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Ein Baby … Aufgewühlt blickt Atlanta auf die zwei dunkelroten Linien des Schwangerschaftstests. Sie trägt tatsächlich Nathans Baby unter dem Herzen! Neben ihrer freudigen Verwirrung verspürt die junge New Yorkerin noch ein Gefühl: Unsicherheit. Zwar knistert es stark zwischen ihr und Nathan. Kein Wunder: Nathan ist ein starker, faszinierender Mann und hat als Hotelmanager großen Erfolg. Aber ist er auch bereit, Vater zu werden? Und da ist noch etwas, das die hübsche Atlanta zweifeln lässt: Nathan hat mit keinem einzigen Wort von Liebe gesprochen …
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Seitenzahl: 199
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BIANCA erscheint 14-täglich in der Harlequin Enterprises GmbH
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© 2010 by Lilian Darcy
Originaltitel: „The Heiress’s Baby“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe: BIANCA
Band 1802 (21/1) 2011 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Patrick Hansen
Fotos: mauritius images
Veröffentlicht als eBook in 10/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
ISBN: 978-3-86349-023-2
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Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
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Lilian Darcy
Kein Wort von Liebe
1. KAPITEL
August, San Diego
Atlanta war noch im Badezimmer.
Nathan hatte die letzte halbe Stunde in der Hotelbar verbracht. Mit seiner Schwester Krystal. Sie hatte um das Treffen gebeten, „um die Köpfe zusammenzustecken und eine neue Strategie zu entwerfen.“ Er sah darin eher den Versuch, „den großen Bruder um Geld anzuschnorren.“ Atlanta war schon im Bad gewesen, als er das luxuriöse Zimmer verlassen hatte. Sie war noch immer drin.
Oder nicht?
Hinter der Tür war es sehr still. Kein Wasser rauschte, kein Föhn heulte, keine Kosmetika wurden auf einer Marmorfläche abgestellt. Je angestrengter er lauschte, desto mehr kam er sich wie ein Eindringling vor. Seine Anspannung nahm zu. Das neueste Drama mit seiner Familie hatte dafür gesorgt, dass er ohnehin schon gereizt war.
Noch immer kreisten seine Gedanken ergebnislos um die Probleme seiner Schwester. Er hatte ihr einen Scheck ausgeschrieben, damit sie ihre aktuellen Schulden bezahlen konnte. Aber war das genug? Was konnte er tun, um ihr langfristig zu helfen?
Und was seine Mutter betraf …
Nicht jetzt, befahl er sich. Er musste sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren.
Ging es Atlanta gut?
War sie überhaupt noch nebenan?
Oder war sie einfach verschwunden, mit einem Taxi zum Flughafen gefahren und hatte die nächste abflugbereite Maschine genommen? Damit rechnete er, seit sie am Donnerstag hier eingetroffen waren. Ihm war nicht entgangen, dass sie sich gestern Abend telefonisch nach den Abflugzeiten erkundigt hatte.
Vielleicht hätte er auf dem Zimmer bleiben sollen, anstatt mit Krystal einen Kaffee zu trinken und sich dabei zum wiederholten Mal ihre Probleme anzuhören. Er hätte seiner Schwester in der Hotelhalle den Scheck geben können, um sofort wieder nach oben zu gehen. Vielleicht hätte er Atlanta das Abendessen am Freitag ersparen und am Samstag auf ihre Unterstützung verzichten sollen.
Er riss den verspiegelten Schrank auf. Ihre eleganten Outfits waren noch da, goldfarben, rot, sepia, grün … darunter die passenden Schuhe. Er atmete auf. Sein Herz schlug langsamer. Einen Moment lang wurde ihm vor Erleichterung fast schwindlig.
Sie war also noch hier.
Sein Blick fiel auf das Gesicht im Spiegel, in dem sich die Anspannung deutlich abzeichnete. Auf das zerzauste dunkle Haar, das dringend geschnitten werden musste. Die geballten Fäuste. Das Hemd, das ihm aus der Hose gerutscht war.
Dann hörte er, wie Wasser ins Waschbecken lief. Sofort drängte sich ihm wieder die Frage auf, die ihn seit Minuten quälte. Wenn Atlanta nicht fort, sondern noch immer in San Diego – in seinem Leben – war, warum blieb sie dann so lange im Bad? Ging es ihr gut?
„Lannie?“, rief er nach kurzem Zögern.
„Ja, ich bin hier.“ Ihre Stimme klang anders als sonst.
„Alles in Ordnung?“ Die Frage hörte sich in seinen Ohren lahm an, nicht besorgt genug – und vielleicht auch nicht herausfordernd genug. Ihm war klar, dass ihre Beziehung auf Messers Schneide stand. Das wussten sie beide. Hin und wieder hatten sie versucht, darüber zu reden. Zaghaft und vorsichtig, wie zwei Boxer, die einander im Ring umkreisten, ohne einen Treffer zu landen. Nichts war gelöst. Nie wurde etwas offen ausgesprochen.
Und das war ihnen beiden schmerzlich bewusst.
„Ja … irgendwie jedenfalls“, antwortete sie.
„Irgendwie?“
„Gib mir noch eine Minute.“
Das Wasser lief weiter, dann war das Geräusch einer elektrischen Zahnbürste zu hören. Schließlich kam Atlanta heraus.
Es ging ihr keineswegs gut, das sah Nathan sofort.
Sie war blass, trug das Haar in einem lockeren Knoten im Nacken und hatte sich das Top nass gespritzt. Der Ausdruck in ihren Augen, der schmale Mund, die hängenden Schultern, die ganze Körperhaltung – das war nicht die Atlanta, die Nathan kannte. Wo war die hübsche, zuversichtliche, unbeschwerte Frau geblieben?
„Wie war dein Treffen mit Krystal?“, fragte sie matt.
„Gut. Es war gut. Wie immer. Aber …“
„Wollte sie das, was du vermutet hast? Ja, ich sehe es dir an. Was hast du …“
„Ich will jetzt nicht über meine Schwester reden. Was ist los? Du siehst …“
„Nur noch einen Moment, ja?“
Sie setzte sich aufs Bett, als würde sie ihre Kräfte sammeln oder nach den richtigen Worten suchen müssen.
Am liebsten hätte Nathan sie an sich gezogen, ihren Duft eingeatmet und sie geküsst. Er wollte ihr sagen, dass sie nicht reden musste. Dass sie jetzt hier war und sie beide es gemeinsam schaffen würden. Dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Bisher hatte er noch jedes Problem gelöst.
Aber wollte sie das alles überhaupt hören? Nein, vermutlich nicht.
Er setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. „Keine Eile, Lannie. Wir haben Zeit.“ Ihre Haut war so weich, und gegen seinen Willen musste er daran denken, wie oft er sie an den Lippen gefühlt und den Duft ihrer Feuchtigkeitslotion eingeatmet hatte.
Wie immer sehnte er sich danach, mit ihr zu schlafen.
Atlanta dagegen war in Gedanken tausend Meilen entfernt. Und sie schien zu wünschen, ihr Körper wäre es ebenfalls. Ganz weit weg von hier und von dem, was im Bad passiert war und ihr keine Ruhe ließ.
Sie holte tief und zittrig Luft, presste die Hände an die Wangen, als müsste sie sie kühlen, und knabberte an der Unterlippe. „Ich will nicht, dass du denkst, ich … hätte es dir verschwiegen. Ich weiß es nämlich auch erst seit eben. Seit ich mich im Bad übergeben musste. Die Symptome … die Anzeichen … die habe ich falsch gedeutet. Aber jetzt … habe ich Angst! Ich habe nicht damit gerechnet. Dazu bin ich noch gar nicht bereit. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Und diese Reise war schon anstrengend genug. Ich habe solche Angst!“
Oh verdammt … verdammt!
„Sag mir einfach, was los ist, Lannie.“
„Na gut.“ Wieder atmete sie tief durch. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen. „Ich glaube, ich bin schwanger, Nate. Nein, ich bin mir sogar ziemlich sicher.“
Natürlich. Warum war er nicht selbst darauf gekommen?
Schwanger.
So war das Leben nun mal, oder? Seine Mutter und seine Schwester hätten es ihm sagen können.
Er wusste genau, was in Atlantas Kopf vorging. Auch dieses Mal war sie versucht, so zu reagieren, wie sie in kritischen Situationen immer reagierte.
Bisher war sie immer damit durchgekommen.
Es hatte ihr geholfen, alles zu überstehen – die konservativen, klischeehaften Ansprüche ihrer Eltern ebenso wie die mit Maschinenpistolen bewaffneten Banditen in den unzugänglichen Gebirgsschluchten der östlichen Türkei.
Nathan sollte es nicht laut aussprechen. Aber verdammt noch mal, er hatte einige harte Tage hinter sich. Und das hier gehörte zu den heiklen Themen, die sie gescheut hatten – vielleicht war es sogar das Thema, für ihn jedenfalls.
Also öffnete er den Mund, und die Worte kamen wie von selbst. „Schwanger. Und ich nehme an, du hast dich schon entschieden, was? Ohne mit mir darüber zu reden, hast du dir überlegt, wie du dich mal wieder vor deiner Verantwortung drücken kannst, nicht wahr?“
Juni, New York
Atlanta Sheridan war keine typische Hotelerbin.
Jedenfalls hatte man das Nathan gesagt.
Aber in diesem Moment sah sie ganz danach aus. Sie stolzierte über das Vorfeld des kleinen Flughafens im Norden des Bundesstaates, als hätten Reporter stundenlang auf ihren Auftritt gewartet. Ihr blondes Haar glänzte in der Sonne und wehte in der milden Brise, als wäre es während des Fluges geschnitten und gestylt worden.
Die makellos gebräunten Beine steckten in Sandaletten, deren Riemen kaum dicker als Zahnseide waren und deren Absätze eher langen Stahlnägeln glichen. Atlanta verbarg das halbe Gesicht hinter einer auffälligen Sonnenbrille, und ihr Outfit ließ auch ohne Preisschild erkennen, dass es einen vierstelligen Betrag gekostet hatte.
Du hältst nicht mal einen Monat durch, dachte Nathan enttäuscht und zufrieden zugleich. Er mochte starke, interessante Frauen, keine Modepüppchen. Unter seinen Exfreundinnen gab es eine Skiläuferin, die an olympischen Abfahrtsrennen teilgenommen hatte, eine Naturfotografin, die auf wilde Tiere spezialisiert war, und eine Professorin, die die Regenwälder der Tropen erforschte. Das war die weibliche Gesellschaft, die er bevorzugte, beruflich wie privat.
Eine Frau wie diese dagegen …
Der ländliche Flughafen war winzig. Und gerade betrat sie das Abfertigungsgebäude, das man wohl kaum als Terminal bezeichnen konnte. Es war etwa so groß wie ein Seminarraum, mit einigen angrenzenden Büros und einem Automaten für Snacks und Getränke.
Nathan ging ihr entgegen. „Miss Sheridan …“
„Ja. Hi, wie geht es Ihnen?“ Sie strahlte ihn an, schob die Sonnenbrille ins Haar und ergriff seine ausgestreckte Hand. Die perfekt geformten Fingernägel schimmerten, als ihre Finger seine streiften. Ihre Oberlippe war anmutig geschwungen, und selbst wenn sie den Mund schloss, wirkte er leicht geöffnet.
Nathan musste sich zusammenreißen, um nicht zu stammeln. „Gut. Großartig sogar“, entfuhr es ihm, bevor er sich wieder im Griff hatte. „Nathan Ridgeway. Nate.“
Das Blau ihrer Augen war faszinierend, ihr Handschlag kühl und fest, und sie strahlte eine Dynamik aus, die er nicht deuten konnte. Noch nicht.
Das war kein Wunder, denn sein Verstand war kurzzeitig außer Gefecht gesetzt.
Zusammen mit dem Verlangen durchströmten ihn Verblüffung, Neugier und noch etwas, das er nicht benennen konnte – und das alles innerhalb der wenigen Sekunden, die das Händeschütteln gedauert hatte. Er verstand es nicht.
Das Verlangen, sicher, das verstand er. Schließlich war sie eine äußerst attraktive Frau. Aber der Rest war ihm rätselhaft. Es fiel ihm schwer, ihre Hand wieder loszulassen. „Ja, Nate“, wiederholte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.
„Dann bin ich Lannie …“
„Lannie.“ Was war los mit ihm?
„… wenn Sie möchten.“
Oh, ich möchte!
Obwohl er sie erst seit dreißig Sekunden kannte, hatte sie ihn aus der Bahn geworfen, zutiefst aufgewühlt und all seiner bequemen Vorurteile beraubt.
Sein Leben verändert.
Das war verrückt, denn so einfach war er nicht zu beeindrucken.
Unterhalb der saphirblauen Augen war durch das Make-up hindurch eine gerötete Stelle zu erkennen, die nach einem noch nicht verheilten Moskitostich aussah. Sie hatte kein Gramm Übergewicht, und die Muskeln an den dezent gebräunten Armen ließen ahnen, dass sie mehr als nur ein Champagnerglas gehalten hatte.
Nathan hatte genug verwöhnte Models und Schauspielerinnen erlebt, um zu wissen, dass Atlanta Sheridan nicht recht in die Schublade passte, in die er sie automatisch gesteckt hatte.
Selbst der Teint war nicht das, wonach er auf den ersten Blick aussah. Sicher, die Bräune war aufgesprüht, aber am Nacken und an den Handrücken war die Haut verbrannt. Kein Zweifel, sie hatte viel Zeit unter freiem Himmel verbracht – und das nicht nur an einem exklusiven Strand in der Karibik.
Wieder dachte Nathan daran, was der Direktor des „Sheridan Shores“ in North Carolina ihm erst in der letzten Woche bei einer Besprechung in der Konzernzentrale erzählt hatte. „Atlanta Sheridan ist nicht so, wie man sich eine Hotelerbin vorstellt. Wenn Sie ihr jemals begegnen, sollten Sie auf der Hut sein. Tun Sie sie nicht als Luxusgeschöpf ab, und unterschätzen Sie sie nicht.“
Er hatte nicht erwartet, ihr so schnell zu begegnen, schon gar nicht unter solchen Umständen. Aber sein Instinkt hatte ihm dazu geraten, sich jedes warnende Wort seines Kollegen zu merken. Jetzt war er heilfroh darüber.
Unterschätzen Sie sie nicht.
Seine feste Überzeugung, dass sie keinen Monat als Chefin des „Sheridan Lakes Resort“ aushalten würde, bekam erste feine Risse. Und das Verlangen, das sie in ihm weckte, kam so unerwartet wie ein Anfall von Höhenangst bei einem erfahrenen Fallschirmspringer.
„Haben Sie Gepäck aufgegeben?“, fragte er. Sie war mit einer Linienmaschine gekommen, aber an Bord waren nur drei weitere Passagiere gewesen. Ein Gepäckkarren, der eher einem Elektromobil auf einem Golfplatz glich, näherte sich dem Flughafengebäude.
„Oh ja, das habe ich!“ Sie lächelte mädchenhaft. „Ich war gestern Shoppen“, fügte sie fast ein wenig trotzig hinzu.
„Richtig.“ Natürlich war sie Shoppen gewesen. Nathan war froh, dass wenigstens das Vorurteil sich bestätigte. Er klammerte sich daran wie ein Schiffbrüchiger an ein Stück Treibholz.
An der Gepäckausgabe zeigte sie auf zwei riesige Louis-Vuitton-Koffer, die nach einer Weltumrundung auf einem Kreuzfahrtschiff aussahen, eine exotisch wirkende Reisetasche und einen Rucksack, der schon einiges durchgemacht zu haben schien. Darunter war ein Schlafsack geschnallt, und oben ragten zwei orangefarbene Trekkingsocken heraus.
„Ich ziehe, Sie tragen, okay?“ Sie zog die Griffe des Nobelgepäcks heraus und rollte sie in Position, als wären sie Pudel an der Leine. Dann schob sie den Rucksack mit dem Fuß in seine Richtung. Dass der zierliche Schuh es überlebte, verwunderte Nathan.
„Kein Problem. Der Wagen steht draußen.“ Er warf einen Blick auf ihre albernen, absolut unpraktischen High Heels. „Woher kommen Sie genau? Ihr Vater hat nichts erzählt.“ Rucksack und Louis Vuitton. Sonnenbrand und Stiletto Heels. Shopaholic mit Muskeln. Das passte alles nicht zusammen, und die Neugier ließ ihm keine Ruhe.
„Na ja, gestern und vorgestern war ich im Sheridan Central Park, aber davor …“ Sie schaute auf den Rucksack, den er sich über die Schulter gehängt hatte. „Im Osten der Türkei.“
„Richtig. Türkei“, wiederholte er. Der Riemen des Rucksacks war zu kurz, und Nathan hielt ihn fest, damit er nicht herunterrutschte. „Mr Sheridan … Bill … Ihr Vater … hat es nicht erwähnt. Ich weiß erst seit zwei Tagen, dass Sie kommen.“
„Ja, ich musste meine Reise vorzeitig abbrechen“, erwiderte sie fröstelnd. Mehr sagte sie nicht, sondern steuerte den Ausgang an.
Diese Frau war eindeutig nicht so, wie er es erwartet hatte. Zum zweiten Mal in dieser Woche hatte Nathan das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dank seiner Familie war es ihm vertraut. Aber das hieß nicht, dass er sich daran gewöhnt hatte. Im Gegenteil, er hasste es.
Noch am Montag war er hundertprozentig sicher gewesen, dass er spätestens am Wochenende die Leitung des „Sheridan Lakes“ übernehmen würde. Schließlich arbeitete er seit einem Jahr als stellvertretender Direktor und vertrat seinen erkrankten Chef schon seit März.
Erst vor wenigen Tagen hatte Ed ihm bei seinem Abschiedsessen zu seiner Nachfolge gratuliert. „Ich bin froh, dass Sie der neue Direktor werden, Ridgeway. Bei Ihnen weiß ich unser Hotel in guten Händen.“
Aber dann war Bill Sheridan höchstpersönlich mit dem Hubschrauber eingeflogen. So war der Mann. Ohne Vorwarnung tauchte er in einem seiner fünfunddreißig Luxushotels auf, um nach dem Rechten zu sehen.
Bill hatte sich mit ihm ins „Lavande“, das Fünfsternerestaurant des Hotels, gesetzt und war ohne Umschweife zur Sache gekommen. „Tut mir leid, Nate, aber ich habe es mir anders überlegt. Meine Tochter kehrt unerwartet nach Hause zurück. Sie braucht dringend eine Pause und einen Ortswechsel, deshalb möchte ich, dass sie das Lakes übernimmt.
Keine Sorge, Sie bekommen auch noch Ihre Chance, deshalb dürfen Sie es nicht als Rückschlag ansehen. In einem halben Jahr wird der Direktorenposten im Sheridan Turfside frei. Bis dahin unterstützen Sie Atlanta … Lannie … bei ihrem neuen Job. Als ihre rechte Hand. Sie hat einen Harvard-Abschluss in Betriebswirtschaft – na ja, fast – und schon mehrere Einsätze in verschiedenen Häusern hinter sich …“
Ja, zwischen den Einsätzen in Nachtclubs und auf Promipartys in Hollywood und London, hatte Nathan gedacht. Er hatte die Fotos der Paparazzi gesehen.
„… also kennt sie sich aus. Sie werden von meinem kleinen Mädchen beeindruckt sein.“
Ja, sicher.
„Natürlich, Bill.“
Nur mit Mühe hatte Nathan seine Enttäuschung und eine zynische Bemerkung heruntergeschluckt. Er wollte nicht nach Kentucky, ihm gefiel es hier in den Adirondacks im ländlichen Norden New Yorks. Dieses Hotel war größer und luxuriöser als das „Turfside“.
Es war eine echte Herausforderung, und die wilde Berglandschaft, die es umgab, war mehr nach seinem Geschmack als das flache Grasland von Kentucky. Er liebte die Natur und das Gefühl von Freiheit, das sie ihm immer wieder gab. Hier fühlte er sich so zu Hause, dass er sogar das Geld für ein Stück Land zusammengekratzt hatte, obwohl der Leichtsinn seiner Mutter und seiner Schwester sich negativ auf sein Bankkonto auswirkte.
„Sie ist intelligent und fähig“, fuhr der Hotelmagnat fort. „Und mit der richtigen Hilfe schafft sie den Sprung in die Leitungsebene. Ich verlasse mich auf Sie, Nate.“
Hatte er sich etwas anmerken lassen? Bills warnender Unterton war nicht zu überhören.
Nathan versuchte, begeistert zu klingen. „Ja, Sir, natürlich.“
Dann läutete Bills Handy, und sein Arbeitgeber verbrachte den Rest des Arbeitsessens mit Telefonaten oder damit, sich für die Unterbrechung zu entschuldigen. Nathan war froh darüber, denn es gab ihm die Zeit, seine Gedanken zu sortieren.
Er hatte die Fotos der Hotelerbin in der Klatschblättern und Hochglanzmagazinen gesehen. In der First-Class-Lounge von London Heathrow. Am Arm eines Oscar-Gewinners. Oben ohne auf einer Jacht im Mittelmeer, mit so schlechter Bildqualität, dass man sie nicht erkannt hätte, wenn sie nicht schon fotografiert worden wäre, als sie in Saint Tropez an Bord ging.
Wenn er Bill Sheridan richtig verstanden hatte, brauchte Miss Sheridan eine Auszeit. Nach einer gescheiterten Liebesaffäre? Oder nach einer geschäftlichen Pleite? Es kursierten Gerüchte, dass sie versucht hatte, ihre eigene Modekollektion auf den Markt zu bringen. Vielleicht war es ein Fehlschlag gewesen. Möglicherweise drängte ihr Vater sie, endlich sesshaft zu werden.
Oder sie langweilte sich einfach nur. Was immer der Grund war, Nathan hatte stark bezweifelt, dass sie es hier oben, weit entfernt vom Trubel der Schickeria, lange aushalten würde.
Aber jetzt, auf dem kleinen Provinzflughafen, sah er die Wärme und Intelligenz in Atlantas strahlend blauen Augen. Er spürte die Energie – und die Chemie – in ihrem festen Handschlag. Dann waren da der schäbige Rucksack und der Schaden, den Wind und Sonne an ihrer gepflegten Haut hinterlassen hatten.
Vielleicht war ihr plötzliches Auftauchen mehr als die Laune einer verwöhnten Erbin. Mehr als die Idee eines besorgten Vaters.
Nathan hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr im Job Steine in den Weg legen musste, um ihn nach ihrem Scheitern selbst zu übernehmen. War er dazu fähig? Würde er ihr wichtige Informationen vorenthalten können? Ihr das unerfahrenste Personal zuteilen, wenn sie ein wichtiges Event organisieren musste?
In ihm wehrte sich alles dagegen. Mit miesen Tricks hatte er noch nie gearbeitet, und er hatte nicht vor, damit anzufangen. Auch wenn sein Ego verletzt war, weil diese Frau ihm den sicher geglaubten Posten weggeschnappt hatte.
Nein, ihm blieb nur eine Wahl. Er würde genau das tun, was Bill Sheridan von ihm verlangte – nämlich die Zähne zusammenbeißen, ein Lächeln aufsetzen und dieser erstaunlichen Frau so gut helfen, wie er es konnte.
Erst im Wagen fiel Atlanta auf, dass Nathan Ridgeway sehr wortkarg war.
„Nate“, hatte er vorhin gesagt.
Nate. Nathan. Der Name ging ihr nicht aus dem Kopf. Wie ein Wort in einer fremden Sprache, das sie auswendig lernen musste. Eine Klangkombination, die ihr noch vor wenigen Minuten nichts bedeutet hatte.
Nathan Ridgeway.
Der Mann, der ihr den Einstieg ins gehobene Hotelmanagement erleichtern sollte. Auf dem Flughafen hatte sie ihn mit dem begrüßt, was sie insgeheim ihren Handschlag Nr. 2 nannte. Nicht die zarten, schlaffen Finger, die man von einer verwöhnten Erbin erwartete, sondern den kurzen, kräftigen Unterschätz-mich-nicht-Griff.
Es war ihm nicht entgangen, und sofort hatte er sich darauf eingestellt. Kein unterwürfiges, gefälliges Verhalten, mit dem manche Angestellten ihres Vaters der Tochter des Chefs begegneten.
Was bedeutete, dass Mr Ridgeway kein Schwächling war.
Perfekt.
Denn sie war es auch nicht.
So weit, so gut, aber während der Begrüßung war noch etwas in ihr vorgegangen. Obwohl ihr das Abenteuer in den Bergen der Nordtürkei noch in den Knochen steckte, hatte sie so etwas wie einen Energieschub verspürt. Ihr Herz hatte zu klopfen begonnen. Kein Zweifel, dieser Mann war anders.
In einem Nachtklub um ein Uhr morgens hätten sie vielleicht miteinander getanzt – und mehr daraus gemacht.
Aber unter diesen Umständen hatten beide sofort Barrieren gegen die Anziehung errichtet. Seine ragte vermutlich höher auf als ihre. Falls er sie wirklich attraktiv fand, war es das Letzte, was er wollte.
Sein Lächeln strahlte Selbstbewusstsein und … Offenheit aus. Er hatte seine eigenen Regeln und hielt sich daran. Ausnahmslos und strikt. Sie schätzte ihn auf dreiunddreißig, vier Jahre älter als sie.
So, wie er aussah, hätte er als Bodyguard des Präsidenten durchgehen können. Kurzes Haar, dunkle Sonnenbrille, Businesshemd, Krawatte und am linken Handgelenk eine Uhr, an der man wahrscheinlich Blutdruck, Herzschlag, Temperatur, Höhenmeter und die Uhrzeit auf die Sekunde genau ablesen konnte.
„Nathan ist für dich da, wenn du ihn brauchst“, hatte ihr Vater gestern Abend am Telefon gesagt. „Er holt dich ab und erklärt dir alles, was du wissen musst. Er ist ein intelligenter und ungewöhnlicher Mann, und ihm ist klar, dass sein Job auf dem Spiel steht, wenn er dir Schwierigkeiten machen sollte, Lannie.“
„Dad!“ Sie hasste es, wenn man ihr den roten Teppich ausrollte.
Nein, das stimmte nicht. Nicht ganz. Manchmal gefiel es ihr. Aber nur, wenn sie es selbst wollte.
Sie war noch immer auf der Suche nach sich selbst. Ihr halbes Erwachsenenleben hatte sie dort verbracht, wo das Geld und der Einfluss ihres Vaters nicht zählten. Wo niemand wusste, dass sie die Atlanta Sheridan war, die vor drei Jahren in der Liste der bestangezogenen Frauen der Welt immerhin den siebten Platz erreicht hatte.
Im Friedenscorps war sie einfach nur Lannie gewesen. Genau wie in dem Waisenhaus in Thailand, bei ihren Expeditionen in die Wildnis und in der Bar in Neuseeland, wo sie sechs Monate lang Bier ausgeschenkt hatte, durch die Berge gewandert war und versucht hatte, den Akzent der Einheimischen zu verstehen. Sie hatte herausfinden wollen, wer sie war und, noch wichtiger, wer sie für den Rest ihres Lebens sein wollte.
Dies war nicht das erste Mal, dass sie sich einer neuen Herausforderung stellte. Und nicht selten waren ihre Abenteuer sogar lebensgefährlich gewesen. Sie hatte Glück, dass sie überhaupt hier war. Ebenso gut hätte sie jetzt in einem feuchtkalten Verlies sitzen können, an Händen und Füßen gefesselt, mit verbundenen Augen, in einem gottverlassenen Dorf am Fuß des Berges Ararat. Als Geisel. Aus Gründen, die sie noch immer nicht verstand. Politische? Religiöse? Finanzielle?
Wie durch ein Wunder war sie entkommen.
Hier war sie sicher. Das „Sheridan Lakes“ gehörte zu ersten Hotels, die ihr Vater eröffnet hatte. Als Kind hatte sie jeden zweiten Sommer hier oben verbracht, um die Natur zu erkunden und in den Seen und Bächen zu schwimmen. Bald würden sie die Straße erreichen, die das größte Gewässer umrundete, vorbei an den Motels, den luxuriösen Cottages mit ihren Bootsanlegern, und schließlich zu der bewaldeten Halbinsel führte, auf der das Hotel lag.
Hier konnte ihr nichts passieren.
„Bekomme ich eine oder zwei Wochen frei, bevor ich anfange?“, fragte sie den Mann neben ihr, ohne die Augen zu öffnen.
Die Wanderstiefel hatten an ihren Füßen dicke Schwielen hinterlassen, und die hübschen Designerschuhe brachten sie um. In der schwülen Hitze Thailands hatte sie abgenommen, und in den Bergen der Osttürkei hatte sie sich tagelang nur von Energieriegeln und einer Flasche Wasser ernährt.
„Sicher“, erwiderte er nach einem Moment.