Safya kämpft sich zurück! - Kiara Borini - E-Book

Safya kämpft sich zurück! E-Book

Kiara Borini

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Beschreibung

Safya liegt nach einem massiven Blutverlust wegen einer Messerattacke jahrelang im Koma. Als sie wieder aufwacht, hat sie ihre Pubertät und Jugend verschlafen. Äußerlich eine attraktive, junge Frau, ist ihre Sicht auf die Welt noch immer sehr kindlich. Das Leben um sie herum ging weiter, und sie hat große Probleme, sich das Neue in ihrem Leben zu merken. Dazu kommt, dass sie sich in den fast fünf Jahren körperlich sehr verändert hat und inzwischen zur Frau geworden ist. Werden da nicht ihre Klassenkameraden über sie lachen, wenn sie wieder in die Schule geht? Aber dann hat sie das Problem auch schon wieder vergessen und spielt mit den Katzen. Wie sollt das gehen mit der Schule? Wie wird man Professorin, wenn man sich ganz banale Dinge nicht mehr merken kann? Muss sie nun, obwohl sie noch immer sehr klug ist, ihre Pläne für die Zukunft aufgeben? Oder soll sie sich besser auf ihre neu erwachten Talente konzentrieren? Denn es gibt Dinge, die sie wirklich gut kann. Und dann kommt überraschend die Liebe zu Paul ins Spiel. Kann eine neue Liebe sie aus dieser misslichen Situation befreien? Oder ist sie es, die dem desillusionierten Paul neue Perspektiven vermitteln soll, der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt und ebenfalls seine Zukunft neu planen muss? Doch der empfindet ihre kindliche Art mitunter mitunter als arg verstörend. Und dennoch fesselt ihn diese merkwürdige Frau.

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Kiara Borini

Safya kämpft sich zurück

Impressum

Texte: © Copyright by Kiara Borini

Umschlag:© Copyright by Kiara Borini

Verlag:Kiara Borini

14542 Werder (Havel)

[email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Terminplanung

„Mel, kannst du heute zu unserer ‚Sleeping Beauty’ fahren? Das wäre sehr lieb, denn Adeeba und ich müssen noch ein wichtiges Detail klären, das unser Bauvorhaben platzen lassen könnte.“ Ich wartete ab, bis die Kaffeemaschine wieder Ruhe gab. Noch war sie mit Mahlen beschäftigt, dann folgte das Pressen des Kaffeemehls, das typische Zischen vom Dampfdruck beim Brühen und das mechanische Klonk, als der Trester ausgeworfen wurde. Mit meiner Tasse kehrte ich an den Frühstückstisch zurück und nahm mir einen anderen Stuhl, da auf meinem inzwischen Enno Platz genommen hatte, eine von unseren insgesamt fünf Katzen. Die Namen hatte Safya ausgesucht, damals, als die drei kleinen Katzen noch kleine Babys waren. Inzwischen war Enno zu einem respektablen Kater herangewachsen, der durchaus einen eigenen Stuhl zu belegen wusste. “Heute kann ich fahren, kein Problem”, meinte ich, nachdem ich mich auf dem Nebenstuhl nieder gelassen und mein Frühstücksgeschirr an den neuen Platz rüber geräumt hatte. Und bevor ich fortfahren konnte, fuhr Maren schon fort: “Ich weiß, dass du morgen eine Gesellschafterversammlung hast und am Freitag einen Inspektionstermin für dein Auto. Aber heute würde mir schon helfen. Den Rest der Woche übernehme ich, wie geplant.”Ich schluckte den Rest des Brötchens herunter und antwortete: “Gut, ich fahre nachher ins Krankenhaus und sehe nach Safya. Ist es etwas Besorgniserregendes, was Adeeba aufgefallen ist?” Maren zuckte nur mit den Schultern.Adeeba war Marens Assistentin, nachdem sie bei ihr als Abiturientin ein Praktikum gemacht hatte, dann in Rekordzeit Architektur studiert und ihr Examen absolviert hatte. Mein Gott, wie lange ist das schon her? Sie war eine Überfliegerin und Maren durchaus ebenbürtig. Zumal sie als Muttersprachlerin fließend Arabisch sprach, was in dem Betätigungsfeld, in dem Marens Architekturbüro überwiegend Erfolge feierte, ein nicht zu unterschätzender Vorteil war. Ihre Familie hatte Geld, viel Geld und wir vermuteten seit einiger Zeit, dass Adeebas Vater, ein hochrangiger Diplomat, bereits seit einiger Zeit stiller Teilhaber in dem Architekturbüro war. Zu schnell war es in den letzten Jahren gewachsen, als dass es sich ohne großzügige Finanzspritzen erklären ließ. Dennoch zog Adeeba beruflich nicht an Maren vorbei, bootete sie nicht aus, sondern arbeitete offensichtlich ganz loyal mit Maren zusammen. Und wenn sie das Gespür hatte, dass etwas nicht stimmte, dann versuchte sie, mit Maren gemeinsam eine Lösung zu finden, statt das zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sie war uns beiden ausgesprochen sympathisch und deshalb auch ein oft und gern gesehener Gast bei uns im Haus. Und sie hatte uns schon unzählige Male am Krankenbett von Safya vertreten. Ganz selbstverständlich, ohne das groß zu thematisieren.Ich wirkte wohl sehr in Gedanken versunken, denn plötzlich meinte Maren laut: “Fast fünf Jahre sind es nun, seit Safya im Koma liegt. Es ist alles so durchgetaktet und normal geworden, unsere Besuche, die Zeit, die wir abwechselnd am Bett verbringen. Alles so normal. Und dennoch will ich mich nicht damit abfinden, dass es so ist. Ich will nicht, dass das normal ist für uns, ich will, dass etwas anderes normal ist für uns. So wie damals. Diese gemeinsame Zeit mit ihr war schön, sie war leider viel zu kurz. Kaum hatten wir uns an unser Mündel gewöhnt, wurde sie auch schon wieder von uns gerissen.”Ich sah, wie ihr eine Träne über die Wangen lief. Dann stand ich auf und nahm sie in den Arm. Auch mir war mulmig zumute. Es waren nicht mehr viele Monate, und Safya würde achtzehn werden. Aus unserem damals zwölfjährigen Mündel würde bald eine erwachsene junge Frau werden. Eine ‚Sleeping Beauty’, die den größten Teil ihrer Pubertät und Jugend verschlafen hatte. Obwohl wir uns damals geschworen hatten, dass es niemals zur Routine werden dürfe, der Alltag hatte uns irgendwann eingeholt.Anfangs waren wir täglich zu zweit gekommen und hatten bis in den späten Abend an ihrem Bett gesessen, seit sie damals nach einer feigen Messerattacke so viel Blut verloren hatte, dass man im Krankenhaus ihre Körpertemperatur gesenkt und sie deshalb ins künstliche Koma versetzt hatte, aus dem sie bisher nicht wieder erwachen wollte.Nur, irgendwann kehrte der Alltag ein. Ungewollt und doch fordernd. Meine Mitarbeiter in der Apotheke hatten mich am Anfang rührend vertreten, wo immer es ging. Doch irgendwann ging es nicht mehr - die Chefin war gefragt.Marens Chefs hatten sie am Anfang oft aus der Schusslinie genommen, wenn es bei Bauabnahmen oder Vor-Ort-Terminen darum ging, mal eben schnell nach Riad, Dubai oder Kuwait-Stadt zu fliegen, wo die meisten Bauvorhaben anstanden. Irgendwann musste sie dann doch reisen. Wir arrangierten uns und erreichten es über all die Jahre, dass mindestens eine von uns täglich bei Safya war. Mindestens.Und wenn wir uns wirklich mal vertreten ließen, ohne Besuch war sie in all den Jahren nie, dann hatten wir einen wirklich triftigen Grund! Und ganz oft hatte es dann auch mit Safya zu tun. Ob sie das merkte, ob es ihr bewusst war, dass wir immer an ihrer Seite waren? Wir konnten es nicht sagen. Manchmal gab es Zeichen, die uns das vermuten ließen, dann wieder waren wir mit unseren Zweifeln allein.Die Jahre vergingen und aus vielen Premieren wurden Wiederholungen. Der erste Haarschnitt im Koma, der erste Geburtstag am Krankenbett. Es jährte sich, und dann erneut und erneut. Dass sie nicht abgeschoben wurde und weiterhin im Krankenhaus versorgt wurde, hatte zum einen medizinische Gründe, denn die wiederholten bildgebenden Diagnose-Verfahren zeigten eigentlich keine signifikanten Auffälligkeiten und der Leiter der Station hatte irgendwann beschlossen, dass er Safyas Fall in seiner Habilitation nutzen wolle, zum anderen aber auch juristische Gründe. Der Fall war schließlich noch nicht abgeschlossen. Nach all den Jahren hing der Strafprozess noch immer merkwürdig in der Schwebe. Denn am Anfang war es wirklich unsicher, ob Safya überleben würde, ob also wegen Mordes ermittelt werden müsste. Und später schützte den Täter irgendwann die parlamentarische Immunität.Denn während sich alle bei der Attacke Anwesenden damals um die Rettung von Safya bemühten, hatte offensichtlich keiner der diensthabenden Einsatzkräfte den noch immer wild Hassreden von sich schreienden Täter mit dem blutigen Messer in der Hand erkennungsdienstlich behandelt. Er war einige Wochen lang schlicht ein unbekannter Tatverdächtiger. Irgendwann dann lenkte man endlich ermittlungstechnisch den Fokus in Richtung auf den Stand der HASS-Partei. Man ermittelte, ob er, da er sich zuvor an deren Stand aufgehalten hatte, eventuell in deren Mitgliederlisten zu finden sei. Und als man diese ausgewertet hatte, war in dem betroffenen Bundesland, das ihn auf den oberen Plätzen der Wahlliste führte, bereits gewählt worden. Nun schützte ihn die parlamentarische Immunität vor weiterer Strafverfolgung.Immerhin könnte durch die lange Zeit, die inzwischen verstrichen war, und durch die demnächst bevorstehende Wahl, hier vielleicht ein Fortschritt zu verzeichnen sein. Aber es war andererseits durchaus anzunehmen, dass er es wieder ins Parlament schaffen würde. Und ob die Zeit zwischen den beiden Perioden ausreichen würde, den Anfangsverdacht sinnvoll zu erhärten und für die Ermittlung so zu nutzen, um eine erneute Vereidigung zu vereiteln, war nach unseren bisherigen Erfahrungen fraglich.Wichtiger wäre uns aber ohnehin, dass es bei Safyas Genesung weitere Fortschritte gäbe. Und bei dem Adoptionsverfahren, das seitdem ebenso in der Schwebe hing. Das zuständige Amtsgericht wollte nämlich zuvor Safays Meinung einholen, ob sie wirklich zu uns gehören wollte, was seit Jahren nicht möglich war. So hatten wir immer noch lediglich die Vormundschaft für sie und berieten uns regelmäßig mit dem Jugendamt über weitere Schritte, die zu ihrer Heilbehandlung notwendig waren. Seit fast fünf Jahren waren wir sozusagen auf dem Sprung und in ständiger Alarmbereitschaft. Und seit drei Jahren waren wir zudem offiziell ‚verpartnert’, weil das Jugendamt uns signalisiert hatte, dass auf solche Details durchaus Wert gelegt werden würde, wo wir doch schon kein traditionelles Paar wären. Dass wir auch etwas unorthodox zu dem Kind gelangt waren, wurde zwar vermerkt, sollte bei der Betrachtung des Falls aber keine Rolle spielen. Auch, wenn man es uns natürlich insgeheim doch anrechnete, dass wir nach Gundulas Tod, der ehemaligen Leiterin des Jugendamts, ihren letzten Wunsch erfüllt hatten und uns so spontan um Safya gekümmert hatten.

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Als ich in Steglitz in der Apotheke ankam, signalisierten mir meine Mitarbeiterinnen bereits, dass sie am morgigen Abend alle zu unserer Gesellschafterversammlung kommen wollten. Sie hatten sogar eine Liste mit Tagesordnungspunkten vorbereitet.Es war unser einjähriges Jubiläum als GmbH. Ich hatte nach reiflicher Überlegung die Apotheke, die ich von meinem Vater übernommen hatte, in eine Gesellschaft überführt. Zum einen konnte ich so den Mitarbeiterinnen meinen Dank ausdrücken, die mich in den ersten Jahren, als Safyas Krankheit so brutal und unvermittelt über uns hereingebrochen war, nach Kräften unterstützt hatten. Wir ließen meinen Steuerberater eine belastbare Bilanz erstellen und ich bot meinen Mitarbeitern an, geringe Anteile zu erwerben, die ich dann sogar verdoppelte. So gehörte nach einigen Diskussionen und Beratungen nun etwa ein Drittel der Apotheke nicht mehr mir, sondern meinen ehemaligen Angestellten und ich befand mich ebenfalls in der anfangs ungewohnten Situation, in meiner ehemaligen Apotheke als leitende Apothekerin und Geschäftsführerin angestellt zu sein. Steuerlich hatte das zunächst Nachteile, denn wir waren nun ein Gewerbebetrieb. Aber, da ich nun in meiner Apotheke angestellt war, hatte ich den Vorteil, dass ich im Fall einer Adoption Safya in meine nun gesetzliche Krankenversicherung aufnehmen konnte. Die private Krankenversicherung, bei der ich vorher als Selbständige versichert war, konnte mir ob des ungeklärten Gesundheitszustands keine abschließende Auskunft geben, zu welchen Modalitäten wir Safya krankenversichern könnten, falls das mit der Adoption Fortschritte machen würde. Auch wieder so ein Ding, Wege zu ebnen, um Safya in unser Leben integrieren zu können. Eine konkrete Notwendigkeit gab es ja nicht, denn aktuell übernahm ja das Jugendamt die Krankenversicherung für Safya. Wir hatten derzeit ja nur die Vormundschaft für sie erhalten. Aber, wie gesagt, das waren Optionen in die Zukunft. Denn solange Safya weiter friedlich vor sich hin schlief, traten wir, was die geplante Adoption anbelangte, auf der Stelle. Und in ein paar Monaten wäre sie ohnehin erwachsen, was die Situation wieder verändern würde, sollte sie aufwachen und kein Pflegefall sein.Mit der Umwandlung in eine GmbH hatte ich zumindest das Gefühl, eine Weiche für eine gemeinsame Zukunft schon einmal in die richtige Richtung gestellt zu haben. Für den Fall, dass Safya zwar aufwachen und ihren Wunsch, zu uns zu gehören, bekräftigen könnte. Was wäre, wenn weiterhin teure medizinische Behandlungen erforderlich sein würde? Denn noch konnte niemand sagen, in welchem Zustand sie wäre und welche weitere Hilfe sie benötigen würde in dem Fall, dass sie wirklich aufwachen sollte. Es war alles so schrecklich vage! Und solange das Gerichtsverfahren nicht weiterverfolgt werden konnte, galt sie offiziell auch nicht als Opfer im Sinne des Opferschutzes. Was war in den letzten Jahren nicht alles an Papierkram über uns hereingebrochen...Ich überflog die Liste mit den TOPs. Da waren richtig gute Ideen dabei. Die Idee mit dem Lieferservice bot sich wirklich an, wenn ich mir das teils hohe Alter unserer Kunden vor Augen führte. Online-Bestellungen hingegen fand ich dann doch für unsere kleine Apotheke zu ambitioniert; aber ich beschloss, mir die Vorschläge anhören zu wollen. Wie groß der Aufwand sein würde, konnte ich schlicht nicht abschätzen. Expansion an andere Standorte war noch so ein Vorschlag, bei dem ich mir überlegte, ob es realisierbar war. Aber immerhin hatten wir als GmbH nun weniger Restriktionen. Dann war da noch der Vorschlag Trinknahrung für Rekonvaleszente ins Sortiment aufzunehmen. Das würde sich doch ideal mit dem Lieferservice verbinden, überlegte ich.Es würde spannend werden morgen. Und es war gut, aus dem stetigen Gedankenkarussell um Safyas Krankheit auszubrechen. Seit der Messerattacke kreisten unsere Gedanken fast ausschließlich um Safya. Das war insofern irgendwie merkwürdig, weil sie ja lediglich ein paar Monate bei uns gewesen war. Aber ohne dass Maren und ich das je wirklich thematisiert hatten, war uns immer klar gewesen, dass Safya, wie auch immer die Situation ausginge, zu uns gehören sollte.Und daran hielten wir nun seit vielen Jahren eisern fest, auch wenn wir nicht viel mehr tun konnten, als sie im Krankenhaus zu besuchen und an ihrem Bett zu sitzen, sie zu beobachten, wie sie friedlich in ihrem Bett lag und atmete. Wir konnten ihre Hand halten und manchmal hatten wir das Gefühl, dass sie mit etwas Gegendruck antwortete. Mitunter halfen wir den Schwestern bei ihrer Pflege. Dann hatten wir das Gefühl, etwas tun zu können, auch wenn es nur ein wenig die Routine unterbrach.Und in kleinen Schritten führte die Situation schließlich dazu, dass wir unser Leben so organisierten, dass Safya künftig darin einen Platz finden könnte, sollte sie dafür bereit sein.

Rückblick

Als ich nach der Arbeit auf den Parkplatz des Krankenhauses fuhr, war er fast leer. Ich drückte auf den Knopf des Parkassistenten und freute mich kindisch, wie mein Auto sein Lenkrad selbständig von einer Seite zur anderen zwirbelte und sich zentimetergenau rückwärts auf dem fast leeren Parkplatz in eine der Parkboxen dirigierte.Tolle Technik! So ganz anders als mein alter, knochiger Zweisitzer. - Maren würde jetzt einen Lachanfall bekommen. Bekommt sie eigentlich immer, wenn ich mich über solche Spielereien von meinem neuen Cabrio freue. Das ist auch noch so ein Ding, das mit der Neugliederung der Apotheke und dem stillen Wunsch nach einer Familie zusammenhängt. Ein neues Geschäftsfahrzeug war für die neue Firma schlicht sinnvoll. Und dann sollten es natürlich vier Sitze sein, denn irgendwann würde Safya ja mitfahren wollen! Hoffentlich.Den blauen Zweisitzer hatte ich dann doch nicht verkauft, sondern in der ehemaligen Garage von meinem Vater geparkt. Das Auto wurde zwar abgemeldet, aber so ganz trennen wollte ich mich doch nicht von ihm. Es hingen so viele Erinnerungen daran.Maren geht mit solchen Dingen viel entspannter und rationaler um. Aber anders als sie, hätte ich mir auch nie so ein Raumschiff angeschafft. Zu Autos habe ich eine viel emotionalere Beziehung. Der noch recht neue Firmenwagen von Maren war natürlich ein SUV - Architektin eben! - und hatte hinten Flügeltüren und fuhr rein elektrisch. Deswegen hatten wir jetzt auch eine Wandladestation für Kraftstrom, was natürlich im amerikanischen Marketing-Deutsch ‚Wall Connector’ hieß und mitsamt passendem Kabel als silberner Kasten an die rote Ziegelwand montiert war. Wenigstens war der Kasten formschöner, als der Begriff zunächst vermuten ließ.Das Auto selbst wirkte auf mich ein wenig wie diese kleinen Shuttles von Raumschiff Enterprise, mit denen sie so häufig auf unwirtlichen Planeten abstürzten, wo dann irgendetwas Sonderbares lauerte, was sie in Gefahr brachte und gleichzeitig 45 Minuten lang den Funkverkehr blockierte, bis sie endlich gerettet werden konnten.Und wenn der neue, mehr als fünf Meter lange Geländewagen neben dem Haus stand, fiel die Ladestation gar nicht mehr auf, denn man konnte denken, wir hätten angebaut. Einfach monströs, das Ding! Aber, wenn ich die Sprache darauf brachte, meinte Maren nur unwirsch, der hätte genug Sitze und Platz, um mit der ganzen Familie in Urlaub zu fahren. Was wollte ich mehr? - Wahrscheinlich hatte sie ihn auch deswegen bestellt, weil sie ebenfalls drauf hoffte, das Safya bald einsteigen würde, um gemeinsam mit uns in Urlaub zu fahren.Dabei war der letzte Urlaub drei Jahre her! Und mehr als ein paar kleinere Spritztouren hatten wir bisher damit nicht unternommen. Benzin schien uns bei längeren Touren einfacher zu beziehen zu sein als Strom. Also hatten wir die Reichweite bisher auch nicht annähernd ausgetestet. Und eigentlich brauchte Maren das Ding sowieso nicht für ihre Baustellen, denn die waren alle so weit entfernt, dass sie fliegen musste!Ich war mit ‚meinem’ Einparkversuch sehr zufrieden, das Auto stand zentimetergenau zwischen den Markierungslinien, und ich stieg aus, um den Weg ins Krankenhaus zu nehmen. Das neue Auto hatte eine Rücksitzbank! Das heißt, ich musste meine Jacke nicht aus dem Kofferraum holen, was praktisch war. Ich drehte mich noch einmal um und sah das rote Cabriolet in der untergehenden Sonne funkeln.

Krankenhaus

Im Krankenhaus bin ich zunächst ins Schwesternzimmer gegangen, um zu sehen, wer gerade Dienst hatte. Es gab schlicht niemanden auf der Station, den wir im Laufe der Jahre nicht kennengelernt hatten und der uns im Gegenzug nicht ebenso kannte. Es war aber gerade niemand anwesend. Also zapfte ich mir einen Kaffe aus der großen Pumpkanne und beschloss, dass es demnächst mal wieder Zeit sein könnte, für Nachschub an Kaffeemehl zu sorgen. Mit dem dampfenden Pott begab ich mich in Safyas Zimmer.Dort staunte ich nicht schlecht: Tarek saß an Safyas Krankenbett und hielt ihre Hand. Ich hatte ihn schon seit so vielen Monaten nicht mehr gesehen. Groß war er geworden. Aber das war ja auch verständlich. Safya war ja ebenfalls zu einer jungen Frau herangewachsen, was selbst die Bettdecke mehr schlecht als recht verbergen konnte. Am Anfang hatten die Klassenkameraden sie öfter besucht. Meist waren Selin, Cem und Tarek gemeinsam gekommen. Aber irgendwann hatten Selin und Cem die Schule verlassen. Tarek kam noch einige Zeit allein, dann immer seltener. Seine Schwester Adeeba, die ja mit Maren zusammenarbeitete, sahen wir hingegen öfter. Sie erwähnte das eine oder andere Mal, dass er sich durchaus nach Safya erkundigte.Ich stand da, mit meiner Kaffeetasse in der Hand und sah die beiden an. Tarek drehte sich nach einiger Zeit um, stand auf und kam auf mich zu. Er wirkte verlegen. Dann stammelte er:“Wir bereiten uns ja nun langsam auf das Abitur vor. In ein paar Monaten beginnt das letzte Semester. Und irgendwie habe ich in den letzten Tagen immer wieder daran gedacht, wie felsenfest Safya davon überzeugt war, dass sie Professorin wird, wie ihr verstorbener Vater. Und jetzt sieht es so aus, als ob sie nicht einmal einen Schulabschluss bekommt.”Ihm rann tatsächlich eine Träne die Wange herunter.“Cem und Selin haben wenigstens ihren Realschulabschluss gemacht. Aber das mit Safya geht mir nahe. Das war ein dummer Streich, das mit der Birne. Wenn ich das nur rückgängig machen könnte.”Ich schluckte. “Nicht der Birnenstreich war schuld an Safyas Zustand, sondern ein Messer. Ein Messer in der Hand von einem kriminellen Idioten voller Hass.”“Aber nur durch die Ereignisse ist dieser Irre überhaupt auf Safya aufmerksam geworden, weil deswegen die Presse darüber berichtet hat”, insistierte Tarek. Da hatte er zwar einerseits recht, aber ihm in der zweiten Ableitung der Ereignisse die Schuld zuzusprechen, fand ich auch nicht wirklich hilfreich nach fast fünf Jahren. Also schluckte ich, stellte meinen Kaffeebecher ab und erwiderte:“Ihr ward Kinder und es war eine dumme Idee von Cem, aber das können wir nicht mehr ändern. Die Presseleute hingegen, die die Stimmung aufgeheizt haben, waren erwachsen, und der Typ mit dem Messer ebenfalls. Und er ist inzwischen sogar ein gewählter Volksvertreter. Wenn ihr drei aus dem Ganzen gelernt habt, euren Hass zu zähmen, dann ist das schon eine ganze Menge.”Tarek sah mich an und meinte, seine Schwester hätte ihm vorgeschlagen, öfter mal zu meditieren. “Adeeba ist eine kluge Frau”, versuchte ich diese Idee zu unterstützen.“Ja, vermutlich hat sie sogar recht. Aber es ist noch etwas ganz anderes, weshalb ich heute gekommen bin. Mir ist bewusst, dass ich in den letzten Monaten Safya sehr selten besucht habe. Ich mag aber Krankenhäuser auch nicht so gern”, gab Tarek etwas kleinlaut von sich.“Ich auch nicht”, meinte ich vielleicht eine Spur zu bissig.“Schon klar! Aber ich habe gestern geträumt. Und zwar von Safyas Pfau. Das ist doch komisch, oder? An den blauen Pfau hatte ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht. Ich kenne ja auch niemanden, der an so etwas glaubt. Nur Safya.”“Melek Taus”, murmelte ich vor mich hin.“Ja, genauso hat sie ihren wichtigsten Engel immer genannt. Und in meinem Traum hat er mir gesagt, dass er sie bald zurückschickt”, meinte Tarek unsicher.“Und hat er sonst noch etwas gesagt?”, wollte ich wissen.“Nein, dann ist er weggeflogen. Können Pfaue eigentlich fliegen?”, wollte er wissen.“Ich glaube schon”, meinte ich unsicher. “Aber mit der langen Schleppe sind sie bestimmt keine Flugakrobaten. Aber den haben ja nur die Männchen, oder? Also ist es wie bei den Menschen, die Mädchen können es besser.” - Aber so ganz sicher war ich mir auch nicht, was das Fliegen anbelangte. Ich nahm mir vor, das gelegentlich in Wikipedia nachzulesen. Dann sah ich, dass Tarek merklich am Grübeln war, ob er meine letzte Äußerung als Affront werten sollte? Er beschloss, dass es wohl meine Art von Humor wäre und antwortete darauf nicht. Er hatte, was Rollenmodelle anbelangte, dazugelernt in den Jahren. Sicher hatte Adeebas Aufstieg einiges an Diskussionen und Überlegungen in der Familie bewirkt. Nur, was sollte uns Tareks Traum sagen? Ich blickte zu der schlafenden Safya hinüber. Nichts schien verändert. Sie atmete ruhig und nichts deutete darauf hin, dass sie ihre Augen aufschlagen würde.“Ich habe auch ihre Hand gehalten, aber sie war genauso schlaff wie sonst auch”, meinte Tarek etwas unschlüssig. “Vielleicht war es ja auch nur ein blöder Traum.”Er setzte sich wieder ans Bett und ich holte mir einen weiteren Stuhl und setzte mich daneben. Nichts. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Besuch am Krankenbett sich von den unzähligen anderen in all den Jahren unterscheiden würde.Irgendwann signalisierte Tarek, dass er wieder aufbrechen wolle. Ich verabschiedete mich von ihm und dankte ihm, dass er vorbeigekommen war. Und auch dafür, dass er mir die Geschichte mit dem Traum erzählt hätte. Ich würde ihm Nachricht geben, wenn er sich bewahrheiten würde.Dann setzte ich mich wieder und schrieb Maren eine SMS.Tarek war hier und hat von einem Traum erzählt, dass ein blauer Pfau Safya zurückschicken würde. Aber bisher sieht sie unverändert aus.Kurze Zeit später kam eine Antwort.Bleib dort, wir kommen. Wir müssen nur noch ein paar Verträge und Memos durchgehen. Dauert hoffentlich nicht mehr lange.Irgendwann bin ich dann eingeschlafen. Ich hielt noch Safyas Hand, als ich eine weitere auf meiner Schulter spürte.“Melanie, ich habe ihnen eine Tasse Brühe hingestellt. Sie hatten doch bestimmt noch nichts zu essen. Ich hatte erst überlegt, sie nicht zu wecken, aber dann wird die doch kalt. Das wäre auch schade.”Ich blickte nach oben und sah Karin in die Augen. Sie hatte wohl heute Nachtschicht. Durch das Fenster sah ich, dass es bereits dunkel war; in dieser Jahreszeit aber kein sinnvoller Hinweis auf die Uhrzeit. Ich blickte auf mein Smartphone. Kurz vor 21:00 Uhr. Ich musste wohl wirklich eingeschlafen sein. Mein Blick auf Safya bestätigte, dass sich nichts verändert hatte.Karin verabschiedete sich und ich begann meine Brühe zu löffeln. Dann stellte ich die Schüssel wieder auf den Nachtisch und versuchte, wach zu bleiben. Maren wollte doch schließlich noch vorbeikommen. Aber die Müdigkeit übermannte mich dann wieder.Irgendwann hörte ich Geräusche von der Tür und nahm noch im Halbschlaf wahr, wie Maren in Begleitung von Adeeba hereinkam. Sie hatten ihre Jacken noch nicht ausgezogen, das hörte ich Adeebas Stimme:“Hallo Safya. Schön, dass du wach bist. Wie geht es dir? Wir haben dir so viel zu erzählen.”Maren und ich sahen uns erst eine gefühlte Ewigkeit an, dann blickten wir auf Adeeba, und schließlich nahmen wir endlich wahr, dass Safya wirklich die Augen geöffnet hatte.“Oh, hier bin ich. Hierhin bin ich also gekommen”, meinte sie und schloss wieder die Augen.Ich drückte sofort den roten Knopf, der über ihrem Bett baumelte, dann lief ich zur Sicherheit hinaus ins Schwesternzimmer. Karin telefonierte sofort mit dem diensthabenden Arzt, nachdem ich sie mit wenigen hastigen Sätzen informiert hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam dieser mit einem Pfleger ins Zimmer gestürmt. Er gab Safya kommentarlos eine Spritze und verschwand dann mit ihr, mitsamt dem Pfleger und dem Bett in Richtung Neurologie.“Na, etwas unterhalten wollen, hätte ich mich schon mit ihr”, meinte Maren irritiert. “Dann war Tareks Traum doch nicht ganz falsch. Er war nur zu früh!”, meinte Adeeba erleichtert.Ich war noch immer kreidebleich und überlegte, wie ich mir das Aufwachen eigentlich vorgestellt hätte in all den Jahren? Es war zumindest anders als erwartet.Und dann taten wir das, was wir all die Jahre geübt hatten. Wir warteten. Irgendwann kam Karin herein und meinte, wir können ruhig gehen. Safya ist nach der Untersuchung in den Aufwachraum gebracht worden. Vor morgen früh würden wir auf der Station ohnehin keine weiteren Informationen bekommen.

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Natürlich war an Schlafen nicht zu denken. Wir versammelten uns alle drei bei uns in der Essecke und sprachen das Erlebnis wieder und wieder durch. Irgendwann stand Adeeba auf und meinte: “Ich bin nicht der Gastgeber, aber ich fühle mich hier wie zuhause. Ihr habt doch bestimmt auch Hunger, oder?” Dann verschwand sie in unserer Vorratskammer und kam mit einem Bündel an Lebensmitteln auf dem Arm zurück. Sie setzte Reis auf und dann fing sie an, an unserem Esstisch Gemüse zu schnippeln. Wir sahen ihr erst zu, dann nahmen wir uns jede selbst ein paar Teile und schnippelten wortlos nebeneinander Gemüsesorten, von denen wir noch keine Ahnung hatten, welches Gericht sie ergeben würden.Adeeba ergriff als erste das Wort: “Dass sie die Augen geöffnet hat und dann auch einen zusammenhängenden Satz gesagt hat, ist ein gutes Zeichen.”Das fanden wir ebenfalls. Mich beängstigte, dass sie dann die Augen wieder geschlossen hatte.“Vermutlich war die Spritze dazu gedacht, dass sie nicht wieder in einen Tiefschlaf fällt”, vermutete Maren.“Dann bewertet ihr die Tatsache, dass sie im Aufwachraum ist, als positiv?”, wollte ich wissen.Beide nickten. “Ich bin geneigt, die Tatsache als positiv zu bewerten. Auch, dass man sie nach der Untersuchung nicht wieder zurückgebracht hat, deute ich so, dass etwas passiert ist. Und nachdem so lange Zeit nichts passiert ist, denke ich, das allein ist schon eine gute Prognose.”In der Zwischenzeit hatte Adeeba einen schmackhaften Gemüseeintopf gezaubert und wir saßen zusammen und aßen und diskutierten noch die halbe Nacht.Irgendwann signalisierte Adeeba dann doch, dass sie aufbrechen wollte und meinte zum Abschied: “Es ist schön, dass man bei Euch solche Ereignisse nicht jede still für sich aushält, sondern sich über diese Gefühle austauschen kann. Das ist nicht überall so in diesem Land und bei Euch fühle ich mich ein bisschen wie zuhause. Darf ich morgen mit euch ins Krankenhaus fahren?”“Heute”, meinte ich mit Blick auf die Uhr. “Und natürlich bist du jederzeit willkommen. Du bist nicht nur eine Kollegin von Maren, sondern auch eine Freundin des Hauses. Und auch Tarek ist willkommen, insbesondere, nachdem er gestern so wunderbare Nachrichten übermittelt hat.”Dann überlegten wir, wieviel Schlaf wir uns gönnen wollten und verabredeten uns für den frühen Vormittag im Krankenhaus.

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