Gespräche, Fragmente, Handbuch - Epiktet . - E-Book

Gespräche, Fragmente, Handbuch E-Book

Epiktet

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Beschreibung

EPIKTET (etwa 50-120 n.Chr.) war einer der einflussreichsten Vertreter der späten Stoa und kann zu Recht als ein Philosoph der Freiheit gelten. Sein Leben war geprägt von Fremdbestimmung, denn Epiktet wurde als Sklave geboren und diente am Hof des römischen Kaisers. Nach seiner Freilassung unterrichtete Epiktet selbst stoische Philosophie, bis er durch Kaiser Domitian aus Rom vertrieben wurde und sich im Nordwesten Griechenlands niederließ. Epiktets Denken hingegen war bestimmt von einem Kernkonzept der inneren Freiheit: Freiheit, verstanden als Freisein von Leidenschaften, innerer Unruhe und der Abhängigkeit von äußeren Gütern. Diese zentrale Unterscheidung, die Einteilung aller Dinge in »mein« und »fremd«, ist die Grundlage für ein gutes Leben, denn wer verstanden hat, was wirklich von uns abhängt, dem können äußere Umstände in seinem Streben nach Glück und Seelenruhe nichts anhaben. Die Philosophie Epiktets ist eine Mischung aus orthodoxem Stoizismus mit kynischen und sokratischen Elementen; seine Sprache ist stets lebensnah und seine Ausdrucksweise mal predigend, mal locker-ironisch. Dies alles dient dem Ziel der praktischen Umsetzung seiner Philosophie: Epiktet will die Menschen aufrütteln und sie zu einem besseren Leben anleiten. Weil er lebte, wie er lehrte, beeindruckt Epiktet seine Leser mit seinem holistisch-radikalen Ansatz zum guten Leben seit nunmehr fast 2000 Jahren. Die vorliegende Ausgabe enthält alle erhaltenen Gespräche (Diatribe), die Fragmente aus den verloren gegangenen Büchern sowie das prominente Handbuch (Encheiridion). Die zugrundeliegende Übersetzung von Rudolf Mücke (1926) wurde umfassend überarbeitet und um Textanmerkungen, eine ausführliche Einführung in Leben, Werk und Philosophie sowie drei Register ergänzt. Tino Deckert (Hrsg.) hat Philosophie und Wirtschaft in Mainz studiert. Er arbeitet im Bereich Erneuerbare Energien und ist nebenberuflich als Autor und Dozent in der Erwachsenenbildung tätig.

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EPIKTET

Gespräche | Fragmente | Handbuch

Moderne Gesamtausgabe auf der Grundlage der Übertragung von Rudolf Mücke neu übersetzt, mit Anmerkungen versehen und eingeleitetvon Tino Deckert

tredition

ISBN Paperback

978-3-347-37048-7

ISBN e-book

978-3-347-37049-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Für die Inhalte von den in diesem Buch abgedruckten Internetseiten sind ausschließlich die Betreiber der jeweiligen Internetseiten verantwortlich.

Copyright: © 2021 Tino Deckert

Übersetzung: August Rudolf Mücke

Lektorat: Anina Höck | www.hoeck-lektorat.de

Umschlagbild: Antike Fliesen | Bild von PublicDomainPictures | pixabay.com

Verlag & Druck: tredition GmbH | Halenreie 40-44 | 22359 Hamburg | www.tredition.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Gespräche (Diatriben)

Vorrede

Buch I

Buch II

Buch III

Buch IV

Fragmente

Handbuch (Encheiridion)

Anhang

Siglenverzeichnis

Anmerkungen zum Text

Einführung in Leben und Werk

Grundzüge der Philosophie

Übersetzung und Ausgabe

Literaturverzeichnis

Glossar griechischer Begriffe

Namensregister

Themenregister

Liste der Gespräche

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie es der Zufall (oder das Schicksal) wollte, ist die Idee zu diesem Buch keine 100 Kilometer vom antiken Nikopolis, der langjährigen Wirkungsstätte Epiktets, entfernt entstanden. Als Urlaubslektüre auf Kefalonia 2019 diente mir eine Textsammlung stoischer Philosophen. Da Epiktet mein erneutes Interesse weckte, wollte ich über das Handbuch und die bekanntesten Gespräche hinaus das gesamte erhaltene Werk Epiktets lesen. Die Recherche ergab schnell, dass es eine moderne deutsche Gesamtübersetzung nicht gibt und auch die älteren Übersetzungen selbst antiquarisch nicht zu erwerben waren.1 Um diese Lücke zu schließen, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die letzte deutsche Gesamtübersetzung von Rudolf Mücke aus dem Jahr 1926 zu überarbeiten, um sie Ihnen wieder zugänglich zu machen. Das entstandene Buch ist sowohl für die wissenschaftlich Orientierten wie Studenten der Sozial- und Geisteswissenschaften als auch für interessierte Laien konzipiert: Letzteren dienen die zeitgemäße Einführung und die Textanmerkungen für einen Einstieg in die stoische Ideenwelt; Erstere profitieren von der überarbeiteten Übersetzung samt relevanter griechischer Begriffe im Text, mehreren Registern mit vielen Querverweisen sowie der zitierfähigen Nummerierung nach Buch, Kapitel und Paragraf.

Epiktets Faszination besteht darin, lebensnahe und ethisch relevante Themen in einer zugänglichen Sprache und Darstellungsform zu vermitteln. Doch Vorsicht! Epiktet ist weit entfernt von einer weichgespülten Wohlfühlphilosophie, das hier ist kein Ratgeberbuch im Sinne von »Die zehn besten Tipps zum glücklichen Leben«. Selbst wenn sich die Fragen und Probleme rund um das gute Leben seit 2000 Jahren eigentlich nicht geändert haben, können die eindringlichen und unnachgiebigen Antworten Epiktets vieles bei Ihnen auslösen: wohlwollende Zustimmung, konstruktiver Widerspruch, ideologische Ablehnung, gelegentliches Schmunzeln usw. Daher kann man Epiktets Texte mit einem Leuchtturm vergleichen: Sie dienen der Standortbestimmung und Orientierung, müssen aber selbst gar nicht das Ziel sein. In diesem Sinne: Viel Spaß beim Lesen und bleiben Sie philosophisch!

Mein Dank gilt zunächst Epiktet für seine ermutigenden Gedanken, die mir schon oft geholfen haben zu erkennen, was im Leben wirklich wichtig ist. Sebastian Alefs und meiner Frau Eva danke ich für ihre wertvollen Hinweise während der Fertigstellung des Manuskripts sowie Anina Höck für ihr sachkundiges Lektorat. Darüber hinaus danke ich meiner Frau für ihr stets offenes Ohr bei sprachlichen und methodischen Fragen sowie ihrem unermüdliches Verständnis in Bezug auf dieses Projekt: Aus den angedachten Schönheitsreparaturen einer überarbeiteten Neuausgabe wurde eine anderthalbjährige Kernsanierung, bei der an unzähligen Abenden und Wochenenden kaum ein Satz unverändert blieb.

Gewidmet ist dieses Buch unseren Kindern.

Tino Deckert

Mainz im Oktober 2021

Gespräche (Diatriben)

Vorrede

Arrian grüßt Lucius Gellius.2

[1] Ich habe Epiktets Reden (logos) nicht verfasst, wie man etwas von dieser Art wohl verfassen könnte. Sie sind auch nicht von mir in die Öffentlichkeit gebracht worden, so wenig, wie ich ihr Verfasser bin. [2] Ich habe mich nur bemüht, was ich aus Epiktets Mund gehört habe, möglichst in seinen eigenen Worten niederzuschreiben,3 um für mich selbst einige Erinnerungen an seinen klaren Geist (dianoia) und seine Freimütigkeit4 zu haben. [3] Es herrscht in ihnen diejenige Art zu reden, wie wenn jemand gleich danach einem anderen davon erzählt; und gar nicht diejenige, deren man sich befleißigt, wenn man für künftige Leser schreibt. [4] Dem ungeachtet ist nun einmal diese Niederschrift, wie es kam weiß ich nicht, ohne mein Wissen und Wollen in viele Hände gekommen. [5] Will sie jemand für unzureichend halten, so mache ich mir nicht viel daraus, und noch weniger macht sich Epiktet daraus, wenn man seine Reden geringschätzig beurteilen will. Denn er hat sich bekanntermaßen bei seinen Reden keinen anderen Endzweck vorgesetzt, als die Gemüter seiner Zuhörer auf das Beste und Wichtigste zu lenken.5[6] Sofern diese Reden dieselbe Wirkung immer noch erzielen, so haben sie meines Erachtens schon den Zweck erreicht, den philosophische Reden haben müssen. [7] Fehlt es aber hieran, so kann ich doch den Lesern versichern, dass Epiktet beim mündlichen Vortrag allemal solche Gesinnungen und Entschlüsse bei seinen Zuhörern geweckt hat, die er wecken wollte. [8] Wenn seine Reden für sich allein diese Wirkung nicht mehr hervorrufen, so liegt der Grund vielleicht bei mir, vielleicht ist es aber auch unvermeidlich.6

Lebe wohl!

Buch I

I.1 Was in unserer Macht (eph‘ hēmin) und was nicht in unserer Macht (ouk eph‘ hēmin) steht

[1] Unter den anderen Fähigkeiten (dynamis) werdet ihr keine finden, die imstande ist sich selbst zu prüfen, geschweige denn, sich selbst zu akzeptieren oder zurückzuweisen. [2] Die Grammatik, wie weit kann sie sich selbst untersuchen? So weit, dass sie entscheiden kann, was richtig oder unrichtig geschrieben ist. Die Musik? Dass sie entscheiden kann, ob man richtig oder falsch singt. [3] Untersucht hiermit eine von diesen sich selbst? Keineswegs. Aber wenn etwas an einen Freund zu schreiben ist und es bedarf dazu der Schriftzeichen, so wird die Grammatik es dir sagen. Ob man aber dem Freund schreiben oder nicht schreiben sollte, das wird sie dir nicht sagen. So verhält es sich auch mit der Musik hinsichtlich der Melodien. Ob man aber jetzt singen und die Kithara spielen soll, wird sie dir nicht sagen. [4] Welche aber wird es dir sagen? Diejenige, welche imstande ist, sich selbst und alles andere zu untersuchen. Welche ist das? Das Denkvermögen (dynamis hē logikē). Dieses ist das einzige, das sich selbst betrachtet, was es ist, was es kann und welchen Wert es hat; das seinen eigenen Wert zu schätzen weiß und alle anderen Vermögen und Künste prüft. [5] Denn wer sagt uns, dass das Gold schön (kalos) ist? Es selbst sagt es nicht. Es kann nicht reden. Vielmehr sagt uns das die Fähigkeit, Vorstellungen zu gebrauchen (chrēstikē dynamis tais phantasiais). [6] Wer beurteilt die Musik, die Grammatik und anderen Künste? Wer bestimmt ihren Gebrauch? Wer setzt ihnen Ziel, Maß und Schranken? Niemand anderes als das Denkvermögen.

[7] Die Götter haben hiermit, wie es ihrer würdig war, das Allergrößte, das über alles die Herrschergewalt hat, nämlich den rechten Gebrauch der Vorstellungen (chrēsin tēn orthēn tais phantasiais),7 in unsere Macht (eph᾽ hēmin), alles andere hingegen nicht in unsere Macht (ouk eph᾽ hēmin) gegeben. Etwa darum, weil sie es nicht wollten? [8] Mir scheint, sie hätten auch dies in unsere Macht gegeben, wenn sie gekonnt hätten. Allein, das war ihnen schlicht unmöglich. [9] Denn, da wir auf der Erde leben und mit einem solchen Leib verbunden sind und in solcher Gesellschaft leben, so war es ja unmöglich, dass wir von den Außendingen (ektos) nie gehindert würden. [10] Aber was sagt Zeus:8 »Wäre es möglich gewesen, Epiktet, so hätte ich auch deinen armseligen Leib (sōmation)9 und dein bisschen Habe frei und von jeder Einschränkung unabhängig gemacht. [11] Darüber darfst du dich nicht täuschen, diese Dinge sind nicht dein, sie gehören nicht zu dir, sie sind nur schön gemengter Ton. [12] Da ich dazu nicht in der Lage war, habe ich dir ein Teilchen (meros) von meinem Wesen mitgegeben; nämlich, das Vermögen des Entschlusses, etwas zu tun (hormē) und zu lassen (aphormē), das Vermögen des Begehrens (orexis) und Vermeidens (ekklisis), kurz, das Vermögen von deinen Vorstellungen Gebrauch zu machen. Wenn du dieses sorgfältig ausbildest und all das Deine da hineinsetzt, so wirst du nie Einschränkungen oder Hemmungen erfahren, nie klagen, nie tadeln, niemandem schmeicheln.« — [13] Wie? Scheint dir das etwas Geringes zu sein? — »Bestimmt nicht!« — So lass es dir daran genügen und danke den Göttern.

[14] Obwohl wir die Möglichkeit haben, uns nur um eine Sache zu kümmern (epimeleia) und uns dieser zu widmen, wollen wir uns doch lieber um viele Dinge bemühen und an eine Menge Sachen gebunden sein: an den Leib, an Besitz, an einen Bruder, an einen Freund, an ein Kind, an einen Sklaven. [15] Da wir uns an so vielerlei binden lassen, so muss es uns wohl zu einer Last werden, die uns zu Boden zieht. [16] Daher kommt es, dass, wenn uns etwa die Witterung verhindert, unter Segel zu gehen, wir gramvoll dasitzen und alle Augenblicke ans Fenster gehen, um zu schauen, was für ein Wind am Himmel ist. »Noch immer Nordwind! Ei, der leidige Nordwind! Wann will es denn auch einmal Westwind werden?« Sobald es ihm gefällt, guter Freund! Oder sobald es Aiolos10 gefällt. Denn Gott hat nicht dir, sondern Aiolos die Verwaltung der Winde aufgetragen. [17] — »Was sollen wir denn tun?« — Schaffen, dass dasjenige, was in unserer Macht steht, im besten Zustand ist, und alles andere so gebrauchen, wie es kommt. — »Wie kommt es denn?« — Wie es Gott will.

[18] »Dass ich denn jetzt allein durch das Beil sterben muss!« — Was? Willst du denn, dass allen die Köpfe abgeschlagen werden, dass du dich damit trösten kannst, in Gesellschaft zu sterben? [19] Willst du deinen Hals nicht auf dieselbe Weise hinstrecken, wie es Lateranus11 in Rom tat, als ihn Nero zum Beil verurteilt hatte? Er hielt seinen Nacken hin, und als er bei dem ersten Schlag, der zu schwach gewesen war, ein wenig gezuckt hatte, hielt er den Nacken wieder hin. [20] Kurz vorher war Epaphroditos,12 Neros Freigelassener, zu ihm gekommen und wollte ihn verhören. Er gab ihm zur Antwort: »Wenn ich etwas sagen wollte, so würde ich es deinem Herrn selbst sagen.«

[21] Was muss man also unter solchen Umständen zur Hand haben (procheiron echein)?13 Was denn anderes als sich darüber klar sein, was ist mein, und was ist nicht mein, was steht in meiner Macht, und was steht nicht in meiner Macht? [22] Ich muss einmal sterben. Muss ich aber auch darüber seufzen und jammern? Ich muss in Fesseln liegen. Muss ich aber auch deswegen Tränen vergießen? Ich wurde des Landes verwiesen. Was verwehrt mir, dabei lachend, frohen Mutes und wohlauf fortzuwandern? — [23] »Sage deine Geheimnisse!« — Nein, denn das liegt bei mir. — »So lass ich dich ins Gefängnis stecken.« — Was sagst du, Mensch? Mich? Meine Beine kannst du fesseln, aber meinen freien Willen (prohairesis) kann selbst Zeus nicht überwinden. — [24] »Ich lasse dich enthaupten.« — Habe ich jemals gesagt, dass allein mein Hals unverwundbar ist? [25] Solche Gedanken sollten die Philosophierenden studieren (meletē), dergleichen täglich schreiben und sich in diesen Grundsätzen trainieren.

[26] Thrasea14 sagte oft: »Ich will lieber heute hingerichtet, als morgen des Landes verwiesen werden.« Aber was sagte ihm Rufus15 hierüber? [27] »Wenn du den Tod als das Schwerere vorziehst, so ist deine Wahl töricht. Ziehst du es aber als das Leichtere vor, so sage mir, wer hat dir die Wahl gegeben? Willst du denn nicht lernen, mit dem, was dir beschert ist, immer zufrieden zu sein?«

[28] Was sagte Agrippinus16 in einem ähnlichen Fall? »Ich will mir selbst nicht im Weg stehen.« Man kündigte ihm an: Der Senat sitzt deinetwegen zu Gericht. [29] »Möge alles gut gehen, aber wir haben jetzt 11 Uhr« (um diese Zeit pflegte er Leibesübungen vorzunehmen und dann ein kaltes Bad zu nehmen), »lasst uns gehen und unsere Übungen machen.« [30] Als er sie gemacht hatte, kam einer und sagte: Höre, du bist verurteilt. — »Verbannung oder Tod?«, fragte er. — Verbannung. — »Und mein Vermögen?« — Es wurde dir nicht konfisziert. — »Gut, gehen wir also und speisen in Aricia zu Mittag!« [31] Das heißt es, sich in den Dingen zu üben, die man üben soll; Begehren und Vermeiden in eine solche Verfassung gesetzt haben, dass sie auf jedes Hindernis und jeden widrigen Zufall vorbereitet sind. Ich muss sterben: Wenn es jetzt sein muss, so sterbe ich jetzt. [32] Soll es aber noch Aufschub haben, so speise ich jetzt zu Mittag, weil es eben Mittagessenszeit ist, und will dann nach dem Essen sterben. Wie? So wie es dem zukommt (prosēkon), der fremdes Eigentum (allotrion)17 zurückgibt.

I.2 Wie man bei allem seinen Charakter (prosōpon)18bewahren kann

[1] Dem vernünftigen Lebewesen (tō logikō zōō) ist nur das Unvernünftige (alogos) unerträglich; was vernunftgemäß (eulogos) ist, kann es ertragen. Schläge sind nicht von Natur aus unerträglich. — [2] »Wie ist das zu verstehen?« — Sieh wie es sich abspielt! Die Spartaner19 lassen sich geißeln, nachdem sie gelernt haben, dass dieses aus einem vernünftigen Grund geschieht. — [3] »Ist denn das Erhängen nicht unerträglich?« — Nein, denn sobald einer glaubt, dass er es aus einem vernünftigen Grund tun möge, geht er hin und erhängt sich. [4] Wenn man darauf achtet, wird man feststellen, dass den Menschen nichts mehr beunruhigt, als was vernunftwidrig ist; und wiederum nichts so starken Reiz auf ihn hat als das Vernunftgemäße.

[5] Es kommen aber nicht allen Menschen die gleichen Sachen vernünftig oder unvernünftig vor, so wie auch dem einen dies, dem anderen etwas anderes gut oder schlecht, nützlich oder unnütz vorkommt. [6] Das ist eben die Hauptursache, warum wir Bildung (paideia) nötig haben, damit wir nämlich die allgemeine Vorstellung (prolēpsis) des Vernünftigen und Vernunftwidrigen auf die einzelnen Fälle naturgemäß anwenden lernen. [7] Wir nehmen aber zum Merkmal des Vernünftigen und Vernunftwidrigen nicht bloß den Wert der Außendinge (ektos), sondern auch den Wert, den die Dinge für den Charakter (prosōpon) eines jeden haben. [8] Es mag einem Sklaven vernünftig erscheinen, seinem Herrn das Nachtgeschirr zu halten, wenn er nur darauf achtet, dass er Schläge kriegt und nichts zu essen bekommt, wenn er sich dieses Dienstes weigert; dass ihm dagegen kein Leid widerfährt, wenn er es hält. [9] Einem anderen hingegen erscheint es unerträglich, nicht nur jemandem das Nachtgeschirr zu halten, sondern eben so sehr, sich dasselbe von jemand halten zu lassen. Wenn du mich also fragst: »Soll ich das Nachtgeschirr halten oder nicht?«, so werde ich dir zur Antwort geben: Es ist eine Sache von größerem Wert, dass man zu essen bekommt, als dass man nichts bekommt. [10] Es ist schlimmer, gepeitscht zu werden, als nicht gepeitscht zu werden. Wenn du also nur das zum Maßstab nimmst und nur hiernach bestimmen willst, was du tun oder nicht tun sollst, so geh immer und halte das Geschirr.20 — [11] Du wendest ein: »Mir stünde das nicht an.« — Ob es dir ansteht oder nicht, das musst du in Betracht ziehen, nicht ich; denn du weißt selbst am besten, was du wert bist und wie teuer du dich verkaufst. Die Menschen verkaufen sich unterschiedlich, der eine für diesen, der andere für jenen Preis.

[12] Als sich Florus21 überlegte, ob er sich zu Neros Schauspielen bequemen sollte, sodass er selbst eine Rolle übernimmt, sagte ihm Agrippinus: »Bequeme dich.« [13] Und als er diesen fragte: »Warum bequemst du dich denn nicht dazu?«, gab Agrippinus ihm zur Antwort: »Weil ich es noch nicht einmal in Betracht gezogen habe.« [14] Denn wer sich erst so weit erniedrigt, über solche Dinge nachzudenken und den Wert der Außendinge in Betracht zieht; der ist nicht mehr weit davon entfernt, die eigene Persönlichkeit (prosōpon) zu vergessen. [15] Denn was fragst du mich: »Ist der Tod oder das Leben vorzuziehen?« — Ich sage dir: Leben. — »Schmerz (ponos) oder Lust (hēdonē)?« — Ich sage dir: Lust. — [16] »Aber es wird mich wirklich den Kopf kosten, wenn ich mich weigere, eine Rolle in der kaiserlichen Tragödie zu übernehmen.« — Nun so geh denn und übernimm eine Rolle. Ich für meinen Teil übernehme keine. — »Warum?« — Weil du dich nur für einen gewöhnlichen Faden am Kleid erachtest. [17] — »Wie?« — Willst du denn nur danach trachten, wie die anderen Menschen zu sein, so wie der Wollfaden nicht besser als die anderen Wollfäden am Gewand sein will? [18] Ich hingegen will ein Purpurfaden22 sein, jenes Wenige und Glänzende, das dem ganzen Gewand Zierde und Ansehen gibt. Warum sagst du mir denn: »Sei auch wie viele andere!« Dann würde ich ja kein Purpurfaden mehr sein.

[19] Dies war auch die Einsicht des Helvidius Priscus,23 und er handelte auch danach. Denn als ihm Vespasian mitteilte, er solle nicht in den Senat kommen, gab er zur Antwort: »Es liegt bei dir, mir die Senatorenstelle zu nehmen. Solange du mir sie nicht förmlich nimmst, muss ich in den Rat gehen.« [20] — »Nun gut, du magst wohl in den Senat gehen«, sagte der Kaiser, »aber du musst schweigen.« — »Frage mich nicht um meine Meinung, so will ich schweigen.« — »Ich muss dich aber um deine Meinung fragen.« — »So muss ich auch reden, was mir recht (dikaiosynē) erscheint.« — »Redest du, so lass ich dich hinrichten.« — [21] »Wann habe ich je gesagt, dass ich unsterblich bin? Du magst tun, was in deiner Macht steht, und ich werde tun, was in meiner steht. Es steht in deiner Macht, hinrichten zu lassen, und in meiner, unerschrocken zu sterben. In deiner Macht steht es, des Landes zu verweisen; in meiner, ohne Trauer meines Weges zu gehen.« [22] Was hat aber Priscus damit Gutes erreicht? Er war doch der Einzige seiner Art. Und was schafft der Purpurfaden dem Kleid für Nutzen? Seinen leuchtenden Wert hat er behauptet, wie der Purpur; und den anderen ist er ein schönes Muster.24[23] Ein anderer, dem der Kaiser in einem solchen Fall den Besuch des Senats verboten hätte, hätte gesagt: »Ich danke dir, dass du mich verschonst.« [24] Einem solchen hätte er den Senat nicht verboten: Er hätte wohl gewusst, dass ein solcher so stumm wie ein Tonkrug sein würde; oder, wenn er doch den Mund auftäte, nichts anderes reden würde, als was der Kaiser gern hört und noch mehr solches Zeug anhäufen.

[25] Auf gleiche Weise verhielt sich einmal ein Athlet (er war zugleich Philosoph), der entweder das Leben einbüßen oder sein männliches Glied amputieren lassen musste. Sein Bruder kam zu ihm und sagte: »Nun Bruder, was willst du tun? Ich ließe das Glied abnehmen, so könnte ich den Übungsplatz wieder besuchen.« Der Athlet schlug es aus und litt standhaft den Tod.25 — [26] Da fragte einer, ob er dies als Philosoph oder als Athlet getan hätte. Epiktet antwortete: Als Mann, der seine Stärke bei den Olympischen Spielen bewährt hat und dort als Held ausgerufen worden ist; der an einem solchen Ort bekannt geworden und nicht bei Baton26 in die Ringerschule gegangen ist. — [27] Ein anderer hingegen hätte sich gar den Kopf abschlagen lassen, wenn er ohne Kopf hätte leben können. [28] So bewahrt man seinen Charakter; so mächtig wirkt er bei denen, die sich daran gewöhnt haben, in ihren Überlegungen das allein gelten zu lassen, was ihrem Charakter entspricht. — [29] »Wohlan denn, Epiktet, lass dir den Bart abnehmen.«27 — Wenn ich ein Philosoph bin, so antworte ich: Ich werde ihn nicht abrasieren. — »Dann lasse ich dich köpfen.« — Wenn es dir besser erscheint, so lass meinen Kopf abschlagen.

[30] Es fragte einer: »Woran merkt man, was eines jeden besonderen Charakter erfordert?« Epiktet antwortete: Woran merkt der Stier seine Stärke, wenn er auf einen Löwen trifft? Warum stellt er sich für die ganze Herde zur Gegenwehr? Sieht man nicht klar hieraus, dass, wo die Fähigkeiten und Kräfte vorhanden sind, das Bewusstsein über dieselben nicht ausbleibt? [31] Wenn also auch einer von uns solche Fähigkeiten und Kräfte besitzt, werden sie ihm nicht verborgen bleiben. Allein ein Stier wird nicht auf einmal ein Stier, und so wird man auch nicht auf einmal ein edler (gennaios) Mensch. [32] Man muss sich an Wind und Wetter gewöhnen, man muss sich Kraft erwerben, und man darf nicht blindlings und übereilt an Aufgaben gehen, denen man nicht gewachsen ist.

[33] Besinne dich nur, wie teuer dir dein freier Wille (prohairesis) ist. Wenigstens, Mensch, lass ihn dir nicht zu billig sein! Große und ausgezeichnete Taten kommen vielleicht anderen, einem Sokrates28 und dergleichen Männern zu. — [34] »Warum werden wir aber nicht alle, oder doch viele von uns, so große Männer, wie diese, da wir doch von gleicher Natur wie sie sind?« — Werden denn auch alle Pferde große Läufer? Und alle Hunde gute Jagdhunde? [35] Nur weil ich nicht begabt bin, soll ich deswegen alle Bemühungen (epimeleia) aufgeben? Sicher nicht. Epiktet wird nicht besser sein als Sokrates. [36] Oh! Ich bin zufrieden, wenn ich nicht zu schlecht bin. Ich werde auch nie ein Milon29 werden, aber darum vernachlässige ich nicht meine Leibeskräfte. [37] Auch werde ich kein Kroisos30 werden; aber darum vernachlässige ich nicht meinen Besitz. Man gibt überhaupt in keiner Sache nur deswegen alle Bemühungen auf, weil man sich keine Hoffnung macht, darin das Höchste zu erreichen.

I.3 Was ergibt sich daraus, dass Gott der Vater der Menschen ist?

[1] Wir stammen alle ursprünglich von Gott ab, und Gott ist der Vater sowohl der Menschen als auch der Götter.31 Wer sich diesen Satz sorgfältig einprägt, wird meines Erachtens nicht niedrig von sich denken. [2] Wenn dich der Kaiser adoptiert, würdest du unerträglich stolz darauf sein. Sollte es denn dein Selbstbewusstsein nicht steigern, wenn du vernimmst, dass du ein Sohn des Zeus bist? [3] Allein, man tut dies nicht, sondern da wir von zusammengesetzter Natur32 sind und teils aus einem Leib, den wir mit den Tieren, teils aus Vernunft (logos) und Verstand (gnōmē) bestehen, die wir mit den Göttern gemein haben, so neigen sich viele auf die Seite dieser armseligen sterblichen, wenige hingegen auf die Seite jener göttlichen und glückseligen (makarios) Verwandtschaft hin. [4] Da man aber nicht anders kann, als mit jeder Sache so umzugehen, wie man sich eine Vorstellung davon macht, so werden die wenigen, welche glauben, zur Treue (pistis), zur Ehrfurcht (aidōs)33 und zum sicheren Urteil beim Gebrauch der Vorstellungen (asphaleian tēs chrēseōs tōn phantasiōn) geboren zu sein, weder niedrig noch gering von sich denken. [5] Bei der großen Menge wird sich wohl das Gegenteil finden. »Was bin ich denn?«, fragt man. »Ein armer, elender Mensch! Schwaches hinfälliges Fleisch!« — [6] Das ist wahr; aber du hast auch etwas Besseres als dieses bisschen Fleisch. Warum setzt du denn jenes Edlere hinten an und heftest dich an dieses fest?

[7] Wenn wir uns auf die Seite der sterblichen Verwandtschaft neigen, werden wir Wölfen gleich: treulos, hinterlistig und böse. Oder wie Löwen: roh, wild und grausam. [8] Die meisten aber werden wie Füchse; denn was ist ein verleumderischer und bösartiger Mensch anderes als ein Fuchs oder ein noch gemeineres und niederträchtigeres Tier? [9] So seht also zu und hütet euch, dass ihr nicht zu solchen Ungeheuern ausartet.

I.4 Vom sittlichen Fortschritt (prokopē)

[1] Die Fortschreitenden (prokoptōn) lernen bei den Philosophen,34 dass das Begehren (orexis) die Güter, das Vermeiden (ekklisis) hingegen die Übel zum Gegenstand hat und dass der Mensch nicht anders zu einem gelingenden Leben (euroia) und zu ungestörter Gemütsruhe (apatheia) gelangt, als wenn ihn sein Begehren niemals täuschen und er nie in das geraten kann, was er ablehnt. Wenn nun einer in dieser Lehre fortschreitet, so zeigt es sich darin, dass er sich für eine lange Zeit gar kein Begehren mehr erlaubt und nur solche Dinge ablehnt, die von seinem Willen abhängen (prohairetikon).35[2] Denn er weiß wohl, dass, wenn er Dinge vermeiden wollte, die nicht von seinem Willen abhängen (aprohaireton), er durch seine Abweisung in irgendetwas hineingeraten könnte und schließlich unglücklich sein würde. [3] Da die Tugend (aretē) das Versprechen in sich schließt, Glückseligkeit (eudaimonia), Freiheit von Affekten (apatheia) und ein gutes Leben (euroia) zu verschaffen, so ist jeder Fortschritt in der Tugend zugleich auch ein Fortschritt in jedem der genannten Güter. [4] Denn der Fortschritt ist ja überhaupt nichts anderes als eine Annäherung zu derjenigen Vollkommenheit (teleios), zu der man strebt.

[5] Wenn wir aber zugestehen, dass die Tugend eine so vortreffliche Sache ist, warum suchen wir dann vielmehr den Fortschritt in allen anderen Dingen? Was bewirkt die Tugend (ti ergon aretēs)? Ein gutes Leben. [6] Wer macht also Fortschritte? Etwa der, der zahlreiche Schriften des Chrysipp36 gelesen hat? Das soll doch keine Tugend sein, den Chrysipp gut gelesen zu haben? [7] Falls es das ist, so müssen wir freilich auch sagen, das Fortschreiten ist nichts anderes, als viele Bücher von Chrysipp gelesen zu haben. Allein, so widersprechen wir uns selbst. [8] Denn so wäre es das eine, was wir durch die Tugend, und wieder etwas anderes, was wir durch das Fortschreiten oder die Annäherung erhalten. [9] — Jemand sagt: »Der ist imstande ohne fremde Hilfe den Chrysipp zu lesen.« — Bravo, bei Gott, du machst Fortschritte, Menschenskind. Was denn für Fortschritte? — »Was spottest du ihm?« — [10] Willst du ihm in der Erkenntnis seiner Laster hinderlich sein? Zeige ihm lieber die Hauptaufgabe der Tugend (to ergon tēs aretēs), damit er zugleich lernt, worin er seinen Fortschritt suchen soll. [11] Was soll denn deine Hauptaufgabe sein? Dein Begehren (orexis) und dein Vermeiden (ekklisis) so zu regieren, dass dir nie fehlschlagen kann, was du begehrst; und dass dir nie etwas begegnen kann, was du vermeidest; deine Entschlüsse zu handeln (hormē) oder nicht zu handeln (aphormē) so zu regieren, dass sie ihre Bestimmungen nie verfehlen; deine Zustimmung (synkatathesis) oder dessen Zurückhaltung (epochē), sodass du vor Irrtum gesichert bist. [12] Das erstgenannte und notwendigste Gebiet der Philosophie (topos) kommt zuerst.37 Wenn du aber immer noch mit Zittern und Wehklagen den widrigen Zufällen zu entgehen suchst, worin soll denn dein Fortschritt bestehen?

[13] Zeige mir also hierin deinen Fortschritt! Wie wenn ich zu einem Kämpfer sagte: Zeige mir die Stärke deiner Schultern, und er mir antwortete: »Da, sieh meine Sprunggewichte.« — Was gehen mich die Sprunggewichte an? Ich möchte sehen, was für eine Stärke du aufgrund dieser Sprunggewichte erworben hast. — [14] »Nimm das Buch Vom Antrieb38 zur Hand und stell mich auf die Probe, mit welchem Fleiß ich es durchlesen habe.« — Bursche, danach frage ich nicht, sondern wie du deine Antriebe, dein Begehren, dein Abweisen regierst; wonach du deine Zustimmung, deine Entschlüsse, deine Vorbereitungen zu treffen pflegst; ob du hierin der Natur gemäß (kata physin) oder nicht gemäß verfährst. [15] Verfährst du der Natur gemäß, so lass mich Proben sehen. Dann will ich sagen, du machst Fortschritte. Verfährst du aber darin nicht nach der Natur, so geh hin und interpretiere nicht nur Bücher, sondern schreibe sogar selbst welche. Was hilft es dir? [16] Weißt du nicht, dass das ganze Buch nur fünf Denare39 kostet? Mag der Ausleger desselben wohl mehr als fünf Denare wert sein? [17] Lasst doch die Gedanken fahren, dass ihr in einer Sache Fortschritte machen könnt, wenn ihr aus einer ganz anderen Sache eure Hauptaufgabe macht.

[18] Wer macht also Fortschritte? Derjenige, der sich gänzlich von den Außendingen (ektos) abwendet und sich nur darum bemüht, seinen freien Willen (prohairesis) so auszugestalten und zu vervollkommnen, dass er mit der Natur völlig übereinstimmt, erhaben, frei (eleutheria), keinem Widerstand und Hindernissen unterworfen, verlässlich (pistis) und sittsam (aidōs) ist. [19] Derjenige macht Fortschritte, welcher gelernt hat, dass ein Mensch, der nach Dingen gelüstet oder sie fürchtet, die außerhalb seiner Macht sind, weder verlässlich noch frei sein kann, sondern notwendig oft fallen und durch den Unbestand jener Dinge umgetrieben werden muss; dass ein solcher notwendig denen unterwürfig sein muss, die es in ihrer Macht haben, ihm jene Dinge zu verschaffen oder zu verwehren. [20] Derjenige macht Fortschritte, welcher diese Regeln schon am frühen Morgen, sobald er aufsteht, vor Augen hat und sie den ganzen Tag über behält; der im Bad, der bei Tisch den verlässlichen, den ehrfürchtigen Mann zeigt; der in allen Verhältnissen Stoff (hylē) findet, das schlechthin Wertvolle (proēgoumenon) zu betreiben, so wie ein Läufer immer läufermäßig und ein Sänger immer sängermäßig handelt. [21] Ein solcher, sage ich, kommt wahrhaftig vorwärts, ein solcher ist nicht zwecklos in die Fremde gereist.40[22] Hat es hingegen jemand nur darauf abgesehen, dass er in Büchern bewandert ist; studiert er nur deswegen, ist er nur zu diesem Zweck in der Fremde, so sage ich ihm: Reise doch gleich wieder nach Hause und setze deine dortigen Geschäfte nicht hinten an! [23] Denn der Endzweck deiner Reise sollte nichts anderes sein, als dass du darauf studierst (meletē), wie du dein Leben von Klage und Jammergeschrei, von »Wehe mir!« und »Gott erbarme!«, von Missgeschick und Unglück befreien kannst; dass du lernst (mathēsis), was Tod, was Verbannung, was Kerker, was Krankheit, was Gift ist, auf dass du im Gefängnis sagen kannst: Mein Kriton, wenn es den Göttern so gefällt, soll es so geschehen.41[24] Dass man nicht von dir hört: »Ich unglückseliger alter Mann! Habe ich darum grau werden müssen, damit ich ein solches Schicksal erlebe!« — »Wer spricht so?« — [25] Meint ihr, ich werde euch einen einfachen Mann von niedrigem Stand nennen? Sagt es nicht Priamos?42 Sagt es nicht Ödipus?43 Ja, wie viele Könige führen solche Sprache? [26] Denn was sind Tragödien anderes als in Versform vorgebrachte Leidenschaften (pathos) von Leuten, die die Außendinge anstaunen? [27] Denn wenn man durch eine Täuschung zu der Erkenntnis gelangen würde, dass die Außendinge, die doch nicht auf unserem Willen (aprohaireton) beruhen, uns nichts angehen, so würde ich für meinen Teil nur diejenige Täuschung wünschen, der ich es zu danken hätte, dass ich ein Leben in Wohlfahrt (euroia) und Seelenruhe (ataraxia) führen könnte. Was ihr für euch als wünschenswert erachtet, das müsst ihr selbst sehen.

[28] Was leistet uns denn Chrysipp für Dienste? — Er sagt: »Damit du einsiehst, dass die Lehren nicht falsch sind, welche zu einem glückseligen Leben und zur Gemütsruhe anleiten, so nimm meine Bücher, und du wirst einsehen, wie wahr und übereinstimmend mit der Natur die Lehren sind, die meine Seele vor dem Sturm der Leidenschaften sicherstellen.« [29] Wahrlich ein großes Glück und ein großer Wohltäter, der uns einen solchen Weg zeigt! [30] Und da haben alle Völker der Erde einem Triptolemos44 Tempel und Altäre gebaut, weil er uns mildere Nahrungsmittel verschafft hat. [31] Demjenigen aber, der die Wahrheit gefunden, der die Wahrheit ins rechte Licht gesetzt und der Welt bekannt gemacht hat, die Wahrheit, die nicht bloß der Erhaltung des Lebens, sondern ein gutes Leben (eu zēn) bewirkt… wer von euch hat diesem großen Mann einen Altar oder einen Tempel gebaut oder eine Ehrensäule geweiht oder dankt Gott anbetend für ihn? [32] Wir bringen den Göttern Opfer dar, dass sie uns den Weinstock und das Getreide gegeben haben; und dafür sollte die Gottheit keinen Dank von uns empfangen, dass sie eine solche Frucht im menschlichen Geist (dianoia) hervorgebracht hat, durch die sie uns die Wahrheit, die zur Glückseligkeit führt, zeigen wollte?

I.5 Über die Akademiker45

[1] Es ist sehr schwer, sagt Epiktet, ein Argument (logos) ausfindig zu machen, wodurch man denjenigen, der die klarsten Wahrheiten bestreitet, auf bessere Gedanken bringen könnte. [2] Man muss dies aber weder der Stärke eines solchen noch der Schwäche dessen, der ihn belehren wollte, zuschreiben; sondern wenn ein Mensch in die Enge getrieben sich verhärtet wie ein Stein, so sind ihm keine vernünftigen Argumente mehr zugänglich.

[3] Es gibt zwei Arten der Verhärtung: Die eine ist eine Verhärtung des Verstandes, die andere des angeborenen sittlichen Gefühls, wenn sich einer so hartnäckig widersetzt, dass er den offenbarsten Dingen seine Zustimmung verweigert und andererseits sich nichts daraus macht, auf einem offenbaren Widerspruch hartnäckig zu bestehen. [4] Jeder fürchtet sich vor dem Absterben eines Gliedes oder des armseligen Leibes (sōmation), und man wird keine Mittel versäumen, sich davor zu bewahren. Wenn hingegen die Seele (psychē) abstirbt, so macht man sich nichts daraus. [5] Freilich, wenn es um die Seele eines Menschen so steht, dass er den Gründen eines anderen nicht folgen und gar nichts verstehen kann, dann findet man doch endlich, dass das ein übler Zustand ist. Wenn jedoch das angeborene sittliche Gefühl der Scham (aidōs) bei einem Menschen so gut wie abgestumpft ist, so nennen wir dies wohl gar noch Stärke (dynamis).

[6] Empfindest du nicht, dass du wachst? — »Nein«, sagt der Akademiker, »denn ich wache auch nicht, wenn es mir im Traum so vorkommt, als ob ich wach bin.« — Unterscheidet sich denn die Vorstellung (phantasia), die ich jetzt habe, von der, die ich dann habe, in gar nichts? — »Nein.« — [7] Mit einem solchen Menschen soll ich noch weiter diskutieren? Und welche Glut, welches Eisen sollte wohl hinreichend sein, ihn fühlen zu lassen, dass er gänzlich abgestumpft ist! Wenn er es gleich wirklich fühlt (aisthēsis), verhehlt er es dennoch. Ein solcher ist noch schlimmer dran als ein wirklich Toter. Der Tote ist außerstande, den Widerspruch einzusehen; schlimm genug. [8] Dieser hingegen, obwohl er den Widerspruch wohl einsieht, bleibt dennoch unbeweglich und ohne Fortschritt (prokopē). [9] Sein Zustand ist noch weit schlimmer, denn seine Scham und sein sittliches Gefühl sind herausgeschnitten; die Vernunft ist, wenn nicht herausgeschnitten, aber doch verwildert. Das soll ich Stärke nennen? [10] Niemals! Oder man müsste die Schamlosigkeit der Perversen, die sich nicht scheuen, vor aller Welt zu tun und zu reden, was ihnen gelüstet, auch mit dem Titel der Stärke beehren.46

I.6 Über die Vorsehung (pronoia)47

[1] Wir finden ohne Mühe an jedem Ding auf der Welt (kosmos) genug Stoff zum Lob der Vorsehung, wenn wir nur diese zwei Fähigkeiten besitzen: nämlich das Vermögen, jedes einzelne Geschehen in seinem größeren Zusammenhang aufzufassen, und Dankbarkeit. [2] Andernfalls würden wir entweder den Nutzen der Dinge, die uns zuteilgeworden sind, nicht einsehen, oder wir würden nicht den geringsten Dank dafür haben, auch wenn wir es einsähen. [3] Wenn Gott Farben gemacht hätte, aber kein Vermögen (dynamis), sie zu sehen, was hätte es uns genützt? — »Nichts.« — [4] Wenn er uns wiederum zwar das Sehvermögen gegeben, aber die Dinge außerhalb von uns nicht so gemacht hätte, dass sie dem Sehvermögen zugänglich wären, was hätten wir dann auch davon? — »Nichts.« — [5] Und wie? Wenn er auch diese beiden Sachen so gemacht, aber kein Licht erschaffen hätte? — »Auch dann hätten wir keinen Nutzen davon.« — [6] Wer hat also dies für jenes und jenes für dieses passend gemacht? Wer hat das Schwert für die Scheide und die Scheide für das Schwert passend gemacht? Niemand etwa? [7] Wir pflegen doch aber gerade aus der sinnvollen Einrichtung einer vollendeten Sache den Schluss zu ziehen, dass jenes das Werk (ergon) eines Künstlers (technitēs)48 und nicht durch blinden Zufall entstanden ist. [8] Beweisen nicht also solche Sachen das Dasein eines Meisters? Und die sichtbare Welt, das Licht und die Sehkraft sollten es nicht beweisen? [9] Und was ist mit dem Mann und der Frau und ihrem beiderseitigen Verlangen sich zu vereinigen und ihr Vermögen, die dazu eingerichteten Teile zu gebrauchen? Das alles sollte nicht von einem Werkmeister zeugen? Ich denke, das wären schon Beweise genug. [10] Nun aber dieser Geist (dianoia), kraft deren wir nicht nur überhaupt von allen sinnlichen Gegenständen Abdrücke empfangen, sondern auch eine Auswahl treffen, weglassen, hinzusetzen, einzelnes davon durch sie kombinieren, ja, bei Gott, von einem aufs andere, das in irgendeiner Weise damit zusammenhängt, fortschreiten! Sollte wohl auch das nicht stark genug sein, gewisse Leute zu bewegen und dahin zu bringen, dass sie sich schämen, den Werkmeister zu leugnen? [11] Oder sie sollen uns erklären, was das schaffende Prinzip dieser Dinge ist und wie es möglich ist, dass so wunderbare und kunstreiche Dinge rein zufällig oder von selbst entstehen?

[12] Wie nun? Vielleicht aber finden sich dergleichen wunderbare Dinge nur in und bei uns? Bei uns allein liegt zwar in der Tat vieles, nämlich alles dasjenige, wovon ausschließlich vernünftige Wesen (logikon zōon) Gebrauch machen können. Du wirst aber auch vieles finden, was wir mit den vernunftlosen Wesen gemein haben. [13] Verstehen denn diese auch, wie und woher die Dinge entstehen? Nicht im Geringsten. Denn es ist zweierlei, von etwas Gebrauch zu machen und es zu begreifen. Nach dem göttlichen Entwurf dienen die sinnlichen Vorstellungen (phantasia) den Tieren allein, um sie zum Genuss der Dinge zu führen; uns aber sollen sie eine vernünftige Einsicht in die wahre Bestimmung und den rechten Gebrauch derselben lehren. [14] Daher ist es für sie schon genug, dass sie essen, trinken, ausruhen, sich fortpflanzen und anderes dergleichen verrichten, was jedes Tier kann. [15] Für uns hingegen, denen er über dieses hinaus die Fähigkeit zum Verstehen gegeben hat, genügt das nicht mehr, sondern wenn wir nicht nach Maß und Ordnung, wenn wir nicht der Natur und Einrichtung einer jeden Sache gemäß handeln, so erfüllen wir nicht mehr den Endzweck (telos),49 wozu wir geschaffen sind. [16] Wesen von unterschiedlicher Einrichtung sind auch zu verschiedenen Funktionen (ergon) und Endzwecken bestimmt. Für ein Wesen, das durch seine Einrichtung nur fähig ist, sinnliche Vorstellungen zu gebrauchen, ist es schon genug, dass es diese, so gut es kann, gebraucht. [17] Hingegen ein Wesen, das eines vernünftigen Gebrauches der Vorstellungen fähig ist, würde seiner Bestimmung nicht entsprechen, wenn es ohne Maß und Regeln verführe. [18] Was heißt das? Hat nicht Gott jede einzelne Tiergattung zu einem gewissen Zweck bestimmt? Die einen, um gegessen zu werden, andere zum Ackerbau, wieder andere, um Butter und Käse zu geben, und andere zu anderen solchen Notwendigkeiten; alles Verrichtungen, für die keine deutlichen Begriffe und keine Urteilskraft nötig sind. [19] Hingegen hat Gott den Menschen zu dem Zweck in die Welt gesetzt, dass er Gottes und seiner Werke Zuschauer, und nicht bloß Zuschauer, sondern auch Ausleger ist. [20] Es wäre deshalb schändlich (aischros) für den Menschen, da anzufangen und aufzuhören, wo auch die Tiere dies tun. Wir müssen zwar da anfangen, wo sie anfangen, aber erst da aufhören, wo die Natur an uns aufgehört hat. [21] Sie hat aber erst bei der denkenden Betrachtung (theōria), bei deutlicher Erkenntnis und bei einem mit der Natur übereinstimmenden Leben (symphōnon diexagōgēn tē physei) aufgehört. [22] So seht denn zu, dass ihr nicht sterbt, bevor ihr diese Dinge geschaut habt.

[23] Aber nach Olympia reist ihr, um das berühmte Werk des Pheidias50 zu sehen, und haltet es für ein Unglück, wenn ihr sterbt, ohne es je gesehen zu haben. [24] Diejenigen Werke Gottes aber, die keiner Reise bedürfen, die schon gegenwärtig sind und die ihr ohne Mühe schauen könnt, zu denen habt ihr kein Verlangen, sie zu betrachten und zu erkennen? [25] Wollt ihr nicht wahrnehmen (aisthēsis), was für Wesen ihr seid, wozu ihr geboren seid und welches das Ziel ist, zu dem ihr auf diesen Schauplatz geführt worden seid? — »Aber es gibt unerfreuliche und schlimme Sachen in diesem Leben.« — [26] Gibt es denn in Olympia nichts dergleichen? Leidet ihr dort nicht unter der Hitze? Kommt ihr nicht ins Gedränge? Habt ihr nicht schlechte Bäder? Und wenn es regnet, müsst ihr nicht bis auf die Haut nass werden? [27] Gibt es da kein Lärm, Geschrei und andere Beschwerlichkeiten zur Genüge? Allein ihr rechnet, denke ich, die Sehenswürdigkeit des Schauspiels gegen dieses alles auf und duldet es deswegen. Und habt ihr denn keine Kräfte empfangen,51 um solche Umstände ertragen zu können? [28] Habt ihr nicht Seelengröße (megalopsychia) empfangen? Habt ihr nicht Tapferkeit (andreia) empfangen? Habt ihr nicht Geduld (karteria) empfangen? Was bekümmere ich mich denn um Zufälle, die mir begegnen können, wenn ich Seelengröße habe? [29] Was wird mich bestürzen oder unruhig machen? Was wird mir Kummer bereiten? Soll ich die Kräfte nicht gebrauchen, die ich dazu empfangen habe? Soll ich lieber über die Geschehnisse klagen und seufzen?

[30] »Ja, aber der Schnupfen plagt mich so.« — Mensch, wofür hast du denn deine Hände? Sollen sie dir nicht dienen, die Nase zu schnäuzen? — [31] »Ist es denn vernünftig (eulogos), dass es Schnupfen in der Welt gibt?« — [32] Du bist viel besser dran, wenn du deine Nase putzt, als mit der Natur zu hadern! Oder, was meinst du, wäre aus Herakles52 geworden, wenn es keinen solchen Löwen, keine Hydra, keinen Hirsch, keinen Eber, keine gottlosen und wilden Menschen gegeben hätte, die er vertrieb und ausrottete? Und was hätte er getan, wenn es nichts dergleichen gegeben hätte? [33] Er hätte sich bestimmt eingehüllt und schlafen gelegt. Er wäre aber erstens so nicht ein Herakles geworden, wenn er sein ganzes Leben in solcher Weichlichkeit und Untätigkeit verschlafen hätte. Und wenn er doch einer geworden wäre, was hätte man dann von ihm gehabt? [34] Was hätten seine kräftigen Arme, seine übrige Stärke, seine Standhaftigkeit (karteria) und seine Tapferkeit (gennaios) genützt, wenn nicht solche Vorfälle und Umstände (peristasis) ihn aufgerüttelt und trainiert hätten? [35] Oder hätte er sich da solche Widerstände erst selbst schaffen sollen, indem er irgendwo einen Löwen aufstöbert und in seine Heimat bringt oder einen Eber oder eine Hydra? Das wäre Dummheit und Wahnsinn gewesen! [36] Da diese aber schon vorhanden und gefunden waren, so waren sie ganz dienlich, den Herakles zu zeigen und zu bewähren.

[37] Wohlan, wenn du dir auch solcher Kräfte bewusst bist (schau die Kräfte an, die du hast) und wenn du sie wohl betrachtet hast, so sprich: »Nun Zeus, lass die Schwierigkeiten (peristasis) kommen, welche du willst; du hast mich ja so geschaffen und mit solchen Kräften und Hilfsmitteln versehen, dass ich mich in allem auszeichnen kann, was mir begegnet.« [38] Aber nein, sondern ihr sitzt da und zittert, es könnte euch dies oder das begegnen, oder ihr weint und jammert über das, was euch wirklich begegnet, und hadert zuletzt mit den Göttern. [39] Was könnte denn wohl aus solcher Feigheit anderes folgen als Gottlosigkeit? [40] Gott hat uns nicht nur diejenigen Kräfte gegeben, durch die wir jeden Zufall ertragen können, ohne uns niederdrücken oder demütigen zu lassen, sondern er hat uns als ein guter König und wahrer Vater diese Kräfte so gegeben, dass sie nicht verwehrt, nicht überwältigt, nicht verhindert werden können. Er hat gemacht, dass sie ganz in unserer Macht stehen (eph‘ hēmin), und sich selbst nicht vorbehalten, sie zu wehren oder zu hindern. [41] Obwohl ihr über diese Möglichkeiten und diese Freiheit (eleutheria) verfügt, nutzt ihr sie nicht und merkt gar nicht, was ihr bekommen habt und wer es euch gegeben hat, sondern ihr sitzt nur klagend und seufzend da! [42] Die einen sind für den Geber solcher Gaben selbst ganz blind geworden und erkennen den göttlichen Wohltäter nicht mehr. Die anderen lassen sich aus Feigheit zu Beschwerden und Vorwürfen gegen Gott hinreißen. [43] Und doch hast du, das will ich dir zeigen, alle Kräfte und Mittel zur Seelengröße und Tapferkeit in dir. Zeige du mir hingegen, was du für Gründe hast, Klagen und Beschwerden zu führen.

I.7 Über den Gebrauch von Trugschlüssen, hypothetischen und anderen dergleichen Schlüssen

[1] Die große Menge ist sich nicht bewusst, dass die Beschäftigung mit Trugschlüssen, hypothetischen Schlüssen, Fragschlüssen und anderen dergleichen Schlüssen in einer Beziehung zum Gebotenen (kathēkon) steht.53[2] Denn es geht ja darum, dass wir wissen, wie der sittlich gute Mensch (kalos kai agathos) bei einer Diskussion auftreten, und wie er sich hierbei pflichtgemäß verhalten soll. [3] Entweder müsste man also sagen, ein Liebhaber der Weisheit (spoudaios) wird sich niemals auf eine Diskussion einlassen, oder, wenn er sich einlässt, sich nichts daraus machen, sorglos und fahrlässig in Frage und Antwort zu verfahren. [4] Wer keines von beiden annimmt, muss notwendig zugeben, dass man diejenigen Grundsätze der Logik, nach denen man in einer Diskussion verfährt, einigermaßen innehaben muss. [5] Was sagt die Vernunft (logos)?54 »Man muss wahre Sätze zugeben, falsche verneinen und sich bei zweifelhaften enthalten (epochē).« Genügt es denn, dies allein zu lernen (mathēsis)? — »Ja«, sagt jemand, »das genügt.« — [6] Wie? Ist es denn schon genug, wenn ich mir habe sagen lassen, ich darf nur gute Münzen annehmen, unechte hingegen verwerfen? Stellt mich das schon sicher, dass mich niemand beim Geld betrügt? — »Nein, das noch nicht.« — [7] Was gehört denn noch dazu? Nun, was anderes als die Fähigkeit (dynamis), die echten und die gefälschten Münzen zu prüfen und zwischen ihnen zu unterscheiden? Deshalb reicht auch beim Denken das gesprochene Wort allein nicht aus, nicht wahr? [8] Wird man auch in diesem Fall notwendig imstande sein müssen zu prüfen und das Wahre, das Falsche und das Ungewisse zu unterscheiden? — »Jawohl.« — [9] Was sagt die Vernunft noch? »Was aus richtig zugegebenen Sätzen folgt, das musst du annehmen.« [10] Wohlan, ich frage wieder, ist es genug, wenn man dies weiß? Auch das ist noch nicht genug, sondern man muss auch gelernt haben, wie ein Satz aus dem anderen folgt, wenn er eine Folge von nur einem oder wenn er eine Folge von mehreren Sätzen zusammen ist. [11] Ist es denn nicht notwendig, dass jemand auch diese Fähigkeit erwirbt, wenn er in der Diskussion klug verfahren, wenn er selbst für alles genauen Beweis führen, die Beweise anderer genau verstehen und sich nicht von denen, die zu Trugschlüssen kommen, hintergehen lassen will, als ob sie richtig geschlossen hätten? [12] Hieraus ergibt sich, dass die Beschäftigung und Übung in logischen Argumenten mit verschiedenen Schlussformen notwendig sind.

[13] Allein die Prämissen haben immer ihre Konklusionen, und wenn man auch etwas Falsches daraus herleiten kann, so ist es doch immer eine Konklusion. Was soll ich in so einem Fall tun? [14] Muss ich das Falsche, den Trugschluss, annehmen? Das kann ich ja nicht. Soll ich sagen: »Es war unvernünftig von mir, die Prämissen einzuräumen.« [15] Das geht auch nicht an. Oder soll ich leugnen, dass die Konklusion aus den Prämissen folgt? Dies geht ebenso wenig. Was ist hiermit in solchen Fällen zu tun? [16] Verhält es sich nicht wie mit einer geliehenen Sache? Das Ausleihen selbst macht mich noch nicht zum Schuldner; es gehört noch dazu, dass das Ausgeliehene noch bei mir liegt, und dass ich es noch nicht zurückgegeben habe. Auf gleiche Weise verpflichtet mich die Einräumung einiger Prämissen noch nicht, das, was daraus gefolgert wird, zuzugeben; wohl aber dazu, auf ihrer Einräumung zu beharren. [17] Freilich, wenn die Prämissen bis zum Ende so bleiben, wie wir sie anfangs eingeräumt haben, so müssen wir notwendig auf dem Eingeständnis beharren und akzeptieren, was daraus folgt. [18] Wenn aber die Prämissen nicht so bleiben, wie wir sie zugestanden haben, so müssen wir notwendig von dem Eingeständnis Abstand nehmen und die Konklusion nicht anerkennen. [19] Denn von uns aus ergibt sich diese Folgerung nun nicht mehr aus den Prämissen, da wir von unserer früheren Zustimmung zu den Prämissen zurückgetreten sind. [20] Es ist daher notwendig, nach solchen Prämissen und nach solchen Wechseln und mehrdeutigen Veränderungen zu fragen; denn wenn einer in der Frage oder Antwort oder Konklusion, in welchem Teil der Erörterung auch immer, die Bedeutung wechselt, so tut er es, damit er einfältige Gegner, welche die Folgen nicht sehen, verwirrt. [21] Hierauf muss man sich verstehen; sonst würde man in solchen Fällen schnell gegen das Gebotene und auf eine verworrene Art verfahren.

[22] Das gleiche ist auch bei Hypothesen und hypothetischen Schlüssen zu beachten. Denn es ist manchmal notwendig, eine Hypothese als eine Art Sprungbrett für das nachfolgende Argument zu fordern. [23] Soll man nun jede Hypothese, die man uns vorschlägt, einräumen oder nicht jede? Wenn man nicht jede Hypothese einräumen soll, welche Art darf man denn einräumen? [24] Wenn ich eine Hypothese einmal zugegeben habe, muss ich dann durchaus bei der Einräumung bleiben, oder darf ich etwa auch wieder zurücktreten? Muss ich nicht annehmen, was aus dem Zugegebenen folgt, und verwerfen, was demselben widerspricht? — »Freilich.« — [25] Aber da sagt einer: »Ich werde es fertigbringen, dich von einer Hypothese, die nur Mögliches enthält und die du zugibst, auf etwas Unmögliches schließen zu lassen.« Soll sich ein verständiger Mann (phronimos) mit einem solchen nicht einlassen, soll er seine Fragen und seine Gespräche vermeiden? [26] Gewiss nicht. Wer aber außer einem verständigen Mann weiß, mit Schlüssen umzugehen, ist stark in Frage und Antwort und, bei Zeus, gegen Täuschung und Sophismen verwahrt? [27] Oder soll er sich zwar einlassen, aber sich nicht daran stören, dass er bei der Erörterung unüberlegt und auf gut Glück verfährt? Wie wäre das noch der Mann, den wir betrachten! [28] Oder ist er ohne solche Vorbereitung und Übung imstande, die richtigen Folgerungen zu ziehen? Das zeige man mir! [29] Dann will ich sagen, diese Lehren (theōrēma) sind alle überflüssig und absurd und entsprechen nicht der allgemeinen Vorstellung (prolēpsis) eines sittlich gebildeten Mannes (spoudaios).

[30] Warum sind wir denn noch untätig, sorglos und müßig? Warum suchen wir allerlei Vorwände, die Arbeit zu unterlassen, nicht aufzuwachen und unsere Vernunft nicht auszubilden? — [31] »Wenn ich mich in diesen Dingen irre, so ist es doch kein Vatermord.« — Junge! Wo war hier dein Vater, dass du ihn hättest umbringen können? Was hast du also begangen? Die Verfehlung, welche in dieser Sache die einzig mögliche war, hast du begangen. [32] So sagte ich einst auch zu Rufus, als er mich kritisierte, weil ich eine Auslassung in einem Syllogismus nicht fand. »Oh«, sagte ich, »es ist doch nicht so, als ob ich das Kapitol55 angezündet hätte.« — »Junge«, antwortete er, »hier ist das Ausgelassene das Kapitol.« — Gibt es sonst keine Verfehlungen, als das Kapitol anzuzünden oder den Vater zu ermorden? [33] Wenn du leichtsinnigen und unüberlegten Gebrauch von deinen Vorstellungen machst (chrēsthai tais phantasiais); wenn du einen Schluss, einen Beweis, einen Sophismus nicht verstehst; wenn du bei Frage und Antwort überhaupt nicht merkst, was aus deinen eigenen Sätzen folgt oder nicht folgt; sind das keine Verfehlungen?

I.8 Dass dialektische Fähigkeiten (dynamis) für den Ungebildeten etwas Gefährliches sein können56

[1] So oft sich ein Begriff mit anderen gleichbedeutenden vertauschen lässt, so oft lassen sich auch Formen von logischen Beweisen mit Enthymemen57 vertauschen. [2] Zum Beispiel: »Wenn du dir Geld von mir geliehen und nicht zurückgegeben hast, so bist du es mir noch schuldig.« Das kann vertauscht werden mit: »Du hast kein Geld von mir geliehen und nichts zurückgezahlt. Also bist du mir nichts schuldig.« [3] Die Geschicklichkeit in solchen Abänderungen kommt einem Philosophen am meisten zu (prosēkon). Denn weil ein Enthymem ein unvollständiger Syllogismus ist, so ist klar, dass derjenige, welcher im vollständigen Syllogismus geübt ist, mit dem unvollständigen nicht minder umzugehen weiß.

[4] Warum stellen wir denn weder für uns selbst noch untereinander solche Übungen an? [5] Darum, weil wir im Moment, obwohl wir diese Übungen unterlassen und also dadurch niemand, durch mich wenigstens, von der Ausbildung seines Charakters (ēthos) abgelenkt wird, keine Fortschritte zum Schönen und Guten (kalokagathia) machen. [6] Wie würde es erst gehen, wenn wir diese Beschäftigung noch hinzunehmen wollten? Ich unterlasse aber diese Übungen besonders auch darum, weil sie nicht nur viel Zeit von wesentlicheren Sachen wegnehmen, sondern auch einen gewissen Anlass für Eitelkeit und Selbstgefälligkeit geben würden. [7] Denn es ist eine große Fähigkeit, mit Kunstschlüssen umgehen und mit Wahrscheinlichkeiten überzeugen zu können; besonders, wenn man ein größeres Maß an Übung darin hat und noch dazu eine gewisse Verzierung der Worte anzubringen weiß. [8] Und endlich darum, weil überhaupt jede Fähigkeit für Leute, die in der Philosophie noch ungebildet oder gar fremd sind, von der Gefahr begleitet ist, dass sie darauf stolz und eingebildet werden. [9] Denn mit welchem Mittel könnte man einen jungen Mann, der sich in der Redekunst auszeichnet, dazu bringen, sie zu einem Anhängsel seiner selbst zu machen, anstatt dass er ein Anhängsel von ihr wird? [10] Wird er nicht alle unsere Gründe mit Füßen treten, uns hochnäsig über die Schulter anschauen und dem schlecht begegnen, der ihn daran erinnert, dass er etwas Wesentliches weggelassen und dass er sein Ziel aus den Augen verloren hat?

[11] »Wie? War denn Platon58 kein Philosoph?« — War denn Hippokrates59 kein Arzt? Aber schau, wie kunstvoll Hippokrates schreibt. Hippokrates schreibt doch nicht so schön, weil er ein Arzt ist? [12] Warum mengst du Sachen zusammen, die sich zufälligerweise an ein und demselben Mann vereint finden? [13] Wenn Platon ein schöner und starker Mann gewesen ist, hätte auch ich mich deswegen hinsetzen sollen und eifrig bemühen, schön und stark zu werden? Gerade so, als ob das notwendig zur Philosophie gehört, weil einmal ein Philosoph zugleich ein schöner Mann und ein Philosoph war. [14] Willst du nicht verstehen und unterscheiden, inwieweit ein Mensch ein Philosoph ist und was für Eigenschaften sich darüber hinaus zufällig an ihm finden? Angenommen, ich wäre ein Philosoph; müsstet ihr deswegen auch alle hinken?60[15] Wie nun? Will ich dir diese Fähigkeiten verweigern? Sicher nicht! So wenig wie das Sehvermögen. [16] Wenn du mich aber fragst, was das wahre Gut des Menschen (agathon tou anthrōpou) ist, kann ich dir nichts anderes sagen, als dass es im freien Willen (prohairesis) liegt.

I.9 Was unsere Verwandtschaft mit Gott für Folgen hat

[1] Wenn das wahr ist, was die Philosophen von der Verwandtschaft des Menschen mit Gott sagen, folgt dann nicht richtigerweise daraus, dass ein Mensch, wenn man ihn fragt, was für ein Landsmann er ist, nie antworten sollte, ein Bürger Athens oder Korinths; sondern, wie Sokrates zu antworten pflegte, ein Bürger der Welt (kosmos)? [2] Denn warum nennst du dich einen Athener und nicht einfach nach jenem Erdenwinkel, wo dein bisschen Leib (sōmation), als du auf die Welt kamst, hingelegt wurde?61[3] Du nennst dich offenbar einen Bürger Athens oder Korinths, weil du dich nach dem Bedeutenderen nennst, was nicht nur jenen Winkel, sondern dein ganzes Haus und die ganze Stadt miteinschließt, wo sich deine Vorfahren bis auf dich fortgepflanzt haben.

[4] Wer also die Regierung der Welt begriffen hat und einsieht, dass die größte, höchste und umfassendste Gemeinschaft diejenige ist, welche aus den Menschen und Gott besteht, denn von Gott ist der Samen nicht nur auf meinen Vater und Großvater, sondern auf alles, was auf Erden geboren wird oder ins Leben tritt, vorwiegend aber auf die vernünftigen Wesen, herabgekommen; [5] und dass nur diese einer Gemeinschaft mit Gott fähig sind, weil sie durch die Vernunft (kata ton logon) innig mit ihm verbunden sind, warum sollte, wer dies einsieht, sich nicht einen Weltbürger, warum nicht einen Sohn Gottes nennen? [6] Warum sollte er sich vor irgendetwas in der Welt fürchten? [7] Soll zwar eine Verwandtschaft mit dem Kaiser oder mit einer hohen Standesperson in Rom schon ausreichen, dass einer ohne Gefahr, ohne Verachtung und ohne Furcht vor irgendetwas lebt? Und uns sollte der Gedanke nicht von allem Kummer (lypē) und aller Furcht (phobos) freimachen, dass wir Gott zum Erzeuger, Vater und Beschützer haben? — »Woher nehme ich aber zu essen, wenn ich nichts habe?« — [8] Wovon leben die Sklaven, die ihren Herren entlaufen sind; worauf verlassen sie sich, wenn sie Reißaus nehmen? Auf Landbesitz, auf Dienerschaft, auf Geld? Auf nichts als auf sich selbst. Und trotzdem geht ihnen die Nahrung nicht aus. [9] Sollte sich denn ein Philosoph während der Reise auf andere Leute verlassen müssen und nicht für sich selbst sorgen (epimeleia) können? Sollte er also schlimmer dran und feiger sein als die unvernünftigen Tiere, von denen ein jedes sich selbst genug ist und weder an der ihm eigentümlichen Nahrung Mangel leidet noch an der ihm entsprechenden und naturgemäßen (kata physin) Lebensweise?

[10] Ich meine, euer alter Lehrer62 sollte hier auf seinem Lehrstuhl nicht so darum besorgt sein müssen, dass ihr nicht niedergeschlagen seid und keine niedrigen und mutlosen Reden über euren Zustand miteinander wechselt; [11] weit eher muss er fürchten, dass etwa Jünglinge, die ihre Verwandtschaft mit den Göttern erkennen und sehen, dass der Leib und seine Habe und alles, was man zum Lebensunterhalt und Umgang mit der Welt nötig hat, Fesseln sind, in denen wir stecken, plötzlich auftreten und dies alles als beschwerliches, verdrießliches, unnützes Zeug wegwerfen und zu ihren göttlichen Verwandten hinlaufen wollen. [12] Und in diesen Kampf sollte sich euer Lehrer und Erzieher, falls er das wirklich ist, mit euch einlassen; ihr solltet herantreten und sagen: »Das ertragen wir nicht länger, Epiktet, an diesen armen Leib gefesselt zu sein, ihn zu ernähren und zu tränken, ihn schlafen zu legen, ihn zu waschen und zu baden und uns um seinetwillen nach allerlei Leuten zu richten. [13] Sind das nicht gleichgültige Dinge (adiaphoron), die uns nichts angehen, so wie der Tod kein Übel ist? Und sind wir nicht mit Gott verwandt und kommen von ihm her? [14] Lass uns hingehen, woher wir kommen! Lass uns endlich einmal die Fesseln, die so schwer an uns hängen, zerreißen! [15] Hier sind Räuber, Diebe, Gerichtshöfe und Tyrannen, die sich dieses elenden Leibes und seiner Habe wegen einbilden, Gewalt über uns (eph᾽ hēmin) zu haben. Lass uns ihnen zeigen, dass sie über nichts Gewalt haben.« Dann würde ich euch hierauf antworten: »Wartet auf Gott, ihr Menschen! [16] Sobald er euch das Zeichen gibt und euch von diesem Dienst freistellt, könnt ihr zu ihm zurückzugehen. Zurzeit aber haltet geduldig auf dem Posten aus, auf den er euch gestellt hat.63 Die Zeit eures Daseins ist ja nur kurz und kann Leuten von solchen Gesinnungen nicht schwer vorkommen. [17] Denn welcher Tyrann, welcher Dieb, welche Gerichtshöfe könnten denen noch furchtbar sein, die sich aus dem Leib und seiner Habe so wenig machen. Bleibt hier, geht nicht unbedacht fort.«

[18] So etwa sollte der Lehrer gutgeartete Jünglinge zurechtweisen. Allein, wie halten wir es miteinander? [19] Abgestorben der Lehrer, abgestorben die Schüler! Wenn ihr euch heute satt gegessen habt, sitzt ihr da und weint wegen des morgigen Tages, woher ihr zu essen bekommen sollt. [20] Du Knechtsseele, wenn du hast, so hast du. Hast du nichts, so geh von hier weg, die Tür steht offen. Warum trauerst du? Was hast du zu weinen? Was hast du noch für einen Anlass, jemandem zu schmeicheln? Warum sollte einer den anderen beneiden? Warum sollte er sich ein großes Bild von Leuten machen, die viel besitzen, die in hoher Macht und Würde stehen, besonders, wenn sie so gewalttätig und jähzornig sind? [21] Denn was wollen sie uns denn antun? Was sie uns tun können, das erachten wir für nichts. Was uns hingegen am Herzen liegt, das können sie nicht schädigen. Wer kann also noch Herr über einen Menschen von solcher Gesinnung sein? — [22] Wie stand Sokrates dazu? Wie anders, als es sich gehört für einen Mann, der sich mit den Göttern verwandt glaubt? — [23] »Wenn ihr mir«, sprach er, »jetzt sagen würdet, ›wir lassen dich frei unter der Bedingung, dass du dergleichen Gespräche, wie du sie bisher geführt hast, in Zukunft lässt und unseren Jünglingen und Alten weiter keine Ungelegenheit machst‹, so gebe ich euch zur Antwort: Ihr macht euch lächerlich. [24] Wenn mich euer Feldherr auf einen Posten gestellt hätte, so fordert ihr, ich müsste darauf bleiben und ihn behaupten und tausendmal eher sterben wollen, als den Posten verlassen. Wenn Gott hingegen einem einen gewissen Platz und eine gewisse Lebensform angewiesen hat, so sollte man die verlassen?« — [25] Seht, das war die Haltung eines Mannes, der in der Tat mit den Göttern verwandt war! [26] Wir hingegen nähren solche Gesinnungen wie Furcht (phobos) und Begierden (epithymia), als wenn wir nichts außer Bäuche, Gedärme oder Schamglieder wären. Wir schmeicheln und fürchten die Menschen, welche darauf Einfluss haben können.

[27] Ein gewisser Mann bat mich, dass ich seinetwegen nach Rom schreibe; ein Mann, der nach der Meinung der großen Menge Unglück gehabt hatte, der zuvor angesehen und reich war, nun aber alles verloren hat und hier64 sein Leben hinbrachte. Ich schrieb einen bescheidenen Brief für ihn. [28] Sobald er ihn aber gelesen hatte, gab er ihn mir zurück und sagte: »Ich wollte Hilfe von dir, kein Mitleid; denn meine Lage ist wirklich kein Übel.« [29] Auf gleiche Weise hat auch Rufus, um mich auf die Probe zu stellen, oft zu mir gesagt: »Dein Herr wird dir dies oder das antun.« [30] Wenn ich darauf antwortete: »Menschenlos!«, so sagte er: »Was soll ich deinen Herrn dann noch bitten? Du kannst es von dir selbst bekommen.«65[31] In der Tat ist es eine überflüssige und unnütze Mühe, sich von einem anderen geben zu lassen, was man bei sich selbst findet. [32] Soll ich denn, der ich von mir selbst Seelengröße (megalopsychia) und edle Gesinnung (gennaios)