Geschichten aus Tel Ilan - Amos Oz - E-Book

Geschichten aus Tel Ilan E-Book

Amos Oz

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Beschreibung

Der Wandel kommt in kleinen Schritten: Tel Ilan ist ein Dorf im Norden Israels. Ein Ort, ein wenig unentschlossen zwischen Gestern und Morgen, aufsehenerregende Ereignisse sind selten. Doch plötzlich verwischt die Grenze vom Gewöhnlichen zur Merkwürdigkeit. Gilli Steiner wartet mit wachsender Verzweiflung auf ihren Neffen, Pessach Kedem hört komische Geräusche, und der Immobilienmakler Jossi Sasson wird in einem alten Haus von einer jungen Frau verwirrt – und verirrt. Dabei geschieht eigentlich nichts Besonderes. Oder doch? Amos Oz entwirft in seinen Geschichten aus Tel Ilan einen kleinen Kosmos. Er erzählt von Menschen und ihren Sehnsüchten, von ihrem nur auf den ersten Blick durch und durch alltäglichen Leben. »Erbarmungslos, brillant. Oz ist zurückgekehrt zu seinen Kammerspielen.« Inge Kämmerer, Hessischer Rundfunk

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Seitenzahl: 248

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Der Wandel kommt in kleinen Schritten: Tel Ilan ist ein Dorf im Norden Israels. Ein Ort, ein wenig unentschlossen zwischen gestern und morgen, aufsehenerregende Ereignisse sind selten. Doch plötzlich verwischt die Grenze vom Gewöhnlichen zur Merkwürdigkeit. Gilli Steiner wartet mit wachsender Verzweiflung auf ihren Neffen, Pessach Kedem hört komische Geräusche, und der Immobilienmakler Jossi Sasson wird in einem alten Haus von einer jungen Frau verwirrt – und verirrt. Dabei geschieht eigentlich nichts Besonderes. Oder doch?

Amos Oz, geboren 1939 in Jerusalem, ist einer der international bekanntesten israelischen Schriftsteller. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem 1992 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2005 mit dem Goethe-Preis und 2010 zusammen mit Sari Nusseibeh mit dem Siegfried Unseld Preis. Im Suhrkamp Verlag zuletzt erschienen: Verse auf Leben und Tod. Roman (st 4084), Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Roman (st 3968) und Plötzlich tief im Wald. Ein Märchen (st 3892).

Amos Oz

Geschichten aus Tel Ilan

Aus dem Hebräischenvon Mirjam Pressler

Suhrkamp

Die hebräische Originalausgabe Tmunot me-chajej ha-kfar erschien 2009 im Keter Verlag, Jerusalem.

Umschlagfoto: © Leonard Freed / Magnum Photos / Agentur Focus

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Amos Oz 2009

© der deutschen Ausgabe

Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73930-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

Erben

Verwandte

Graben

Verloren

Warten

Fremde

Singen

An einem fernen Ort zu einer anderen Zeit

Erben

1 Der fremde Mann war kein Fremder. Etwas in seiner Erscheinung stieß Arie Zelnik schon auf den ersten Blick ab und fesselte ihn zugleich. Falls das überhaupt der erste Blick war: Arie Zelnik kam es vor, als würde er sich an dieses Gesicht erinnern, an die langen Arme, die fast bis zu den Knien reichten, es war eine verschwommene Erinnerung, wie aus einer Zeit, die so lange zurücklag wie ein ganzes Leben.

Der Mann parkte sein Auto direkt vor dem Hoftor. Es war ein staubiges beigefarbenes Auto, auf dem Rückfenster und sogar auf den Seitenfenstern erstreckte sich ein Wortgitter aus bunten Aufklebern mit Ausrufezeichen, Verlautbarungen, Warnungen, Slogans aller Art. Er schloß das Auto ab und rüttelte an einer Tür nach der anderen, um zu kontrollieren, ob sie wirklich alle verschlossen waren. Dann klopfte er einmal und noch ein zweites Mal leicht auf die Motorhaube, als wäre das Auto ein altes Pferd, das man an einem Zaunpfahl festbindet und dem man mit einem freundlichen Klaps bedeutet, daß das Warten nicht so lange dauern wird. Danach öffnete der Mann das Tor und ging auf die vordere, von Weinranken beschattete Veranda zu. Er hopste etwas beim Gehen und trat nur vorsichtig auf, als würde er barfuß über heißen Sand laufen.

Von seinem Platz auf der Hollywoodschaukel in der Ecke der Veranda, von wo aus er alles sah, selbst aber nicht gesehen wurde, beobachtete Arie Zelnik den Besucher von dem Moment an, als dieser aus seinem Auto gestiegen war. Doch so sehr er sich auch bemühte, es fiel ihm nicht ein, wer dieser nichtfremde Fremde war. Wo war er ihm begegnet, wann war er ihm begegnet? Auf einer seiner Reisen ins Ausland? Beim Reservedienst? Im Büro? An der Universität? Oder vielleicht noch in der Schule? Ein Ausdruck von Verschlagenheit lag auf dem Gesicht des Mannes, er strahlte, als habe er jemandem einen Streich gespielt und sei nun voller Schadenfreude. Hinter dem fremden Gesicht oder darunter lag die verschwommene Andeutung eines bekannten Gesichts, eines, das Beklemmung und Beunruhigung auslöste. Das Gesicht eines Menschen, der dir schon einmal übel mitgespielt hat? Oder umgekehrt: dem du irgendein bereits vergessenes Unrecht angetan hast?

Wie ein Traum, von dem neun Zehntel versunken sind und nur der letzte Rest noch hervorblitzt.

Arie Zelnik beschloß daher, nicht zu Ehren des Besuchers aufzustehen, sondern auf der Hollywoodschaukel sitzen zu bleiben und ihn hier zu empfangen, auf der Veranda vor dem Hauseingang.

Der Fremde hopste eilig den Weg entlang, der vom Tor zu den Verandastufen führte, seine kleinen Augen flitzten ununterbrochen nach rechts und nach links, als fürchte er, zu früh entdeckt zu werden oder ein wütender Hund könne jeden Moment aus dem Dickicht von Bougainvilleabüschen auf beiden Seiten des Wegs hervorspringen und ihn attackieren. Seine schütteren gelblichen Haare, sein faltiger roter Truthahnhals, seine hin- und herflitzenden wäßrigen Augen, die wie hastig wühlende Finger die Umgebung erkundeten, die langen Schimpansenarme – das alles erweckte eine dumpfe Beklemmung.

Von seinem verborgenen Beobachtungsposten aus, auf der Hollywoodschaukel im Schatten der Weinranken, musterte Arie Zelnik den großen Körper des Mannes, der schlaff wirkte, als habe er gerade eine schwere Krankheit überstanden, als sei er vor gar nicht langer Zeit noch kräftig gewesen und erst vor kurzem in sich zusammengesunken. Auch das Sommerjackett, das der Mann trug, ein Jackett in der Farbe von schmutzigem Sand mit ausgebeulten Taschen, sah zu weit aus und schlotterte um seine Schultern.

Obwohl es Spätsommer war und der Weg trocken, blieb der Fremde vor den Verandastufen stehen und streifte seine Schuhe gründlich auf der Matte ab. Dann hob er erst den einen Fuß, dann den anderen und kontrollierte, ob die Sohlen sauber waren. Nachdem er beruhigt war, stieg er die Stufen hinauf, und erst nachdem er ein paarmal höflich an die mit Fliegengitter bespannte Tür geklopft hatte, ohne daß irgendeine Reaktion erfolgte, wandte er endlich den Blick und entdeckte den Hausherrn, der wie angewurzelt auf seiner Hollywoodschaukel saß, in der Ecke, zwischen großen Blumentöpfen und Farnkästen, unter den Weinranken, die ihn und die ganze Veranda beschatteten.

Sofort setzte der Besucher ein breites Lächeln auf, fast hätte er sich verbeugt, er räusperte sich, bevor er verkündete: Wie schön ist es doch hier bei Ihnen, Herr Zelkin! Atemberaubend! Das ist wirklich Israels Provence! Was heißt da Provence? Toskana! Was für eine Landschaft! Das Wäldchen! Die Weinberge! Tel Ilan ist einfach das schönste Dorf in diesem levantinischen Land. Sehr angenehm! Guten Morgen, Herr Zelkin. Entschuldigen Sie. Ich hoffe, ich störe nicht etwa? Arie Zelnik sagte trocken: Guten Morgen, dann merkte er an, sein Name sei Zelnik und nicht Zelkin, und leider würden sie hier nie etwas von Vertretern kaufen.

Sie haben recht, und wie recht Sie haben, beteuerte der Mann, während er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischte, wie kann man wissen, ob man wirklich einen Vertreter vor sich hat und nicht einfach einen Betrüger? Oder, behüte, vielleicht sogar einen Verbrecher, der gekommen ist, um den Ort für eine Bande von Einbrechern auszuspionieren? Aber ich, Herr Zelnik, bin zufällig alles andere als ein Vertreter. Ich bin Bittsteller.

Wie bitte?

Bittsteller. Wolf Bittsteller. Rechtsanwalt Bittsteller von der Kanzlei Lotem-Pruzhinin. Sehr angenehm, Herr Zelnik. Ich suche Sie auf, betreffs, wie soll ich sagen, aber vielleicht sollten wir gar nicht erst versuchen, das Thema zu definieren, sondern sofort zur Sache kommen. Darf ich mich bitte setzen? Was wir zu klären haben, ist mehr oder weniger eine Privatangelegenheit, nicht was mich betrifft, behüte, wegen einer Privatangelegenheit meinerseits hätte ich niemals gewagt, ohne Voranmeldung hier einzudringen und zu stören. Wiewohl wir es versucht haben, wir haben es in der Tat versucht, wiederholt haben wir es versucht, aber Ihre Telefonnummer ist nirgends verzeichnet, und auf unsere Briefe haben Sie nicht die Güte gehabt zu antworten. Deshalb haben wir beschlossen, unser Glück mit einem unangemeldeten Besuch zu versuchen, und wir entschuldigen uns aufrichtig für diese Störung. Es ist wirklich nicht unsere Art, in die Privatsphäre eines anderen Menschen einzudringen, insbesondere nicht, wenn dieser Mensch am schönsten Ort des ganzen Landes zu Hause ist. So oder so, wie gesagt, es handelt sich keineswegs nur um eine Privatangelegenheit unsrerseits. Nein, nein, absolut nicht. Eher im Gegenteil: Es handelt sich, wie ließe es sich vorsichtig formulieren, vielleicht so: Es handelt sich um eine Privatangelegenheit, die Sie betrifft, mein Herr, und nicht nur uns. Genauer gesagt, eigentlich betrifft es Ihre Familie, die Familie im allgemeinen und im besonderen, eines Ihrer Familienmitglieder, Herr Zelkin, ein ganz bestimmtes Familienmitglied. Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir uns hinsetzen und uns ein paar Minuten unterhalten? Ich verspreche Ihnen, ich werde mich nach besten Kräften bemühen, daß die Angelegenheit nicht mehr als zehn Minuten in Anspruch nehmen wird. Obwohl das eigentlich nur von Ihnen abhängt, Herr Zelkin.

Zelnik, korrigierte ihn Arie Zelnik. Dann sagte er: Setzen Sie sich. Und fügte sofort hinzu: Nein, nicht hier. Dort.

Denn der Dicke oder ehemals Dicke sank zuerst auf die Hollywoodschaukel, direkt neben seinen Gastgeber, so daß sich ihre Oberschenkel berührten. Wie ein Gefolge umgab den Besucher eine dichte Geruchswolke, Gerüche von Verdauung, Strümpfen, Talkum und Achselhöhlen. Darüber lag ein feines Netz von scharfem Rasierwasserduft. Arie Zelnik erinnerte sich plötzlich an seinen Vater, der seine Körpergerüche auch immer mit einem scharfen Rasierwasserduft zu überdecken pflegte.

Als ihm beschieden wurde, nicht hier, sondern dort, stand der Besucher sofort auf, schwankte leicht, drückte die Affenarme stützend an die Knie, entschuldigte sich und ließ seinen Hintern in den zu weiten Hosen nun auf die Holzbank auf der anderen Seite des Gartentischs sinken. Es war ein rustikaler Tisch aus Holzbrettern, die nicht glatt gehobelt waren und Eisenbahnschwellen glichen. Arie war es wichtig, daß seine kranke Mutter auf keinen Fall von ihrem Fenster aus diesen Besucher sah, noch nicht einmal seinen Rücken oder seine Silhouette auf der Veranda im Schatten der Weinranken. Deshalb hatte er ihm einen Platz zugewiesen, der vom Fenster aus nicht einzusehen war. Und vor dessen öliger Vorbeterstimme würde sie ihre Taubheit schützen.

2 Vor drei Jahren war Na’ama, Arie Zelniks Frau, zu ihrer Freundin Thelma Grant nach San Diego gefahren und nicht zurückgekommen. Sie hatte ihm nicht ausdrücklich geschrieben, daß sie ihn verlassen hatte, sondern es anfangs nur behutsam angedeutet: Ich komme vorläufig nicht zurück. Ein halbes Jahr später hatte sie geschrieben: Ich bleibe noch bei Thelma. Und noch später: Du brauchst nicht mehr auf mich zu warten. Ich arbeite mit Thelma in einem Verjüngungsstudio. Und in einem anderen Brief: Mir und Thelma geht es gut miteinander, wir haben ein ähnliches Karma. Und in einem weiteren Brief: Unser spiritueller Lehrer findet es richtig, daß Thelma und ich nicht aufeinander verzichten. Dir wird es gutgehen. Du bist nicht böse, nicht wahr?

Hila, ihre verheiratete Tochter, hatte ihm aus Boston geschrieben: Papa, ich rate Dir zu Deinem eigenen Besten, Mama nicht zu bedrängen. Finde für Dich ein anderes Leben.

Und weil zwischen ihm und Eldad, seinem Erstgeborenen, schon lange jeder Kontakt abgebrochen war und weil er auch sonst niemanden hatte, der ihm nahestand, hatte er im vergangenen Jahr beschlossen, seine Wohnung auf dem Carmel aufzulösen, wieder zu seiner Mutter in das alte Haus in Tel Ilan zu ziehen, von dem zu leben, was die Mieten für die beiden Wohnungen in Haifa einbrachten, und sich seinen Hobbys zu widmen.

So hatte er ein anderes Leben gefunden, wie seine Tochter es ihm geraten hatte.

In seiner Jugend hatte Arie Zelnik in einem Marinekommando gedient. Schon immer hatte er keine Gefahr gefürchtet, nicht das feindliche Feuer, nicht das Erklettern steiler Felsen. Doch vor dunklen, leeren Wohnungen hatte er im Lauf der Zeit eine heftige Angst entwickelt. Deshalb hatte er sich schließlich dazu entschieden, wieder bei seiner Mutter zu leben, in dem alten Haus, wo er geboren und aufgewachsen war, am Rand des Dorfes Tel Ilan. Rosalia, seine Mutter, war schon neunzig, taub, krumm vom Alter und sehr wortkarg. Die meiste Zeit ließ sie ihn den Haushalt führen, ohne sich einzumischen, ohne eine Bemerkung zu machen oder eine Frage zu stellen. Hin und wieder dachte Arie Zelnik an die Möglichkeit, daß seine Mutter so krank oder vor Alter so hinfällig werden könnte, daß sie nicht mehr ohne Pflege zurechtkommen würde. Dann wäre er gezwungen, sie zu füttern, zu waschen und zu windeln, oder er müßte eine Pflegerin einstellen, der häusliche Frieden wäre gestört und sein Leben vor fremden Augen entblößt. Manchmal aber hoffte er geradezu auf das allmähliche Erlöschen seiner Mutter. Dann hätte er einen einleuchtenden und nachfühlbaren Grund, eine Rechtfertigung, sie in ein passendes Heim zu bringen, und das ganze Haus stünde zu seiner freien Verfügung. Er könnte sich, wenn er wollte, eine schöne neue Frau ins Haus holen. Oder nicht eine Frau, sondern eine ganze Reihe junger Frauen. Er könnte sogar Zwischenwände einreißen und das Innere des Hauses umbauen lassen. Ein anderes Leben würde beginnen.

Doch einstweilen lebten beide, Sohn und Mutter, still und friedlich in dem alten Haus. Jeden Morgen kam eine Haushaltshilfe, brachte all das mit, was er auf die Einkaufsliste geschrieben hatte, räumte auf, putzte, kochte und ging, nachdem sie der Mutter und dem Sohn das Mittagessen serviert hatte, still ihrer Wege. Die meisten Stunden des Tages saß die Mutter in ihrem Zimmer und las in alten Büchern, während Arie Zelnik in seinem Zimmer Radio hörte oder Modellflugzeuge aus Leichtholz baute.

3 Der Fremde lächelte plötzlich, ein schlaues und scheinheiliges Lächeln, ähnlich einem Augenzwinkern, als wolle er seinem Gastgeber vorschlagen: Sollen wir nicht ein bißchen zusammen sündigen? Und als fürchte er zugleich, er würde für seinen Vorschlag bestraft. Er fragte freundlich: Entschuldigen Sie, dürfte ich vielleicht etwas davon nehmen, bitte? Und weil es ihm offenbar schien, als habe der Gastgeber genickt, goß sich der Besucher aus der Karaffe mit Eiswasser, Zitronenscheiben und Minzeblättern, die auf dem Tisch stand, etwas in das einzige Glas, das Glas von Arie Zelnik, preßte es an seine fleischigen Lippen, trank es mit fünf, sechs geräuschvollen Schlucken gierig leer, goß sich noch ein halbes Glas ein und trank es ebenfalls geräuschvoll und durstig aus, dann begann er sofort, sich zu rechtfertigen: Entschuldigen Sie! Hier auf dieser wunderschönen Veranda spürt man einfach nicht, wie heiß es heute ist. Es ist heute sehr heiß. Sehr! Und trotzdem, trotz dieser Hitze – dieser Ort ist voller Zauber! Tel Ilan ist wirklich das schönste Dorf des ganzen Landes! Provence! Nein, nicht Provence! Toskana! Wälder! Weinberge! Hundert Jahre alte Bauernhäuser, rote Dächer, und was für hohe Zypressen! Was meinen Sie, mein Herr? Ziehen Sie es vor, daß wir noch eine Weile über diese Schönheit plaudern? Oder erlauben Sie mir, ohne weiteres Drumherum zu unserem kleinen Tagesordnungspunkt zu kommen?

Arie Zelnik sagte: Ich höre.

Die Familie Zelnik. Nachfahren von Leon-Akavia Zelnik. Die Zelniks zählten, wenn ich mich nicht irre, wirklich zu den Allerersten, die hier lebten, zu den Gründern des Dorfs? Nicht wahr? Vor neunzig Jahren? Vor fast hundert Jahren? Er hieß Akiva-Arie, nicht Leon-Akavia.

Natürlich, rief der Besucher begeistert, die Familie Zelkin. Wir ehren die große Vergangenheit Ihrer Familie. Nein, wir ehren sie nicht nur, wir schätzen sie aufs höchste! Zuerst, wenn ich mich nicht irre, kamen die beiden Brüder Boris und Semjon Zelkin aus einem kleinen Dorf im Bezirk Charkow, um hier, mitten in der Wildnis der Menascheberge, eine neue Siedlung zu gründen. Hier gab es nichts. Nichts als Dornengestrüpp. Noch nicht einmal arabische Dörfer gab es hier, erst jenseits der Hügel. Dann kam auch der Neffe von Boris und Semjon, Leon, oder, wenn Sie darauf bestehen, Akavia-Arie. Und danach, jedenfalls erzählt man sich das, danach kehrten Semjon und Boris, einer nach dem anderen, nach Rußland zurück, und dort erschlug Boris Semjon mit einer Axt, nur Ihr Großvater – oder war es Ihr Urgroßvater? –, nur Leon-Akavia harrte hier aus. Nicht Akavia? Akiva? Entschuldigen Sie. Akiva. Kurz gesagt, es ist so: Zufällig stammen wir, die Bittstellers, ebenfalls aus dem Bezirk Charkow! Direkt aus den Wäldern von Charkow! Bittsteller! Vielleicht sagt Ihnen das was? Es gab in unserer Familie einen bekannten Kantor, Schaje-Lejb Bittsteller, und dann gab es einen Grigorij Moissejewitsch Bittsteller, ein großer General in der Roten Armee. Ein sehr, sehr großer General, aber Stalin hat ihn umgebracht. Während der Säuberungen in den dreißiger Jahren.

Der Mann stand auf, imitierte mit seinen Schimpansenarmen einen Mann, der sein Gewehr auf jemanden richtet, und ahmte das Rattern einer Gewehrsalve nach, wobei er spitze, nicht ganz weiße Schneidezähne entblößte. Dann setzte er sich lächelnd wieder auf die Bank, sehr zufrieden, so schien es, mit dem Erfolg der Hinrichtung. Arie Zelnik hatte das Gefühl, als erwarte der Mann Applaus oder zumindest ein Lächeln als Gegengabe für sein süßliches Lächeln.

Er beschloß jedoch, das Lächeln des anderen nicht zu erwidern. Er schob das benutzte Glas etwas zur Seite, auch die Wasserkaraffe, und sagte: Ja?

Rechtsanwalt Bittsteller umklammerte mit der rechten seine linke Hand und drückte sie voller Freude, als habe er sich selber lange nicht getroffen und als erfreue ihn dieses unerwartete Zusammentreffen ganz ungemein. Unter seinen Wortkaskaden sprudelte eine tiefe, unerschöpfliche Fröhlichkeit, ein Golfstrom selbstzufriedener Vergnügtheit: Gut, legen wir die Karten offen auf den Tisch, wie man so sagt. Daß ich es mir erlaubt habe, heute bei Ihnen einzufallen, hängt mit der Privatangelegenheit zusammen, die uns beide betrifft. Und außerdem betrifft sie vielleicht auch, sie möge bis hundertzwanzig leben, Ihre teure Mutter, das heißt, die sehr verehrte alte Dame? Aber selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, daß Sie keine Vorbehalte haben, auch nicht die geringsten, dieses delikate Thema anzusprechen? Arie Zelnik sagte: Ja.

Der Besucher erhob sich und zog sein Jackett aus, das die Farbe von schmutzigem Sand hatte, sein weißes Hemd hatte große Schweißflecken unter den Achseln, er hängte das Jackett über die Lehne, setzte sich wieder breit hin und sagte: Entschuldigen Sie, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Es ist heute einfach sehr heiß. Erlauben Sie mir, auch die Krawatte abzulegen? Einen Moment lang sah er aus wie ein erschrockenes Kind, das weiß, es hat Tadel verdient, sich aber nicht traut, um Milde zu bitten. Doch gleich darauf war dieser Gesichtsausdruck wieder verschwunden.

Sein Gastgeber schwieg, und der Mann entledigte sich seiner Krawatte mit einer einzigen schnellen Bewegung, die Arie Zelnik an seinen Sohn Eldad erinnerte, und erklärte: Solange wir Ihre Mutter noch am Hals haben, können wir über die Immobilie noch nicht wirklich verfügen.

Wie bitte?

Es sei denn, wir finden für sie einen guten Platz in einem wirklich guten Heim. Ich habe so ein Heim. Das heißt, es gehört nicht mir, sondern den Brüdern meines Partners. Wir brauchen nur ihre Einwilligung. Vielleicht macht es uns die Sache leichter, wenn wir beantragen, als Vormund für sie bestellt zu werden? Dann wäre ihre Einwilligung überhaupt nicht mehr erforderlich.

Arie Zelnik nickte zwei-, dreimal und kratzte mit den Fingernägeln seiner rechten Hand seinen linken Handrücken. Er hatte ja in der letzten Zeit bereits das eine oder andere Mal über die Zukunft seiner kranken Mutter nachgedacht, was mit ihr und mit ihm würde, wenn sie körperlich oder geistig nicht mehr in der Lage wäre, ohne fremde Hilfe zurechtzukommen, und wann er eine Entscheidung würde treffen müssen. Es gab Momente, in denen ihn die Möglichkeit, sich von seiner Mutter zu trennen, mit Traurigkeit und Scham erfüllte, aber es gab auch Momente, in denen er fast auf ihr allmähliches Erlöschen hoffte, auf die Aussichten, die sich durch ihren Wegzug für ihn eröffnen würden. Einmal hatte er sogar Jossi Sasson, den Immobilienmakler, gebeten, für ihn das Anwesen zu schätzen. Diese unterdrückten Hoffnungen weckten Schuldgefühle in ihm, sogar Abscheu vor sich selbst. Aber es kam ihm seltsam vor, daß dieser abstoßende Mann offenbar seine schändlichen Gedanken lesen konnte. Deshalb forderte Arie Zelnik ihn auf, die Sache noch einmal von Anfang an aufzurollen: Wen genau vertreten Sie eigentlich, mein Herr? In wessen Auftrag sind Sie gekommen?

Wolf Bittsteller kicherte und sagte: Bittsteller. Nenn mich einfach Bittsteller. Oder Wolf. Unter Verwandten braucht man sich doch wirklich nicht zu siezen.

4 Arie Zelnik stand auf. Er war ein großer, breitschultriger Mann, wesentlich größer als Wolf Bittsteller, doch beide hatten sie lange Arme, die ihnen fast bis zu den Knien reichten. Er machte zwei Schritte auf ihn zu, stellte sich in voller Größe vor den Besucher und sagte: Also was wollen Sie.

Ohne Fragezeichen sagte er diese Worte und schloß dabei einen Knopf seines Hemdes, durch dessen Spalt man eine grau behaarte Brust sehen konnte.

Wolf Bittsteller erwiderte leise und beschwichtigend: Warum so eilig, mein Herr, unsere Angelegenheit verdient es doch, äußerst behutsam hin und her gewendet und von allen Seiten betrachtet zu werden, wir müssen jedes Schlupfloch ausschließen, auch das kleinste, wir dürfen uns in keinem Detail vertun.

Der Besucher hatte etwas Schlaffes, er sah aus, als sei ihm seine Haut zu weit. Sein Hemd schlotterte um seine Schultern wie der Mantel einer Vogelscheuche. Seine Augen waren wäßrig und auch ein bißchen trübe. Außerdem hatte er etwas Ängstliches an sich, als fürchte er, plötzlich gekränkt zu werden.

Unsere Angelegenheit?

Das heißt, das Problem mit der alten Dame. Das heißt, mit Ihrer Frau Mutter, auf deren Namen unser Besitz noch immer eingetragen ist und bis zu ihrem Tod eingetragen sein wird, und wer weiß, was für ein Testament sie geschrieben hat oder bis wann wir beide es schaffen, die Vormundschaft für sie zu bekommen.

Wir beide?

Dieses Haus könnte man abreißen lassen und statt dessen ein Sanatorium bauen. Eine Gesundheitsfarm. Wir könnten hieraus einen Ort machen, wie es ihn sonst im ganzen Land nicht gibt: saubere Luft, idyllische Ruhe, eine Landschaft, die der Provence und der Toskana in nichts nachsteht, Heilkräuter, Massagen, Meditation, spirituelle Unterweisung. Die Leute werden gutes Geld für das bezahlen, was wir ihnen hier an diesem Ort bieten können.

Entschuldigen Sie, seit wann kennen wir uns?

Wir sind doch bekannt und befreundet. Nicht nur Freunde, mein Lieber. Verwandte. Sogar Partner.

Vielleicht hatte Arie Zelnik mit seinem Aufstehen beabsichtigt, daß der Besucher sich gezwungen fühlen würde, sich ebenfalls zu erheben und seiner Wege zu gehen. Aber der Besucher stand nicht auf, er blieb sitzen, er streckte sogar die Hand aus und goß sich noch etwas aus der Karaffe mit Eiswasser, Zitronenscheiben und Minzeblätter in das Glas, das Arie Zelniks Glas gewesen war, bis es sich der Fremde angeeignet hatte. Er lehnte sich zurück. Jetzt, in dem Hemd mit den Schweißflecken unter den Achseln, ohne Jackett und Krawatte, sah Wolf Bittsteller wie ein Vertreter aus, der viel Zeit zur Verfügung hat, ein verschwitzter Viehhändler, der ins Dorf gekommen war, um geduldig und schlau mit den Bauern um ein Stück Vieh zu verhandeln, ein Handel, der nach seinem Dafürhalten für beide Seiten vorteilhaft sein würde. Eine verstohlene Fröhlichkeit war ihm anzumerken, eine versteckte Schadenfreude, und diese Schadenfreude war dem Gastgeber nicht ganz fremd.

Ich, log Arie Zelnik, muß jetzt ins Haus. Ich habe noch zu tun. Entschuldigen Sie.

Wolf Bittsteller lächelte und erwiderte: Ich habe es nicht eilig. Wenn Sie erlauben, bleibe ich hier sitzen und warte auf Sie. Oder vielleicht sollte ich lieber ebenfalls hineingehen und die Bekanntschaft der Dame machen. Schließlich muß ich rasch ihr Vertrauen gewinnen.

Die Dame, sagte Arie Zelnik, empfängt keine Besucher.

Ich, beharrte Wolf Bittsteller und erhob sich nun ebenfalls, bereit, seinem Gastgeber ins Haus zu folgen, ich bin eigentlich kein Besucher. Wir sind doch, wie soll man sagen, ein wenig miteinander verwandt? Sogar Partner?

Arie Zelnik erinnerte sich plötzlich an den Rat seiner Tochter Hila, auf ihre Mutter zu verzichten, sie nicht zu bedrängen, zu ihm zurückzukehren, sondern zu versuchen, ein neues Leben anzufangen. Die Wahrheit war, daß er sich gar nicht sonderlich bemüht hatte, Na’ama zur Rückkehr zu bewegen. Als sie nach einem heftigen Streit zwischen ihnen zu ihrer Freundin Thelma Grant gefahren war, hatte Arie Zelnik all ihre Kleidungsstücke und persönlichen Habseligkeiten zusammengepackt und nach San Diego an Thelma Grants Adresse geschickt. Als sein Sohn Eldad den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte, hatte er ihm seine Bücher und sogar seine alten Spielsachen geschickt. Er hatte alles, was an sie erinnerte, beseitigt, so wie man Stellungen des Feindes am Ende eines Gefechts durchkämmt und räumt. Nach einigen Monaten hatte er auch seine eigenen Sachen eingepackt, die Wohnung in Haifa aufgelöst und war zu seiner Mutter gezogen, hierher nach Tel Ilan. Mehr als alles andere verlangte es ihn nach völliger Ruhe. Ein Tag sollte sein wie der andere, frei von allen Verpflichtungen.

Manchmal unternahm er lange Spaziergänge in der näheren oder weiteren Umgebung des Dorfs, durch die Hügel, die Obstplantagen, die dämmrigen Kiefernwäldchen. Oder er streifte eine halbe Stunde auf dem Hof umher. Der landwirtschaftliche Betrieb seines Vaters war schon vor vielen Jahren aufgegeben worden, doch noch immer gab es hier alte Holz- und Wellblechschuppen, Hühnerställe, eine Scheune, einen Stall, der einst für die Kälbermast genutzt worden war. Im ehemaligen Pferdestall lagerten die Möbelstücke aus der aufgelösten Wohnung auf dem Carmel in Haifa. Dort verstaubten nun die Sessel, das Sofa, die Teppiche, die Anrichte und der Wohnzimmertisch aus Haifa, alle Gegenstände bedeckt und verbunden von einem dünnen Netz aus Spinnweben. Auch sein und Na’amas Ehebett stand hochkant in einer Ecke des Pferdestalls. Und die Matratze war unter einem Haufen verstaubter Federbetten begraben.

Arie Zelnik sagte: Entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun. Wolf Bittsteller erwiderte: Selbstverständlich. Entschuldigen Sie. Ich möchte nicht stören, mein Lieber, auf keinen Fall. Im Gegenteil. Ab jetzt halte ich meinen Mund. Ich gebe keinen Ton mehr von mir.

Mit diesen Worten folgte er seinem Gastgeber ins Haus, das dämmrig und kühl war und in dem ein leichter Geruch von Schweiß und Alter hing.

Arie Zelnik beharrte: Warten Sie bitte draußen auf mich.

Obwohl er eigentlich hatte sagen wollen, sogar mit einer gewissen Grobheit, daß dieser Besuch nun zu Ende sei und der Besucher verschwinden solle.

5 Doch der Besucher dachte überhaupt nicht daran zu verschwinden. Er glitt hinter Arie Zelnik den Flur entlang, öffnete eine Tür nach der anderen und musterte in aller Ruhe die Küche, das Bücherzimmer, Arie Zelniks Hobbyzimmer mit den Flugzeugmodellen aus Balsaholz, die an dicken Schnüren von der Decke hingen und sich im Luftzug bewegten, als wollten sie einander attackieren. Damit erinnerte er Arie Zelnik an seine eigene Angewohnheit, die er schon als Kind gehabt hatte, jede geschlossene Tür zu öffnen und nachzuschauen, was sich hinter ihr verbarg.

Als beide am Ende des Flurs angekommen waren, versperrte Arie Zelnik mit seinem Körper den Zugang zu seinem Schlafzimmer, das einmal das Zimmer seines Vaters gewesen war. Aber Wolf Bittsteller hatte gar nicht vor, dort einzudringen, sondern klopfte leise an die Tür der tauben alten Frau. Als keine Reaktion erfolgte, legte er eine Hand sanft, wie streichelnd, auf die Klinke, öffnete vorsichtig die Tür, trat ein und sah Rosalia, bis zum Kinn mit einer Wolldecke zugedeckt, mitten in dem breiten Doppelbett liegen, eine Haube auf dem Kopf, die Augen geschlossen, die knochigen, zahnlosen Kiefer mahlten ohne Unterlaß hin und her.

Wie wir es uns erträumt haben, sagte Wolf Bittsteller und kicherte. Guten Tag, gnädige Frau, wir haben uns so sehr nach Ihnen gesehnt und wollten Sie unbedingt aufsuchen. Sie freuen sich doch sicherlich auch sehr, uns zu sehen?

Mit diesen Worten trat er an ihr Bett, beugte sich zu ihr herunter und gab ihr zwei Küsse, einen auf jede Wange, dann gab er ihr noch einen Kuß auf die Stirn, bis die alte Frau die trüben Augen öffnete, eine knochige Hand unter der Decke hervorstreckte, Wolf Bittsteller über den Kopf strich und etwas murmelte und noch etwas, und auch ihre zweite Hand unter der Decke hervorstreckte und mit beiden Händen seinen Kopf zu sich zog, er beugte sich noch tiefer zu ihr, streifte seine Schuhe ab, küßte sie auf ihren zahnlosen Mund, legte sich neben sie ins Bett, zog die Decke über sich und sagte: Ja, so, und er sagte auch: Guten Tag, meine Werteste.

Arie Zelnik zögerte kurz, blickte zum offenen Fenster hinüber, durch das man einen der nicht mehr genutzten Schuppen sah und eine staubige Zypresse, an der eine orangelodernde Bougainvillea emporkletterte. Er ging um das breite Bett herum und schloß den Fensterladen und das Fenster, zog auch den Vorhang zu, und nachdem er das Zimmer abgedunkelt hatte, knöpfte er sein Hemd auf, zog den Gürtel aus der Hose, schlüpfte aus seinen Schuhen, zog sich aus und legte sich neben seine alte Mutter ins Bett, und so lagen sie zu dritt da, die Hausherrin zwischen ihrem schweigenden Sohn und dem fremden Mann, der nicht aufhörte, sie zu streicheln und zu küssen, und dabei leise murmelte: Alles wird in Ordnung kommen, meine Werteste, alles wird gut, wir werden hier alles in Ordnung bringen.

Verwandte

1 Über dem Dorf lag die frühe Dunkelheit eines Februarabends. Außer Gili Steiner war niemand an der Bushaltestelle, die von einer nahen Straßenlaterne schwach beleuchtet wurde. Das Rathaus war bereits zu, die Fensterläden geschlossen. Aus den umliegenden Häusern, deren Fensterläden ebenfalls geschlossen waren, drang das Gemurmel von Fernsehern. Eine Katze strich mit erhobenem Schwanz langsam an den Mülleimern vorbei, überquerte vorsichtig die Straße und verschwand im Schatten der Zypressen.

Der letzte Bus aus Tel Aviv kam jeden Abend um sieben Uhr in Tel Ilan an. Seit zwanzig vor sieben saß Doktor Gili Steiner, die Ärztin der Krankenkassenambulanz des Dorfs, an der Haltestelle vor dem Rathaus, um dort auf den Sohn ihrer Schwester zu warten, den Soldaten Gideon Gat. Während eines Lehrgangs im Rahmen seiner Ausbildung bei den Panzertruppen war bei ihm eine Nierenerkrankung entdeckt worden, und man hatte ihn ins Krankenhaus eingewiesen. Nun, nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, schickte ihn seine Mutter zur Erholung für ein paar Tage zu ihrer Schwester, der Ärztin.

Doktor Steiner war eine hagere, eckige Junggesellin mit kurzgeschnittenen grauen Haaren, strenger Miene und einer viereckigen, randlosen Brille, eine energische Frau von ungefähr fünfundvierzig Jahren, die aber älter aussah. Sie galt als glänzende Diagnostikerin, die sich eigentlich nie irrte, die aber, wie es bei uns in Tel Ilan hieß, im Umgang mit den Patienten spröde wirkte, nicht mitfühlend, aber immer ganz bei der Sache. Sie hatte nie geheiratet, aber ihre Altersgenossen im Dorf erinnerten sich, daß sie in ihrer Jugend eine Liebesaffäre mit einem verheirateten Mann gehabt hatte, der im Libanonkrieg gefallen war.