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"Lernen ohne Noten" ist ein schulpädagogisch wie bildungspolitisch hoch bedeutsames Thema der Unterrichts- und Schulentwicklung. Es steht im Mittelpunkt der Debatten um Bildungsgerechtigkeit und demokratische Schule. Gesellschaftliche Krisenerfahrungen, das Erleben von Ungewissheit, die Sorge um Lernrückstände, der Einsatz von KI, dies alles verlangt nach neuen Lerndesigns, fachlicher Vertiefung, anderer Lernbegleitung und neuer Prüfungskultur. Es geht dann um eine Praxis der Leistungsbeurteilung, die auf Pädagogischer Diagnostik basiert, die Beteiligung der Lernenden ermöglicht, deren Förderung in einen Wirkungszusammenhang stellt und diesen professionell ausgestaltet. Mit der Vergabe von Noten gehen Ungerechtigkeit, Beurteilungsfehler und die Beeinträchtigungen der Selbstkonzepte von Lernenden einher, entsprechende Befunde sind bereits seit den 1970er-Jahren bekannt. Das Buch möchte Möglichkeiten aufzeigen, wie eine notenfreie Leistungsbeurteilung begründet und in allen Schulformen gestaltet werden kann. Dabei geraten pädagogische Spielräume in Gesetzen und Erlassen in den Blick. Ohne Noten zu lernen bedeutet, formativ-lernförderlich und dialogisch-partizipativ Erfolge für möglichst alle Lernenden auszuweisen, die Zukunftsbedeutung haben.
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Seitenzahl: 322
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Cover
Titelei
Vorwort zur zweiten Auflage
Lernen ohne Noten? Eine Hinführung
Lernen ohne Noten
Leistungsbeurteilung und Kinderrechte
»Leistung« im Deutschen Schulpreis
1 Notengebung, Leistungsprinzip und Bildungsgerechtigkeit
1.1 Lernen, Leistung, Leistungsfeststellung, Leistungsbeurteilung, Noten – einige begriffliche Sortiervorschläge
1.2 »Was ist schulische Leistung?«
1.3 Noten und Fairness
1.4 Leistungsprinzip, meritokratisches Versprechen und Bildungsgerechtigkeit
1.5 Welche Bildungsgerechtigkeit wir wollen, entscheidet darüber, welche Leistungsbeurteilung wir brauchen?
2 Notenunabhängige Leistungserfassung und -beurteilung: Ansätze und Effekte
2.1 Ansätze zu notenunabhängiger Leistungserfassung und -beurteilung
2.2 Alternative Ansätze zur Leistungserfassung
Portfolios
Lerntagebücher
Präsentationen
2.3 Alternative Ansätze zur Leistungsbeurteilung
Verbalbeurteilungen
Rasterzeugnisse bzw. Beurteilungsraster
Lernentwicklungsgespräche
2.4 Empirische Befunde zu Effekten von Noten und notenunabhängigen Systemen
2.5 Akzeptanz bei Schüler*innen, Lehrkräften und Eltern
2.6 Effekte auf die Motivation und das Fähigkeitsselbstkonzept von Schüler*innen
2.7 Effekte auf schulische Leistungen
2.8 Überblick zu den wichtigsten Erkenntnissen
3 Zukunftsfähiges Lern- und Leistungsverständnis an Schulen
3.1 Qualitäts- und Entwicklungsmerkmale
3.2 Zukunftsthemen und neue Leistungskonzepte
3.3 Mehrdeutigkeit und Nachhaltigkeitsziele
3.4 Demokratieerfahrung und Selbstnavigation
3.5 Notenvergabe und neue Prüfungskultur
4 Lernförderliche Leistungsbeurteilung an Preisträgerschulen
4.1 Leistungsbeurteilung
4.2 Kommentar: Inklusive Schule und Notenfreiheit
4.3 Individualisierung und Schule
4.4 Kommentar: Individualisierte Lernstrukturen
4.5 Schulentwicklung
4.6 Kommentar: Demokratische Bildungskultur
4.7 Leistungsbeurteilung als Beitrag zur Demokratieerziehung
5 Implementation alternativer Konzepte der Leistungsbeurteilung
5.1 Blick in die Schulen: German International School Boston
5.2 Blick in die Schulen: Jenaplan-Schule Jena
5.3 Blick in die Schulen: Matthias-Claudius-Schule Bochum
5.4 Lernbegleitung kontextualisieren und gestalten
5.5 Fortbildungsbasierte Etablierung und Verstetigung einer förderorientierten Leistungsbeurteilung
6 Lernen ohne Noten verändert Schule – Zwischenstand in einem Entwicklungsprozess
6.1 Lernorganisation, dialogische Diagnostik und Kommunikation
6.2 Pädagogisches Grundverständnis
6.3 Professionalisierung, Implementation und Bildungsgerechtigkeit
Literatur
Verzeichnis der Autor*innen
Die Autorin und der Autor
© David Weyand
Silvia-Iris Beutel ist Professorin für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik an der TU Dortmund und Jurorin des Deutschen Schulpreises.Hans Anand Pant ist Professor für Erziehungswissenschaftliche Methodenlehre an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor der Abteilung Fachbezogener Erkenntnistransfer am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel.
2., überarbeitete Auflage
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Umschlagsabbildung: iStock.com/RomoloTavani2., überarbeitete Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-045031-8
E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-045032-5epub:ISBN 978-3-17-045033-2
Silvia-Iris Beutel, Hans Anand Pant
Mit dieser zweiten Auflage unseres Bandes »Lernen ohne Noten« möchten wir die anhaltende Nachfrage nach alternativen Konzepten der Leistungsbeurteilung aufgreifen, diese weiter begründen und hierzu aktuelle Erfahrungen aus der Praxis aufzeigen, die aus der Beschränkung auf die Vergabe von Ziffernnoten und einer Fixierung auf Tests und Klassenarbeiten herausführen.
Die im Vergleich zur ersten Auflage des Bandes vorgenommenen Aktualisierungen und Ergänzungen spiegeln wider, dass sich die Diskussion um die Veränderung von Leistungsbeurteilung im Sinne der Suche nach Alternativen stark dynamisiert hat und neue Akzente gegenwärtig sind. Zudem wird berücksichtigt, dass sich auch die Praxis der am Wettbewerb des Deutschen Schulpreises beteiligten Schulen, deren Förder- und Leistungskonzepte an vielen Stellen in diesen Band einfließen, mit Blick auf Begrifflichkeiten und Konzepte neu ausgerichtet und weiterentwickelt hat. Im Rahmen der Vorbereitung der zweiten Auflage wurden zudem an vielen Stellen des Bandes die Bezüge zu Quellen und Materialien aus Forschung und Praxis überarbeitet, ergänzt und auf den aktuellen Stand gebracht.
Auch an dieser zweiten Auflage haben Juror*innen des Deutschen Schulpreises sowie Kolleg*innen aus Preisträgerschulen und nominierten Schulen mitgewirkt. Wir bedanken uns ganz herzlich bei:
Yvonne Aust, Heinrich Brinker, Mirko Czarnetzki, Heike Draber, Maike Drewes, Eva Espermüller-Jug, Helke Felgenträger, Simone Fleischmann, Dr. Michaele Geweke, Michael Halberstadt, Dr. Petra Hoppe, Ulrike Kegler, Kathi Kösters, Dr. Wilfried Kretschmer, Ramona Lau, Henriette Lehmann, Meike Ludzay, Alexandra Mangold, Martha Michalec, Stefan Osthoff, Andrea Rahm, Barbara Riekmann, Jasmin Root-Joswig, Tobias Rottländer, Heike Schmidt-Heineck, Funda Suzan, Eike Völker, Sybille Wahl, Maren Wiederrecht, Holger Wirtz und Matthias Wysocki.
Ebenso herzlich bedanken wir uns bei Martin Goy, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik (IADS) an der TU Dortmund, der neben seiner inhaltlichen Mitwirkung an diesem Band auch dessen Redaktion übernommen hat, sowie bei Viktoria Drees, wissenschaftliche Hilfskraft am IADS, die die redaktionellen Arbeiten unterstützt hat.
Silvia-Iris Beutel und Hans Anand Pant, im Sommer 2024
Silvia-Iris Beutel, Hans Anand Pant, Martin Goy
Gute Schulen zeigen, wie es gehen kann: An der Hermann-Brommer-Schule in Merdingen/Baden-Württemberg, nominierte Schule des Deutschen Schulpreises (DSP) 2023, hat ein langjähriger Prozess der Schulentwicklung zur Umstrukturierung der Lernorganisation in die Jahrgangsmischung eins bis vier und zur konzeptbasierten Inklusion geführt: Multiprofessionelle Teamkompetenz, die Sicherung von Unterrichtsqualität und die Schaffung von Partizipationsangeboten für die Schüler*innen spielen dabei eine große Rolle für erfolgreiches Gelingen. Zu den Steuerinstrumenten der Unterrichtsentwicklung gehören formelle und informelle diagnostische Instrumente und Verfahren, zugleich korrespondieren regelmäßige Lernberatungen für die Schüler*innen mit der Evaluation des jeweiligen Unterrichts und seiner Verbesserung. »Das Wohlergehen des Kindes ist das Wichtigste hier«, so ist im Kollegium zu hören. Die Schule zeigt in Bezug auf Lernergebnisse ein systematisches, aber ebenso beteiligendes Vorgehen. Die Kinder entscheiden über den Zeitpunkt der Leistungsfeststellung. Im Lernbegleitheft wird das ganze Schuljahr lang der von den Kindern selbst wahrgenommene Lernerfolg festgehalten (»Das habe ich heute gelernt«) und nach Deutsch, Mathematik und Lesen differenziert, auch was die anschließenden Hausaufgaben anbelangt. In Sprechstunden wird danach gefragt, wie es dem Kind in der Schule und zuhause geht, was ihm gut gelingt, woran es noch übt und welches Ziel es vor sich hat. Was und wer dabei hilft, das Ziel zu erreichen, wird gerade auch in Bezug auf die Eltern festgehalten. Wie Feedback gegeben wird, findet sich auch im Lernbegleitheft, aber auch, wie man Feedback bekommt: »Ich höre genau zu. Ich frage nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Ich rechtfertige mich nicht. Ich frage mich: Was will ich ändern?«. Die Kinder finden im Lernbegleitheft ebenfalls: den Lernbaum zu den methodischen und personellen Kompetenzen, die Medienlandkarte, den kleinen und großen Lernkoffer Deutsch sowie die kleine und große Lernleiter Mathematik. Die Überprüfung von Leistungen findet in den »Könnernachweisen« mit Hilfe von Visualisierungen in vier Abstufungen statt. Noten in den Halbjahresinformationen der dritten Klasse werden durch Lernentwicklungsgespräche ersetzt. Grundsätzlich ist die Schule der Auffassung: »Eigentlich könnten wir sofort ohne Noten arbeiten« (zur Lernorganisation an der Hermann-Brommer-Schule siehe auch S.-I. Beutel, 2023).
Bei der Gesamtschule Münster Mitte/Nordrhein-Westfalen, Preisträgerschule des DSP 2021, fällt schon auf der Homepage das Credo der Schule ins Auge: »Wir möchten, dass jedes Kind seine eigene ›Erfolgsgeschichte‹ schreibt« (https://gesamtschule-muenster.de/about/). Damit dies gelingt, ist Lernen mit Plan, Begleitung und mit dem Zutrauen zu den Schüler*innen verbunden, es selbst planen und moderieren zu können. Im digitalen, während der Pandemie-Zeit erprobten, wie auch im analogen Unterrichtssetting ist es dabei von großem Gewinn gewesen, dass die Materialien kollegial gemeinsam erstellt wurden und digital verfügbar sind. Schüler*innen konzentrieren sich auf ihr Pensum in individualisierten Plänen und öffnen ihre Aufgabenagenda für kooperatives Arbeiten zugleich. Inputphasen leiten zur Eigenzeit über, die ein Zeitkorridor für Bearbeitung, Vertiefung, weitergehende Recherchen ist. Eingestellte Erklärvideos und digitale Lernerfolgsüberprüfungen können genutzt werden. Die an Schulen vielfach schon eingesetzten Logbücher als Planungs-, Dokumentations- und Reflexionsinstrument sind – und dies ist ein Mehrwert im digitalen Format – auch für ein selbstnavigiertes Lernen außerhalb der Schule nutzbar. Verlässliche Beziehungen und wechselseitige Aufmerksamkeit in der Kommunikation werden so gesichert.
An der Paula-Modersohn-Schule Bremerhaven, nominierte Schule des DSP 2022, erweist sich der jahrgangsübergreifende Kompetenzrasterunterricht als hochgradig innovativ und individualisierend. Er verbindet sich mit den Kompaktkursen, die sich an Schüler*innen im gleichen Lernjahr richten und die hierfür vorgesehenen Bildungsthemen behandeln. Schüler*innen sollen hier lernen, ihren Rhythmus zu finden sowie Vertrauen in sich selbst und ihre Leistungen zu erfahren. Individuelles Tun sowie Lernen und Leistung in der Sozialität der Gruppe und im Austausch mit dieser werden zusammengeführt. Der Kompetenzrasterunterricht stiftet ein lernfreundliches Klima mit kreativen Lern- und Denkinseln (bspw. ein Holzzirkuszelt für Rückzug und Kleingruppe) und ein Material- wie Gemeinschaftsangebot, das Schüler*innen befähigt, eigene Lernvorhaben zielgerichtet zu verfolgen. Damit dies gelingt, bedarf es eines Bordbuches auf der »Paula«. Wie auf einem Schiff muss man selbst an Bord gehen, den Kurs mitbestimmen, Segel setzen, auf den Mannschaftsgeist vertrauen. Das Bordbuch steht dabei für Vieles: Es ist Hausaufgabenheft, Planungs- und Kontrollinstrument, Selbsteinschätzungshilfe, Beratungsdokument und Kalender. Lern- und Lebenswelt stehen dabei immer in enger Verzahnung. Das Kontextualisieren von Gelerntem gelingt zudem, weil Brückenerfahrungen in die außerschulische Welt (z. B. in Form von Wochenmarktstand, Imkerei oder digitalem Kinderstadtplan) reguläre Erfahrung sind. Die Lernplanung ist transparent, in der Schrittigkeit und im Tempo jeweils angepasst, zu absolvierende individuelle Tests und Einschätzungen von Leistungsnachweisen gehören dazu. Leistungsstarke Schüler*innen haben die Option, Kompetenzziele höherer Lernjahre zu erreichen sowie regelmäßig zu überprüfen, und können ihre Schulzeit um ein Schuljahr verkürzen. So ist im Pädagogischen Konzept der Schule, die als Oberschule einem weiten Inklusionsbegriff folgt, zu lesen:
»Diese Schüler*innen verlassen die Schule jedoch nur mit erfolgreich bestandener Abschlussprüfung und Versetzung in die GyO. Besonders ist, dass diese Schüler*innen keinen zusätzlichen Unterricht erhalten, sondern die vorhandene Lernzeit intensiver und effektiver nutzen. Über die individuellen Lernverträge kann ein ›Vorauslernen‹ organisiert werden« (Paula-Modersohn-Schule Bremerhaven, 2021, S. 4).
Visualisierungen gehören zu den Lernwegen: Welche Kompetenzen sind zu bearbeiten? Wann sollte ich einen Test ablegen? Welches Material, welche Beratung benötige ich heute? Die Sicherung der Unterrichtsqualität ist eine präsente Aufgabe, die auch in Zeiten des Lehrer*innenmangels ein stetiges Onboarding auch anderer Professionen ermöglicht (S.-I. Beutel & Ruberg, 2021). Vorteil: Das inklusive Gesamtkonzept bleibt Teamaufgabe, dessen Qualität ist Ergebnis eines intensiven und fortlaufenden Entwicklungsprozesses. Die Notenvergabe steht hier bis weit in die Sekundarstufe I hinein nicht im Vordergrund.
Die Investition in die Leistungsstärke der Schulen einerseits und damit einhergehend in die der Kinder und Jugendlichen andererseits ist ein entscheidendes Merkmal von Schulen, die mit den Möglichkeiten formativer Leistungsbeurteilung qualitätsvoll umgehen. Lernen wird individualisiert, differenziert, flexibilisiert und partizipativ gestaltet, was einschließt, dass die Schüler*innen auch selbst entscheiden und begründen, was eine Leistung ist und ausmacht (S.-I. Beutel, 2024; S.-I. Beutel & Ruberg, 2024). Dies betrifft auch eine darauf abgestimmte neue Kultur der Prüfungspraxis:
»Zeitgemäße Prüfungsformate sind [...] unter anderem Formen, welche die Prüfungsdauer und -orte flexibilisieren, mehr Mitsprache und Hilfen erlauben, mehr offene und differenzierte Aufgaben einsetzen und eine Prozessbewertung ermöglichen« (Haverkamp, 2023, S. 10).
Die Potenziale einer solchen Praxis haben inzwischen Reichweite und verbindlichen Eingang in Gesetze und Erlasse fast aller sechzehn Bundesländer in Deutschland erzeugt (S.-I. Beutel & Xylander, 2021a). Dazu beigetragen haben die Rezeption internationaler Erfahrungen im Umgang mit lernförderlicher Leistungsbeurteilung (Falkenberg, 2023), ein ausdifferenzierter Forschungsstand, die Angebotspräsenz von Kurzzeit- und Langzeitfortbildungen wie sie beispielsweise im Rahmen des Deutschen Schulpreises/Deutschen Schulportals angeboten werden, aber auch Handreichungen der Länder und Diskussionsforen in öffentlich-rechtlichen Medien und Social Media (z. B. YouTube-Podcasts, Tagesgespräche mit Zuschauerzuschaltung oder Beiträge für LinkedIn).
Ein Blick auf die aktuelle Entwicklung in den Bundesländern zeigt, dass die Einführung von Alternativen der Leistungsbeurteilung variantenreich für den Grundschul- und Sekundarstufe I-Bereich realisiert werden kann. Es finden sich Abweichungen von Ziffernzensuren durch verbale Ergänzungen oder Punktesysteme für einzelne Jahrgänge bis hin zum vollständigen Ersatz, sodann Berichtszeugnisse statt Notenzeugnisse, zudem der Ersatz der Zwischenzeugnisse durch Lernentwicklungsgespräche. Insgesamt bleibt der Eindruck: Noten sind weiterhin präsent, werden auch parallel geführt oder bis maximal zum Ende der achten Jahrgangsstufe ausgesetzt. Alternativen der Leistungsbeurteilung gelten als erläuternd und gleichberechtigt mit ziffernausweisenden Zeugnissen. Nachfolgend sollen zwei Beispiele für Netzwerkarbeit im Schulversuch einerseits und für bildungspolitische Positionierungen und Veröffentlichungen andererseits genannt werden:
Am Hamburger Schulversuch alles>>könner zu ziffernlosen Zeugnissen (2008 – 2021) sind 47 Schulen (33 Grundschulen, 11 Stadtteilschulen und 3 Gymnasien) beteiligt und haben sich in den Phasen ihrer Zusammenarbeit und der Evaluation dieses Schulversuchs mit der systematischen Entwicklung kompetenzbasierten Unterrichts mit Konzepten und Rückmeldeformaten, mit fachspezifischen Standards für lernförderliche Rückmeldungen sowie mit Qualitätskriterien für ein umfassendes Rückmeldesystem als gemeinsame Grundlage beschäftigt.
Die Evaluation des Schulversuchs zeigt entlang der Daten der Eltern-, Schüler*innen- und Lehrer*innenbefragung großes Einverständnis mit dem Wechsel der Beurteilungsform und seinen Gelingensbedingungen auf: »Um alternative Zeugnisformate und ein kompetenzorientiertes Rückmeldesystem einsetzen zu können, ist eine gute Passung zwischen allen Instrumenten sowie der Unterrichtsgestaltung und -entwicklung wichtig. Für den Transfer eignet sich nach Aussage der Befragten vor allem die gezielte Hospitation« (Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Schule und Berufsbildung, 2022, S. 59). Hierzu gibt es eine den Einsatz von Instrumenten und Verfahren formativer Leistungsbeurteilung begründende und veranschaulichende Broschüre: https://ifbq.hamburg.de/wp-content/uploads/sites/803/2024/03/broschuere-2022-dl.pdf
Die mehrdimensionale Anlage zum einen und die geteilte Verantwortung durch Beteiligung zum anderen stabilisiert den Erfolg und kann als Beispiel für andere Bundesländer dienen. Hervorzuheben sind ein hohes Commitment in der Netzwerk- und Einzelschulgemeinschaft, der Einbezug wissenschaftlicher Erkenntnisse, Vergewisserungen über den gelungenen Adressat*innenbezug (Schüler*innenbefragung) sowie die Verbindung von Konzeptsicherheit und kollegialer Praxis (Lehrer*innenbefragung/Interviews). Darüber hinaus berücksichtigt der Schulversuch, die Implementation durch Evaluation kritisch zu stützen, Eltern als Bildungspartner*innen zu befragen und Öffentlichkeit für den Transfer zu nutzen. Altenburg-Hack (2022) konstatiert hierzu: »Dem Schulversuch ist es gelungen, einen systematischen Zusammenhang zwischen Unterrichtsentwicklung, Lernkultur, Rückmeldesystem und Organisationsstrukturen herzustellen« (S. 4).
Ein weiteres Beispiel langjähriger bildungspolitischer Aktivität und medialer Präsenz im Bereich der Einführung eines neuen zukunftsweisenden Lern- und Leistungsbegriffs sowie notenfreier Beurteilung ist der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV). In der jüngst erschienenen Broschüre Lernen und Leistung im 21. Jahrhundert (online verfügbar unter: https://www.bllv.de/fileadmin/user_upload/BLLV_Praxisimpulse_online_final.pdf), die in Beiträgen im Feld aktive Wissenschaftler*innen ebenso berücksichtigt wie in Schule Verantwortliche und deren Praxisexpertise zur formativen Leistungsbeurteilung aufgreift, heißt es:
»Es hat sich gezeigt, dass Schule so viel mehr ist, als ein Ort des puren Lernens und Prüfens – dass Unterricht viel mehr beinhaltet, [sic] als die Vermittlung fachlichen Wissens und dessen Abfrage. All das ist keine neue Erkenntnis, wurde aber in der Zeit des Distanzunterrichts zur glasklaren Gewissheit. Nun gilt es, diese Erfahrungen zu evaluieren und für die Praxis aufzubereiten, denn nur eine enge Kooperation von schulischer Praxis und Bildungsforschung kann eine positive Lern- und Leistungsentwicklung beflügeln« (Fleischmann & Dittmer-Glaubig, 2022, S. 5).
In dem jüngst vom BLLV initiierten Symposium »Bildung 2030 – Schule in der Zeitenwende«, einer Zusammenkunft von Akteur*innen aus Bildungswissenschaft, Journalismus und Schulpraxis, ist der Innovationsstau an Schulen in vielen Entwicklungsdimensionen thematisiert und im Rahmen der auf diesem Symposium erarbeiteten »Münchener Erklärung« in Handlungsempfehlungen gewendet worden. In dieser Erklärung werden zentrale Aspekte dringlicher Handlungsnotwendigkeit im Bildungssystem im Sinne der Stärkung von Demokratie und Nachhaltigkeit sowie Kultur der Digitalität und KI benannt: Organisation und Schulentwicklung, Lehrer*innenbildung sowie Lern- und Leistungsbegriff. Hierzu heißt es: »Das notengetriebene Schulsystem ist angeblich nach dem Leistungsprinzip ausgerichtet. De facto betreibt es Auslese, fördert Bildungsungerechtigkeit und legitimiert soziale Ungleichheit« (Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband, 2023, S. 11).
Es braucht ein neues Verständnis von Leistung!
Künstliche Intelligenz wirkt sich auf die schulischen Bildungsprozesse aus. In wenigen Sekunden können Schülerinnen und Schüler umfangreiche Texte generieren oder sich ihre Hausaufgaben von Anwendungen wie ChatGPT schreiben lassen. Die Aussagekraft von Noten wird dadurch einmal mehr stark begrenzt und herkömmliche Prüfungsformate werden auf die Probe gestellt. Werden moderne pädagogische Praxis und bildungswissenschaftliche Erkenntnisse vor dem Hintergrund der Digitalisierung zusammen gedacht, dann wird schnell klar: Noten können die Komplexität individueller Lernprozesse nicht abbilden und digitalen Entwicklungen nicht standhalten. Vielmehr braucht es lernförderliche sowie formative Rückmeldungen auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Lernen ohne Noten? Unbedingt!Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV)
Die Leistungsbeurteilung mit und ohne Ziffernnoten bleibt ein Politikum und eine Reizflanke in der Diskussion um die moderne Schule. So zeigt eine aktuelle Umfrage von infratest dimap im Auftrag der Nordsee-Zeitung und von Radio Bremen: »Die Mehrheit der Wähler im Land Bremen will Schulnoten zurück: 68 % der Befragten sprechen sich für Ziffern im Zeugnis aus« (Nordsee-Zeitung [NZ], 21. 4. 2023).
Notenfreie Leistungsbeurteilung erzeugt Klärungsbedürfnisse über ihre Bedeutung, den notwendigen Wandel und Spielräume einer gestaltungsbereiten qualitätsvollen Praxis. Wenn wir über die Schule als biographische Erfahrung in unserer Gesellschaft nachdenken, werden sich diese beiden Grundelemente der Schule – Leistungsbeurteilung und Notengebung – zwangsläufig verbinden. Lernen, Leistungserbringung und Notengebung erscheinen dabei als eine Einheit, zumindest können Leistungserbringung und Notengebung als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden. Dieses Begriffs- und Konzeptpaar ist in der Erfolgsgeschichte der modernen Schule ein kennzeichnendes und auffallend stabiles Merkmal und zugleich bis heute ein anhaltender Streitpunkt in den pädagogischen Reformdebatten sowie in der Bildungspolitik. Als Streitpunkt bindet und trennt es zugleich zwischen zwei elementaren Funktionen und Aufgaben der Institution Schule: dem individuellen Anspruch jedes Kindes und Jugendlichen auf Förderung und dem staatlichen Berechtigungswesen, das schulischen Lernerfolg mit der Aspiration weiterer staatlich finanzierter akademischer Bildungsleistungen und einem möglicherweise höheren Berufs- und Lebenserfolg verknüpft. Ungeachtet einer im deutschsprachigen Raum inzwischen über fünfzigjährigen erziehungswissenschaftlichen Forschungstradition zu den Noten, den Zeugnissen und den Schulabschlüssen sind diese idealtypischen institutionellen Funktionen und Leistungen der Schule bis heute der Dreh- und Angelpunkt von Anerkennung und Misserfolg beim Schulbesuch und in jeder Bildungsbiographie. Zwischen Erfolg und Versagen, Fairness und fehlender Gerechtigkeit, Subjektivität und Sachbezogenheit bewegen sich die Wahrnehmungen und Zuschreibungen der Menschen zur schulischen Leistungsbeurteilung mit Ziffernnoten. Häcker (2020) bemerkt hierzu:
»Die einen heißen Schulnoten wegen des Versprechens der Leistungsgerechtigkeit und ihrer damit verbundenen Hoffnung auf Statuserhalt oder -erhöhung gut. Bei den anderen, den gesellschaftlichen Eliten, haben Schulnoten deshalb immer schon eine große Akzeptanz, weil sie verstanden haben, dass nichts die Sozialstruktur einer Gesellschaft verlässlicher reproduziert als der Glaube an die Objektivität von Schulnoten einerseits und der Glaube an den Mythos, es gäbe so etwas wie individuell zurechenbare Leistungen, andererseits« (S. 28 f.).
Zeugnisse und Noten gelten bis heute als die entscheidende »Währung« schulischer Bildungsergebnisse. Dabei dominiert die Überzeugung, dass die Beurteilung schulischer Lernleistungen bei den Schüler*innen durch die anscheinend objektive oder wenigstens objektivierbare Ziffernbenotung von sich aus eine valide Beschreibung von Lernen und damit die Berechtigung des Vergleichs begründet – im bundesdeutschen Berechtigungswesen etwa beim Zugang zu den durch den Numerus Clausus begrenzten Hochschulstudiengängen.
Im Fokus der aktuellen pädagogischen Debatten in Wissenschaft und Praxis zur Leistungserbringung und Leistungsförderung in der Schule stehen verschiedene Fragestellungen. Das sind vor allem das Zusammenspiel der Qualität von Lehren und Lernen, die Individualisierung von Lernen und Bildung, die Inklusion, die Förderung von Resilienz und die gesellschaftlich funktionale Integration der Kinder und Jugendlichen in die Demokratie, die Berufswelt und den Markt in einer offenen Gesellschaft in Freiheit und Verantwortung. Vor diesem Hintergrund stellt der neuere Diskurs zu differenzierenden Formen der Leistungsbeurteilung die Lernenden als Akteur*innen ihrer Bildungswege in den Mittelpunkt. »Lernen ohne Noten« ist dann zwar das Stichwort, gemeint ist dabei jedoch nicht das prinzipielle Abschaffen von rationalisierten Formen der Leistungsbeurteilung, sondern eine besonders effiziente Form der Förderung des Lernens durch Verständigung und Mitverantwortung der Lernenden für ihren Erfolg und die hierfür notwendige Motivation und Kommunikation – die dann nach differenzierten Formen der Rückmeldung und Verständigung fragt und damit vorzugsweise über Sprache stattfinden soll (Langela-Bickenbach, Dreier, Wampfler & Albrecht, 2024). Denn ebenso klar wie die Tatsache, dass Noten nur scheinbar valide und objektiv sind, dürfte auch die These sein, dass ein »Lernen ohne Noten« nicht in einen vermeintlichen Schonraum ohne Leistungsanforderung und zu unverbindlicher Gleichmacherei führen muss. Eine Gesellschaft, die Vielfalt als Wesensmerkmal kultiviert, benötigt Konkurrenz, unterschiedliche Leistungsartikulation sowie damit zusammenhängend Erfolg und Misserfolg – auch dies müssen Kinder und Jugendliche lernen, das kann die Schule als Schonraum nicht fernhalten. Es geht also nicht um die Alternative zwischen »harten« und »weichen« Formen der Leistungsbeurteilung, sondern um die Frage nach der sachbezogenen Effizienz der für diese zentrale schulische Aufgabe gewählten Formen, die sich im professionellen Vollzug in der Schule als angemessen erweisen müssen. »Lernen ohne Noten« ermöglicht es aus dieser Perspektive im Idealfall, Schüler*innen einen inklusionsstarken Partizipationsraum zu eröffnen und mitzugestalten, indem ein positives Konzept von Lernen und Leistung zugrunde gelegt und als lebenspraktisch wirksame Handlungskompetenz gefördert wird.
Eine solche Form leistungsförderlicher und auf Beteiligung setzender notenfreier Leistungsbeurteilung ist anspruchsvoll in der Anlage, Konzeptverbindlichkeit und Anwendung. Lerndiagnose und Leistungsbeurteilung müssen in schulischen Kollegien als Berufskompetenz vorausgesetzt und im Verlaufe der Berufsausübung stetig und standardbezogen gepflegt werden. Dabei spielen aktuelle und innovative Konzepte der Kompetenzmessung sowie eines professionalitätsstärkenden und systematisch in die Schulentwicklung integrierten Schüler*innen-Feedbacks eine tragende Rolle. Eine solche Beurteilungspraxis in der Schule zu etablieren, hat mehrere Voraussetzungen und Konsequenzen:
Es bedeutet erstens, eine systematisch entfaltete, diagnostisch (mit Blick auf die Lernenden) wie didaktisch (mit Blick auf das Lernen) ausgewiesene Lernbegleitung von Schulbiographien kollegial zu ermöglichen, stetig zu reflektieren und langfristig zu kultivieren – von der Bezugsnormanwendung bis zur kritischen Reflexion der eigenen schulischen Leistungsbiographie.
Dazu sind zweitens vielfältige Instrumente und Verfahren einer entwicklungsförderlichen Beratungskultur erforderlich, die Fortschritte und Hinweise beinhaltet und Kinder und Jugendliche narrativ anregend und auffordernd anspricht, ihrer Perspektive Beachtung und Einfluss zuspricht. Eine entwicklungsgerechte Leistungsbeurteilung ist ohne kommunikative und substanzielle Beteiligung der »Beurteilten« nicht realisierbar. Formative Leistungsbeurteilung wird dann Teil von Sprachbildung und Demokratielernen.
Drittens muss das Repertoire formativer Leistungsbeurteilung in den jeweiligen Handlungs- und Professionskontext der Schulen passen, deren Standortqualität ausweisen und anschlussfähig sein für Bildungsübergänge und für Bildungsangebote in außerschulischer projektbezogener Kooperation.
Viertens müssen insbesondere Schulleitungen und das mittlere Management entwicklungsengagiert sein und für einen nachhaltigen Schulentwicklungsprozess eintreten, in diesem Rahmen Prozesse operationalisieren sowie implementieren und für ergebnisbezogene Effizienz sorgen. Der Aufbau kollegialer Teams, die Ermöglichung kooperativer Arbeit, Zeitmodelle sowie Fortbildung in Netzwerken und beratende Begleitung gehören dazu.
Eine so konzipierte Beteiligungspraxis setzt bei den Schüler*innen u. a. eine entsprechend entwickelte Lesekompetenz voraus, um beispielsweise Leistungsrückmeldungsformate wie schriftliche Verbalbeurteilungen sinnentnehmend lesen und schlussfolgernd verstehen zu können. Diese Anforderung lenkt den Blick auf aktuelle Befunde der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU 2021), denen zufolge rund ein Viertel (25,4 %) der Schüler*innen in Deutschland am Ende der Grundschulzeit nicht die Kompetenzstufe III erreichen und somit kaum ausreichende Lesekompetenzen für das weitere schulische Lernen in allen Fächern und eine altersadäquate, aktive schulische und gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation erworben haben (Lorenz, McElvany, Schilcher & Ludewig, 2023). Im 20-Jahres-Trend der bislang insgesamt fünf IGLU-Studienzyklen hat sich dieser Anteil der Leseschwachen seit der ersten Studie im Jahr 2001, bei der knapp 17 % der Schüler*innen nicht die Kompetenzstufe III erreichten, signifikant und relevant vergrößert, was nicht allein auf eine Zunahme der Heterogenität der Schüler*innenschaft oder auf potenzielle, durch die Corona-Pandemie bedingte Kohorteneffekte zurückzuführen ist (Frey et al., 2023). Analysen im Rahmen der Berichtslegung zu IGLU 2016 weisen in diesem Kontext zudem aus: Während sich der Anteil an leseschwachen Kindern von IGLU 2011 zu IGLU 2016 vergrößert hat (von 15,4 % auf 18,9 %), hat sich der Anteil derjenigen Kinder, denen die im Rahmen dieser Studien befragten Lehrkräfte einen Förderbedarf im Bereich Lesen attestieren, verringert (von 23,1 % auf 16,8 %; Bremerich-Vos, Stahns, Hußmann & Schurig, 2017). Die Lehrkräfte haben sich bei ihrer Einschätzung somit als Referenzrahmen wohl eher an der Leistungsverteilung in ihrer jeweiligen, an IGLU teilnehmenden Schulklasse orientiert, wie sie sich ihnen beispielsweise aus Klassenarbeiten erschließt, als an einer inhaltsbezogenen bzw. kriterialen Norm, wie sie beispielsweise der Rückmeldung von Leseleistungen im Rahmen von Vergleichsarbeiten zugrunde liegt (ebd.), denn bei gleichem kriterialem Maßstab hätten sie 2016 mehr – und nicht weniger – Kindern einen Förderbedarf bescheinigen müssen (Bos, Valtin, Hußmann, Wendt & Goy, 2017). Vor diesem Hintergrund kann eine systematische Verknüpfung einer datenbasierten und an verbindlichen Referenzrahmen bzw. Standards orientierten Individualdiagnostik mit gezielter Leseförderung im Rahmen von empirisch als wirksam belegten Konzepten und Ansätzen, wie sie u. a. im Rahmen der Berichterstattung zu IGLU 2021 gefordert wird (McElvany et al., 2023), auch dafür bedeutend sein, die sprachlichen Grundlagen für die Etablierung alternativer Beurteilungsformen zu sichern und auszubauen. Hierbei dürfte u. a. entscheidend sein, wie es gelingt, eine differenzielle Messung von Lesekompetenzen zur Erkennung von Förderbedarfen mit einem formativ ausgerichteten Fördermodell zu verknüpfen, das an eine dialogische Gestaltung von Leistungsbeurteilung und Lernentwicklung anschlussfähig ist.
Fassen wir zusammen: Insgesamt werden bei einer wirksamen Strategie zur Implementation einer lern- und entwicklungsgerechten Leistungsbeurteilung »ohne Noten« die schulischen Binnenverhältnisse am erkennbaren Grad von Sozialität, Selbstwirksamkeitserleben, Partizipation, Kompetenz und Kommunikation sowie fachlich fundierter Entwicklung von Beurteilungsinstrumenten und -standards im Kollegium – ggf. mit professioneller Unterstützung – bemessen (S.-I. Beutel & Ruberg, 2023a). So gesehen verbindet sich mit der »Schule ohne Noten« das Schulentwicklungsziel, die verbreiteten einseitigen, oftmals intransparenten Beurteilungsrituale zu überwinden. Denn diese stellen meist eine Erwartung an die alleinige Bringschuld des Lernens und der Leistungspräsentation der Schüler*innenschaft in den Mittelpunkt. Sie orientieren sich dabei überwiegend an curricular begründeten Erträgen eines Lernens, das weder Verständigung pflegt noch Förderziele zuordnet.
Dies gilt ebenso für die mehrheitliche Praxis rein zensurenbezogener Beurteilung und der entsprechenden Dominanz von Ziffernzeugnissen. Deshalb ergibt sich aus schultheoretischer Perspektive die These, dass die Schule ihrer Aufgabe individuell erfolgreicher Zuweisung (Allokation) von Funktion, Beruf, Studium und in dessen Folge sozialer Position in der Gesellschaft dann besonders gerecht wird, wenn sie eine konstruktive und vielfaltsbezogene Lernkultur, bestmögliche Entwicklungschancen für ihre Schüler*innenschaft und grundlegende Demokratieerfahrungen zu Grundelementen der stetigen Veränderung von Schul- und Lernkultur macht (Beutel & Beutel, 2014).
Der Diskurs um die Wirkung einer juristisch tragenden Geltung der Kinderrechte berührt ebenfalls die Reform der schulischen Praxis der Leistungsbeurteilung und insbesondere kinderrechtlich fundierte Fragen an die Praxis der Ziffernnoten:
»Mit der Kinderrechtskonvention hat sich ein Paradigmenwechsel in der Betrachtung von Kindern vollzogen: Kinder werden nicht länger als schutzbedürftige, machtlose und unmündige Wesen betrachtet, welche den Entscheidungen von Erwachsenen unterworfen sind. Die Konvention betont vielmehr die Subjektstellung des Kindes, seine Eigenständigkeit und seine Rechte. Als subjektive [Hervorhebung v. Verf.] Rechte begründen Kinderrechte einklagbare Rechtsansprüche gegen willkürlichen Machtgebrauch über sie. Als objektive [Hervorhebung v. Verf.] Rechte legen die Kinderrechte Erwachsenen und staatlichen Institutionen die Verpflichtung auf, die fundamentalen Interessen des Kindes anzuerkennen [...]« (Heldt, 2022, S. 387 – 388).
Wirkungsprägend sind sowohl die UN-Kinderrechtskonvention (United Nations Children's Fund [UNICEF], n. d.) als auch die UN-Behindertenrechtskonvention (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, 2018). Beide juristische Komplexe beeinflussen das geltende Recht in Deutschland und legen einen veränderten Umgang auch mit der Leistungsbeurteilung in der Schule nahe: Der Unterricht muss im Licht dieser beiden Rechtskonventionen ein Lehren und Lernen fördern, das Formen der Individualisierung des Lernens erforderlich macht, in denen Didaktik, Methodik sowie die Anerkennung unterschiedlicher Lernvoraussetzungen und Verhaltenserwartungen ebenso wie biographische Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen, Bindungen, Stärken und Schwächen der Lernenden berücksichtigt werden. Die hierfür notwendigen schulpraktischen Überlegungen müssen nunmehr die Inklusionspraxis sowie die rechtlich bindenden Ansprüche von Kinderrechten einbeziehen, die in einer demokratisch-pluralen und auf Verschiedenheiten setzenden Gesellschaft besonders stark ausgeprägt sind. Individualisierung als Herausforderung und Folge dieser noch keinesfalls selbstverständlichen Rechtssituation ist für die Schule in Deutschland und deren pädagogische Qualität deshalb eine der aktuellen Entwicklungsaufgaben. Zugespitzt formuliert: Kinderrechtsansprüche und eine umfassende Praxis der Inklusion stehen in gravierendem Widerspruch zu einer curricular zentrierten Notenpraxis und zu möglichen Formen von sozialen Vergleichen, welche die Ausgrenzung begünstigen.
Denn die Kinder als Träger ihrer eigenen, nicht begrenzbaren Menschenrechte haben ein Recht auf Gehör (Art. 12 Kinderrechtskonvention [KRK]), auf Berücksichtigung ihres Wohls (Art. 3 KRK), auf Förderung ihrer Entwicklung (Art. 6 KRK) und auf Bildung durch Handeln und Urteilen (Art. 28/29 KRK), wie dies Krappmann (2016) in These 8 des Manifests »Kinderrechte, Demokratie und Schule« prägnant zusammengefasst hat: »Die leitende Absicht [der KRK] ist, die Kinder dahin zu führen, ihre Rechte selber ausüben zu können und bis dahin die Erfüllung ihrer Rechte in ihrem Sinne sicherzustellen« (S. 22). Der pädagogische Umgang mit Vielfalt führt notwendigerweise an die Grenzen der Unterschiedlichkeit und verlangt aktive Toleranz sowie Werteklarheit. Das führt in der schulischen Praxis zu Situationen, in denen die Grenzen des Miteinanders immer wieder neu ausgelotet werden müssen. Denn das Verhältnis der Lehrenden zu ihrer Schüler*innenschaft sowie auch der Schüler*innen zueinander braucht eine individualitätssensible Wahrnehmung und damit letztlich auch eine persönlich zentrierte und zugleich professionelle Haltung der Lehrkräfte zur beruflichen Aufgabe der Leistungsbeurteilung. Eine inklusionsstarke Schule zu entwickeln, führt zur Herausforderung, den Druck zur Aussonderung zu reduzieren sowie die schulischen Erwartungen an Normierung und Standardisierung sinnvoll zu gestalten und zugleich kritisch zu beleuchten. Die Schule kann hierbei alternative Konzepte des Lernens entwickeln, die sich dann in der Kultur der Leistungsbeurteilung ausweisen können. Eine die Schule immer noch mehrheitlich dominierende Defizitorientierung sollte gegenüber der Förderung individueller Stärken und eines entsprechenden Lernens in den Hintergrund treten.
Das schließt letztlich auch bildungspolitische Forderungen und Veränderungen ein, die darauf zielen, dass ein umfassendes, schüler*innennahes und individualisierendes Konzept von Leistung die Grundlage sein muss für die Bewältigung der schulischen Aufgabe, mehr Gerechtigkeit gegenüber den sozialen Kontexten ihrer Schüler*innenschaft ausüben zu können, denn
»[...] dann muss der Begriff von Leistung wieder seine umfassende Bedeutung erhalten. Dann muss Schule befreit werden von der Dominanz ihrer Selektionsfunktion und dem irrationalen Streben nach vermeintlicher Homogenität. Dann wird Leistung nicht mehr zur Legitimierung von Sortierungsentscheidungen missbraucht, sondern in seiner umfassenden Bedeutung zum Ziel der individuellen Förderung jedes einzelnen Schülers« (Schäffer, 2017, S. 31).
In diesem Band wird der Möglichkeitsraum formativer Leistungsbeurteilung exemplarisch an Preisträgerschulen und nominierten Schulen des Deutschen Schulpreises aufgezeigt. Wir wählen diesen Zugang, um begriffliche Klärungen vorzunehmen und in die Weite der Konzepte einzuführen, Praxisrelevanz und Anwendung aufzuzeigen sowie mögliche Distanz zur Einführung zu verringern.
Der Deutsche Schulpreis (DSP)1 setzt sich seit 2006 jährlich mit entwicklungsstarken Schulen und deren pädagogischen Konzepten auseinander. Dabei spielt die pädagogische Konzeption von Leistung und Leistungsbeurteilung ebenso eine Rolle wie der datengestützte Ausweis schulischer Leistung im Kontext des jeweiligen Schulsystems. Es zeigt sich dabei, dass die dort qualifizierten »guten Schulen« ein differenziertes, viele Domänen betreffendes Curriculum und Angebotsportfolio vorweisen, das einen differenzierten Umgang mit dem Komplex schulischer Leistung und Leistungsbeurteilung sowie eine entsprechende curriculare Reflexion und Praxis einschließt. Dabei dominiert nicht die tradierte Fokussierung allein auf »akademische Kompetenzen« im Sinne curricular verankerter Fachleistungen, gerade wenn neben der Förderung sprachlicher Kompetenzen sowie der Vermittlung mehrerer Sprachen naturwissenschaftliche Angebote ausgeprägt sind. Entscheidend ist, dass dies didaktisch meist mit Formen forschenden Lernens und schulöffentlicher Präsentation sowie entsprechenden Projektarbeiten verknüpft ist. Wettbewerbsteilnahmen und Kooperationen mit namhaften und exzellenten Partner*innen des tertiären Bildungsbereichs schließen sich an. Ein Wechselspiel von individueller und kooperativer Leistung, von vielfältigem und gekonntem Lernen wird so im gesamten Schulhaus – hier durchaus auch räumlich und sozial gemeint – dokumentiert. Das leistungsambitionierte Auftreten solcher Schulen korrespondiert auf der Seite der Schüler*innen mit positiven Lernhaltungen, Offenheit und Interesse sowie mit Elternhäusern, die ein solches Leistungskonzept erwarten, mittragen und unterstützen.
So wird das individuelle Leistungsgeschehen beispielsweise in regelmäßig stattfindenden »Schüler*innen-Eltern-Lehrer*innen-Konferenzen« reflektiert. Die Schulen des Deutschen Schulpreises überzeugen durch Lernsettings, in denen sich individuelles und kooperatives Lernen, Beziehung, Neugierde, Beteiligung und Zutrauen verbinden. Durch außerschulische Kooperation und ein damit eröffnetes Feld für Projekte kleinerer und größerer Dimension kann der Eigensinn des schulischen Lernens – Konzentration, gemeinsame Aufgabenbestimmung in altersähnlichen Gruppen, die Teilung kultureller und entwicklungsbezogener Formen der Repräsentation im sozialen Miteinander und anderes mehr, was die Schule als positive Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ausmacht – auch im Kontext künftiger Bildungs- und Ausbildungschancen gesehen werden. Es ist gewollter Teil pädagogischer Arbeit, dass Jugendliche einen vorausschauenden »Zeitsprung« ihres biographischen Werdegangs mitbedenken und darin ihr Lernen sowie ihre Leistungen reflektieren.
In den standardisierten Überprüfungen, wie auch in den Abiturabschlussprüfungen in Schulformen mit gymnasialer Oberstufe, zeigen die Schüler*innen oftmals überdurchschnittliche Leistungen. Die Schulen nutzen die Teilnahme an Lernstandserhebungen bzw. Vergleichsarbeiten nicht nur als Diagnostik ihres je aktuellen Status, sondern als Ausgangspunkt einer Datensammlung und Ergebnisauswertung für weitere individuelle Lernausgangslagen und Lernstände sowie als Anlass zur didaktischen Nachsteuerung in Fachgruppen – sie ziehen daraus einen im engeren Sinne pädagogischen Nutzen in der Bewältigung der aktuellen Aufgaben zwischen Individualisierung und Berechtigungswesen. Sowohl das umfassende pädagogische Leistungsverständnis als auch die sichtbaren Erfolge in den Lernstandserhebungen sowie die Verbindung der Leistungsethik mit einer lebenspraktisch orientierten Zielbeschreibung für das Leistungsbild der Schule begründen die bei den DSP-Preisträgern vorfindliche Vielfalt und Besonderheit dieser Schulen. Man kann aufgrund dessen zumindest die Vermutung formulieren, dass es den DSP-Schulen in dem für das deutsche Schulwesen kennzeichnenden »[...] Spannungsfeld aus inhaltlicher Unter- und bürokratischer Überregulierung« (Schratz, Pant & Wischer, 2014, S. 10) immer wieder gelingt, »[...] die Entkoppelung von Legitimitätsanspruch und Praxis der Leistungsbeurteilung durch gute selbstentwickelte Koppelungen zu überwinden« (Schratz et al., 2014, S. 10).
Bei nahezu allen exzellenten, d. h. im Preisträgerstatus des DSP qualifizierten Schulen ist eine lernförderliche Beziehung zwischen den Lernenden und Lehrkräften klar ersichtlich. Das führt zur schulpraktischen Anwendung der Einsicht, dass auch ein*e Schüler*in eine*n Schüler*in unterrichten kann, dass neue und andere Erklärungswege von Gegenständen, Phänomenen und Lernaufgaben – unterstützt von visualisierenden Medien – oftmals hilfreicher sind als tradierte fachdidaktische Konzepte. Zudem stärkt es eine Praxis, in der Schwächen und Fehler bei Lernenden nicht Ausschluss und Sanktion bedeuten, sondern Anlässe für ein Nachdenken der Lehrenden über das Lernen und für die Entwicklung von Unterstützungsangeboten für die Lernenden geben. Lernergebnisse zu erreichen und zu dokumentieren, liegt hier nicht allein in der Verantwortung der Schüler*innenschaft, sondern wird als durch die Individualisierung notwendigerweise erzeugte Herausforderung in der Lehrer*innenschaft verstanden. Die Dokumentationsformen von Lernergebnissen sind dabei – auch bedingt durch die Aufgabenvarianz – vielfältig. Unterschiedliche Wege des Verstehens der Lernenden beim Lernen werden respektiert. Die Vielfalt von Richtigkeitsansprüchen und deren Geltung wird in der Verständigung zwischen Lehrenden und Lernenden überprüft und auch korrigiert. Es wird deutlich, dass die an den Schulen des DSP eingeschlagenen Wege zu mehr Individualisierung im Unterricht und zur Selbstverantwortung beim Lernen weniger einen pädagogischen Trend oder einen didaktisch-methodischen Selbstzweck beschreiben – sie sind vielmehr eine vernünftig begründete Antwort auf die Herausforderungen von Vielfalt und Differenz in den Lern- und Lebensbiographien der Kinder und Jugendlichen. Die Schulen praktizieren mit ihren Kollegien eine pädagogische Haltung, die sich nicht nur auf die schulfachliche Leistungsentwicklung konzentriert, sondern Lernen und Leistung in den Kontexten von Beziehung, sozialer Begegnung und herausforderndem Lernangebot beschreibt. Über alle Jahrgangsstufen hinweg sind Differenzierungsmuster erkennbar. Dabei lassen sich verschiedene Formen größtmöglicher Konzentration auf individuelle Prozesse der Kompetenzentwicklung erkennen. Es spielen kompetenzorientierte Lernarrangements, variantenreiche Aufgaben- und Arbeitsmaterialien (geordnet nach Darbietung, Tempo, Umfang, Aufgabenstellung, Patensystem, Methode und Arbeitsmittel etc.) eine entscheidende Rolle. Kooperative Lernformen werden durch gemeinsame, forschend-erkundende Dialoge zwischen Lehrkräften und Schüler*innen eingeleitet und angelegt. Aufgabenplanung und Reflexion gehören dazu. Die Flure und – mit pädagogischer Perspektive in Aktivitätszonen unterteilte – Gruppenräume, meist mit ästhetisch anspruchsvoll ausgestellten Schüler*innenarbeiten, sind nicht nur moderne Lernorte mit Galerien als Ergebnisnachweis, sondern bilden zugleich ein öffentlich wahrnehmbares Bildungspanorama der Schule. Sie sind ein auch den Eltern und der Öffentlichkeit zugänglicher Ort, an dem das Lernen der Kinder nachvollziehbar und zum Gesprächsanlass wird. Didaktische Schwächen können dabei durchaus hervortreten. Sie sind der Lehrer*innen- wie der Schüler*innenwahrnehmung zugänglich und sie fordern neue Entwicklungsleistungen ein (S.-I. Beutel, Höhmann, Pant & Schratz, 2017).
Die Schulen sehen die Notwendigkeit des Sichtbarmachens von Leistung und Leistungsergebnissen auf den Ebenen der Lernenden, der Schule als pädagogischer Handlungseinheit und der systemischen Ebene. Ihre Arbeit ist öffentlich und fachlich legitimationspflichtig. Sie müssen beschreiben und ausweisen können, was sie gemessen an der Erwartung von Staat, Gesellschaft und den aus ihr und in ihr handelnden Menschen erreichen wollen und mit welchem Mittelaufwand sie dieses tun. Dabei gilt zugleich jedoch die der Schule eigene pädagogische Bestimmung, Schüler*innen eine herausragende Umgebung für ihr Lernen und ihre Kompetenzentwicklung zu bieten und ihren Erfolg daran zu bemessen. Schulentwicklung benötigt entsprechend einen vernünftig begründeten Umgang mit Leistungsdiagnostik auf allen Ebenen, zuletzt und vor allem auf Ebene der Lernenden selbst und ihrer Erwartungen an ihre eigene Arbeit, aber auch an die Arbeit ihrer Schulen. Für eine »Schule ohne Noten«, die Leistungsbeurteilung als rational begründete, professionell fundierte Aufgabe ihrer Lehrer*innenschaft versteht, können wir also festhalten: Leistungsbeurteilung ist mehr als curricular begründete Notenvergabe. Die Diskussion um Formen der Leistungsbeurteilung ist aber auch mehr als die pure und meist schnell vorgetragene Reproduktion allein der Forderung, »Noten abzuschaffen«. Sie fokussiert vielmehr darauf, diese Aufgabe gut begründet als professionelles Handlungserfordernis zu verstehen, das im produktiven, auf Wechselseitigkeit, Anerkennung und Verständigung setzenden Prozess mit den Lernenden transparent und valide gelöst werden kann. Leistungsbeurteilung an der jeweiligen Schule ist pädagogisch-professionell gesehen dann qualitativ so gut, wie es der Unterricht und das Lernen dort auch sind.
Wir fassen unsere einführenden Überlegungen in drei Aspekten zusammen:
Leistungsbeurteilung muss valide und gut begründbare Verfahren der Überprüfung von Lernleistungen, die Einordnung der Lernleistungen, kompetenzbegründete Lern- und Leistungsanforderungen sowie deren transparente und nachvollziehbare Kommunikation berücksichtigen. Dazu gehören elementare entwicklungspsychologische Einsichten zum Verstehen und Lernen, zur moralischen und sozialen Urteilskompetenz von Kindern und Jugendlichen sowie zu deren prozesshafter Entwicklung in Kindheit und Adoleszenz.
Leistungsbeurteilung benötigt beides – ein Leistungskonzept und ein begründetes Konzept von Beurteilung. Als kritisches Korrektiv bedarf sie zudem der Einsicht, dass Noten nur einen scheinbar objektiven Charakter haben, wie alle Darstellung sozialer Verhältnisse allein durch Zahlen. Der ideologische Charakter solcher Traditionen ist allerdings auch Formen alternativer Leistungsbeurteilung, etwa durch verbale Berichte, nicht fremd. Nur die Umstellung der Darstellungsformen von der Zahl zum Wort wirkt allein weder aufklärend noch entideologisierend. Entscheidend sind die Konzepte der Begründung und die nachvollziehbare, professionell begründbare Form der Anwendung. Aus der Erfahrung praktischer Pädagogik kann davon ausgegangen werden, dass kommunikativen Formen verbaler Leistungsbeurteilung ein variantenreicherer und dem Erfordernis der Individualisierung eher entsprechender Grundzug innewohnt, als dies bei Ziffernzensuren der Fall ist.
Dabei ist besonders bemerkenswert, dass die Kinder und Jugendlichen in der Schule mehrheitlich über ihr Lernen und ihre Leistungen auskunftsfähig sind. Das betrifft sowohl den eigenen Lernprozess als auch aktuelle Tätigkeiten. Sie können diese in der Relevanz für Tests und Klassenarbeiten einordnen. Eine valide Praxis lernförderlicher Leistungsbeurteilung kommt schon allein deshalb ohne Beteiligung der Lernenden nicht aus. Sie fördert Souveränität in der Selbststeuerung und ist Ausweis einer praktizierten Kultur des sich vergewissernden Austausches zwischen Lehrenden und Lernenden.
Eine Herausforderung schulischer und unterrichtlicher Entwicklung im Hinblick auf den Einbezug alternativer, formativer bzw. förderorientierter Beurteilungsformen kann hierbei in der Frage liegen, wie diese Beurteilungsformen möglichst passend in die Gestaltung unterrichtlicher Angebote unter Berücksichtigung der schulischen und außerschulischen Bedingungen und Abhängigkeiten eingebunden werden können. Hierfür soll im Folgenden überblicksartig ein handlungstheoretischer Rahmen skizziert werden (zu den komplexen Prozessen pädagogischer Diagnostik und schulischer Leistungsbeurteilung und der Differenzierung zwischen summativen und formativen Verfahren siehe im Überblick Jürgens, 2022; ergänzend und vertiefend: Jürgens & Lissmann, 2015; Sacher, 2014; Zimmermann, Möller & Riecke-Baulecke, 2019).
Der Prozess der pädagogischen Leistungsbeurteilung im schulischen Kontext kann mit Ingenkamp und Lissmann (2008) als komplexer interaktiver Vorgang charakterisiert werden, der durch subjektive Erwartungen sowie durch weitere Merkmale der beteiligten Lehrkräfte und Schüler*innen (z. B. Kompetenzen, sozio-emotionale Aspekte und Beurteilungserfahrungen) ebenso beeinflusst wird wie durch Merkmale der Beurteilungssituation (z. B. Ziele und Verfahren der Beurteilung) und institutionelle Rahmenbedingungen (z. B. Prüfungsordnungen, Erziehungsnormen und Selektionsforderungen). Wenn hierbei die Lernent