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Zeugnisse, die nur aus Noten bestehen, dominieren ungeachtet aller Kritik unser Schulsystem. Es bestehen jedoch durchaus pädagogische Spielräume für eine Leistungsbeurteilung, die sich an Kompetenzen orientiert und im Dialog mit Schüler*innen und Eltern stattfindet. So erhält die Selbstverantwortung der Lernenden und ihre Wertschätzung ein stärkeres Gewicht. Der Band bietet eine Einführung in das Problemfeld, stellt einen neuen Lern- und Leistungsbegriff vor und zeigt Alternativen der Leistungsbeurteilung auf, die analog wie digital genutzt werden können. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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Seitenzahl: 76
Silvia-Iris Beutel / Birgit Xylander
Impulse für den Wandel
Reclam
2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-961953-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014201-1
www.reclam.de
Einleitung: Plädoyer für gerechte Leistungsbeurteilung in einer neuen Lernkultur
1 Der Rahmen: Schule in neuer Lernqualität gestalten
Aktuelle Herausforderungen für die Lernorganisation in Schulen erkennen
Aufgaben für nachhaltiges Lernen entwickeln
Digitale Beteiligung fördern
Leistungsbeurteilung in Teams verändern
2 Der Prozess: Leistung im Wandel verstehen
Leistung im Nachvollzug erbringen
Selbstständig werden und Verantwortung annehmen
Lernen und Leistung als individuellen Prozess verstehen
Demokratisch denken und handeln lernen
Kinderrechte durch Beteiligung sichern
3 Die Aufgabe: Leistungsbeurteilung lern- und entwicklungsgerecht umsetzen
Die Gerechtigkeitsfrage stellen
Reformen national und international beschleunigen
Begleit- und Entwicklungsgespräche pflegen
Mit Forschung Leistungsbeurteilung entwickeln
4 Perspektiven für die Praxis: Spielräume nutzen
Aktuelle Regelungen im föderalen Bildungssystem nutzen
Alternativen erproben
Eltern- und Schüler*innenbeteiligung gewährleisten
Von Praxisbeispielen lernen
In Projekten lernen
Dialogische Lernreflexion mit Instrumenten absichern
Schule gemeinsam schrittweise entwickeln
Von anderen lernen, Eigenes entwickeln
Literaturhinweise
Gesetze und Verordnungen nach Bundesländern
Zu den Autorinnen
Dieser Band ist ein Plädoyer für neue – gerechtere – Formen der Leistungsbeurteilung in der Schule. Dies ist untrennbar verbunden mit der Etablierung einer neuen Lernkultur, die die einzelnen Schüler*innen in den Mittelpunkt stellt. Das Lernen und das Unterrichten verändern sich.
An der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule in Göttingen sorgen ein fächerübergreifendes Medienkonzept und die Grundausstattung aller Schüler*innen mit Tablets nicht nur für eigenaktives Lernen. Beides fördert ebenso kollaboratives Arbeiten sowie kreative und vielfältige Ergebnispräsentationen in Teams mit Filmen oder Fotoserien zu Experimenten. Längst lernen Schüler*innen hier nicht mehr nur von den Erwachsenen. Am Gymnasium Alsdorf wird die kontinuierliche Lernbegleitung über ein Mentor*innensystem geregelt. Das fördert Beziehungssicherheit auf der einen, reflexive Lernplanung auf der anderen Seite und unterstützt jahrgangsübergreifende Kooperationsmöglichkeiten mit anderen Schüler*innen: All dies sind Elemente eines Erfolgsrezeptes. An der Waldschule Flensburg können Grundschulkinder von Anfang an ihren Lernweg nach Kompetenz sowie Schwierigkeit visualisieren und auf diese Weise ihr Lernen selbst navigieren und auswerten. Eine lernprozessbegleitende Elternarbeit kommt hinzu. An der Winterhuder Reformschule in Hamburg ist es in kurzer Zeit gelungen, eine »virtuelle Schule« aufzubauen. Barcamps erweisen sich als [8]gremienunabhängige zeitschnelle Kommunikationsebenen. Die kollegiale Verständigung und technische Unterstützung wird gesichert, so dass für alle Kinder und Jugendlichen eine betreute Lernplanung ermöglicht wird und die Zusammenarbeit der Schülerschaft auf digitalem Wege gut organisiert werden kann. Es zeigt sich fast nebenbei, dass dies eine gute Entscheidung auch für die künftige Personalentwicklung ist. An den Berufsbildenden Schulen Einbeck hat die Verständigung des Kollegiums auf ein abgestimmtes individualisiertes Leistungsverständnis zur Einführung eines Kompetenz-Kompasses geführt, der zu Diagnose, Dokumentation, Lernbegleitung und Feedback in allen Bildungsgängen und Fächern herangezogen wird.
Lernen verändert sich: Für pädagogische Teams wird das Eintreten für eine zukunftsfeste Bildung zum zentralen Handlungsmotiv der Erneuerung. Lernen wird als ausdrucksbezogen, gestalterisch und forschend verstanden. Bei den Lernenden geht es darum, Verantwortung für sich selbst und die Lerngruppe sowie für das eigene Fortkommen und entsprechenden Erfolg zu übernehmen. Diese Grundüberzeugung der Schulen schlägt sich nieder in der Organisation des Lernens, aber auch in der inhaltlichen Themenvernetzung. Die standardisierten Verfahren der Leistungsüberprüfungen belegen den Kompetenzzuwachs (Schratz, Pant & Wischer, 2014). Viele dieser innovativen Konzepte sind in der Präsenzschule erprobt, aber digital tauglich. Als unverzichtbar dafür, Lernen und Leistung zu individualisieren, ebenso aber dafür, gemeinsame Tätigkeiten wieder zu integrieren, erweisen sich schulintern erprobte Wegweiser und Steuerungshilfen. Das können Kompetenzlandkarten, Lernpässe und Logbücher sein, die [9]die Vorhaben begleiten, weil sie für die Planung und die Reflexion gleichermaßen verständlich und nutzbar sind. Es kommt hinzu, dass sie die Identifikation und die Förderung intrinsischer Motivation bei den Schüler*innen gerade deshalb begünstigen, weil die Fremdsteuerung minimiert ist und der Sinnbezug von Aufgaben durch die Vermittlung eigener Lernerfahrungsbezüge gestärkt wird (Beutel & Blum, 2019). Für die positiven Effekte solcher Innovationen sprechen an den exemplarisch genannten Schulen die regen Wettbewerbsteilnahmen und verbindlichen Kooperationen in Projekten mit Bildungspartnern. Es liegt auf der Hand, dass eine solchermaßen erzeugte Lernqualität auch Resonanz in Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung finden muss, indem hier die Bildungsstandards ebenso wie die erreichten Kompetenzen transparent gemacht werden und sich zugleich eine zumindest weitgehend notenfreie Praxis von Unterricht und Lernen etabliert (Beutel & Pant, 2020).
Mit diesem Band möchten wir Mut machen dafür, Schule zu verändern, und Interesse daran wecken, über Lernen und Leistung neu und anders nachzudenken. Wir wollen dazu einladen, sich von Beispielen guter Schulpraxis, gerade auch im Blick auf Leistung und ihre Beurteilung, begeistern zu lassen.
Damit dies gelingen kann, werden wir zunächst im ersten Kapitel Aspekte der aktuellen Bildungsdebatte aufgreifen und damit den Rahmen aufspannen, in dem sich die Frage nach gerechter(er) Leistungsbeurteilung bewegt. Im zweiten Kapitel sprechen wir das Verständnis und den Wandel des Leistungsbegriffs an und fragen nach deren Rolle im Wechselspiel von Demokratie, Lernen und [10]Leistungserbringung. Das dritte Kapitel widmet sich der zentralen Aufgabe: dem Umgang mit Vielfalt, der Initiativkraft von Kollegien, eine neue Lern- und Leistungskultur aufzubauen, sowie den vielfältigen Formen der Leistungsbeurteilung, die über Noten hinausgehen und in eine beteiligende Entwicklungs- und Beurteilungspraxis investieren. In einem abschließenden vierten Kapitel werden wir – vor dem Hintergrund unserer langjährigen Erfahrungen mit Angeboten zur Lehrer*innenprofessionalisierung und Schulentwicklung – Perspektiven dafür aufzeigen, wie Innovationen in der Leistungsbeurteilung systematisch, auf die Einzelschule ebenso wie auf das Schulsystem insgesamt bezogen, angeregt werden können. Wir fragen danach, welche Rolle dabei Teams und Gremien spielen, in welcher Weise der Esprit der Erneuerung das gesamte Kollegium erreichen kann und welche administrativen Möglichkeiten für Veränderungen genutzt werden können. Anhand eines Beispiels wird ein solcher Veränderungsprozess ausführlich beschrieben. Die Autorinnen nutzen dabei ihre jeweiligen wissenschaftlichen und praxisbezogenen Perspektiven.
Innovationen bei der Leistungsbeurteilung sind nötig. Das zeigt ein Blick auf die Herausforderungen, vor denen die Schulen aktuell stehen, prägnanter denn je. Zugleich wird deutlich, dass nachhaltige Verbesserungen in diesem Bereich grundlegendere Reformen in der gesamten Lernorganisation erfordern: Schule muss in neuer Lernqualität gestaltet werden.
Die weltweit ausstrahlende Corona-Pandemie hat seit 2020 nicht nur in Wirtschaft und Gesellschaft, sondern besonders im Bildungswesen zu radikalen und ungeplanten Einschnitten, aber auch zur Einsicht in die Notwendigkeit zukunftsweisender Veränderungen von Schule geführt. Ihre aktuell noch gar nicht vollständig beschreibbaren Folgen, insbesondere solche des Wandels von analogem Präsenzunterricht zu mit digitaler Technik ermöglichtem Distanzlernen, hat ein ganzes Bündel an praxisnahen Erfordernissen aufgezeigt, die an den Kern des tradierten Selbstverständnisses von Schulen gehen. Sie betreffen die Qualität, die Organisation, die motivierende Moderation, die Begleitung von Lernen an verschiedenen Orten und weitere Aspekte der Schule. Eingeführte Formen der [12]Leistungsüberprüfung und -beurteilung werden in Frage gestellt. Sie berühren nicht zuletzt die Angemessenheit und Gerechtigkeit der Notenvergabe, deren Fehlerhaftigkeit die empirische Forschung seit den 1970er Jahren immer wieder beleuchtet (Ingenkamp, 1971; Südkamp, Kaiser & Möller, 2012).
Schon jetzt sind die sozialen Folgen dieser Zeit der langen Schulschließung und der wieder anlaufenden Teilversorgung mit Unterricht im Kontext pandemiebedingter Hygiene und »social distancing-Gebote« sichtbar: »Die aktuelle Corona-Krise verschärft mit jedem Tag ohne Schule vor Ort die bestehende soziale Ungleichheit. Dabei spielt auch die sogenannte digitale Kluft eine Rolle. Entsprechende Erkenntnisse aus vorliegender Forschung unterstützen die Sorge der sich weitenden Bildungsschere« (van Ackeren, Endberg & Locker-Grütjens, 2020, S. 245). Besorgniserregend ist neben den oftmals noch nicht hinreichend technisch-digitalen Bedingungen häuslichen Lernens, dass in Zeiten von Schulschließungen der Schonraum sowie die Möglichkeiten zur Anregung und zur Entfaltung fehlen, die die Schule insbesondere für Schüler*innen aus sozial benachteiligten Haushalten in grundlegender Weise bietet. Es dominiert die Besorgnis um Lernrückstände und aufzuholenden Stoff. Das sollten in Teilen die in vielen Bundesländern angebotenen »Summer-Schools« oder Samstagsunterricht mit betreuten Lernformen auch als Nachholen und Üben auffangen: »Man kann auch übertreiben, wenn man Lernen zum ultimativen Fokus von Schule macht« (Rolff, 2019, S. 52). Genauso wichtig sind Formen informellen und intuitiven Lernens.
Der bildschirmbezogene Schulalltag unter neuen Bedingungen, dies zeigen auch die Ergebnisse der unmittelbar [13]durchgeführten Schulbarometerstudien und Befragungen zu Corona (Deutsche Telekom Stiftung, 2020; forsa, 2020; Huber [u. a.], 2020; Vodafone Stiftung Deutschland, 2020), bedarf der gesicherten Aufnahme und Kontinuität professioneller Beziehung und Begleitung der Kinder und Jugendlichen. Hierfür müssen die Lehrenden Verantwortung übernehmen. Pädagogik ist und bleibt immer auch ein personenbezogenes Handeln zwischen den Beteiligten. Eines ist sicher: Kinder und Jugendliche dürfen nicht sich selbst überlassen sein, auch nicht vor Bildschirmen! Um dies sicherzustellen, muss ein auch digital taugliches Beziehungs-Management an jeder Schule konzipiert und erprobt werden.