeit und viel Erfolg.«
Damit war es ausgestanden. Potterley mischte sich wieder unter die anderen, froh, dass der junge Mann seine nachträgliche Verlegenheit nicht sehen konnte. Er ärgerte sich, dass er dem dummen Geschwätz seiner Frau über Laurel zum Opfer gefallen war.
Aber eine gute Woche später, noch während seines fruchtlosen Gesprächs mit Araman, fiel ihm der junge Mann wieder ein. Ein Lehrbeauftrager für Physik! Ein neuer Mann. Warum hatte er vor einer Woche nicht schneller geschaltet? Hatte er einen Kurzschluss zwischen Hirn und Ohren gehabt? Oder hatte er den so naheliegenden Gedanken unbewusst verdrängt, weil sein Gespräch mit Araman noch bevorstand?
Nachdem der Leiter der Abteilung für Chronoskopie sein Ersuchen jedoch abgelehnt hatte, hielten allein die Gedanken an den jungen Physiker, mit dem er kaum zwei Sätze gewechselt hatte, Potterley davon ab, Araman auf Knien anzuflehen, noch einmal über seine Entscheidung nachzudenken. Er hatte es am Ende beinahe eilig, Aramans Büro zu verlassen.
War es möglich, dass dieses beiläufige und scheinbar bedeutungslose Zusammentreffen in Wirklichkeit von einem wissenden und zweckbestimmten Schicksal dirigiert worden war?
Jonas Foster war kein Neuling im akademischen Leben. Der lange und mühsame Weg zur Doktorwürde machte jeden zum Veteranen, bevor er seine eigentliche Karriere beginnen konnte.
Aber jetzt hatte er einen Lehrauftrag. Die Berufung zum Professor war in erreichbare Nähe gerückt. Aber das hing noch von verschiedenen Imponderabilien ab. Er wusste noch nicht, welche Fakultätsmitglieder einflussreich waren und das Ohr des Dekans oder des Rektors hatten. Er verstand wenig von Campuspolitik und wollte sich durch vorschnelles Handeln nicht selbst ein Bein stellen. Daher galt es, abzuwarten und Augen und Ohren offen zu halten.
So lauschte Foster geduldig den Ausführungen dieses unscheinbaren Historikers, statt ihn zum Schweigen zu bringen und hinauszuwerfen. Denn das war sein erster Impuls gewesen.
Er erinnerte sich an Potterley. Der Professor hatte ihn anlässlich des Fakultätstees angesprochen, hatte zwei Sätze mit ihm gewechselt, war plötzlich verlegen geworden und hatte sich etwas überstürzt davongemacht.
Foster hatte sich darüber amüsiert, aber jetzt …
Potterley machte den Eindruck eines komischen Kauzes, exzentrisch, aber harmlos. Vielleicht war er ja wirklich so, ohne dabei zu wissen, was er tat. Andererseits mochte er es nur zu gut wissen; vielleicht war er ein Aushorcher, der Fosters Loyalität auf die Probe stellen wollte.
Foster murmelte: »Nun, ja …«, um Zeit zu gewinnen. Er fischte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und wollte Potterley eine anbieten, aber Potterley sagte sofort: »Bitte, Dr. Foster. Keine Zigaretten.«
Potterley war regelrecht blass geworden. Foster blickte verdutzt auf. »Tut mir leid.«
»Nein. Ich muss mich entschuldigen. Ich kann den Geruch nicht ertragen.«
Foster steckte die Zigaretten ein.
»Ich fühle mich geschmeichelt, Dr. Potterley, dass Sie mich um Rat fragen, aber ich habe mich mit Fragen der Neutrinik nur sehr oberflächlich befasst. Ich kann auf dem Gebiet nicht gut eine Arbeit übernehmen, für die Spezialisten nötig sind. Es wäre schon eine Anmaßung, wenn ich eine Meinung dazu äußern würde. Offen gestanden würde ich es vorziehen, wenn Sie nicht erst ins Detail gehen würden.«
Potterleys nüchternes Gesicht wurde kantig. »Was meinen Sie damit, Sie seien für Neutrinik nicht zuständig? Sie haben doch noch kein spezielles Forschungsgebiet. Man hat Ihnen doch noch keine Forschungsbeihilfen genehmigt, nicht wahr?«
»Dies ist mein erstes Semester als Lehrbeauftragter.«
»Das weiß ich. Ich denke mir, dass Sie noch nicht einmal eine Forschungsbeihilfe beantragt haben.«
Foster lächelte leicht. In den drei Monaten an der Universität war es ihm noch nicht einmal gelungen, seinen Antrag in eine Form zu bringen, die er der Prüfungskommission guten Gewissens vorlegen konnte. Sein Dekan zeigte sich deswegen jedoch nicht beunruhigt. »Nehmen Sie sich Zeit, Foster«, hatte er gesagt, »und überlegen Sie sich das gut. Seien Sie sich ganz im Klaren darüber, welchen Weg Sie einschlagen und wohin dieser Sie führen soll, denn wenn Sie erst einmal Forschungsbeihilfen erhalten, wird Ihre Spezialisierung offiziell. Sie müssen dann dabei bleiben – in guten wie in schlechten Zeiten, wie man so schön sagt.« Der Ratschlag klang banal, aber Banalität war oft genug das Zeichen der Wahrheit, und das sah Foster natürlich ein.
»Durch Ausbildung und Neigung, Dr. Potterley, bin ich auf die Fachgebiete Hyperoptik und Magnetfeldforschung ausgerichtet. Das habe ich auch in meiner Bewerbung dargelegt. Vielleicht ist es noch keine endgültige Spezialisierung, aber wahrscheinlich wird es dabei bleiben. Was die Neutrinik angeht, so habe ich nicht einmal eine einzige Vorlesung über das Thema gehört.«
»Warum nicht?«, fragte Potterley sofort.
Foster sah ihn verblüfft an. Dieses beinahe unhöfliche Interesse an seinem wissenschaftlichen Werdegang alarmierte ihn. »Kurse in Neutrinik wurden an meiner Universität nicht gegeben.«
»Lieber Gott, welche Universität haben Sie denn besucht?«
»Michigan Institute of Technology.«
»Und dort wird Neutrinik nicht gelehrt?«
»Nein.« Foster fühlte sich in die Defensive gedrängt und errötete. »Es ist ein hoch spezialisiertes Fach ohne großen Wert. Die Chronoskopie hat vielleicht einen gewissen Sinn, aber es ist die einzige praktische Anwendungsmöglichkeit und gleichzeitig eine Sackgasse.«
Der Historiker betrachtete ihn ernst. »Sagen Sie, können Sie mir einen Spezialisten für Neutrinik nennen?«
»Nein, leider nicht«, erwiderte Foster abweisend.
»Kennen Sie vielleicht eine Universität, an der Neutrinik gelehrt wird?«
»Nein, auch nicht.«
Potterley lächelte gepresst und ohne Humor.
Foster fühlte sich von diesem Lächeln angegriffen, fand die versteckte Beleidigung darin und wurde ärgerlich genug, um zu sagen: »Ich möchte darauf hinweisen, Dr. Potterley, dass Sie sich hier auf einem Gebiet bewegen, das nicht das Ihre ist.«
»Wieso?«
»Ich will sagen, dass Ihr Interesse für Physik, Ihr berufsmäßiges Interesse für Physik kaum mit der Geschichtswissenschaft in Einklang gebracht werden kann. Es ist geradezu … «
Foster konnte sich nicht dazu durchringen, das Wort auszusprechen, das ihm auf der Zunge lag.
»Unethisch?«
»Genau, Dr. Potterley.«
»Meine Forschungen haben mich dazu getrieben.«
»Dann wenden Sie sich doch an die Forschungskommission. Wenn sie es genehmigt …«
»Ich bin dort gewesen und habe keine befriedigende Antwort erhalten.«
»Dann werden Sie das Projekt fallen lassen müssen.« Foster wusste, dass es übermäßig korrekt und tugendhaft klang, aber er wollte sich von diesem Mann nicht zu intellektueller Anarchie verleiten lassen. Seine Karriere war ihm zu wertvoll, um sie durch unsinnige Risiken zu gefährden.
Die Bemerkung hatte immerhin einigen Effekt. Ohne jede Warnung explodierte Potterley in einem wahren Feuerwerk unverantwortlicher Thesen. Die Wissenschaft, so führte er unter anderem aus, könne nur frei sein, wenn die Forscher ihrer eigenen Neugier ungehindert nachgehen könnten. Tatsächlich aber sei die Forschung von den Kräften, die über die Verwendung der finanziellen Mittel entschieden, auf vorgeschriebene Gebiete beschränkt. Daher sei sie versklavt und müsse stagnieren. Niemand, erklärte er, habe das Recht, die intellektuellen Interessen anderer einzuschränken.
ENDE DER LESEPROBE