Gestickt, gestopft, gemeuchelt - Tatjana Kruse - E-Book

Gestickt, gestopft, gemeuchelt E-Book

Tatjana Kruse

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Beschreibung

Kurz nacheinander werden zwei blutjunge Schauspielerinnen der Freilichtspiele Schwäbisch Hall in der Badewanne grausam ermordet. Siggi Seifferheld findet heraus, dass es um Erpressung ging und dass es sich bei den Tätern um folgende Herren handeln könnte: der Frauenherzen brechende Theaterkollege, der peitschenknallende Regisseur oder der einheimische Bürohengst, ein Mitglied des Gemeinderates. Doch bevor er zusammen mit Gefahrhund Onis die blutigen Fäden dieses Falles entwirren kann, muss sich der stickende 007 um die Frauen in seinem Haushalt kümmern – um seine heiratswillige Tochter Susanne, seine rebellische Nichte Karina und um seine Schwester Irmgard, die Pastorengattin …

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Tatjana Kruse

Gestickt, gestopft, gemeuchelt

Kommissar Seifferheld ermittelt

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

VorwortWidmungDas Who is Who im Seifferheld-UniversumProlog1. Akt1. Szene2. Szene3. Szene4. Szene5. Szene6. Szene7. Szene8. Szene9. Szene10. Szene11. Szene12. Szene2. Akt1. Szene2. Szene3. Szene4. Szene5. Szene6. Szene7. Szene3. Akt1. Szene2. Szene3. SzeneEpilogEiner langen Nacht Reise in den TagNachspielDanksagung
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Dieser Roman spielt zwar in einer realen Stadt, nämlich Schwäbisch Hall, aber alle Personen sind frei erfunden, und der Plot ist fiktiv. Allerdings gab es tatsächlich einen Hovawart namens Onis, und das ist auch gut so.

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Dies ist gewissermaßen ein Theaterroman. Ich liebe das Theater! Das merkt man vielleicht nicht auf den ersten Blick, womöglich auch nicht auf den zweiten, aber es ist so, und darum sag ich’s hier.

Gewidmet ist dieser Roman folglich den Menschen, die mich dem Theater (mit und ohne Musik) immer wieder von neuem nahebringen: Susann, Karl-Heinz, Ute, Bernhard, Werner, Colin, Daniel, Andrew, Christoph, Geonik, Alex, Udo, Jo und noch mal Susann, weil sie so wunderbar ist.

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Das Who is Who im Seifferheld-Universum

Die Familie

 

Der Held Siegfried »Siggi« Seifferheld, Kommissar im Unruhestand, Sticker, Kocher, Schnüffler, Stammtischbruder

Sein Hund Aeonis »Onis« vom Entenfall, Hovawart-Rüde mit Knickrute und einer Vorliebe für rosa Teddys und das hohe C

Seine Schwester Irmgard Seifferheld-Hölderlein (Spitzname »die Generalin«, Gattin von Pfarrer Helmerich Hölderlein)

Seine Tochter Susanne Seifferheld (Managerin in der Bausparkasse, Mutter von Ola-Sanne, Gefährtin von Pferdeschwanz-Physiotherapeut Olaf Schmüller)

Seine Nichte Karina Seifferheld (Aktivistin [weiß], Mutter von Fela junior [gelb], Partnerin von Haller Tagblatt-Fotograf Fela Nneka [schwarz], dem biologischen Vater ihres Kindes)

 

Die Schwäbisch Haller Mischpoke

 

Marianne Cramlowski Journalistin (Kürzel MaC); sie ist zwar die Herzensdame von Siggi Seifferheld, aber bei Facebook würde stehen: It’s complicated

Olga Pfleiderer kettenrauchende kasachische Nicht-Putzfrau

Mord-zwo-Stammtisch: Rogier Van der Weyden (aus dem Geburtsland der Pommes), Wurster (der Bärenmarkenbär), Dombrowski (von der Sitte), Bauer zwo (Trottel in lila Lederkluft)

Die VHS-Männerköche: Bocuse (Franzose), Kläuschen (liiert mit Gummipuppe Mimi), Arndt (Klempner), Gotthelf (dominant verheiratet), Eduard (Buchhändler), Günther (Pfarrer), Horst (Mathelehrer), Schmälzle (Wanderführerautor)

Gesine Bauer Polizeichefin von Schwäbisch Hall

Erwin Euler Vorsitzender des Gemeinderats

Peggy Euler Bettenhausbesitzerin

Ursula SöbackSWR-Redakteurin mit einem Faible für Sticker

Kilian von Krottwitz Fernsehschaffender

 

Die Theaterleute und ihre Entourage

 

Salina Tressler Schauspielerin, Sängerin

Stefano Tressler Bruder, Lebemann

Biggi Wanetzki Zweitbesetzung

Roger Reitz Frauenheld, nicht nur auf der Bühne

Manni Schulz Manfred »es gibt keine kleinen Rollen, nur uncharismatische Interpretationen derselben« Schulz, genannt Manni

Sunil Gupta Tenor

Denis Lützel Lichttechniker

Vince Miller Halbschotte, Regisseur

Agnes Vilenti Schauspielerin, Giftspritze

Yannik Möck Stalker

 

Unter ferner liefen

 

Namenloser Ordner der Freilichtspiele Schwäbisch Hall, zahlreiche Touristen und Busreisende sowie Streifenbeamte

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Prolog

(In einer baden-württembergischen Kleinstadt, Abend)

Verzweiflung hatte eine Farbe: dunkelbraun! Und sie war aus Holz. Aus dunkelbraunem Holz mit hineingeschnitzten Blumengirlanden.

Verzweiflung war eine Tür, hinter der das Paradies lag, aber sie wollte sich einfach nicht öffnen lassen.

Aeonis vom Entenfall, kurz Onis, Hovawart-Rassehund, bedauerlicherweise mit Knickrute und daher zur Zucht untauglich, saß vor der kunstvoll geschnitzten Haustür des Seifferheld-Hauses und widerlegte die allgemein anerkannte These, dass Hunde die Lebenshaltung des grundlosen Optimismus verinnerlicht hätten.

Mitnichten.

Er … war … deprimiert.

Mit der rechten Pfote fügte er den Schnitzereien in der Tür noch ein paar eigene, kunstvolle Kratzer hinzu. Das hatte er bereits bei allen Türen im Haus gemacht. Er hielt es für Kunst. Quasi für den Schrei von Edvard Munch, in der Hundeversion.

Der Grund seiner Qual? Sein Alpha-Rüde war verschwunden! Überhaupt waren all seine Menschen weg, und die Liebe zu seinem rosa Teddy war in letzter Zeit spürbar abgekühlt und taugte somit nicht mehr, allein seligmachend zu sein.

Hmpf. Bestimmt amüsierte sich sein menschliches Rudel hinter genau dieser Holztür, hatte Spaß ohne Ende, womöglich gab es sogar Wurstzipfel!

Nur er saß hier im Hausflur.

Allein.

Wurstzipfellos.

Und am schlimmsten war, dass die Kühlschranktür, die er mit den Pfoten zu öffnen vermochte, seit neuestem mit einer Kette gesichert wurde.

Bei dem Gedanken an den Kühlschrank schlängelte sich ein Sabberfaden aus seinem Maul und landete auf dem rosa Teddy, der zu seinen Pfoten lag.

Onis starrte die dunkelbraune Haustür aus tellergroßen Augen an. Aber nichts passierte. Sie öffnete sich nicht wie durch Zauberhand, sondern blieb einfach zu, die blöde Tür.

Und da geschah es.

Ganz tief aus seinem Innern, aus dem Kern seines Hundewesens, löste sich – über Jahrmillionen von Canide zu Canide weitergegeben – ein Ton, der so anrührend war, so ergreifend, so zu Herzen gehend, dass er jeden, der diesen Ton vernahm, den Tränen nahebrachte: Menschen, Tiere und sogar den Mond.

Also, das fand zumindest Onis.

Ja, Onis heulte seine Qual hinaus. Sein Klang-Körper vibrierte, seine Barthaare zitterten. Er heulte und heulte und heulte. Immer lauter wurde sein Heulen. Für seine bernsteinbraunen Ohren war es eine melodiöse Elegie, ein Klagelied der Extraklasse. Er war der Caruso der Hundewelt. Ganz nah am hohen C.

Die menschlichen Nachbarn in der Unteren Herrngasse zu Schwäbisch Hall reagierten, nun ja, etwas differenzierter.

Fenster wurden trotz der Gefahr invasorischer Stechmücken aufgerissen, Rufe wurden laut. »Kann denn niemand diesen blöden Köter zum Schweigen bringen?«, riefen die Anwohner erbost.

»Großer Gott, da wird doch ein Tier gequält! Da muss man etwas tun! So hilf doch jemand!«, ereiferten sich vorbeiflanierende, tierschutzzugeneigte Touristen.

Onis bekam von alldem nichts mit. Er hatte sich in Fahrt gesungen, war ganz eins mit der Musik. Je lauter er seinen Schmerz in die Welt hinausposaunte, desto leichter wurde ihm ums Herz. Und er spürte, nein – er wusste! –, dass der Himmel ihn hörte und erhörte. Gleich würden sich von jenseits der Tür Schritte nähern. Die vermaledeite Tür würde sich öffnen, und sein Alpha-Rüde würde vor ihm stehen. Mit einem Wurstzipfel in der Hand!

Onis sonderte noch einen Sabberfaden ab.

Dann pumpte er mit noch nie da gewesener Energie seinen Brustkorb auf und jaulte sich vorfreudig schwanzwedelnd in den dreistelligen Dezibelbereich.

Ich nehme keine Drogen. Ich bin eine Droge! (Salvador Dalí)

Ihre Stimme war süchtig machend! Überwältigend. Anrührend.

Kaum war der letzte Ton verklungen, sprangen die Honoratioren der Stadt von ihren schwarzen Plastikstühlen hoch, auf denen größtenteils blaue Styroporkissen mit dem Freilichtspiellogo lagen, weil Plastik und Honoratiorenhinterteile keinen direkten Kontakt vertragen, und applaudierten sich die Hände wund.

Es war die Premiere von Der Mord an Suzy Pommier, die im Rahmen der Freilichtspiele Schwäbisch Hall auf der Großen Treppe zu St. Michael stattfand. Petrus hatte ein Einsehen gehabt: An diesem zweiten Samstag im Juni war es trocken und relativ mild geblieben, und so hatte die weibliche Hälfte der Crème de la Crème der Kleinstadt sich nicht durch zwei Stunden Singspiel hindurchzittern müssen. Bei der Eröffnungspremiere, zwei Drittel des Publikums waren geladene Gäste, darunter zahlreiche Prominente aus Politik und Kultur sowie Pressevertreter, gehörte es sich nicht, die für Freilicht- und Freilufttheater passende Kleidung zu tragen, also Thermounterwäsche, Funktionsallwetterjacke, dazu Socken und geschlossene Schuhe. Die Damen kamen in Designerkleid mit Stöckelschuhen und Perlenkette. In neun von zehn Fällen führte das zu Frostbeulen, und man applaudierte am Ende oft auch deswegen so heftig, weil man sich dringend wieder warm klatschen musste. Aber an diesem Abend war die Begeisterung echt und uneingeschränkt und kam nicht nur von den Herren, denen optisch einiges geboten worden war, sondern auch von den Damen.

Vor und hinter der Treppenbühne hatten alle wie immer ihr Bestes gegeben. Man zählte nicht umsonst zu den besten Freilichttheatern im deutschsprachigen Raum. Aber eine stach besonders heraus: Salina Tressler.

Sie war zweifelsohne ein Jahrhunderttalent. Mit dem Aussehen einer personifizierten griechischen Göttin der Liebe. Nur noch schöner und strahlender.

Sie kam, wie so viele der Schauspieler der Freilichtspiele, aus dem Osten. Böse Zungen behaupteten, dass man sie dort eben billiger bekam. Salina hatte zuvor erst eine einzige Hauptrolle gespielt, und das auch noch in einem Kinderstück an einer völlig unwichtigen Bühne in Off-off-Berlin, aber vor ihr lag eine Megakarriere, darin waren sich an diesem Abend alle einig: das Publikum, der Regisseur, der Intendant und sogar die Kollegen und Kolleginnen.

Die Stimme der Tressler hatte etwas Magisches. Klar und doch mit Timbre, berührend und gleichzeitig provokativ. Außerdem strahlte die junge Frau eine Erotik aus, die wie ein Aphrodisiakum wirkte. Sie verströmte schon Pheromone, wenn sie einfach nur so dastand, und viel mehr noch, wenn sie »agierte«. Fast grenzte es an ein Wunder, dass sich nicht alle in den Armen lagen und sich abküssten. Das heißt, die Schauspieler taten es nach dem fünften »Vorhang« schon. Mehrheitlich küssten sie Salina Tressler. Manch einer von den über zweitausend Premierengästen war neidisch, als er das sah. Aber man hoffte diesbezüglich auf die Premierenfeier im Rathaus …

Siegfried Seifferheld, Ex-Kommissar im unruhigen Vorruhestand, stand in Block B, Reihe 14, und applaudierte abwechselnd verhalten und euphorisch. Verhalten, wenn seine Freundin Marianne, die links neben ihm stand, misstrauisch zu ihm schaute. Begeistert, wenn sie das nicht tat. Seine im Grunde phantastische Lebensabschnittsgefährtin neigte zu unkontrollierten Eifersuchtsausbrüchen, und er wollte nicht, dass sie ihm den restlichen Abend Vorhaltungen darüber machte, er hätte der Hauptdarstellerin flirtend zugeklatscht.

Rechts neben Seifferheld stand seine Schwester Irmgard, die ihren Beifall damenhaft spendete, mit den weißen Spitzenhandschuhen, die sie von ihrer (und seiner) Mutter geerbt hatte. Ihre Zurückhaltung gründete auf dem Umstand, dass sie es dem Intendanten übelnahm, mainstreamschnittige Erfolgsstücke zu inszenieren wie diese für die Bühne bearbeitete Fassung des Romans von Emmanuel Bové mit Gesang und Tanz. Ihrer Meinung nach gehörten die drei Klassiker Schiller, Goethe und Shakespeare auf die Treppe und sonst nichts. Und natürlich das Haller Traditionsstück, der Jedermann. Theater hatte gefälligst zu bilden, nicht zu unterhalten, und ausverkaufte Vorstellungen stellten für Irmgard einen Kotau vor dem korrupten Kommerzgott dar.

Die anderen Mitglieder des Seifferheld-Clans hielten jedoch mit ihrer Begeisterung nicht zurück. Inklusive Seifferhelds geistlichem Schwager Helmerich Hölderlein, seiner Nichte Karina und ihrem Lebensabschnittsgefährten Fela, seiner Tochter Susanne und deren Lebensabschnittsgefährten Olaf sowie Olga, ihrer kasachischen Nicht-Putzfrau, hatte die Sippe fast die komplette Stuhlreihe belegt.

»Bravo!«, grölte Karina, steckte sich zwei Finger in den Mund und pfiff.

»Brava!«, rief ihr Freund Fela und »Zugabe!«, weil er sich insgeheim noch einmal den flotten Ohrwurm-Song Tu m’enivres wünschte, bei dem Salina Tressler durch die Reihen schritt und Männern über den Kopf strich. Fela hoffte, dass sie dieses Mal bei seinem krausen Kurzhaarschnitt haltmachen würde, eine nicht ganz unbegründete Hoffnung, schließlich saß er außen am Rand der Reihe und sah aus wie der junge Will Smith.

»Zugabe!«, jubelte auch Pfarrer Hölderlein, dem während der Vorstellung von allen Seiten immer wieder ein »Pscht!« zugezischelt worden war, weil er sämtliche Lieder, auf das dicke Programmheft in seinem Schoß trommelnd, begleitet hatte. Trommeln war seine Leidenschaft, seit er eine unvergessliche Woche lang als Missionar in Kenia geweilt hatte.

»Bravo!«, rief auch Susanne Seifferheld, die gutes Theater zu schätzen wusste.

»Bravo!«, stimmte Susannes Partner Olaf mit ein, der einen Großteil der Aufführung verpennt hatte – bis auf die Badewannenszene mit Salina Tressler, in der die Schauspielerin tatsächlich im Evakostüm in eine am Kopfende der Treppe aufgestellte Jugendstilwanne gestiegen war. Die Szene fand er klasse. Die war ein Bravo wert. Theater war ja sonst nicht so seins.

»Ausziehen, ausziehen!«, schrie Nicht-Putzfrau Olga, die eine Schwäche für gut gebaute Männer hatte. Ins Stück war eine – jugendfreie! – Stripnummer integriert worden, bei der drei männliche Tänzer die Hüllen bis auf Boxershorts in den französischen Nationalfarben fallen ließen. Das hatte Olga zum Anlass genommen, ihr Smartphone zu zücken, aufzuspringen und Fotos zu schießen, obwohl das natürlich streng untersagt war. Es waren auch gleich zwei Ordner in roten Polohemden herbeigeeilt und hatten sie höflich aufgefordert, das Fotografieren bitte zu unterlassen. Und in den Reihen hinter Olga hatte es – sehr viel weniger höflich – »Setzen!«-Rufe gehagelt. Zu dem Zeitpunkt hatte sie jedoch die halbnackten Jungmänner schon mehrdutzendfach abgelichtet.

Die Begeisterung des Publikums trug Früchte.

Es gab noch drei Zugaben – eine Tanznummer und zwei Liebeslieder, eins davon aus der Kehle von Sunil Gupta, einem indischen Tenor, der am Goethe-Institut in Hall Deutsch gelernt hatte und dann in der Stadt ansässig geworden war –, – und darauf folgte noch mehr Applaus. Alle waren sich einig: ein Triumph!

Allerdings kühlte es, kurz vor dreiundzwanzig Uhr, dann doch merklich ab. Der Applaus verebbte, Bewegung kam in die Menge, die Premierenfeier rief.

Die Honoratioren der Stadt zogen in langer Schlange ins barocke Rathaus ein, wo es für die geladenen Premierengäste Häppchen und Alkoholika gab sowie die Gelegenheit, die frisch geduschten Darsteller hautnah zu erleben.

»Mir nach!«, befahl Irmgard Seifferheld.

»Wir sind doch nicht eingeladen«, protestierte Marianne, die immer sehr darauf achtete, nur ja nichts Falsches/Illegales/Ungehöriges zu tun. Kleinstadterprobt, wie sie war, wusste sie, dass derlei Dinge nur zu Klatsch und Tratsch und schiefen Blicken führten. Vor allem bei bekannten Gesichtern. Als Lokaljournalistin hatte sie nun mal ein bekanntes Gesicht. Da aber heute der Chefredakteur höchstpersönlich für die Montagsausgabe des Haller Tagblatts über die Premiere berichten würde, stand sie nicht auf der Einladungsliste.

»Ja, Liebes, wir sind nicht eingeladen«, hielt auch Pfarrer Hölderlein seiner Frau entgegen.

Aber Irmgard Seifferheld, die auch den Spitznamen »Die Generalin« trug, zu sagen, dass etwas nicht ging, war in etwa so, als würde sich ein gemeiner Soldat seinem obersten Befehlshaber verwehren, wenn der zum Angriff blasen ließ. Derjenige wurde bestenfalls von ihr ignoriert, schlimmstenfalls standrechtlich erschossen. Vorsichtshalber duckte sich Helmerich Hölderlein.

»Dass wir nicht eingeladen wurden, kann nur ein Versehen sein. Die Seifferhelds sind seit fünfhundert Jahren eine angesehene Haller Familie. Selbstverständlich gehören wir auf die Gästeliste!«, beendete Irmgard die Diskussion und schritt kühn voran.

Um ehrlich zu sein, drängten sich so viele Menschen ins Rathaus, dass es in einer Großstadt nicht aufgefallen wäre, ob nun zehn Leute darunter waren, die sich illegal einschlichen oder nicht. Es gab auch keine Eingangskontrolle. Aber hier befand man sich, wie gesagt, in einer Kleinststadt, wo jeder jeden kannte, zumindest vom Sehen. Darum flogen die Seifferhelds schon auf, als sie noch nicht einmal ganz die breite Marmortreppe in den ersten Stock erklommen hatten.

»Herr Seifferheld, Sie auch hier?«, freute sich Frau Söback, die einen extravaganten Damensmoking trug. Sie war vom SWR-Radio, genauer gesagt SWR4-Frankenradio, und hatte Seifferheld vor einiger Zeit dazu überreden können, für ihren Sender einmal pro Woche interaktiv im Äther übers Männersticken zu plaudern. Die Sendung erfreute sich großer Beliebtheit. Kaum zu glauben, wie viele schwielige Hohenloher Klein- und Großbauernhände nach Feierabend zu Nadel und Faden griffen und filigrane Muster auf Stoff stickten.

Marianne spürte Gefahr im Anzug und hakte sich besitzergreifend bei Seifferheld unter. Der fühlte sich wie ein Ei, kurz bevor man es in eine Pfanne mit siedendem Öl schlug.

»Äh, Frau Söback, wie … äh … nett«, stotterte er.

War das schon zu viel des Guten?

»Guten Abend, Frau Söback!«, sagte seine Marianne kurz angebunden, und es klang wie eine Drohung.

Frau Söback ignorierte Marianne geflissentlich.

»Herr Seifferheld, ich möchte Sie unbedingt meinem … jemand aus Stuttgart vorstellen.« Sie klimperte mit ihren langen Wimpern. »Er ist Redakteur der Landesschau. Dort oben, der Brillenträger.«

Die Männer am Treppenkopf schienen alle Brille zu tragen.

Bevor Seifferheld etwas erwidern konnte, wurden sie von den nachdrängenden Menschenmassen auseinandergeschoben. Keiner wollte sich die leckeren Häppchen der Bäuerlichen Erzeugergenossenschaft Hohenlohe entgehen lassen. Und alle wollten sie in der ersten Reihe stehen, wenn gleich der Oberbürgermeister und der Intendant im atmosphärischen Ratssaal launige Reden auf die Eröffnung der Freilichtspielsaison halten würden. Dabei knipste auch immer ein Fotograf des Haller Tagblatts, und wer am folgenden Montag nicht in der Fotogalerie der Lokalzeitung zu sehen war, der ärgerte sich ein Jahr lang und positionierte sich im nächsten Jahr besonders unauffällig auffällig vor der Linse.

Irmgard, die in über sechzig Lebensjahren bereits reichlich Schlussverkaufserfahrung gesammelt hatte, drängelte sich mit ihrem Gatten im Schlepptau in Lichtgeschwindigkeit bis zum Buffet vor.

Seifferheld und Marianne gerieten dagegen in den berüchtigten Stau auf der fünftletzten Treppenstufe. Irgendwo verborgen von den Leibern der geladenen Gäste vor ihnen befand sich das lukullische Schlaraffenland, aber es ging keinen Zentimeter weiter. Zurück konnten sie auch nicht. Als Seifferheld die Treppe hinunterschaute, entdeckte er mittig in den wogenden Leibern seine Nicht-Putzfrau Olga, die einen verschreckt aussehenden, sichtlich schwulen Feuilletongroßstadtjournalisten anflirtete. Ganz unten am Treppenfuß standen seine Nichte Karin und ihr nachtschwarzer Freund Fela, die sich die Wartezeit mit Knutschen versüßten. Wobei man das, was die beiden trieben, zu Seifferhelds Zeit nicht Knutschen genannt hätte, sondern Petting. Heavy Petting. Die beiden hatten schon einen gemeinsamen Sohn. Seifferheld ging schwer davon aus, in neun Monaten einen weiteren Neffen im Arm wiegen zu können.

Ob der dann auch eine gelbe Hautfarbe haben würde wie Fela junior, der Erstgeborene? Ein Wunder der Genetik, denn sowohl Karina als auch Fela hatten eine Vorfahrin aus China gehabt, und der Mendelschen Vererbungslehre folgend, hatten sich die asiatischen Gene der beiden zusammengefunden. Das war wie ein Sechser im Lotto, mit Zusatzzahl. So selten, aber nicht so schön. Jedermann hielt Fela junior für ein Kuckuckskind.

»Das verwächst sich, das Gelbe«, hatte der Arzt versprochen. Noch hatte sich aber nichts verwachsen. Fela junior, der in diesem Moment zusammen mit seiner Cousine Ola-Sanne bei einer Babysitterin selig schlummerte, war immer noch mandeläugig und – je nach Lichteinfall – zitronenfaltergelb.

Plötzlich kam wieder Bewegung in die Menge.

Die Reden sollten beginnen.

Sie hörten, wie jemand ein Glas anschlug.

Seifferheld und Marianne wurden am Buffet vorbei in den Ratssaal geschoben. Es gelang Seifferheld immerhin, sich im Vorübergehen zwei Schinkenhörnchen zu krallen. Hoffentlich gab es nachher auch noch welche!

Dann brandete schon wieder Applaus auf. Seifferheld klatschte nicht, er kaute. Und bröselte. Marianne schüttelte entrüstet den Kopf. Sie nahm ihm die Schinkenhörnchen aus der Hand und stopfte sie in ihre Handtasche.

Man klatschte, weil das Ensemble sich abgeschminkt hatte und zusammen mit der Crew im Saal einlief.

Die Schauspieler und Schauspielerinnen strahlten miteinander um die Wette. Sie gingen einem mies bezahlten Job nach, und Freilichttheater war hammerhart, weil sie entweder froren oder schwitzten oder pitschnass wurden, manchmal alles an einem Abend, aber mein Gott, in solchen Momenten war ihr Beruf alle Qual der Welt wert. Die Menge bejubelte sie euphorisch.

Der Oberbürgermeister beglückwünschte seinen Intendanten für die exzellente Wahl von Regisseur und Truppe, der Intendant beglückwünschte Regisseur und Truppe für ihre exzellente Arbeit, und dann gab es für alle Mitwirkenden als Geschenk zwei Flaschen Freilichtspielwein mit dem extra von einem einheimischen Künstler entworfenen Etikett. Dieses Mal zierte eine badende Schöne in einer Jugendstilwanne den Wein, denn genau darum ging es ja in dem Stück.

Seifferheld fand ebenfalls, dass ausnahmslos alle einen herausragenden Job erledigt hatten, aber mitten in der gegenseitigen Beweihräucherung bekam er dann doch den vor allem unter Profiradfahrern bei der Tour de France berüchtigten Hungerast zu spüren und verdrückte sich möglichst unauffällig rückwärts aus dem Ratssaal. Noch eine Sekunde länger, und er wäre wegen Unterzuckerung ohnmächtig zu Boden gesunken.

Vor dem Buffet herrschte gähnende Leere. Nur ein Mann mit Brille bediente sich an den Käsestangen.

Seifferheld stellte sich neben ihn. Jeder andere hätte den Smalltalk mit den Worten begonnen: »Köstlich, nicht wahr?«

Anders Seifferheld.

Hätte sich seinerzeit nicht bei einem Banküberfall eine Kugel so dermaßen deppisch in seine Hüfte gebohrt, dass er in den Vorruhestand geschickt werden musste, er würde immer noch als Chefermittler der Haller Mordkommission an vorderster Front stehen. Doch auch so konnte er das Schnüffeln nicht lassen. Er schaltete nicht so einfach von hundert auf null.

Also waren seine ersten Worte an den Brillenträger: »Sie sind der Bekannte von Frau Söback, nicht wahr?«

Winzige Kleinigkeiten sprangen Seifferheld ins Auge, ohne dass er das bewusst steuern musste. Darin glich er Sherlock Holmes.

Die karierte Fliege des Mannes. Kein Schwäbisch Haller würde so etwas tragen. Das schwäbisch weiche statt des hohenlohisch harten »Danke«, als die Servicekraft dem Mann eine Serviette reichte. Kurzum, dieser Buffetgänger war von auswärts, und er trug eine Brille. Die Chance, dass Seifferheld mit seinem Gesprächsauftakt ins Schwarze getroffen hatte, stand bei 99,9 Prozent.

»Nein«, sagte der Brillenträger.

Tja, so ist das Leben, dachte Seifferheld.

»Ich bin Undines Ehemann, kein ›Bekannter‹. Gestatten, Kilian von Krottwitz.« Fehlte nur noch, dass er die Hacken zusammenschlug.

Wann hat Frau Söback denn geheiratet?, dachte Seifferheld. Und warum hat sie vorhin von jemand gesprochen und nicht gleich von ihrem Ehemann?

Er unterdrückte sein Staunen, so gut es ging.

»Sehr angenehm, Siegfried Seifferheld.«

Die Männer nickten sich zu.

»Verzeihung, ich dachte, Sie sind der Landesschau-Freund von Frau Söback«, sagte Seifferheld und biss in sein frisch ergattertes Schinkenhörnchen. Das war die hohe Kunst des Smalltalks am kalten Buffet: eine Frage stellen, abbeißen, kauen. Während man kaute, antwortete das Gegenüber, und zwar punktgenau so lange, wie man zum Kauen brauchte, um dann seinerseits eine Frage zu stellen. Wie bei einem Tennismatch hüpfte der Ball der Gesprächsführung von einem zum anderen, bis Hörnchen und Käsestange verzehrt wären. Dann erforderte es die Etikette, dass man sich einen anderen Partner zum Smalltalkmatch suchte. Oder an den Tisch mit den Getränken weiterwanderte.

»Meine Frau hat keinen Landesschau-Freund. Ich bin der Einzige bei der Landesschau, den sie kennt. Ich hätte übrigens großes Interesse an Ihnen«, erklärte Herr von Krottwitz und schob sich den Rest seiner Käsestange in den Mund mit den blütenweißen Zähnen.

Das war jetzt blöd, weil keine Frage. Und ein »Ach ja, wie meinen Sie das?« als Antwort dauerte nicht lange genug, bis Krottwitz zu Ende gekaut hatte. Seifferheld hielt gesprächstechnisch den Schwarzen Peter in der Hand.

Und überhaupt, wie redete man einen von Krottwitz an? War der Mann ein Baron oder ein Freiherr oder einfach nur ein »von«?

Aus den Augenwinkeln nahm Seifferheld wahr, wie die beiden Servicefrauen am Getränketisch kritisch zu ihm herüberschauten. Jetzt, wo die erste Hektik vorüber war, registrierten sie allmählich, wer genau anwesend war. Und Seifferheld stand nicht auf der Gästeliste.

In der Zwischenzeit erlöste von Krottwitz ihn von seinen Überlegungen, indem er nämlich mit vollem Mund die Worte »Ich will Sie ins Fernsehen bringen« äußerte und noch »Als Stopfer« hinterherspuckte.

War es unhöflich, sich jetzt die Krümel mit dem Handrücken aus dem Gesicht zu wischen? Aber die Krümel waren ohnehin nicht Siggis dringlichstes Problem.

»Wieso als Stopfer?«, fragte Seifferheld mit absolut verständnislosem Blick.

»Ja, sind Sie denn nicht der, der noch von Hand Socken stopft?«, fragte der Landesschau-Mensch und tupfte sich Käsestangenkrümel mit der Serviette aus den Mundwinkeln. »Wackerer Ausübender der längst in Vergessenheit geratenen Sockenstopfkunst, kühn dem Aussterben trotzend?«

»Nein!«, erwiderte Seifferheld stinkesauer. »Ich sticke! Ich sticke Zierkissen und Wandbehänge und manchmal auch Tischläufer.«

»Ach«, sagte von Krottwitz. »Na, macht nichts. Ist auch irgendwie interessant. Kommen Sie bei Gelegenheit nach Stuttgart, dann machen wir ein Interview im Studio.«

Seifferheld konnte es nicht glauben. Anders ausgedrückt, er war fassungslos. »Das kann ich nicht«, stammelte er.

»Quatsch. Sie haben doch eine interaktive Radiokolumne, hat mir meine Frau erzählt. Da bringen Sie locker ein Live-Interview zustande. Und wer weiß, wenn Sie kameratauglich sind, könnten Sie vielleicht einmal die Woche nachmittags bei Kaffee oder Tee eine Ratgeberecke für stopfende – Verzeihung – stickende Männer präsentieren«, erklärte der Stuttgarter, mit nunmehr leerem Mund und daher ohne Versuche im Krümelweitspucken.

Im Ratssaal brandete der Schlussapplaus auf, die ersten Premierengäste strömten in Richtung Getränketisch.

»Überlegen Sie es sich, ich melde mich wieder, meine Frau hat ja Ihre Daten.« Von Krottwitz klopfte Seifferheld noch einmal abschließend auf die Schulter und beeilte sich dann, vor den Honoratioren, die wie eine Stampede von Bisons quer über die Parkettprärie in Richtung der Alkoholika stürmten, an den Getränketisch zu kommen. Keine Chance. Er wurde seitlich in Richtung Toilette abgedrängt.

Seifferheld sah ihm kopfschüttelnd nach, dann nahm er sich noch ein Schinkenhörnchen.

»Herr Seifferheld, Sie auch hier?« Plötzlich materialisierte sich Polizeichefin Gesine Bauer neben ihm. Das Sie auch hier klang ungläubig, als habe man vonseiten des Party-Organisationsteams lebende Kakerlaken als Tischdekoration fürs Buffet ausgesucht.

Er versuchte, trotzig zu schauen, aber es gelang ihm nicht. Diese halb so alte Frau jagte ihm einen Heidenrespekt ein.

»Äh …«, fing er an.

»Frau Bauer!«, bellte Irmgard, seine Schwester und rettender Engel, mit ihrer Nebelhornstimme. Die Umstehenden fuhren zusammen. Dabei war das noch ihre freundliche Begrüßungsstimme. Wen sie nicht leiden konnte, den donnerte sie mit ihrem Organ gern auch mal in Grund und Boden.

Frau Bauer verzog ihre schmalen Lippen zu einem unechten Lächeln, nickte und verzog sich. Mit Irmgard Seifferheld-Hölderlein legte man sich nicht an, auch nicht als kampferprobte Amazone.

Seifferheld fühlte sich um viele Jahrzehnte zurückversetzt, in die Momente, in denen Irmi ihn während der Pausen auf dem Schulhof des St.-Michael-Gymnasiums auch immer aus der Bredouille gerettet hatte.

Seine Schwester nahm sich eine Handvoll Käsestangen und ging, um ihren Gatten zu verköstigen. Ihren Platz an Seifferhelds Seite nahm Marianne ein, die unauffällig die signierte Autogrammkarte des Hauptdarstellers in ihre Handtasche gleiten ließ. Gleich neben Siggis fettige Schinkenhörnchen, was der Karte nicht gut bekommen würde. Aber das wusste Marianne in diesem Moment noch nicht.

Seifferheld nahm sich noch ein leckeres Hörnchen. Das wievielte war das jetzt? Das zehnte oder elfte? Bei kostenlosen Häppchen zählte man nicht mit.

Marianne wischte ihm mit einer Serviette Schinkenhörnchenkrümel aus den Bartstoppeln am Kinn.

Plötzlich stand ein Streifenpolizist neben ihnen.

»O Gott, wir sind aufgeflogen«, flüsterte Marianne entsetzt.

Seifferheld war noch unentschlossen, ob er ruhig bleiben oder in gedämpfte Panik ausbrechen sollte. Er kaute schneller.

Hatten die Mädels von der Tränke die Exekutive gerufen? Oder gar die Polizeichefin selbst?

Würde man ihn, den greisen Recken, jetzt unter Schimpf und Schande von der Party jagen? Er spürte die Blicke der anderen Gäste auf sich. Der Fotograf des Haller Tagblatts schoss ein Foto.

»Entschuldigung, Kollege Seifferheld?«, fing der junge Beamte in Uniform an. Es war ihm sichtlich unangenehm.

Die Anrede wurde auch im Ruhestand beibehalten. Das gehörte sich hier so. Der Frischling war gut erzogen.

Seifferheld nickte. »Was ist?«

»Würden Sie bitte mitkommen?«

Seifferheld schluckte den letzten Rest Schinkenhörnchen hinunter. Natürlich würde er mitkommen und jetzt keinen Aufstand machen. Dennoch wollte er wissen, wer von der Premierenparty darauf gedrungen hatte, ihn zu entfernen. Womöglich der Oberbürgermeister persönlich?

Also stellte er sich ganz dumm und fragte: »Wieso?«

»Es ist ein Notruf unter 110 eingegangen. In Ihrem Haus soll ein Tier gequält werden!«

Auch die besessensten Vegetarier beißen nicht gern ins Gras. (Joachim Ringelnatz)

»Stößchen!«, flötete Nebendarsteller Manni »es gibt keine kleinen Rollen, nur uncharismatische Interpretationen derselben« Schulz und stieß mit seinem extra für die Premiere aus Berlin angereisten Lover an.

»Prösterchen!«, rief eine der Schneiderinnen.

»Auf ex!«, forderte Salina Tressler und ging mit gutem Beispiel voran. Der geschenkte Freilichtspielwein floss in Strömen die Kehlen hinunter.

Es war drei Uhr früh, und sie feierten vor dem Wohnheim am Rippberg, der bevorzugten Unterkunft der Freilichtspielschauspieltruppe, weil die Miete hier besonders günstig war und dann mehr von der mageren Gage übrig blieb, die zum Leben nicht reichte und im Übrigen auch nicht zum Sterben, so teuer, wie Beerdigungen mittlerweile waren.

Udo Schanz, ein ortsansässiger Bildhauer, hatte ihnen zwei seiner Feuerkörbe leihweise überlassen, und darin brannten nun knisternde Feuerchen. Die Szene hatte etwas Mittelalterliches: Einige Schauspieler sangen und tanzten rund um die Feuerstellen, andere lehnten sich im Sitzen gegen die Hauswand, zu betrunken, um noch zu stehen, aber noch nicht betrunken genug, um auf allen vieren in ihre Koje zu kriechen.

Die Gruppe aus Regieassistenten, Musikern, Technikern, Gästen aus der Bevölkerung, die sich den direkt vor den Feuerkörben stehenden Feiernden aus dem einen oder anderen Grund angeschlossen hatte, hielt Cocktailwürstchen, auf dünne Äste gespießt, in die Flammen. Nur die Schauspielerinnen nicht, die wahlweise vegan lebten oder auf ihre Magermodelllinie achten mussten, was nur durch konsequentes Hungern zu schaffen war, weshalb im Hochsommer immer mal wieder eine bei den Proben in der Mittagshitze in Ohnmacht fiel.