Geliebtes Alien - Kiara Borini - E-Book

Geliebtes Alien E-Book

Kiara Borini

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Beschreibung

Der zweite Teil der Chiòcciola-Trilogie: Chiòcciola, das geliebte Alien, kehrt nach Jahren des Wartens auf die Erde zu Annika zurück. Natürlich völlig überraschend, am Ende ihrer Kräfte und mit einer unerwarteten Begleitung. Dennis muss deshalb für Annika auf dem Abi-Ball einspringen und ihre Rolle übernehmen. Und das ist erst der Anfang von einem turbulenten Abenteuer. Die Zeit zwischen Schule und Studium ist jedenfalls für Annika und Dennis gleichermaßen mit Aufregung und neuen Eindrücken gefüllt, die Dennis ans andere Ende der Galaxis führen und Annika eine Erfahrung bringt, die sie nie im Leben für möglich gehalten hätte. Können die beiden Chiòcciola retten? Und was ist mit ihrer Welt? Ist die ebenfalls zu retten, oder endet nun eine über viereinhalb Jahrtausende dauernde Friedensperiode? Wie geht das Leben danach weiter? Und dann wird Dennis auch noch ungefragt in eine viel ältere Frau verliebt! Alles natürlich, um ihn zu retten... Die säuberlich ausgearbeiteten Lebenspläne erfahren bei beiden jedenfalls interessante Änderungen. Und wer weiß schon genau, ob zum Guten oder nicht? Wie Dennis meint: Das muss das Leben klären. Gut zu wissen jedenfalls, dass noch ein dritter Band geplant ist...

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Seitenzahl: 175

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Geliebtes Alien

Chiòcciola kehrt zurück!

Kiara Borini

Impressum

Texte:

© Copyright by Kiara Borini

Umschlag:

© Copyright by Kiara Borini

Verlag:

Kiara Borini

14542 Werder (Havel)

[email protected]

www.facebook.com/borini.books

Danke

Keiner der Bände wäre ohne Zuspruch und Hilfe von Leuten, die an Annika, Dennis, Chiòcciola, Ashley und Jill geglaubt haben, auch nur entstanden. In nicht einmal einem Jahr ist aus einem groben Konzept mit wenigen Seiten eine interessante und bunte Welt geworden, die zwar mitunter fremdartig anmutet, aber auch viele Aspekte unserer Welt widerspiegelt. Dass diese Welt aus dem Nichts entstehen konnte, dafür gilt mein großer Dank!

Natürlich möchte ich einigen Personen ganz besonders danken, und sie namentlich hervorheben. Das heißt aber nicht, dass der Beitrag derer, die hier nicht genannt sind, etwa weniger wichtig für das Gelingen wäre. Es ist halt nur so, dass ich bereits das Alter erreicht habe, in dem ich vergesslich werde. Man möge mir also verzeihen!

Und bei den Namen, nenne ich bewusst nur die Vornamen in alphabetischer Folge, unabhängig, ob ich die Personen im Alltag duze oder nicht. Ein wenig Datenschutz wollen wir hier dann doch wahren, oder?

Mein besonderer Dank gilt also: Anette, Annemarie, Annette, Annika, Barbara, Bettina, Brigitta, Christina, Christine, Claudia, Daniela, Elizabeth, Heike, Holger, Jessica, Johannes, Katrin, Mandy, Manuela, Maria, Marie, Marlies, Nico, Petra, Ria, Sabine, Sonja, Tatjana, Ulrike, Vanessa, Vivien und vielen, vielen anderen!

Kinder, wie die Zeit vergeht...

Ich sitze in meinem Zimmer und atme kurz durch. Heute Abend ist es soweit. Erwachsensein! Na ja, nicht ganz, aber irgendwie ist es schon ein Einschnitt und ich bin entsprechend aufgeregt. Vor mir liegt das Kleid, das mir mit Aussuchen, Abstecken und Umnähen schon so viel Aufregung bereitet hat. Ich habe bei solcher Garderobe eine eher klassische Vorstellung. Ma wollte mir partout einen ihrer aktuell favorisierten Modeschöpfer schmackhaft machen. Ich hatte ein ganz schlichtes Blaues bei eBay gefunden, mit ganz klassischem Schnitt, das nicht zu viel zeigte, aber gleichzeitig auch das betonte, was ich selbst betont sehen wollte. Mir gefiel diese Kombination. Ma nicht. Dann fanden wir einen Kompromiss. Mein Anteil an diesem Kompromiss war die blaue Farbe. Beim Rest habe ich dann irgendwann aufgegeben, und Ma übernahm das Kommando. Ich habe den Namen des japanischen Designers gleich wieder verdrängt. Aber richtig angesagt ist er wohl gerade in Berlin. Das Kleid liegt neben mir auf dem Bett und gleich werde ich mich hineinzwängen. Ungewohnte Kleidung, festlicher Anlass.

Dennis habe ich ebenfalls schon mit seiner Krawatte kämpfen sehen. Er konnte sich erfolgreich gegen den Dreiteiler durchsetzen, aber bei der Farbe hatte er natürlich gar keine Wahl. Es ging nur um Schattierungen verschiedener Grautöne. Wie bei Loriot: ‘In steingrau bringt man sich am Liebsten um.’ Oder war es mausgrau? Ach, egal!

Trotzdem: Ein ungewohnter Anblick, den Zwillingsbruder so feierlich gekleidet zu sehen. Aber auch ich bin im Alltag ja eher der Jeans-Typ als die Kleidertante. Mit den Schuhen bin ich im Zimmer tagelang Kreise gelaufen. Ich wollte nicht auf dem Weg zur Bühne wohlmöglich umknicken. Dennoch: Es ist ein Abi-Ball und nicht Germany’s Next Top-Model!

Auf der Fensterbank steht meine kostbare Zimmerpflanze, die ich die letzten fast vier Jahre gepflegt habe, als wäre sie ein Teil von mir. Und, wenn ich es genau nehme, ist sie irgendwie auch ein Teil vom mir geworden. Sie bekommt langsam wieder Blüten. Der Platz, den ich ihr vor exakt 44 Monaten, neun Tagen und acht Stunden ausgesucht habe, ist wohl gut gewählt. Schon nach kurzer Zeit hat sie eine zweite Blüte bekommen.

Ich bin gespannt, welche Farbe sie diesen Monat für mich als Überraschung bereithält. Doch es ist noch eine knappe Woche bis zum nächsten ‘Vollmond’ und das freut mich insofern, als dass ich es zum heutigen Abi-Ball nicht wirklich hätte gebrauchen können. Wegen der neuen Blüten hingegen, bin ich schon ganz aufgeregt. ‘Vollmond’ ist übrigens eine Chiffre, die mein Bruder seit Jahren benutzt, wenn es mir nach der ‘Frauen Weise’ geht. Auch eine Chiffre, nur ist das der Ausdruck, den Luther in der Bibel geprägt hat, wenn ihr wisst, was ich meine.

Pa ist dann immer ganz irritiert, denn seine teuren Uhren nennen ihm verständlicher Weise ein anderes, astronomisch korrektes Datum für den Mondphasenwechsel.

Jedenfalls blüht meine besondere Pflanze nur bei ‘Vollmond’. Das tut sie seit Jahren ganz synchron, wann immer mein Körper meint, dass Zeit für den ‘Vollmond’ ist. Und dann ‘rede’ ich mit meiner Blume, oft stundenlang, führe intime Gespräche und bin ansonsten für niemanden zu sprechen.

Wobei ‘Reden’ nicht ganz richtig ist, dann es ist eher eine Gedankenübertragung aus dem anderen Ende der Milchstraße. Chiòcciola, mein geliebtes Alien, und ich tauschen in dieser Zeit unsere Gedanken aus. Intensiv! Wirklich intensiv! Denn die Blume ist ein Teil von ihr, den sie zurückgelassen hat, als wir uns das letzte Mal getroffen haben, da waren wir beide in etwa im gleichen Alter. Ich war fünfzehn und sie hundertfünfundvierzig. So ist das wenn man vom anderen Ende unserer Galaxis kommt und jede Form annehmen kann. Dann ist so eine Topfblume wie die Fingerkuppe vom Zeigefinger, der in mein Schlafzimmer zeigt. - Das ist nur am Anfang etwas gruselig, dann findet man es schön. Punkt. Kein weiterer Kommentar!

Um es klarzustellen, ich bin nicht ‘Gaga’! Ich habe gerade ein richtig gutes Abi gemacht. In Physik sogar besser als Dennis, was ihn ärgert, weil er doch derjenige ist, der Raumfahrt-Ingenieur werden will. Mich interessiert mehr die Molekularbiologie. Während ich früher überwiegend in Sprachen und Geschichte bessere Noten hatte als Dennis, hat die Begegnung mit Chiòcciola vor fast vier Jahren mein Interesse an den Naturwissenschaften zusätzlich spürbar gesteigert.

Nun habe ich gerade ein ‘Abi gebaut’, das in allen Fächern sehr gute Noten aufweist, und wegen meiner hervorragenden Physik-Klausur fällt mir die zweifelhafte Ehre zu, eine Rede zu halten.

Alle werden sie da sein. Ma, Naike, meine kleine Schwester, die nächsten Monat sechs wird. Dennis natürlich auch, denn er hat als mein Zwillingsbruder natürlich gleichzeitig seine Abi-Feier. Pa ist leider in Brüssel. Seit er Mitglied der Expertengruppe ‘Asyl’ geworden ist, kommt er nur noch sehr selten nach Berlin. Eigentlich nicht direkt nach Berlin, denn wir wohnen in Brandenburg, am Rande der Hauptstadt. Das ist nur öde, wenn man jünger ist und nicht jederzeit das Abendprogramm der Hauptstadt genießen kann. Seit wir einen Führerschein haben, und Mas kleinen Zweisitzer gelegentlich benutzen dürfen, macht Hauptstadt sogar noch mehr Spaß!

Jessica und ihre Eltern werden auch kommen. Sie hat zwar irgendwann die Schule gewechselt, aber da sie in unserer kleinen Straße wohnt, haben wir immer noch guten Kontakt. Obwohl sie inzwischen sehr viel Zeit mit ihrem Freund verbringt.

Gut, ‘sonderbar’, darauf können wir uns einigen, schließlich führt nicht jede in meinem Alter eine Fernbeziehung mit einem Alien über eine Distanz von 90.000 Lichtjahren. Für andere Beziehungen hatte ich weder Lust, noch Zeit und Gelegenheit, was meinen schulischen Leistung sehr gut getan hat. Vermisst habe ich in dieser Zeit nichts. Das heißt nicht, dass ich als Mauerblümchen in meinem Zimmer versauert wäre.

Nein, ich war immer ein soziales Wesen, was sich ja auch darin zeigt, dass mir per Akklamation die Rolle der Rednerin übertragen wurde. Das ist zumindest eine schönere Vorstellung, als die, Pa könnte den Kultusminister zwischen zwei Terminen kurz angerufen haben. Nein, ich bleibe dabei, ich bin beliebt, trotz der Tatsache, dass mein Herz an einem Blumentopf hängt und bereits vergeben ist.

Dennis hat sein Herz ebenfalls vergeben, an Ashley, die er in seinem Austauschjahr in den USA kennen- und lieben gelernt hat. Ashley ist blonder als erlaubt, so kurvig, dass man immer wieder erstaunt ist, dass sie die Jeans beim Ausziehen doch über die Hüften bekommt und lächelt einen mit so weißen Zähnen an, dass man eine Sonnenbrille tragen möchte. Ich kenne Ashley nur von Fotos und den Video-Botschaften, die Dennis in Auszügen der Familie zeigt. Ich habe mich noch nicht mit ihr unterhalten, außer an Weihnachten, wenn die Familien gemeinsam vor den Laptops sitzen und sich per Skype ein frohes Fest wünschen. Wahrscheinlich würden wir aber auch kein gemeinsames Thema finden. Dennis ist jedenfalls Feuer und Flamme von ihr. Für mich ist das immer der ultimative Test. Wenn mich Ashley so gar nicht ‘anprickelt’, dann bin ich doch sicher gar keine richtige Lesbe, oder? Ach, ich weiß nicht, ob ich es bereits erwähnt habe, Chiòcciola ist eine Frau. Na ja, nicht immer. Aber in den letzten Jahren schon recht dauerhaft. Und, ich liebe sie trotzdem.

Noch eine Fernbeziehung also in unserer Familie, die dritte. Auch Ashley kann leider nicht zu unserem Abi-Ball kommen. Ihre Abschlussfeier findet in derselben Woche statt. Wenigsten müssen Dennis und ich nicht allein am Tisch sitzen. Wir sitzen zumindest gemeinsam allein. Eigentlich bin ich seit einigen Jahren recht froh darüber, dass ich einen Zwillingsbruder habe. Früher war das anders. Aber da war mein Leben auch irgendwie öder.

„T-30“, höre ich von oben, dem Spitzboden in unserem Doppelhaus, in dem Dennis sein Zimmer hat. „T-30“ ist NASA-Code uns soll mir sagen, dass wir in einer halben Stunde losmüssen. Zeit also, für einen Gang zur Toilette und dann auf in den Kampf mit dem Abendkleid.

Ich nehme das Kleid vom Bügel. Draußen klingelt es an der Tür. Naike öffnet und den Gesprächsfetzen entnehme ich, dass es Jupp ist. Pa hat uns also wirklich seinen Dienstwagen mitsamt Fahrer geschickt, um uns zum Abi-Ball zu fahren. Toll, mit Limousine vorfahren, das hat schon was.

Als ich das Kleid fast anhabe, fällt mir das mit der Toilette wieder ein. Mist! Rauspellen und in BH und Slip im ersten Stock über den Flur huschen. Unten unterhalten sich Naike und Jupp. Sie ruft von unten hoch:

„Soll ich dir nachher beim Reißverschluss helfen?“

Aufgewecktes Kind. Super süß, die Kleine. „Danke Naike, das wäre sehr nett!“

„T-20“, schallt es durchs Haus.

Blick in den Spiegel. Ist das Make-up nicht völlig übertrieben? Ma meint, wegen der Scheinwerfer muss das so sein. Ich komme mir vor wie Rotbäckchen. Wenigstens ist das Kleid blau. Zurück in mein Zimmer. Naike wartet schon.

Wieder rein in die enge Pelle. Naike zumpelt noch etwas zurecht. Der Reißverschluss klemmt. Ich setze mich auf das Bett, damit sie besser drankommt. Endlich geschafft!

„T-10. Stopp! Abbruch!“

Das ist jetzt ungewöhnlich, warum sagt er das? Und dann bemerke ich das Leuchten auf unserem Rasen ebenfalls. Es ist ein leuchtend schimmerndes Ei, das da auf unserem Rasen steht. Es ist etwa zwei Meter hoch und schimmert in interessanten Farben. Gestern war es noch nicht da. Quatsch! Es war auch vor fünf Minuten noch nicht da!

„Erstkontakt! In unserem Garten ist ein Raumschiff gelandet.“

„Cool“, sagt Naike. „Nehmen wir es mit zum Abi-Ball?“

„Es ist Chiòcciola!“, ruft Dennis von unten und öffnet die Terrassentür. „Es ist Chiòcciola und sie ist…“

Beim ‘Erstkontakt’ bin in schon die Treppe heruntergestürzt. Die Pumps hatte ich zum Glück noch nicht an. Barfuß, so schnell Feinstrumpfhose und das enge Kleid es zuließen, rauschte ich nach unten.

„… sie ist schwanger!“, ergänze ich den Satz, den Dennis nicht vollendet hat.

Vor mir steht Chiòcciola, blond, die Haare etwas länger, blaue Augen, und ein zierliches Gesicht. Und einen Bauch, in dem sie locker zwei Medizinbälle verstecken könnte.

‘Hallo, gut, dass ich an der richtige Stelle gelandet bin. Ich bin zum ersten Mal allein geflogen. Darf ich mich setzen?’, dann sank sie auf dem Sofa zusammen.

Abiball

„Cool, ist das die Frau aus deiner Topfpflanze?“, Naikes Kombinationsgabe und unaufgeregte Natürlichkeit waren einfach entwaffnend.

Jupp deutete auf seine Uhr.

„Meine Rede!“, fiel es mir siedend heiß ein. Chiòcciola konnte ich in dem Zustand nicht mitnehmen. Obwohl ich sie vorhin so gern an meiner Seite gewusst hätte. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn und sie atmete heftig. Alleine lassen in diesem Zustand, kam ebenfalls nicht infrage. Aber ich konnte doch auch nicht einfach wegbleiben, meine Rede stand gleich am Anfang auf dem Programm. Der Schuldirektor, die Elternvertreter, dann war ich an der Reihe!

„Ich übernehme das“, meinte Dennis.

„Soll ich dir den eBook-Reader holen?“

Dennis zog seinen eigenen aus dem Jackett. „Meinst du, ich hätte dich ohne Backup-Lösung dahingehen lassen?“

Dennis ist ein Schatz. Wirklich. Toll, so einen Bruder zu haben.

„Ich bleibe hier! Das ist spannender, als so eine doofe Feier“, Naike wirkte entschlossen.

Dann brachen Jupp und Dennis auf. Ma würde, von den Terminen, die sie gerade in der Hauptstadt hatte, direkt dorthin fahren, hatte sie am Vormittag verkündet.

Chiòcciola schien inzwischen zu schlafen, sie wirkte erschöpft.

„Die ist wirklich sehr schön, die Frau aus der Pflanze.“

Ach Naike, was bist du doch für eine tolle Schwester geworden!

#

‘Es gilt das gesprochene Wort.’ Das steht immer unter den Redemanuskripten die im Referat „Reden und Texte“ für Pa ausgearbeitet werden.

Dennis betrat das Rednerpult, als Annika aufgerufen wurde. Unter dem allgemeinen Gemurmel rückte er sich das Mikrofon zurecht.

Liebe Mitschülerinnen, liebe Mitschüler! Liebe Lernende, Lehrende und Erziehende! Liebe Anwesende und Abwesende, die uns in Herzen und Verstand verbunden sind!

Soweit sind das die Worte meiner Schwester, die im Redemanuskript stehen, und zu deren Folgesätzen ich gleich zurückkehren will.

Vorab möchte ich allerdings ein paar eigene Worte einflechten. Ich weiß, sie haben meine Schwester erwartet und sind zurecht zumindest irritiert. Meine Schwester lässt sich auf das Herzlichste entschuldigen. Fünf Minuten vor unserer Abfahrt haben sich bei uns sehr persönliche und unerwartete Dinge ereignet, die ihr die Anwesenheit an diesem Pult nicht gestatten. Deshalb bin ich eingesprungen, ihre ausgearbeitete Rede, die sie so gern selbst vorgetragen hätte, hier in ihrem Namen zu präsentieren. Manchmal macht es uns das Leben nicht einfach, die richtige Entscheidung zu treffen. Und oft reicht die Zeit nicht einmal dazu, lange über diese Entscheidungen nachzudenken. Aber ich glaube, Annika hat spontan die richtige Entscheidung getroffen. Eine, bei der Herz und Verstand zudem auf gleicher Wellenlänge sind.

Hoffen wir, dass ich ein halbwegs erträglicher Ersatz für sie sein kann. Und damit übergebe ich wieder an meine Schwester. Seien Sie also nicht zu irritiert, wenn Rede und Sprecher vielleicht für sie nicht immer im Einklang miteinander sind. Ich kenne die Rede meiner Schwester und es bereitet mir keine Schwierigkeiten, sie sowohl vorzutragen, als auch hinter ihr zu stehen.

Es ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen, seit wir angefangen haben, die Schrift zu lernen und sie später auch zu gebrauchen. Die Schrift war es, die den Menschen erlaubte, Gedanken über Generationen hinweg zu konservieren, statt sie nur im direkten Austausch der Generationen im gesprochenen Wort zu vermitteln. So konnten Brücken geschlagen werden über Jahrhunderte hinweg. Die Gedanken vieler Generationen konnten gegeneinander abgewogen werden und zu neuem, zu lebendigem Denken in unserer Zeit verwoben werden.

Und wie jede Zeit, hat auch unsere Zeit neue Herausforderungen an uns. Wir, die wir heute handeln, handeln nicht automatisch besser oder schlechter als die, die vor uns gehandelt haben, aber unser Handeln muss sich an den konkreten Problemen und Konflikten, die uns aktuell begegnen, neu messen lassen. Dabei hilft uns das Handwerkzeug, das wir in den vielen Jahren, die hinter uns liegen, teils mit Freuden, teils aber auch mit Tränen erworben haben. Wir wissen nicht, wie unsere Vorfahren heute handeln würden, aber wir wissen, wie sie angesichts der Probleme ihrer Zeit gehandelt haben. Dieses Wissen, dieses Handwerkszeug, ist keine Garantie für eine sorgenfreie Zukunft mit kontinuierlich richtigem Handeln, sondern das Rüstzeug, um weiter durch das vor uns liegende Leben lernen zu können.

Viele der Anwesenden haben mich in den letzten Jahren als eine Person kennengelernt, die nicht immer bequem ist, wenn es um Denkstrukturen geht, die aktuell en vogue sind, mir aber nicht spontan einleuchteten. Und so will ich da heute Abend auch keine Ausnahme von machen.

Wir treten hinein ins Leben als Erwachsene. Doch was heißt das? Welche Ziele verfolgen wir, was hat das Leben mit uns vor?

Jede Zeit, hat ihre eigenen eingetretenen Pfade. Wie in Geleisen verläuft das kommende Leben für viele von uns. Andere suchen sich ihre eigenen Pfade und hoffen, ihr Glück auf eigenen Wegen zu finden. Dennis, mein Bruder, beschäftigt sich mit dem Thema Weltraum, seit ich denken kann. Sein Weg als Raufahrt-Ingenieur war ihm vielleicht schon in die Wiege gelegt. Wenn mich jemand hingegen mit fünfzehn gefragt hätte, was ich einmal werden will, hätte ich bestenfalls Tierärztin sagen können. Mehr wäre mit beim besten Willen nicht eingefallen.

Nun bin ich ein paar Jahre älter, und es scheint mir heute so selbstverständlich, was ich machen will, dass sich mich für einen Studiengang in Molekularbiologie beworben habe. Eine Menge Ereignisse in meinem Leben waren notwendig, dass es dazu gekommen ist. Und das war gut so.

Gut kann es aber auch sein, wenn sich jemand nach dem Abitur aus ganzem Herzen für die Rolle als Mutter entscheidet und eventuell später erst andere Wege geht. War es für unsere Großmütter eine Selbstverständlichkeit, so erfordert ein solcher Weg heute sogar fast mehr Mut als der Gang in die Universität. So wichtig die Errungenschaften der Emanzipation auch sind, und den Kämpferinnen des vergangene Jahrhunderts gebührt unser Respekt und Dank, diese neuen Freiheiten dürfen letztlich nicht dazu dienen, andere Menschen im umgekehrten Weg ein Leben aufzuzwingen, das ihnen nicht liegt, oder schlicht jetzt noch nicht zusagt. Das Leben ist im stetigen Fluss und deshalb erlauben Sie mir die letzte These noch einmal umzukehren. Wir müssen als Gesellschaft natürlich ebenso akzeptieren, dass Väter sich nach dem Abitur eine Auszeit nehmen, die Familie versorgen, während ihre Frauen oder Männer der Erwerbsarbeit nachgehen, um die junge Familie zu versorgen.

Ein Raunen ging durch die Menge.

Ich habe niemanden versprochen, dass meine Rede angenehm weichgespült sein wird. Wir stehen an einem Wendepunkt - eine Reifeprüfung sollte eine solche Zäsur sein - und da bietet sich auch ein Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse an, wie sie waren, wie sie sind, und wie sie perspektivisch seien könnten.

Viele von uns, deren Schulzeit nun hinter uns liegt, schreiten in eine Zukunft, die bereits jetzt geplant ist. Diese Phase der Muße, diese Monate des Nichtstuns, die nun vor uns liegen, sind willkommen, um Kraft zu sammeln für die kommenden Anstrengungen. Andere benötigen diese Phase vielleicht, um noch den zu gehenden Weg abzustecken, zwischen verschiedene Optionen zu entscheiden. Und wieder andere stecken im Gestrüpp der Entscheidungen so fest, dass sie gar keinen Weg finden.

Uns allen möchte ich Mut machen, uns in den kommenden Wochen Zeit füreinander zu nehmen. Offen miteinander ins Gespräch zu treten und auch offen denen unseren Dank auszusprechen, die uns in den letzten Jahren, Monaten und Wochen mit Rat und Tat unterstützt haben auf dem Weg zu diesem Etappenziel, das wir heute feiern wollen.

Während der Rede scheinen einige vergessen zu haben, dass es gar nicht Annika war, die auf dem Rednerpult stand, sondern Dennis. Jedenfalls kam Jessica hinterher spontan auf Dennis zu, umarmte ihn und sagte „Danke, Annika!“

Der Rest der Feier war zwar recht nett, aber Dennis, hatte nicht so rechte Lust, lange zu bleiben.

Er kassierte noch vereinzelt Lob, für die Gedanken, die sich seine Schwester gemacht hätte und seinen Mut, diese so vorzutragen. Eine feministisch äußerst aktive Lehrerin unterstellte ihm erbost, dass er seine eigenen, stark rückwärtsgewandten Familienideologien heimlich im Namen seiner Schwester vorgetragen hätte, und er somit eine Situation der Hilflosigkeit schamlos ausgenutzt hätte.

Der Direktor kritisierte, dass er seine Redezeit überschritten hätte, das müsse beim nächsten Mal anders werden. Dennis versicherte ihm, dass er sich bei seiner nächsten Abi-Feier kürzer fassen würde.

Jessicas Eltern lobten, dass die Rede nicht zu zeitgeistig wäre und auch heutzutage nicht hofierte Gedankengänge enthalten hätte.

Nachdem er seine Mutter im Gewühl gefunden hatte und sie artig alle nötigen Hände geschüttelt hatten, sagten sie Jupp Bescheid, dass er Feierabend machen könne, und fuhren dann relativ früh mit Mas Auto vom Ball zurück nach Hause. Unterwegs erzählte er ihr von Chiòcciola, dass sie wieder zurück sei. Allein, und doch irgendwie zu zweit.

Mutterfreuden, ‘Vater’freuden

„Die hat aber einen ganz schön dicken Bauch. Im wievielten Monat ist sie denn?“, Naike ließ die schlafende Chiòcciola keinen Moment aus den Augen.

„Ich habe keine Ahnung!“, antwortete ich.

„Doch, du weißt es!“, Chiòcciola öffnete die Augen und sprach! Ich meine: Mit Worten, nicht wie sonst üblich in Gedanken!

„Seit wann benutzt du Worte?“

„Es geht mir im Moment nicht wirklich gut, dann sind Worte einfacher als Gedanken. Außerdem ist da noch die Kleine, deren Namen ich nicht kenne, hier, dann muss ich Gedanken an zwei senden. Das ist schwieriger zu koordinieren, denn ihr könnt mir ja nicht mit euren Gedanken helfen.“

„Und wieso sollte ich wissen, im wievielten Monat du bist?“

„Nun, es ist unser Kind. Wir haben uns geküsst, kurz bevor wir zurückgekehrt sind. Das war vor siebenundzwanzig Monaten.“

„Siebenundzwanzig Monaten? Seither sind fast vier Jahre vergangen.“

„Nicht bei uns. Es sind seither drei mal neun Monate vergangen. Schau auf die Uhr.“

Sie zeigte mir die Armbanduhr, die ich ihr zum Abschied geschenkt hatte. Die Zeiger und das Datum zeigten vogelwilde Werte an.

„Bei euch dauert eine Schwangerschaft dreimal so lange wie bei uns?“, Naike brachte das Thema wieder zum wesentlichen Punkt.