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SEHNSUCHTSMELODIE Jacinda muss weg aus Los Angeles. Ihr geschiedener Mann will ihre kleine Tochter entführen! An wen kann sie sich wenden? Da fällt ihr Callan ein: Der breitschultrige Australier, den sie in Sydney kennengelernt hat, lebt auf einer großen Ranch inmitten der Natur - das perfekte Versteck! Callan nimmt sie mit offenen Armen auf und gibt ihr die Sicherheit, nach der sie sich so verzweifelt sehnt. Doch dann weckt er mit einem leidenschaftlichen Kuss ihre Sehnsucht nach seiner Liebe. Und obwohl er sie zärtlich umarmt und Jacinda sein Begehren spürt, teilt er nie das Bett mit ihr ... EINE PRINZESSIN ENTDECKT DIE LIEBE Als Misha ihren Verlobten in eindeutiger Situation mit einer schönen Fremden überrascht, flüchtet sie nach Australien. Doch auf der idyllischen Schaffarm empfängt sie nicht, wie erwartet, ihre Freundin Nuala, sondern deren Bruder Branton – ein toller Mann, der Misha auf Anhieb so sehr fasziniert, dass sie ihm nicht widerstehen kann. Aber nur wenige traumhafte Tage und Nächte des Glücks sind ihnen vergönnt. Denn Nuala kehrt zurück und macht ihrem Bruder klar, dass es für ihn und Misha keine gemeinsame Zukunft geben kann: Misha ist eine Prinzessin ... NÄCHTE, DIE MAN NIE VERGISST Als Misha ihren Verlobten in eindeutiger Situation mit einer schönen Fremden überrascht, flüchtet sie nach Australien. Doch auf der idyllischen Schaffarm empfängt sie nicht, wie erwartet, ihre Freundin Nuala, sondern deren Bruder Branton - ein toller Mann, der Misha auf Anhieb so sehr fasziniert, dass sie ihm nicht widerstehen kann. Aber nur wenige traumhafte Tage und Nächte des Glücks sind ihnen vergönnt. Denn Nuala kehrt zurück und macht ihrem Bruder klar, dass es für ihn und Misha keine gemeinsame Zukunft geben kann: Misha ist eine Prinzessin ...
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Seitenzahl: 594
Cover
Titel
Inhalt
Sehnsuchtsmelodie
COVER
TITEL
IMPRESSUM
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
Eine Prinzessin entdeckt die Liebe
COVER
TITEL
IMPRESSUM
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
EPILOG
Nächte, die man nie vergisst
COVER
TITEL
IMPRESSUM
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
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Contents
Lilian Darcy
BIANCA erscheint 14-täglich im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20354 Hamburg, Valentinskamp 24
Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Tel.: +49 (040) 60 09 09 – 361
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Geschäftsführung:
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Redaktionsleitung:
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Lektorat/Textredaktion:
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Produktion:
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Grafik:
Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Poppe (Foto)
Vertrieb:
asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg
Telefon 040/347-27013
Anzeigen:
Kerstin von Appen
Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste.
© 2006 by Lilian Darcy
Originaltitel: „The Runaway and the Cattleman“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe: BIANCA
Band 1576 (13/1)) 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Patrick Hansen
Fotos: IFA-Bilderteam
Veröffentlicht als eBook in 07/2011 - die elektronische Version stimmt mit der Printversion überein.
ISBN: 978-3-86295-895-5
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
JULIA, ROMANA, BACCARA, MYSTERY, MYLADY, HISTORICAL
www.cora.de
Allein, mitten im rostroten Sand unter dem endlosen blauen Himmel, sah er aus wie ein Cowboy.
Genauer gesagt, er sah so aus, wie jede Frau sich einen Cowboy vorstellte. Er hatte sich den Hut tief in die Stirn gezogen, und das Gesicht lag halb im Schatten, aber ein einziger Blick auf das Profil verriet jeder Frau alles, was sie über ihn wissen musste. Kantiges Kinn, fester Mund, durchdringender Blick … auch wenn er die Welt um ihn herum gar nicht richtig wahrzunehmen schien.
Er war nicht der Typ, der den flachen Bauch und die Muskeln durch ein zu enges T-Shirt betonte. Er hatte gelernt, seine Kräfte zu sparen – für die langen Tage, an denen er die Zäune abritt, Rinder mit Brandzeichen versah oder eine Herde auf frisches Weideland trieb. Im Moment ruhten die muskulösen Unterarme auf dem hölzernen Geländer vor ihm. Er war Viehzüchter, ein Rancher im australischen Outback, der in der Weite des riesigen Kontinents auf seinem Land lebte und arbeitete.
Neun von zehn Frauen sahen genauer hin, als sie an ihm vorbeigingen. Acht von zehn waren beeindruckt und wüssten gern mehr über ihn. Welche Farbe hatten seine Augen? War die Haut unter den kurzen Ärmeln hell oder ebenfalls gebräunt? War er ungebunden? War er so gut, wie er aussah?
Aber falls der Rancher das Interesse der Frauen registrierte, so ließ er es sich nicht anmerken. Wer vermutete, dass Callan Woods in Gedanken mindestens zweihundert Meilen entfernt war, lag keineswegs falsch.
„Sieh ihn dir an, Brant! Was sollen wir tun?“
Branton Smith antwortete nicht sofort. Wie Callan verbrachten auch Dusty Tanner und er die Tage fast nur im Freien. Sie arbeiteten hart, und wenn es Probleme gab, beispielsweise durch Dürre, Flut oder Feuer, oder wenn sie ein verletztes Tier fanden, dann packten sie einfach noch energischer an. Sie bestiegen ein Pferd und trieben die Rinder oder Schafe auf höher gelegenes Land. Sie standen morgens zwei Stunden früher auf und warfen Heuballen auf die Ladefläche eines Lastwagens, bis ihre Hände schwielig wie Leder waren und jeder Muskel schmerzte. Sie waren große, tüchtige Männer mit Verstand und suchten nach praktischen Lösungen.
Aber was sollten sie mit Callan tun?
„Vielleicht sollten wir einfach nur für ihn da sein“, antwortete Brant schließlich.
Dusty lachte abfällig. „Du klingst wie die Lebensberaterin in einer Frauenzeitschrift!“
Richtig.
Außerdem war der Rat nicht gerade einfallsreich, denn sie beide waren „für Callan da“, seit seine Frau Liz vor vier Jahren gestorben war. Trotzdem schien er sich in diesem Jahr noch weiter in sich selbst zurückgezogen zu haben.
Wie die beiden anderen Männer stand Callan an der Bahn, auf der Australiens bekanntestes Outback-Pferderennen ausgetragen wurde. Der gedankenverlorene Blick, die hängenden Schultern, der schmale Mund und das brütende Schweigen ließen vermuten, dass er gar nicht mitbekam, was um ihn herum vorging.
Die drei Männer waren befreundet, seit sie zusammen auf die Cliffside-School in Sydney gegangen waren. Das lag jetzt siebzehn Jahre zurück, und damals waren sie schüchterne Jungen aus dem Outback gewesen, die zum ersten Mal von zu Hause fort waren und mit den Söhnen von Börsenmaklern, Autohändlern und Immobilienhaien die Bänke drückten.
Jetzt besaßen sie Rennpferde, fünf rassige Vierbeiner, von denen gerade zwei starteten. Drei davon wurden auf einem Gestüt in der Nähe von Brants Schafzucht westlich der Snowy Mountains trainiert, während die beiden, die heute antraten, bei einem Trainer in Queensland nicht weit von Dusty untergebracht waren. Als Hobby deckte der Rennstall gerade eben seine Kosten, als gemeinsames Unternehmen dreier Freunde war er Gold wert.
Die zweijährige Stute Surprise Bouquet war am Vormittag bei ihrem Jungfernrennen nach einem schwachen Start immerhin noch Fünfte geworden. Saltbush Bachelor war das Pferd, von dem sie sich heute am meisten versprachen.
Callan, Brant und Dusty sahen sich nicht sehr oft, aber die Renntage waren ein Ereignis, bei dem sie sich regelmäßig trafen. Callan hatte zwei Jahre verpasst, als Liz krank gewesen war. Sie war Ende September gestorben, und für ihn gehörten die Veranstaltung in Birdsville und ihr Tod untrennbar zusammen.
„Er ist dreiunddreißig“, murmelte Dusty. „Wir dürfen nicht zulassen, dass er denkt, sein Leben wäre vorbei, Brant.“
Callan stand neben seinen beiden Freunden und dachte nicht das, was sie befürchteten.
Jedenfalls nicht genau.
Aber er wusste, dass Brant und Dusty sich um ihn Sorgen machten. Die mitfühlenden Blicke. Die leisen Kommentare, die er zwar nicht immer verstand, deren Inhalt er jedoch erriet. Die übertrieben aufmunternden Einladungen, ein Bier trinken zu gehen. Die gelegentlichen Bemerkungen über eine Frau – nichts Plumpes, nur „hübsche Beine“ oder so ähnlich. Und danach stießen sie ihn immer an, und er nickte jedes Mal pflichtschuldig.
Brant und Dusty fanden, dass er eine neue Mutter für seine Jungen suchen sollte.
Callan hatte das auch geglaubt. Früher.
Vor drei Jahren, um genau zu sein, bei diesen Renntagen.
Ihm kam es vor wie gestern.
Er erinnerte sich an die Panik, die Einsamkeit, die Trauer und die quälende Frage, wie seine Söhne den Verlust der Mutter verkraften würden.
Aber hatte er an jenem Tag wirklich angenommen, dass jemand aus der Großstadt, mit „hübschen Beinen“, einem Glas Champagner in der einen Hand und dem Rennprogramm in der anderen, ihm ernsthaft helfen konnte?
Auch äußerlich war an der jungen Frau alles falsch gewesen. Die Sommersprossen an der Nase waren nicht Liz’ Sommersprossen. Das Blond ihrer Haare war nicht das von Liz. Die Figur stimmte nicht, ebenso wenig wie die Stimme.
„Sie sind jetzt in den Startboxen“, verkündete Brant. „Er sieht lebhaft aus, aber nicht zu nervös.“
„Und Garrett ist scharf auf diesen Sieg“, fügte Dusty hinzu. „Er wird ihn genau richtig reiten.“
Beide Männer hatten Feldstecher vor den Augen und wollten, dass auch Callan sich dafür interessierte, wie Saltbush Bachelor abschnitt.
Die Seidentrikots der Jockeys flimmerten im hellen Sonnenschein. Auf dem benachbarten Flugplatz standen die Propellermaschinen aufgereiht wie Minivans im Parkhaus eines Einkaufszentrums, und die Bevölkerung der ländlichen Kleinstadt war von ein paar Hundert auf mehrere Tausend angewachsen. Es roch nach Bier und Grillwürsten, Sonnencreme und Pferdefutter und Staub.
Callan gab sich einen Ruck. „Ja, Mick Garrett ist ein guter Jockey“, sagte er zu den Freunden, ohne das Fernglas zu heben. In Gedanken war er bei seinen Jungen und deren Großmutter auf der Arakeela Creek Ranch. Bei seinem Vieh und der Katastrophe, die er vor drei Jahren hier in Birdsville mit der Frau mit den hübschen Beinen erlebt hatte.
Und bei der anderen Frau, der skandinavischen Rucksacktouristin, die am Wasserloch in der Schlucht von Arakeela gezeltet und mit ihm geflirtet hatte. Der One-Night-Stand mit ihr war ein absoluter Reinfall gewesen.
Wie er diese Erinnerungen hasste! Hatte er wirklich geglaubt, dass ein Abenteuer mit einer Wildfremden seine Trauer vertreiben würde?
Brant und Dusty wechselten besorgte Blicke.
„Weiß er überhaupt, dass das Rennen schon läuft?“, murmelte Dusty.
„Er weiß es“, erwiderte Brant. „Aber es interessiert ihn nicht.“
„Wenn Salty gewinnt …“
„… wird es ihm egal sein. Verdammt, Dusty, was sollen wir bloß tun? Einfach da zu sein reicht nicht. Du hast recht, er braucht Ablenkung.“
„Ablenkung? Wir tun doch, was wir können! Als er aus der Renngemeinschaft aussteigen wollte, haben wir es ihm ganz einfach verboten.“
„Und seine Mutter hat es ihm ausgeredet.“
Die Rennpferde galoppierten um die Kurve, und die Farben der Jockeys verschwammen.
Neben Brant feuerten zwei Möchtegern-Paris-Hiltons das Pferd an, auf das sie gewettet hatten. „Los, Van Der Kamp!“, riefen sie immer wieder, aber der Hengst lief erst im nächsten Rennen. Keiner der Männer machte sich die Mühe, die beiden aufzuklären.
„Kerry hat mich in der letzten Woche angerufen und gebeten, auf ihn aufzupassen“, fuhr Brant fort.
„Als würden wir das nicht längst tun.“
Die Pferde bogen auf die Gerade ein. Die Paris-Hilton-Mädchen hatten inzwischen gemerkt, dass sie bei diesem Rennen auf Salty gesetzt hatten, und feuerten ihn an.
„Er schafft es!“, schrie Brant. „Er ist vorn! Das wird eng. Siehst du ihn, Dusty? Callan?“
Callan antwortete nicht.
Die Pferde donnerten vorbei. Noch zwanzig Meter, noch zehn …
„Da ist er … und wird Zweiter! Er ist … Verdammt, er fällt zurück, aber er …“ Brant verstummte.
Zweiter? Es war ein Fotofinish, also würden sie auf das offizielle Ergebnis warten müssen. Brant spitzte die Ohren, als der Sprecher den Einlauf verkündete. Keiner der Namen, die aus dem scheppernden Lautsprecher kamen, klang auch nur entfernt wie Saltbush Bachelor. Ihr Pferd war mit einer Nasenlänge Rückstand Vierter geworden.
Die beiden jungen Frauen seufzten enttäuscht.
Callan reagierte gar nicht.
„Sprich mit deiner Schwester, Brant“, schlug Dusty vor. Eine Fliege summte an seinem Mund vorbei. Wie die meisten Menschen, die im Outback aufgewachsen waren, hatte er früh gelernt, die Lippen beim Sprechen nicht zu weit zu öffnen – was bei vertraulichen Unterhaltungen ein echter Vorteil war. „Vielleicht kann sie uns einen Rat geben. Nuala ist ein kluger Kopf.“
„Aber voller verrückter Ideen“, knurrte Brant.
„Vielleicht ist eine verrückte Idee genau das, was wir brauchen.“
„Ja, weil die normalen nicht funktioniert haben! Na gut, ich rede mit ihr, aber ich warne dich, es kann sein, dass ihre Idee dir nicht gefallen wird.“
Dusty machte ein trotziges Gesicht. „Hauptsache, sie hilft Callan.“
„Wie sollen wir uns an Nuala für diese blödsinnige Idee rächen?“, fragte Dusty Brant fast sechs Monate später.
Es war ein Freitagabend im späten Februar. Ihre Pferde hatten im Frühjahr ein paar kleinere Rennen gewonnen. Brants Land hatte mehr Regen als sonst abbekommen, während Dustys unter der Dürre in Queensland gelitten hatte. Kerry Woods hatte die beiden Männer eindringlich gebeten, etwas für ihren Sohn Callan zu tun.
„Du hast gesagt, es ist dir egal, wie verrückt sie ist. Hauptsache, sie hilft Callan“, erinnerte Brant seinen Freund. Dabei hatte er – seit die neueste Ausgabe von Today’s Woman in den Zeitschriftenregalen lag – selbst schon überlegt, wie sie es seiner Schwester heimzahlen konnten.
„Ich bin immerhin hergekommen, oder nicht?“, entgegnete Dusty. „Mein Foto ist in dem verdammten Magazin abgedruckt. Ich musste meine Hobbys auflisten und erzählen …“ Er malte Anführungsstriche in die Luft. „… was mir an einer Frau gefällt und warum ich glaube, dass Liebe von Dauer sein kann. Und dann haben sie höchstens ein Viertel von dem genommen, was ich gesagt habe.“
„Du hast die Fragen besser beantwortet als ich“, knurrte Brant.
Dusty grinste. „Ich war ehrlicher.“
„Hast du denn gar keinen Selbsterhaltungstrieb?“
„Reichlich sogar. Ich bin nur kein sehr guter Lügner. Glaubt deine Schwester allen Ernstes, dass Callan auf diese Weise findet, was er sucht?“
Die beiden Männer sahen sich in dem elegant eingerichteten Raum um. Es war kurz nach sechs, und die Klimaanlage kämpfte gegen die Sommerhitze von Sydney. An den Stränden wimmelte es von schlanken, gebräunten Körpern und sandigen Kindern. Auf den Straßen vermischten sich die Autoabgase mit den Gerüchen aus den unzähligen Restaurants.
Hoch über dem dichten Feierabendverkehr war dies der ideale Ort für eine Cocktailparty, mit Blick auf den Hafen und die Brücke, die die renovierten Piers überspannte.
Er war Lichtjahre von Brants, Dustys und Callans Ländereien entfernt.
Brant schätzte die Zahl der Gäste auf etwa fünfzig. Sie setzten sich zusammen aus zwanzig männlichen Outback-Singles und zwanzig weiblichen Großstadt-Singles, hinzu kamen einige Journalisten und Fotografen von der Zeitschrift und eine Handvoll Kellner, die mit Getränken und modischen, nicht sehr nahrhaft aussehenden Häppchen umherstreiften.
„Laut Nuala soll er nicht finden, was er sucht, sondern heraus finden, was er sucht“, verbesserte Dusty.
„Sagt ausgerechnet Nuala, die sich erst neulich mit einem Mann verlobt hat, den sie kennt, seit sie … wie alt war? Drei?“, brummte Dusty. „Ja, sicher, sie ist eine echte Beziehungsexpertin!“
„Nuala um Rat zu fragen war deine Idee“, widersprach Brant.
„Und sie glaubt wirklich …“
„Soll ich sie zitieren?“, unterbrach Brant ihn und zählte die Argumente seiner Schwester an den Fingern ab. „Es wird Callan dazu bringen, sich bewusst zu machen, was er will und was in seinem Leben fehlt. Er wird merken, dass es auch ohne Liz noch ein paar anständige Frauen gibt. Und er wird begreifen, dass er nicht der Einzige ist, dessen Herz …“
Er brach ab, als er merkte, dass sie nicht mehr allein in der Ecke standen.
„Hi! Wen haben wir denn hier? Dustin, richtig?“ Die übertrieben begeisterte Amerikanerin warf einen diskreten Blick auf ihr Klemmbrett, während direkt neben ihr ein Blitzlicht aufflackerte. Reporterinnen von der Frauenzeitschrift, alle beide.
Dusty blinzelte. „Dusty.“
„Dusty …“ Die Amerikanerin setzte ein strahlendes, aber äußerst künstliches Lächeln auf.
Brant machte einen Schritt zurück und sah, dass sie glänzendes Haar, einen breiten Mund und hübsche Beine hatte. Wer Rennpferde besaß, hatte einen Blick für Beine. Auch Dusty musterte sie interessiert.
„Du bist gekommen, um Mandy kennenzulernen, Dusty“, sagte die Amerikanerin. „Und hier ist sie!“
Fehlt nur noch der Tusch, dachte Brant.
Mandy trat vor. Sie war etwa eins siebzig groß, mit ziemlich unauffälligen Beinen, hatte aber dunkle Augen und lächelte eifrig. Außerdem war sie sichtlich stolz darauf, dass sie erraten hatte, welches Foto zu den Angaben passte, die Dusty über sich gemacht hatte – wodurch sie die Teilnahme an dieser Party gewonnen hatte.
Dusty wirkte etwas verwirrt, doch als sie ihm mit ihren großen Augen ins Gesicht sah …
Ja, dachte Brant, wahrscheinlich würde ich mich auch geschmeichelt fühlen. Es war schön, wenn eine Frau sich ernsthaft für einen interessierte. Er machte sich auf die Suche nach einem Drink und fragte sich nervös, welche für ihn vorgesehen war.
Als er an Callan vorbeikam, sah er, dass sein Freund – dem dieses ganze absurde Manöver galt – in Gedanken meilenweit entfernt war.
„Warum bin ich hier?“, murmelte Jacinda Beale.
Sie fühlte sich auf dieser schicken, extravaganten, mondänen Cocktailparty wie ein gehetztes Tier, das von einem Suchscheinwerfer erfasst wurde. Außerdem kannte sie keine Menschenseele. Sie war noch nicht mit dem Mann bekannt gemacht worden, den sie hier kennenlernen sollte.
Die Frau, die dafür zuständig war und sich Jacinda als Shay-von-der-Zeitschrift vorgestellt hatte, huschte umher und sah fast so nervös aus wie die meisten Gäste, von denen die meisten viel zu schüchtern waren, um von allein mit anderen ins Gespräch zu kommen.
Warum bist du hier, Jacinda?
Na los, such dir etwas aus, erwiderte ihre innere Stimme. Schließlich bist du Drehbuchautorin. Dich zwischen den verschiedensten Motiven zu entscheiden gehört zu deinem Job.
Weil ich einem verrückten Impuls nachgegeben und gedacht habe, dass es Spaß machen … oder wenn nicht, wenigstens gut für mich sein könnte.
Weil in Today’s Woman eine Serie namens „Gesucht: Ehefrauen fürs Outback“ erscheint und ich erstens erraten habe, welche Beschreibung eines Outback-Singles zu welchem Foto eines Outback-Singles passt, und zweitens der Zeitschrift in höchstens dreihundert Worten geschrieben habe, warum ich die ideale Kandidatin bin.
Ja, eine Einladung zu dieser Cocktailparty sollte für mich so etwas wie ein Hauptgewinn sein.
Weil ich verzweifelt bin und alles tue, was auch nur einigermaßen Erfolg versprechend erscheint.
Weil ich Autorin bin und dringend Anregungen für mein nächstes Drehbuch brauche.
Die letzte Antwort verstärkte ihre Panik. Autoren konnten behaupten, dass so ziemlich alles Recherche war. Um Ideen zu sammeln, hatte Jacinda teuren Schmuck anprobiert, im Mülleimer eines fremden Menschen gewühlt, sich in eine besonders steile Achterbahn getraut, in einem der exklusivsten Restaurants der USA gegessen und … Die Liste war endlos.
Aber war sie wirklich noch Autorin?
Elaine Hutchison, ihre Chefin bei Heartbreak Hotel, fand es jedenfalls.
„Du hast eine Schreibblockade“, hatte Elaine vor sechs Wochen gesagt. „Du brauchst eine Pause. Schnapp dir deine süße Tochter, flieg über den Ozean und komm frühestens in einem Monat wieder. Danach wirst du vor Ideen nur so sprühen, und ich kann dir Reeces und Naomis Szenen geben, denn du bist die Einzige, die ihre Dialoge auch nur annähernd glaubwürdig hinbekommt.“
„Über welchen Ozean?“, hatte Jacinda gefragt.
„Egal, Honey. Hauptsache, ein großer. Weißt du, warum ich das sage?“
Elaine hatte keine Namen genannt, aber Jacinda war auch so klar gewesen, was ihre Chefin meinte. Dass sie so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und Kurt legen sollte. Und der Pazifik war der größte Ozean in der Gegend – außerdem liefen seine Wellen praktischerweise am Strand von Kalifornien aus. Also befand sie sich jetzt auf der anderen Seite, auf einer Cocktailparty, die sie ebenso wenig genoss wie die vielen anderen, zu denen sie mit Kurt gegangen war.
Selbst als Kurt und sie noch verliebt gewesen waren.
Ja, sie war mal naiv genug gewesen, ihn zu lieben.
Das einzig Positive in ihrer Ehe war die Geburt von Carly gewesen.
„Jacinda?“, sagte eine Frauenstimme, die so amerikanisch klang wie ihr eigene.
Sie drehte sich nun zu der dynamischen Redakteurin um. „Hi …“
Der große Moment war da.
Neben Shay-von-der-Zeitschrift stand ein Mann. Er sah sogar noch besser aus als auf dem Foto, wirkte jedoch wesentlich weniger entspannt. Das Foto zeigte ihn in seinem Element, ein langes, in Jeans gehülltes Bein auf einem rostroten Felsbrocken, das Gesicht unter einem staubigen Hut. Er hatte die Finger in das dichte Fell eines – ebenfalls rostroten – Hundes geschoben, und sein Lächeln machte die Augen so schmal, dass sie kaum zu erkennen waren.
Aber jetzt sah Jacinda sie deutlich, und sie waren … unglaublich. Blau und ernst, voller vielschichtiger Emotionen, die sie noch vor dreißig Sekunden niemals einem südaustralischen Viehzüchter zugetraut hätte.
Ja, Today’s Woman hatte es ihr nicht schwer gemacht. Der endlose Himmel, der Hund und die Eidechse auf dem Felsbrocken waren Hinweis genug gewesen, dass es sich um Callan Woods, Rancher, handelte – nicht um Brian Snow, Bergmann in einer Opalmine, oder Damian Peterson, Arbeiter auf einem Erdölfeld, oder einen der anderen siebzehn Outback-Singles, die in der Februar-Ausgabe vorgestellt worden waren.
Today’s Woman behauptete, dass es im Outback jede Menge einsamer Männer gab, die Probleme hatten, die richtige Frau zu finden.
Die ich nicht sein werde, dachte Jacinda. Nicht für diesen Mann.
„Callan, ich möchte dir Jacinda vorstellen“, verkündete Shay-von-der-Zeitschrift fröhlich.
„Hi“, sagte er nur.
Er wirkte nicht gerade begeistert … was immerhin eine Gemeinsamkeit war.
„Du glaubst nicht, wie Jacinda dich deinem Foto zugeordnet hat, Callan!“, säuselte Shay. „Sie hat doch tatsächlich erkannt, was für eine Eidechse auf dem Felsbrocken hockt! Kannst du dir das vorstellen?“
„So? Den Bartagam?“ In seinen Augen zeigte sich ein Anflug von Interesse, als er Jacinda die Hand gab. Er hatte einen festen Händedruck, ließ sie jedoch schnell wieder los.
„Der Bartagam war der Grund, weshalb ich …“ Sollte sie sich Shays lockerem Ton anpassen? Vermutlich. „… dich ausgesucht habe“, fuhr sie zaghaft fort und sah Shay an. „Meine Tochter fand ihn süß.“ Dass es sich um einen Bartagam handelte, hatte Lucy ihr erzählt.
Ihr ging auf, dass das keine sehr taktvolle Erklärung war. Süß sollte nicht das Reptil, sondern – wenn überhaupt – der Mann sein.
Aber Callan schien geradezu erleichtert zu sein. „Ja, auch mein Sohn Lockie liebt Bartagams“, erwiderte er mit leuchtenden Augen. „Er hatte mal einen als Haustier, fand es jedoch schrecklich, ihn in einen Käfig zu sperren.“
„Also hast du auch Kinder?“, fragte Jacinda dankbar. „Meine Tochter ist vier.“
„Ich habe zwei Jungen. Lockie ist zehn, Josh acht. Wir haben ihre Mutter …“ Er atmete tief durch. „Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben. Das sollte ich wohl gleich sagen.“ Er sah Shay verlegen an.
„Das verstehe ich“, versicherte Jacinda.
„Ich bin eigentlich kein … wildes Herz auf der Suche nach Liebe“, zitierte er die Überschrift aus der Zeitschrift. „Zwei Freunde von mir wollten unbedingt teilnehmen und haben mich zum Mitmachen überredet.“
Jacinda betrachtete die beiden hochgewachsenen Männer, auf die er unauffällig zeigte. Einer von ihnen blickte auf eine Frau hinunter, deren Hand auf seinem Arm lag.
„Ich tue es für sie“, fuhr er fort. „Für Brant und Dusty. Ehrlich gesagt suche ich niemanden.“
Die Freunde sahen in seine Richtung.
Jacinda entging nicht ihr besorgtes Stirnrunzeln. Und auch nicht, wie die beiden sowohl Callan als auch sie aufmerksam musterten. Schlagartig ging ihr auf, dass es genau umgekehrt war.
Callan tat das hier für seine Freunde? Nein, Brant und Dusty taten es für ihn.
Sie hörte ihn etwas murmeln und begriff, wie sehr ihn seine Worte schmerzen mussten. Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben. Auch sie hasste es, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Kurt und ich sind jetzt geschieden. Es war, als würde man sich die Kleidung aufreißen, um einem wildfremden Menschen seine Operationsnarben zu zeigen.
„Das verstehe ich“, wiederholte sie. „Dies ist eine … künstlich geschaffene Situation. Man müsste schon verrückt sein, um zu hoffen, dass man ausgerechnet hier den richtigen Partner findet. Egal, wie sehr man sucht. Aber trotzdem kann es ganz nützlich sein. Um in Übung zu bleiben oder … seine Menschenkenntnis zu erproben. Ich bin geschieden. Und es war eine hässliche Scheidung.“ Also habe ich auch Narben. „Ich weiß gar nicht mehr, wann ich mich zuletzt mit einem Mann unterhalten habe, den ich nicht kenne. Einfach nur so … um Kontakt zu schließen.“
Er nickte nur. Vielleicht sprach er lieber mit seinem Hund. „Du bist keine Australierin“, sagte er nach einigen Sekunden.
„Der Akzent verrät mich, was?“ Sie lächelte.
„Ja. Aber du lebst hier?“
„Ich mache hier Urlaub. Ich wohne bei einer australischen Freundin, die ich vor ein paar Jahren in Kalifornien kennengelernt habe. Lucy. Sie hat mir vorgeschlagen, an diesem Wettbewerb teilzunehmen, nur aus Spaß. Und es hat mir Spaß gemacht“, versicherte Jacinda. „Ich bereue es nicht.“
Nein?
Während der ersten zwanzig Minuten der Cocktailparty hatte sie es bereut, dass sie Lucys Drängen nachgegeben hatte. Jetzt tat sie es plötzlich nicht mehr. Weshalb? Wegen der blauen Augen? Weil Callan Woods diese Veranstaltung ebenfalls nicht ernst zu nehmen schien?
„Ich auch nicht“, sagte Callan. „Zugegeben, meine Freunde mussten mich erst überreden, aber bisher war es nicht so schlimm, wie ich erwartet habe.“
Jacinda sah ihm an, wie erleichtert er war. Wie jemand, der gerade einen Termin beim Zahnarzt überstanden hatte. Es tat gut, wieder ein Gefühl mit einem Mann zu teilen – auch wenn es jemand war, den sie nicht kannte.
„Wann fliegst du nach Hause?“, fragte er.
„Am Dienstag. In drei Tagen. Wir waren einen Monat hier, und ich kann nicht glauben, wie schnell die Zeit vergangen ist. Ich habe sie genossen, genau wie Carly, meine Tochter.“
„Dienstag.“ Er entspannte sich ein wenig mehr. „Also nimmst du das hier auch nicht ernst.“
„Nein.“
„Gut, dass wir uns darin einig sind!“
Sie lächelten einander zu, nahmen sich jeder ein Häppchen von einem vorbeikommenden Kellner und schafften es irgendwie, sich während der nächsten zwei Stunden zu unterhalten, ohne sich zu langweilen.
„Meine? Ein Reinfall“, antwortete Brant am nächsten Morgen auf Dustys neugierige Frage. Sie saßen in einem Café. „Sie war ungeheuer empfindlich. Als ich ihr sagte, dass mein Singledasein mich gar nicht so sehr stört, tat sie, als hätte ich sie beleidigt. Egal, was ich sie fragte, die Antwort war einsilbig, und als sie an der Reihe war, fiel ihr nichts ein. Sei froh, dass du sie nicht hattest, Call.“
„Wieso?“, erwiderte Callan.
Brant runzelte die Stirn. „Wieso was?“
„Wieso ist es gut, dass ich sie nicht hatte? Traust du mir nicht zu, mit einer empfindlichen und nicht sehr gesprächigen Frau fertig zu werden?“
„Meine war toll“, verkündete Dusty, bevor Brant antworten konnte. „Eine ganz natürliche, anständige Frau, die weiß, was sie will, und es offen ausspricht. Kann gut sein, dass wir in Verbindung bleiben.“
Callan kannte Dustys Gesichtsausdruck. Sein Freund schien genau zu wissen, was für ein miserabler Lügner er war.
„Also macht es dir nichts aus, ein Single zu sein, Brant“, begann Callan langsam. „Und du, Dusty, findest, dass diese Aktion ideal ist, um einem einsamen Rancher aus dem Outback eine Ehefrau zu verschaffen – obwohl du noch vor vier Sekunden das genaue Gegenteil behauptet hast …“ Er betrachtete die schuldbewussten Gesichter seiner Freunde. „Kann einer von euch mir erklären, warum wir uns das hier zugemutet haben?“
Er war nicht dumm und brauchte ihre Antworten gar nicht zu hören.
Was gut war, denn die beiden gaben irgendwelchen Blödsinn von sich, beantworteten seine Frage jedoch nicht.
Callan überlegte, ob er ihnen böse war – ob er es sein wollte, ob er überhaupt die Energie dazu aufbrachte.
Brant und Dusty hatten ihn in eine Falle gelockt. Sie hatten sich hinter seinem Rücken verschworen. Sie hatten ihn überredet, sein Foto, seine Lebensgeschichte und seine Gefühle einer landesweit erscheinenden Frauenzeitschrift auszuliefern. Warum? Weil sie hofften, dass er jemanden kennenlernte? Dass er sich nicht damit abfand, für immer allein zu bleiben? Oder … dass er sich einfach nur einen Abend lang vergnügte und sich sogar geschmeichelt fühlte, weil so viele Frauen sich für ihn interessierten?
War er ihnen deswegen böse?
Zu seiner eigenen Überraschung musste er lächeln. Die beiden Männer waren seine besten Freunde. Sie hatten es gut gemeint. Sie waren zwar Idioten, aber er mochte sie.
„Selbst schuld, wenn deine ein Reinfall war, Branton. Selbst schuld, Dustin, wenn du von deiner nie wieder etwas hörst. Ich dachte, ich tue euch einen Gefallen, indem ich mitmache, aber da habe ich mich offenbar geirrt. Alles, was ich will, ist, dass meine Söhne glücklich werden. Aber es war trotzdem ein schöner Abend. Es hat Spaß gemacht, mich mit Jacinda zu unterhalten.“
Callan wusste, dass nichts daraus werden konnte. Er wollte es nicht und sie auch nicht. Vermutlich hatten sie sich nur deshalb so angeregt unterhalten – weil Jacinda frisch geschieden war und bald abreisen würde, weil bei ihnen beiden die Wunden der Vergangenheit noch nicht verheilt waren.
Sie sah Liz kein bisschen ähnlich, was ebenfalls ein Vorteil war. Liz war klein und kräftig gewesen, Jacinda dagegen war groß und gertenschlank. Sie hatte große, leuchtende graue Augen, keine gefühlvollen und grünen. Ihr Haar war schwarz und schwer zu bändigen, nicht blond und seidig, die Haut makellos und leicht gebräunt, nicht hell und voller Sommersprossen. Stimme, Akzent, Herkunft, alles verschieden und daher sicher. Sicher genug, um ihn hoffen zu lassen, dass Jacinda ihm eine gute Freundin sein konnte, falls er je eine brauchen würde.
So sah er sie an diesem Morgen – als jemanden, den er irgendwann um Rat fragen konnte, in Erziehungsfragen oder einfach nur, um vielleicht von der Sichtweise einer Großstädterin zu profitieren.
Er hatte die Anschrift ihrer Freundin Lucy in Sydney und Jacindas E-Mail-Adresse in Amerika, und sie hatte seine, doch das würde er Brant und Dusty nicht erzählen. Er beließ es bei einem Lächeln, dieses Mal ein wenig spöttisch und ausweichend, und sprach darüber, was sie heute unternehmen sollten, bevor sie morgen auf ihr Land, zu ihren Tieren und ihren Familien zurückkehrten.
Und dabei fühlte er sich wohl – so unbeschwert – wie schon eine ganze Weile nicht mehr.
Sie hatten ihre Adressen ausgetauscht, aber Jacinda hatte wirklich nicht erwartet, Callan wiederzusehen.
Sein Timing war alles andere als perfekt. Er kam um sieben Uhr abends, als sie gerade dabei war, ihre Tochter zu Bett zu bringen. Sie und Carly hatten gegessen, ihre Freundin Lucy war ausgegangen, und jetzt war Carly so müde, dass sie nicht freiwillig aus der Badewanne kam. Deshalb war Jacinda nass, als sie Callan die Wohnungstür öffnete. Eine oder zwei Minuten später war ihre Tochter plötzlich gar nicht mehr müde, denn Callan hatte ihr etwas mitgebracht.
„Es ist nichts Besonderes“, sagte er leise, während Carly auf dem Fußboden saß und das bunte Geschenkpapier aufriss. Jacinda hatte von ihm Blumen bekommen – einen riesigen Strauß aus australischen Prachtexemplaren, deren Namen sie nicht kannte. „Es ist ein Bumerang zum Selbstbemalen. Ich hoffe, er macht nicht zu viel Arbeit.“
„Das kann passieren – wenn sie darauf besteht, es jetzt sofort zu tun.“ Jacinda lächelte, um ihre Antwort abzumildern. Callan hatte auch Kinder. Er würde es verstehen. „Das wäre doch nicht nötig gewesen.“
„Ich weiß, aber ich bin heute Morgen aufgewacht und …“ Er versuchte es erneut, aber mehr als drei Worte fielen ihm nicht ein. „Ich wollte es.“
„Jetzt ist es sieben Uhr abends. Hast du den ganzen Tag gebraucht, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass du es willst?“, scherzte sie. Er hatte Sinn für Humor, das hatte sie gestern schon festgestellt.
„Ja. So ungefähr.“ Seine blauen Augen glitzerten belustigt. „Es ist spät, aber wir könnten essen gehen, wenn du magst.“
Nun musste sie ihm erklären, dass Lucy unterwegs war, Carly ins Bett gehörte und ihre Tochter und sie schon gegessen hatten.
Er nickte. „Ich hätte vorher anrufen sollen.“
Sie überlegte, ob sie ihm einen Kaffee oder einen Drink anbieten sollte, wagte es jedoch nicht. Erst recht nicht wollte sie ihn küssen und feststellen, dass es ihr gefiel. Sie wollte nicht herausfinden, dass sie – nach den beiden unbeschwerten Stunden auf der Cocktailparty – nichts mehr zu reden hatten.
Nein!
„Danke“, sagte sie stattdessen. „Die Blumen sind wunderhübsch, genau wie das Geschenk für Carly. Aber jetzt muss ich sie ins Bett bringen, sonst ist sie morgen ungenießbar.“
Er betrachtete ihre nasse Bluse und das zerzauste Haar, und sie sah ihm an, dass er die Situation richtig deutete. Er wünschte ihnen einen angenehmen Heimflug und bat sie, ihn anzurufen, falls sie etwas brauchte. „Das ist mein Ernst“, fügte er hinzu.
Jacinda glaubte ihm.
Zwei Tage später landeten Jacinda und Carly in Los Angeles, und die Realität kehrte in ihr Leben zurück.
Jacinda gönnte sich und ihrer Tochter einen freien Tag, um sich vom Jetlag zu erholen, doch dann mussten Carly wieder in die Vorschule und Jacinda zur Arbeit. Aber kaum betrat sie das Zimmer der Drehbuchautoren, wusste sie, dass sich auch nach einem Monat Aufenthalt auf der anderen Seite des Pazifiks nichts geändert hatte.
Sie wollte nicht schreiben.
Sie konnte nicht schreiben.
Wie um alles in der Welt hatte sie glauben können, dass es nach dem Urlaub einfacher sein würde?
Auf dem Weg hierher hatte sie ihre Post abgeholt. Zwischen den Rechnungen und Werbesendungen fand sie zwei Geburtstagskarten von Kurt, eine für sie und eine für Carly, denn sie waren beide im Februar zur Welt gekommen und hatten in Australien gefeiert. Sie zuckte zusammen, als sie seine Handschrift auf den Umschlägen sah. Was er geschrieben hatte, war noch schlimmer.
Jacinda, Darling, bitte verbring Carlys Geburtstag nie wieder im Ausland. Glaub mir, so etwas kannst du dir nicht leisten. Weder emotional noch finanziell. Ich werde in diesem Frühjahr ziemlich beschäftigt sein und brauche Carly für mein seelisches Gleichgewicht. Der Sender will das Programm umstellen, und ich bin für bestimmte Bereiche zuständig.
Trotzdem interessiert mich Eure Seifenoper noch immer sehr. Reece und Naomi haben bald ein paar tolle Szenen – straffe, scharfsinnige Dialoge, die ein junger Autor geschrieben hat, während Du fort warst. Er bringt frischen Wind in die Serie. Elaine und ich werden seine Entwicklung im Auge behalten. Sie plant schon länger, ein paar Umstellungen vorzunehmen.
Alles Gute zum 32. Geburtstag. Ich hoffe, Du hast die Pause genutzt, um Dir über Deine Prioritäten klar zu werden.
Herzliche Grüße
Kurt
Das war es, was sie so blockierte. Kurts Anrufe, E-Mails und Briefe. Die Schreiben von seinem Anwalt, sogar Carlys harmlose Kommentare, nachdem sie ein paar Stunden bei ihm und seiner neuen Frau verbracht hatte. Immer waren die Drohungen so geschickt verpackt, dass sie fast aufmunternd klangen.
Bisher hatte Jacinda das Sorgerecht für Carly gehabt, aber sie wusste, dass er jederzeit vor Gericht gehen und ihr ihre Tochter wegnehmen konnte. Und selbst wenn er es nicht vorhatte, würde er sie immer im Ungewissen lassen, um sie einzuschüchtern.
Sie war sieben Jahre mit Kurt verheiratet gewesen. Egal, wie erfolgreich er war, niemals würde er darauf verzichten, sie und Carly und Elaine zu kontrollieren …
Jacinda entging der besorgte Blick nicht, den Elaine ihr zuwarf. Hastig lud sie die Datei mit Reeces und Naomis Dialogen auf den Bildschirm ihres Computers. Sie hatte eine Zusammenfassung der Szene, die sie an diesem Morgen schreiben sollte. „Reece und Naomi treffen sich in ihrem Lieblingsrestaurant und streiten darüber, ob sie ihre Affäre fortsetzen sollen.“
Sie schrieb REECE oben in die Mitte der Seite und darunter Hi. Dann ließ sie NAOMI ebenfalls Hi sagen. Aber eine Stunde später war der Rest des Bildschirms noch leer, obwohl ihr immer wieder die Worte straff, scharfsinnig und frisch durch den Kopf gingen. Beim Mittagessen mit Elaine bekam sie keinen Bissen herunter.
Auch ihre Chefin hatte keinen Appetit. „Ich will ehrlich zu dir sein, Jacinda“, sagte sie nach einer Weile. „Ich kann dich nicht sehr viel länger schützen. Du kennst Kurt.“
„Ja.“
„Er setzt mich unter Druck.“
Jacinda wusste, was sie antworten musste. „Elaine, du darfst deinen Job nicht für meinen opfern.“ Sie sah die Erleichterung in den Augen ihrer Chefin.
Als sie wieder an ihrem Rechner saß, entdeckte sie eine E-Mail von Callan Woods. Bis sie drei Stunden später ihre Tochter von der Vorschule abholte, war das der einzige schöne, sichere Moment des Tages.
Das Postflugzeug würde jeden Augenblick eintreffen.
Neben dem Landestreifen saß Callan am Steuer seines Geländewagens. Er hatte die Türen und Fenster geöffnet, denn im April konnte die Hitze in den North Flinders Ranges noch unerträglich sein, obwohl klimatisch schon Herbst war.
Lockie und Josh erledigten zu Hause ihre Schulaufgaben übers Internet. Manchmal, wenn Besuch kam, gab Callan ihnen den Vormittag frei, damit sie mit zum Flugplatz fahren konnte, aber heute hatte er Nein gesagt.
In der Ferne ertönte das Brummen der Maschine. Sie kam im Tiefflug heran, vor dem Hintergrund der kahlen, aber malerischen Berge, und in Callans Bauch breitete sich ein eigenartiges Gefühl aus.
Freute er sich auf diese Gäste?
Wie so viele Empfindungen seit Liz’ Tod war auch diese widersprüchlich.
Er hatte keine Ahnung, warum Jacinda und ihre Tochter herkamen und wie lange sie bleiben wollten, aber er wusste, dass Jacinda nicht gefragt hätte, wenn ihr eine andere Wahl geblieben wäre.
Sie schrieben sich jetzt seit sechs Wochen. Er hatte daran gedacht, sie anzurufen, die Idee jedoch sofort wieder verworfen. Die E-Mails waren angenehm. Ungefährlich. Er hatte nicht erwartet, dass sich aus der ersten Begegnung mehr ergab, und doch war etwas daraus geworden – ein kleines, neues Fenster in eine andere Welt, eine Freundschaft in sicherer Entfernung. Er schrieb sich auch mit zwei Australierinnen, die er über die Zeitschrift kennengelernt hatte, vermutete jedoch, dass der Kontakt bald einschlafen würde. Außerdem bekam er laufend Zuschriften von anderen Frauen.
Warum hatte er bei Jacinda ein viel besseres Gefühl?
Weil sie Autorin war und ihr von Natur aus flüssiger Stil es auch ihm leichter machte, sich auszudrücken?
Vielleicht.
Dusty und die kleine Brünette von der Cocktailparty waren in Verbindung geblieben. Er sprach sogar davon, sich in Sydney mit ihr zu treffen, und hatte allen anderen Frauen höflich abgesagt. Bei den Pferden hielt Dusty es genauso – er setzte immer nur auf ein Pferd pro Rennen, und das auf Sieg.
Brant hatte mehr Briefe bekommen, und da sein Land näher an Sydney und Melbourne lag, hatte er sich mit einigen Frauen verabredet.
Bisher war er nicht gerade begeistert gewesen.
Vielleicht, weil er mit seinem Leben als Single zufrieden war. Die Sache mit der Zeitschrift war die Idee seiner Schwester gewesen, wie Callan mittlerweile wusste.
Das Flugzeug streifte den Boden, hob kurz wieder ab, setzte härter auf und blieb unten. Dann rollte es langsam aus.
Callan stieg aus dem Wagen. Er schloss die Türen nicht und zog auch den Zündschlüssel nicht ab. Sechs Wochen. Ob Jacinda noch so aussah, wie er sie in Erinnerung hatte?
Es waren keine Äußerlichkeiten gewesen, die ihn angezogen hatten, trotzdem hatte er sie reizvoll gefunden. Große Augen, ein ansteckendes Lächeln, eine herzliche Wärme. Würde die lebende, atmende, dreidimensionale Jacinda Beale etwas mit der Frau gemeinsam haben, die ihm fast jeden Tag eine E-Mail geschickt hatte?
In letzter Zeit waren sie immer kürzer geworden. Förmlicher. Irgendwie rätselhaft. Sie hatte geschrieben, dass sie Probleme hatte, aber nicht darüber reden wollte.
Er hatte „Jacinda, geht es Dir gut?“, geschrieben.
Dann rief sie an.
Aus Sydney.
Mit zittriger Stimme, gequältem Humor und – zum Schluss – absoluter Ehrlichkeit. „Könnten Carly und ich eine Weile bei dir bleiben? Es ist alles … so schlimm.“
„Wo liegt das Problem?“
„Ich … kann noch nicht darüber sprechen. Aber ich werde nicht wegen Mordes gesucht, falls dich das beruhigt.“
„Das tut es, ja.“
„Callan, ich … kann nicht bei Lucy wohnen. Du bist der einzige Mensch, bei dem ich … Deine Ranch ist der einzige Ort, an dem ich mich sicher fühle, weil sie so weit weg ist. Nur bis ich wieder freier atmen kann? Länger nicht, Callan. Ich … ich weiß, es ist viel verlangt.“
Wie hätte er ablehnen können?
Obwohl … im Moment wäre er froh, wenn sie gar nicht erst gefragt hätte.
Das Flugzeug hielt an der üblichen Stelle, keine fünfzig Meter von Callans Geländewagen entfernt. Eine private Start-und Landebahn wie diese brauchte kein Terminal oder auch nur eine Asphaltdecke. Der Staub, den die Propeller aufgewirbelt hatten, hing noch in der Luft und driftete gemächlich nach Osten, während die Kabinentür sich öffnete.
Rob, der Pilot, half Jacinda beim Aussteigen und hob Carly heraus. Das kleine Mädchen nahm die Hand seiner Mutter. Rob lud das Gepäck aus. Und einen vollen Postsack.
Grinsend hielt Rob ihn hoch.
Noch mehr Briefe von Frauen, mit denen Callan sich nicht treffen wollte.
Carly wirkte etwas überwältigt davon, plötzlich an einem Ort zu sein, der vollkommen anders als Sydney und Los Angeles war. Ihre Mutter bewegte sich langsam, fast steif.
Grüßend hob Callan die Hand, aber Jacinda sagte nicht einmal Hallo, nur: „Es tut mir leid.“ Ihr Gesicht war weiß, die Lippen trocken und rissig, aber er wusste, dass sie sich keineswegs nur dafür entschuldigte, dass ihr vom Flug unwohl war.
„Atme tief durch, mach ein paar Schritte, geh umher.“ Er nahm eine kalte Flasche Wasser aus dem Wagen. Auch die kleine Carly sah aus, als würde sie einen Schluck brauchen.
Jacinda nahm die Flasche und nippte hastig daran. Ja, das Wasser tat gut.
„Du musst dich für nichts entschuldigen“, versicherte er. „Und du brauchst auch nicht zu reden.“
Sie reichte ihrer Tochter die Flasche.
Während das Mädchen trank, holte Jacinda tief Luft. Aus ihren grauen Augen wich die Panik, und das Gesicht bekam wieder Farbe. Aber sie hatte abgenommen und sah schmal aus. Sie trug kein Make-up, die Augen waren groß, die Wimpern dunkel, und der Mund hatte von Natur aus eine anmutige Form.
Er versuchte zu entscheiden, ob sie schön … attraktiv … oder hübsch war.
Atemberaubend. Das war das einzige Wort, das sie angemessen beschrieb.
Er fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Hilflos.
„Sag einfach Bescheid, wenn wir fahren können“, knurrte er verlegen.
Rob hatte drei Koffer, eine kleine Reisetasche und den Postsack zum Wagen gebracht. „Soll ich die einladen?“
Callan nickte, und der Pilot öffnete die Hecktür. Er tat so, als wäre der Postsack wegen der vielen Briefe kaum anzuheben. Callan erwiderte sein vielsagendes Lächeln. Rob und er kannten sich so gut, wie man sich im Outback eben kannte – fünf Minuten Kontakt ein paarmal im Monat konnten sich wie echte Freundschaft anfühlen.
„Die Fahrt?“, sagte Jacinda. „Wohin? Wie weit?“
„Drei Meilen.“
Sie wirkte erleichtert.
„Aber die Strecke ist holprig. Wir warten noch eine Weile.“
„Ich möchte die Eidechse sehen“, forderte Carly.
„Ich habe noch ein paar Starts und Landungen, also verzichte ich lieber auf das Bier“, sagte Rob.
„Das nächste Mal“, erwiderte Callan, als hätte er dem Mann tatsächlich eins angeboten.
Der kurze Dialog war typisch für eine Männerfreundschaft hier draußen. Rob trank nie Bier, wenn er flog, aber das Angebot galt auch unausgesprochen.
Der Pilot ging zum Flugzeug zurück.
„Danke!“, rief Jacinda ihm nach.
„Ich hole Sie und Ihre Tochter auf dem Rückflug ab“, sagte er, war aber taktvoll genug, sie nicht zu fragen, wann sie auf ihn warten würde.
„Kann ich jetzt die Eidechse sehen?“, wiederholte Carly.
„Es hat ihr riesigen Spaß gemacht, den Bumerang anzumalen“, murmelte Jacinda. „Ich bin nicht sicher, ob es auf dem Flugplatz Eidechsen gibt, Honey. Vielleicht können wir morgen eine suchen. Gibst du mir bitte das Wasser zurück?“
Dieses Mal nahm sie einen kräftigen Schluck. „Noch nie hat mir Wasser so gut geschmeckt!“
Doch ihm entging nicht, dass ihre Hände zitterten.
Carly sah verschwitzt aus. Sie trug keinen Hut. Jacinda schob ihr das dunkelblonde Haar aus der Stirn. „Ist dir schlecht, Honey?“
„Jetzt nicht mehr. Und vorhin nur ein bisschen, nicht so schlimm wie bei dir, Mommy.“
„Callan will mit uns zu seinem Haus fahren. Glaubst du, das schaffst du?“
„Wo ist sein Haus?“
„Bald kannst du es sehen, Carly“, versprach er. „Schnallen wir dich erst mal fest.“
„Ihr legt hier draußen Gurte an?“, fragte Jacinda erstaunt. „Obwohl es meilenweit keine anderen Autos gibt?“
„Die Gurte verhindern, dass man sich den Kopf an der Decke stößt.“
Sie hielt es für einen Scherz.
Bald würde sie verstehen, dass es keiner war.
Wie lange wollte sie bleiben? Was konnte er tun, damit sie sich willkommen fühlte? Was würde im endlosen, einsamen Outback aus ihrer neuen, noch nie auf die Probe gestellten Freundschaft werden?
Aber vor allem fragte er sich, warum sie aus ihrem Leben in Los Angeles geflüchtet war. Und was erhoffte sie sich von ihm?
Er konnte sie nicht fragen.
Noch nicht.
Auf der Fahrt schwieg Callan während der ersten Minuten.
Jacinda lauschte dem Motorengeräusch, dem Knarren der Karosserie und dem Ächzen der Stoßdämpfer. Die Strecke war nicht asphaltiert, die Landschaft um sie herum kahl, aber sie verstand schon jetzt, warum manche Menschen das Outback schön fanden. Die vorherrschenden Farben waren Lehmrot, Ockergelb und Kalkweiß. In der Ferne, in der Nähe eines Halbkreises aus Eukalyptusbäumen, weideten rotbraune Rinder.
Sie wusste, dass sie erklären musste, warum sie hier war. Aber sie würde damit warten, bis sie ruhiger und nicht mehr unterzuckert war. Sie wollte, dass Callan ihr glaubte und nachvollziehen konnte, wie groß ihre Angst war. Er musste einsehen, dass ihre Geschichte nicht nur auf den bitteren Gefühlen gegenüber Kurt und auf ihrer schriftstellerischen Fantasie beruhte.
Denn wenn er an ihren Motiven zweifelte und Carly und sie auf seiner Ranch nicht willkommen waren, wüsste sie nicht, wohin sie sonst flüchten sollte.
„Das ist die Ranch“, sagte er.
Sein gebräunter Arm tauchte in ihrem Blickfeld auf und zeigte nach links. Sie hatte vergessen, wie kräftig er gebaut war, und hier, in seinem Element, wirkte er noch maskuliner. Wie mochte er auf einem Pferd aussehen? Oder mit einem störrischen Kalb ringend, das sein Brandzeichen bekommen sollte?
Die Vorstellung war viel zu reizvoll. Kurts Stärke war nie physischer Natur gewesen … oder auch nur emotionaler. Sie beruhte einzig auf Geld und Einfluss. Callans Ausstrahlung war dagegen bodenständig und geradlinig.
Jacinda sah zu der Ansammlung von Gebäuden hinüber, deren Umrisse langsam deutlicher wurden. Das Dunkelrot der Dächer war im unerbittlichen Sonnenschein zu einem Farbton verblasst, der dem noch nicht ganz reifer Kirschen glich. Schlanke Bäume mit kleinen Blättern spendeten Schatten. Das Haupthaus war sandfarben und gemauert, mit rötlichem Backstein an den Ecken und um die Fenster.
In einem Garten, der an zwei Seiten von trockenem Buschwerk und an einer dritten von einer Hecke begrenzt wurde, standen Obstbäume in zwei kurzen Reihen. Auf einer gelblich grünen Wiese in der Nähe des Hauses grasten mehrere Pferde. Einige von ihnen tranken Wasser aus einer Tränke.
Einige Gebäude hatten breite Veranden, und neben allen befanden sich Wassertanks, in denen der seltene Regen gesammelt wurde. Es war ein buntes Ensemble aus Wohnhäusern, Scheunen und Ställen und erinnerte Jacinda an eine Wagenburg in einem altmodischen Western oder eine Oase in der Wüste.
Vielleicht hatte sie deshalb das Gefühl, dass Carly und sie hier sicher waren.
Wesentlich sicherer als in Los Angeles.
Sicherer als bei Lucy, nachdem das Telefon zu jeder Tages-und Nachtzeit geklingelt hatte und jedes Mal aufgelegt worden war. Es konnte nur Kurt gewesen sein.
„Wie groß ist deine Ranch?“, fragte sie Callan.
„Meine Station. Hierzulande nennen wir sie nicht Ranches. Sie ist ungefähr zweitausendvierhundert Quadratkilometer groß.“
„Wow!“ Das klang sehr beeindruckend. „In Acres sind das … zweimal so viel? Vier- oder fünftausend?“
Sie riet nur. Kurt besaß eine Ranch im Osten Kaliforniens. Sechstausend Acres. Er breitete immer die Arme aus, holte tief Luft und verkündete „Mann, ist das ein Stück Land!“
Callan lachte. „Nun ja, etwas mehr als das. Ungefähr neunhundert Quadratmeilen. In Acres sechshundertausend.“
„Sechs hundert tausend! Hundertmal so groß wie die Hobbyranch meines Exmanns?“
„Verglichen mit anderen ist die Station eher klein. Anna Creek, westlich vom Lake Eyre, hat sechs Millionen Acres.“
Anna Creek interessierte Jacinda nicht. „Das heißt … dir gehört … Rhode Island! Ein kompletter Bundesstaat der USA!“
„Nur, dass ich wahrscheinlich weniger Rinder habe.“
„Wie viele?“
„Etwa zweitausendvierhundert. Ein Tier pro Quadratkilometer. Hier draußen ist es dürr. Das Land ernährt einfach nicht mehr. Meistens streifen sie frei umher und sind manchmal schwer zu finden, wenn man sie einfangen will.“
Callan besaß mehr Land als ein durchschnittlicher europäischer Fürst. Und hundertmal mehr als Kurt. „So weit das Auge reicht? Das gehört alles dir?“
„Ja.“ Obwohl er es leise sagte, hörte sie heraus, wie stolz er war.
Wenig später rumpelten sie über ein Metallgitter zwischen zwei Zäunen, und hundert Meter weiter erreichten sie das Haupthaus. Callan parkte davor. Zwei Hunde rannten um eine Ecke und begrüßten ihn, als hätten sie ihn seit einer Woche nicht mehr gesehen. Einer davon war ein schwarz-weißer Border Collie, der andere wahrscheinlich der rote Hund auf Callans Foto in der Zeitschrift.
„Hallo, Pippa“, sagte er. „Hallo, Flick. Ihr mögt mich. Schon verstanden. Aber Jacinda und Carly können auf eure Begrüßung verzichten, klar? Die beiden kommen aus der Großstadt, also benehmt euch.“ Auf seinen Befehl hin setzten die Hunde sich mit hängenden Zungen in den Schatten.
Eine Fliegentür quietschte, und auf der Veranda erschienen drei Menschen.
Callans Söhne und seine Mutter Kerry. Alle drei hatten seine strahlend blauen Augen. Er hatte in seinen E-Mails von ihnen erzählt, und Jacinda wusste, dass sein Vater vor elf Jahren gestorben war und Kerry in einem kleinen Cottage auf dem Gelände wohnte.
„Ich kann mich nicht abschnallen“, kam Carlys Stimme vom Rücksitz.
Jacinda stellte fest, dass auch ihr Gurt nicht so einfach zu lösen war. Vermutlich weil das Schloss dauernd dem Staub ausgesetzt war. Sie stieg aus, half ihrer Tochter und war sich dabei bewusst, dass sie die ganze Zeit angestarrt wurde – nicht unfreundlich, aber dennoch war es ihr unangenehm. Callan öffnete die Hecktür.
„Koffer? Warte, ich helfe“, rief Kerry Woods und kam die steinernen Stufen herunter. „Ihr müsst Jacinda und Carly sein. Ich bin Kerry.“ Sie tätschelte Jacindas Schulter und strich Carly übers Haar. „Jungs, steht nicht herum! Das hier ist Carly, jemand zum Spielen!“
„Heißt das, wir sind mit der Schule fertig?“
„Zum Spielen nach der Schule, also gegen Mittag, Lockie!“
Jacinda sah auf die Uhr. Es war halb zwölf. Nein, Augenblick mal. Der Pilot hatte ihr erklärt, dass es hier eine halbe Stunde früher als in Sydney war.
„Hattet ihr einen guten Flug?“, fragte Callans Mutter.
„Ja, zwischen Sydney und Broken Hill war der Ausblick aus dem Flugzeug faszinierend. Zwischen Broken Hill und hier habe ich leider …“
„Nach der Landung sah sie ziemlich grün aus“, warf Callan unbeschwert ein.
Kerry lächelte mitfühlend, und Carly fragte wieder nach der Eidechse. Die Jungen hatten die Hunde aufgescheucht, und sie brachten Callan fast ins Stolpern, als er mit den beiden schwersten Koffern die Treppe zur Veranda betrat. Kerry nahm den dritten und sagte etwas von Tee und Keksen. Die Hunde bellten freudig. Lockie und Josh beschwerten sich erneut über die Schulaufgaben.
Das reinste Chaos.
Jacinda lächelte. Ein ganz normales, angenehmes, beruhigendes Familienchaos.
„Tee und Kekse könnte ich jetzt gut vertragen“, sagte sie und griff nach dem Sack, den Rob-der-Pilot mitgebracht hatte. „Soll ich das hier mit hereinnehmen?“
„Das ist nur die Post“, erwiderte Callan.
„Wow! Ihr kriegt aber viel Post hier draußen!“
„Normalerweise nicht.“
„Noch mehr Briefe, Callan?“, fragte Kerry.
„Hoffentlich nicht.“
„Ich glaube, es sind auch ein paar Bücher“, sagte Jacinda und sah ihm an, wie erleichtert er darüber war.
Sie war noch recht schwach auf den Beinen. Das schaukelnde Flugzeug, die Nachwirkungen des Jetlags nach dem Flug von Kalifornien nach Sydney vor vier Tagen, die Tatsache, dass sie in letzter Zeit nicht genug gegessen hatte … Ihr Blutzuckerspiegel war im Keller, und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Kerry schien ihr Zustand nicht entgangen zu sein.
„Komm rein“, sagte sie. „Jungs, lasst unsere Besucher für eine Weile in Ruhe. Callan, ich habe die Betten im hinteren Eckzimmer gemacht. Das Fenster geht auf den Garten hinaus, Jacinda, und es hat eine Tür zur Veranda. Das Bad liegt auf der anderen Seite des Flurs, und die Jungs dürfen es nicht benutzen, solange ihr hier seid. Sie können Callans nehmen. Wenn ihr euch also frisch machen wollt oder ich euch den Tee aufs Zimmer bringen soll …“
Chaos.
Dann Frieden.
Carly hatte sich gleich mit Lockie, dem Eidechsenliebhaber, angefreundet und wollte, dass er ihr den Garten zeigte. Im Haus war es dunkler und kühler als im grellen Sonnenschein. An den Wänden des Flurs hingen die bunten Bänder, mit denen Callans Rinder ausgezeichnet worden waren. Die drei Koffer und die Tasche standen in ihrem neuen Zimmer. Callans Postsack war irgendwohin verschwunden.
Der Raum war ziemlich geräumig, aber spartanisch eingerichtet – zwei Betten mit Quilts, ein Deckenventilator, ein Kleiderschrank, eine Spiegelkommode und das gerahmte Bild einer Landschaft, das offenbar aus Zweigen und Rinde gemacht worden war.
Jacinda legte sich hin und fühlte sich endlich wirklich sicher. Sie war weit genug von Kurt entfernt. Hier würde er Carly nicht finden, und falls doch, wäre selbst er hier im australischen Outback machtlos.
Sie schloss die Augen. Ihr Herz klopfte nicht mehr so heftig. Für immer konnte sie nicht hierbleiben. Höchstens ein paar Wochen. Trotzdem durften Carly und sie Callan und seiner Familie nicht zur Last fallen. Aber vorläufig …
Zwanzig Minuten später saß sie bei Tee und Keksen mit Kerry und Callan zusammen. „Bitte gebt mir etwas zu tun“, sagte sie. „Abwaschen, kochen und staubsaugen, was auch immer. Behandelt mich nicht wie einen Gast.“
Sie hat recht, dachte Callan. Es wäre für sie alle einfacher, wenn er sie irgendwie beschäftigen könnte. Aber halb wilde Rinder zusammentreiben? Viertausend Meter lange Zäune mit neuem Draht bespannen? Verwitterte rote Dächer streichen?
Hm. Gut möglich, dass eine Drehbuchautorin aus Los Angeles dafür nicht geeignet war.
Mum, hilf mir …
Seine Mutter hatte Carly Bauklötze gebracht, und das Mädchen spielte auf der Veranda. Die Jungen saßen wieder an ihren Schreibtischen, Josh löste Mathematikaufgaben, Lockie mühte sich mit einer Buchbesprechung ab. „Zur Schule“ gingen die beiden im Internet und über das Funkgerät.
Seine Mutter warf ihm einen fragenden Blick zu.
Er wusste, was sie meinte. Wenn sie die Jungen nicht beaufsichtigen musste, hatte sie mehr Zeit für den Garten. Aber sie arbeitete schon jetzt viel zu hart.
Doch Kerry kam ihm zuvor. „Lockie könnte etwas Hilfe bei seiner Buchbesprechung gebrauchen“, sagte sie. „Callan hat erzählt, dass du Autorin bist …“
Jacinda nickte und schien plötzlich zu frieren.
Callan griff ein. „Mum, ich glaube … das ist fast so, als würde man auf einer Party einen Arzt um einen kostenlosen medizinischen Rat bitten.“
„Nein, das ist kein Problem“, versicherte Jacinda.
Er sah ihr an, dass es durchaus ein Problem war.
Dennoch war sie schon aufgestanden und nach nebenan gegangen, wo er die Büroarbeiten und seine Söhne die Schulaufgaben erledigten. Missmutig starrte Lockie auf den fast leeren Bildschirm des Computers. „Was ist das für ein Buch, Lockie?“
Ich kann es, dachte sie verzweifelt.
Dabei war es ihr schon schwergefallen, vor der Landung in Sydney die Einreisekarte auszufüllen. Vor drei Tagen – zwölf Stunden vor dem panischen Anruf bei Callan – hatte sie drei Ansichtskarten gekauft, sie jedoch bei Lucy gelassen, weil sie keine Zeile zustande gebracht hatte.
Der Bildschirm war vertraut. Die leicht schimmernde weiße Fläche des Textverarbeitungsprogramms mit seinen Symbolen und Schaltflächen, der leuchtend blaue Streifen am oberen Rand.
BUCHBESPRECHUNG hatte Lockie geschrieben. In der Mitte der Seite, genau wie sie in Los Angeles die Namen REECE und NAOMI. Die Überschrift schien vor ihren Augen zu verschwimmen.
Jacinda schnappte nach Luft. In ihrem Kopf vermischten sich die Dialoge aus der Seifenoper mit dem, was Kurt zu ihr gesagt hatte – verhüllte Drohungen, pseudofürsorgliche Ratschläge und indirekte Anschuldigungen. Ein Abgrund tat sich in ihr auf, und sie konnte an nichts anderes als Flucht denken.
Weg von hier, bloß weg von hier.
Sie nahm kaum wahr, wie Lockie ihr antwortete, rannte aus dem Zimmer, auf die Veranda, vorbei an ihrer verwirrten Tochter, die Stufen hinunter, über die rote, von der Sonne steinhart gebackene Erde und zu den Bäumen, die sich um ein Windrad aus glänzendem Metall und einen Wassertank gruppierten. Erst dort blieb sie keuchend und mit hämmerndem Puls stehen.
Das schwarze Loch in ihr schloss sich langsam, und zurück blieb nicht die nackte Angst, sondern nur die Erinnerung daran. Jacinda griff nach einem herabhängenden Zweig und fühlte, wie winzige pinkfarbene Körner in ihre Hand rieselten. Sie waren trocken, wie Papier, und als sie sie zwischen den Fingerspitzen zerrieb, rochen sie wie Pfeffer.
Eine Brise setzte die Flügel des Windrads in Bewegung, und ein dünner Wasserstrahl ergoss sich in den Tank.
Jacinda atmete tief durch, zitterte jedoch noch am ganzen Körper.
„Was ist passiert, Jacinda?“ Callan stand hinter ihr. „Er war doch nicht frech zu dir, oder?“
„Nein, nein, überhaupt nicht.“ Sie drehte sich zu ihm um, weg von der angenehm kühlen Seite des Tanks. „Es war meine Schuld.“
„Was war denn?“ Er machte einen Schritt auf sie zu und sah erst jetzt, wie sehr sie zitterte. „Hey …“ Er berührte ihren Arm.
Seine Hand fühlte sich schwer und kräftig und warm an, und instinktiv erwiderte sie den Griff und hielt sich an ihm fest.
Sie waren einander viel zu nahe. Er hätte sein Kinn auf ihren Kopf stützen, sie umarmen oder ihr etwas ins Ohr flüstern können.
„Ich bekomme in letzter Zeit immer wieder Panikattacken“, gab sie zu. „Bitte sag Lockie, dass es mir leidtut. Er wollte mir gerade von seinem Buch erzählen, aber ich bin einfach … gegangen.“
„Es sah dramatischer aus, Jacinda.“
„Ich kann mich nicht mal daran erinnern.“ Ohne es zu wollen, presste sie die Stirn gegen Callans Schulter.
Er hielt sie fest und gab beruhigende Laute von sich – wie bei einem verängstigten Tier. Genau das bin ich, dachte sie.
Als er sich bewegte, protestierte sie leise. Er durfte sie noch nicht loslassen, dazu fühlte es sich zu gut an. Ihr Körper sehnte sich nach dem Kontakt, brauchte ihn wie Wärme oder Nahrung. Es war nicht zu erklären, es war … einfach so.
Sie packte seine Hände und murmelte etwas Entschuldigendes. Dann fühlte sie, wie Callan sie entschlossen von sich schob.
„Carly macht sich Sorgen um dich“, sagte er leise. „Sie kommt gerade her. Und meine Mutter ist direkt hinter ihr.“
„Es tut mir leid.“
„Hör auf, dich ständig zu entschuldigen!“
„Du kannst mich jetzt loslassen. Es geht mir wieder gut.“
„Möglicherweise will meine Mutter Carly aufhalten. Das hier sieht ziemlich … na ja, privat aus.“
Also hatte auch er die Nähe gespürt. Die Wärme. Das, was nicht zu erklären war.
Aber es gefiel ihm ebenso wenig wie ihr.
„Ja. Ich werde mit ihnen reden.“
„Warte. Ich … will nicht aufdringlich sein, aber … ich kann nicht zulassen, dass meine Mutter einen falschen Eindruck bekommt.“ Er ging auf Abstand. „Jacinda, sobald du kannst … musst du mir erklären, warum du hier bist.“
„Meine Mutter macht den Kindern etwas zu essen“, berichtete Callan. „Ich habe ihr gesagt, dass wir beide miteinander reden müssen.“
„Danke“, erwiderte Jacinda. „Das müssen wir wirklich. Ich will dich nicht weiter im Dunkeln lassen.“
„Setz dich auf die Bank. Keine Eile. Hast du Hunger? Durst?“
„Das kann warten.“
Er war mit ihr in den Garten gegangen. Sie hatte nicht geahnt, dass Kräuter und Gemüsepflanzen so hübsch aussehen konnten. Es gab Beete mit Rosmarin und Lavendel und Thymian, mit jungen, faustgroßen Salatköpfen, deren helles Grün sich mit dem dunkleren, rötlichen der Ringelblumen abwechselte. Einige der Beete waren durch aufgespannte Stoffplanen vor der Mittagssonne geschützt, und Büsche hielten den staubigen Wind ab.
Die Erde sah saftig und fruchtbar aus, ganz anders als der ockerfarbene Boden ringsherum. Dahinter befand sich ein Stall mit Auslauf für die eifrig pickenden und scharrenden Hühner, die von einem prächtigen Hahn beaufsichtigt wurden.
Jacinda stieß den angehaltenen Atem aus. „Wo soll ich anfangen?“
„Du hast eine hässliche Scheidung hinter dir“, sagte Callan. „Aber ich dachte, die ist vorbei. Vermögensausgleich, Sorgerecht, alles.“
„Das dachte ich auch, aber Kurt hat andere Vorstellungen. Er will Carly.“ Sie war noch immer nicht sicher, was für ein Spiel er spielte. „Oder er will mir Angst machen. Und es wirkt. Er begnügt sich nicht mehr damit, mir bei der Arbeit Schwierigkeiten zu machen.“
„So?“ Callan sah ihr kurz ins Gesicht und dann wieder zur Seite. Es wäre einfacher für Jacinda, wenn sie einander nicht ansehen würden. Er hob einige Kieselsteine auf und warf sie einzeln fort, als hätten sie beide alle Zeit der Welt. Hoch über ihnen krächzte ein Rabe.
„Kann ich das auch tun?“, fragte sie. Lächelnd ließ er die Hälfte seiner Steine in ihre ausgestreckte Hand fallen. Sie schwiegen fast eine Minute lang, bevor sie den Mut aufbrachte, ihre Geschichte zu erzählen. „In der letzten Woche hat eine Frau, die Carly nicht kannte, versucht, sie von der Vorschule abzuholen. Die Frau sah genauso aus wie ich.“
Die Erinnerung war noch frisch. Sie hatte die Fremde mit eigenen Augen gesehen und sich nichts dabei gedacht, sondern nur beiläufig registriert, wie eine schlanke Frau mit langem dunklem Haar unweit des Schultors in einen Wagen stieg, der ihrem eigenen glich.
Da nicht auszuschließen war, dass Kurt eines Tages Carly abholen würde, hatte sie sich angewöhnt, zehn Minuten früher zur Schule zu fahren. Mit so etwas hatte sie allerdings nicht gerechnet. Sie ging hinein und fand Helen Franz, die Direktorin, blass und zitternd an ihrem Schreibtisch. Die Frau war so entsetzt, dass sie noch nicht einmal die Polizei gerufen hatte. Die Fremde hatte Carlys Namen gekannt, den ihrer besten Freundin und sogar die der Lehrerinnen.
„Diese Frau geht an der Schulleiterin vorbei zu Carly“, erzählte Jacinda Callan. „Sie sagt: ‚Hi, Mrs. Franz, ich bin heute früher als sonst und habe Carly schon in der Anwesenheitsliste ausgetragen.‘ ‚Deine Mom ist hier, Honey‘, sagt die Schulleiterin zu Carly. Sie sieht sich die Frau nicht genauer an, schöpft keinen Verdacht und ist kurz davor, ihr Carly mitzugeben. Aber Carly merkt natürlich, dass es nicht ihre Mutter ist, und will sie nicht begleiten. ‚Darling, du kannst