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Kann man eine Geschichte über eine Stadt in Niedersachsen erzählen, die von 'woken' Engeln und Management-Entscheidungen handelt, einem speziellen Problem, das Dr. Luther im fernen Sachsen verursacht, einer unfertigen Burg im fernen Mittelalter, deren Besitzer in Großbritannien Urlaub macht, kupfernen Reitern und ganz viel Schulproblemen? Eine Geschichte, die mit kaputten Schreibmaschinen, Automobilbau und Fußball zu tun hat und einem Schloss, das mehrfach brennt? Sie denken bestimmt, die Autorin hat einen Vogel. Und ja, der spricht! Eine Geschichte, die Leonie durch den Strudel der Braunschweiger Geschichte treiben lässt, und die sie dann doch wieder an den Ausgangspunkt bringt? - Finden Sie es heraus; oder auch nicht. Sie müssen das Buch ja nicht gleich anzünden…
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Seitenzahl: 101
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KiaraBorini
Wassergasse durch die ZeitGesichter Braunschweigs
KiaraBorini
Wassergassedurch die Zeit
Gesichter Braunschweigs
Erzählung
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Kiara Borini
Umschlag:© 2024 Copyright by Kiara Borini
Verantwortlich
für den Inhalt:Kiara Borini
Werder (Havel)
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Für alle, die mich inspiriert haben und mich bei diesem Projekt unterstützt haben!
Es versteht sich von selbst, dass eine Reise durch die Zeit im Reich der Fiktion angesiedelt ist. Nicht alles ist also bereits geschehen oder wird jemals in der erzählten Form geschehen. Nicht alles war so, wie es hier erzählt wird, und manches wird nicht erzählt werden, obwohl es vielleicht doch geschehen ist. Die Grenzen sind fließend; Unschärfe ist das Wesen der Quanten und Schrödingers Katzen in ihren jeweiligen Kartons und Kisten.
Ich habe mich bemüht, eine Geschichte zu erzählen, die vielleicht nicht wahr, aber dennoch nicht gänzlich unwahrscheinlich ist. Mitunter hat mich das, was tatsächlich geschehen ist, inspiriert, in unterhaltsame Worte zu kleiden. Zu anderen Zeiten und auf anderen Seiten sind aber auch die feurigen und weißen Rösser der Niedersachsen mit mir durchgegangen. Man möge mir verziehen haben und es möge sich niemand verletzt gefühlt haben. Dieses wird wahrscheinlich niemals meine Intention gewesen sein werden.
Also von Anfang an…
„Bumm!“, kreischte Leonie. Sie klatschte in die Hände und jauchzte. Unbändige Freude war ihr ins Gesicht geschrieben. Sie war hellwach, obwohl Ihre Mutter sie zwischen Nacht und frühem Morgen jäh aus dem Bett gerissen hatte, nur mit den notwendigsten Kleidungsstücken angezogen und hastig über die Straße in den Keller gezerrt hatte. Wenige Habseligkeiten, Dokumente zumeist und etwas, was an Wertvollem noch übergeblieben war, hatte sie griffbereit zum Mitnehmen bei sich. „Bumm!“ - Alle Anwesenden wirkten betroffen. Den Erwachsenen war im Gegensatz zu Leonie die Angst und Verzweiflung anzusehen. „Bumm!“
Die ersten Worte eines jungen Erdenbürgers werden in aller Regel gebührend gefeiert. Es gibt sogar einen unausgesprochenen Wettbewerb, ob ein „Mama“ oder ein „Papa“ über die Lippen kommt. Über ein „Bumm!“ schien sich niemand zu freuen.
„Papa“ wäre ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich gewesen, denn der steckte seit vielen Monaten in einem Kessel in Russland fest und hatte seine Tochter noch nie im Arm gehalten. In dieser Bombennacht in Braunschweig, etwa zweihundert Tage vor dem nahenden Ende des Zweiten Weltkriegs, war „Bumm!“ das Wort, das Leonie wählte. Die Linien auf den Karten, die sich vor Jahren nach Osten und Westen ausgedehnt hatten, verharrten schon lange an ihren Positionen, oder bewegten sich zurück in Richtung Heimat.
Fremde Kampfgeschwader beherrschten hingegen den Himmel über dieser Heimat und hielten deren Bewohner in stetiger Bereitschaft. In stetiger Furcht, alles zu verlieren; Hab und Gut, Gesundheit und Leben. Dicht gedrängt saß Leonies Mutter zwischen all den anderen Menschen, die bei jedem „Bumm!“ um dieses bisschen Hab und Gut, diese angeschlagene Gesundheit, ihr nacktes Leben und das ihrer jeweiligen Freunde und Familien fürchteten.
Diese Furcht war durchaus berechtigt, denn die Bombardierung dauerte schon deutlich länger als die Angriffe zuvor. Immer neue Ladungen der furchtbaren Waffen wurden abgeworfen, ohne dass auch nur ein Ende abzusehen war.
Seit über einem Jahrzehnt war Braunschweig und die umgebende Region zu einem florierenden Industriegebiet hochgepuscht worden. Luftfahrt, Omnibusbau, Fahrzeugentwicklung, Stahlindustrie; alles lief auf Hochtouren. Statt Pianos fertigte man inzwischen Teile für den Flugzeugbau. Und bot so in dieser Nacht wie andere ähnliche Fertigungsstätten unzählige Ziele. Rings um den Kern der Innenstadt waren in den letzten Jahren zudem Arbeitersiedlungen entstanden, Mustersiedlungen, die von der Überlegenheit der neuen Regierenden und ihrem Volk künden sollten.
Die Stadt hatte es einst gut mit dem Führer gemeint, als er eine helfende Hand benötigte, damit er ein politisches Amt bekleiden konnte. Die Gegenleistung folgte in den Jahren danach. Die Stadt wurde zu einem blühenden Zentrum der Zukunftsindustrie entwickelt. Diese Entwicklung musste nach dem Willen der Briten ungeschehen gemacht werden.
Was aber insbesondere im Visier der Kampfgeschwader lag, war bei diesem Angriff im Herbst 1944 die Innenstadt mit ihren unzähligen, teilweise Jahrhunderte alten, Fachwerkhäusern mit uraltem, trockenem Holz. Es ging an diesem Tag nicht nur um Industrie, die Moral sollte zerstört werden. - Und sie sank mit jedem „Bumm!“.
Denn jedes „Bumm!“ war vermutlich das Aufbäumen eines getroffenen Hauses kurz vor dem Zusammensacken, der Verlust vieler Wohnungen, Hab und Gut und wahrscheinlich auch von Menschenleben. Vierzig Minuten dauerte dieser Einschnitt in die Geschichte der Stadt, die mit einem trotzigen Herzog einst in den Blick Europas getreten war. Fast eine dreiviertel Stunde, in denen zunächst zwölftausendmal „Bumm!“ dafür sorgte, dass es genügend Brennholz gab, für das, was dann folgen sollte.
Die zwanzigfache Menge an kleinen Brandbomben ließ von den alten Fachwerkhäusern kaum noch etwas übrig. Das Wetter war günstig, klar und trocken, und die zerstörte Substanz, das, was die Sprengbomben an Vorlage geleistet hatten, brannte inzwischen dank der Brandbomben lichterloh. In den Schutzräumen machte sich Angst und Schrecken breit. Die Luft war heiß und stickig und das Atmen fiel in diesen schier endlosen Minuten immer schwerer. Die Brände, die überall in der Innenstadt wüteten, mit ihrem enormen Verbrauch an Sauerstoff, raubten den Atem in den Kellern. Gase und feiner Staub sanken in diesen Minuten unaufhaltsam nach unten.
Jedes neue „Bumm!“ von Leonie wurde kläglicher und leiser, bis es irgendwann verstummte. Die Erwachsenen waren so mit ihren jeweiligen Ängsten und Sorgen beschäftigt, dass sie das Verstummen kaum bemerkten; vielleicht sogar mit einer gewissen Erleichterung verzeichneten. Selbst Leonies Mutter dachte nicht daran, wie sonst üblich, ihrer kleinen Tochter durch einen geeigneten Platz ein leichteres Atmen zu ermöglichen. In allen Köpfen war nur ein Gedanke, dieser Feuerhölle zu entkommen. An Leonie dachte zu diesem Zeitpunkt niemand auch nur im Geringsten.
~~~
„Was machen wir mir ihr?“, rief einer aus dem mittleren Management. „Es ist noch nicht ihre Zeit!“
„Wir können sie nicht einfach zurückschicken. Das ist gegen die Regel. Und überhaupt, wohin? Die haben ja gründlich alles kaputtgemacht.
Die Probleme im mittleren Management sind eigentlich ganz einfach zusammenzufassen: Man hat keine Entscheidungsbefugnis, findet aber in der Leitungsebene auch niemanden, der eine Entscheidung treffen will. Schon gar nicht eine, die im Zweifelsfall die eigene Karriere torpedieren könnte.
„Muss ich das Wissen??“, prangte in Bleistift gekritzelt auf einer gelben Haftnotiz an dem Rückläufer der eilends verfassten Anfrage um Entscheidung im Fall der Leonie. Dann stand darunter noch dokumentenecht geschrieben: „Die Regel besagt, dass es keinen bidirektionalen Verkehr zwischen den Ebenen des Seins auf der Erde gibt. Bereits Gestorbene werden nicht eigenmächtig ins Leben zurückgeführt.“
Um dann wieder zum Bleistift zu wechseln.
„Andererseits gilt es unbedingt, an der zugemessenen Lebensspanne festzuhalten. Eigenmächtige Abänderungen in der Berechnung dieser zugewiesenen Spanne, anders als durch die Leitungsebene veranlasst und genehmigt, sind zu unterbleiben!“
„Und nun?“, fragte einer der beteiligten Mitarbeitenden.
Ein generisches Maskulinum war im Himmel schon vor Äonen abgeschafft worden, weil es sich als unpassend herausgestellt hatte. Diese Differenzierung war schlicht nicht zielführend unter Engeln, unter Kleider tragenden Wesen, die sich in ihrer Physis ohnehin nicht sonderlich unterschieden. So lautete zumindest eine als allgemeiner Konsens klassifizierte Meinung. Halleluja!
„Und wenn wir ihr erlauben, alle Erfahrungen eines Erdenlebens zu machen, ohne sie direkt in ihre eigene Zeit zurückzuschicken?“
„Du meinst, sie lebt ihr Leben nicht in ihrer Zeitlinie, sondern an dem ihr ursprünglich zugewiesenen Ort, losgelöst von der ihr zugemessenen Zeitlinie, ohne dass jemand sie künftig lokalisieren kann und somit die Entscheidung uns auf die Füße fällt? Wir tricksen die Prüfer aus?“
„So in etwa - schlagen wir eine Gasse in den Strudel der Zeit. Wie es die Feuerwehrleute in ein paar Minuten getan haben werden, die gerade versuchen, die verzehrende Gewalt der Flammen mit einem Schlauch zu bekämpfen, indem sie allein durch diesen lächerlich geringen Schutz mutig durch die allgegenwärtigen Brände zu den überfüllten Luftschutzkellern vorgerückt sind“, entgegnete der andere Mitarbeitende, selbst erstaunt über die irritierenden Zeitabfolgen im Himmel.
„Das könnte klappen. Etwas verstößt nicht gegen Regeln, wenn es hierfür keine expliziten Regeln gibt. Manchmal muss man improvisieren. Und überhaupt: Prüfer sind auch nur Engel; die können gar nicht alles finden!“
Immerhin musste in diesem Einzelfall schnell eine Entscheidung getroffen werden, denn in besagter Nacht war Hochbetrieb. Schließlich bereitete man sich darauf vor, dass über zwanzigtausend noch in den Bunkern eingeschlossene Seelen, wohlmöglich in dieser Nacht ebenfalls aufgenommen werden müssten.
So konnte man immerhin elegant den ausgesprochenen Wünschen und unausgesprochenen Forderungen des Top-Managements gerecht werden, auch wenn dieses ihnen weder Mittel noch eignete Instrumente zur Umsetzung der Ziele zur Verfügung gestellt hatte. Es war mal wieder nichts geplant worden, es gab kein Briefing oder Kick-Off. Wie es überall war, ist, und sein wird, so war auch in dieser Dimension das „Wollen“ in den oberen Etagen weiter verbreitet, als das „Wissen, wie“ dieses zu erreichen sein könnte, wie auch die Kommunikation darüber, wie Wünsche mit den vorhandenen Ressourcen und Richtlinien in Einklang zu bringen sind. Das aber macht das Zusammenspiel zwischen Himmel und Erde, aber auch im Himmel zwischen den verschiedenen Ebenen, so ausgesprochen energiegeladen. Denn dieses aufgestaute Potential würde sich mit enormer Kraft entladen, käme man wirklich miteinander in einen Dialog.
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Unten auf der Erde, in dieser niedersächsischen Stadt, kämpften unterdessen Feuerwehrleute darum, eine rettende Wassergasse zu bilden und die eingeschlossenen Einwohner der Stadt aus ihren diversen Luftschutzbunkern zu befreien. Zum Glück war es Herbst und es gab genügend Wasser für dieses Vorhaben. Viele der bereits verloren geglaubten Personen konnten so tatsächlich aus dem Feuersturm gerettet werden. Gerettet aus heißen, stickigen Kellern in eine brennende, zerstörte Stadt, die sich dem heraufziehenden Morgen zeigte. Wenig war übergeblieben, was zur Orientierung diente. Selbst Einwohner, die ein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hatten, irrten orientierungslos umher. Die Kraft der Explosionen hatte die Fachwerkbauten dieser mittelalterlichen Stadt zerrissen. Was übergeblieben war, diente dem Feuersturm als Nahrung. Selbst die Verursacher dieses Angriffs waren ob der Schäden überrascht. In ihren Planungen waren sie nicht vor einem derart verheerenden Ergebnis ausgegangen.
Mehr als hundert Meter hoch leuchtete der Turm der Andreas-Kirche mit seinen Flammen gegen diese Wüste aus Asche und Schutt. Er leistete in dieser brennenden Stadt und der allgegenwärtigen Verzweiflung eine vage, gleichsam skurrile Orientierung zwischen den brennenden Schutthaufen.
In den Gebieten, die aktuell nicht brannten, den Parks und Oker-Auen, kauerten die geretteten Menschen und warteten auf den heranziehenden Morgen. Noch war niemandem bewusst, dass es länger als zwei Tage dauern würde, bis dieser Feuersturm über die Stadt hinweggefegt war. Bis man in dieser Stadt wieder würde leben können, bis Häuser und Wohnungen verfügbar waren, würde man nicht in Tagen und Monaten, auch nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten zählen.
Leonie lag im Bett und kreischte seit Stunden. Wie ein Echo ertönte ein ähnliches Kreischen aus den oberen Stockwerken der neuen Burg. Die Burg war noch längst nicht fertiggestellt. Wichtige Entscheidungen für den Baufortschritt waren vertagt worden, als der Herr vor vielen Monaten nach Britannien aufgebrochen war. Es lag Spannung in der Luft. Alte Verbündete drohten zu neuen Feinden zu werden. Es gab Gerangel um die Führung des Reiches.
Mitunter war es ratsamer, sich in fremde Gefahr zu begeben, als in der vermeintlichen Sicherheit des eigenen Reichs umzukommen. Deswegen war der Aufbruch schnell und hektisch gewesen und wenig von langer Hand geplant.
Leonie lag im Bett und um sie herum hantierten Frauen mit Unmengen heißen Wassers und mit Leinentüchern. Von oben drangen, gedämpft, ähnliche Schreie.