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Dr. Hunters Kampf um das Leben der kleinen Zwillinge ist dramatisch! Doch zum Glück muss er den schweren Weg zwischen Hoffnung und Verzweiflung nicht allein gehen: Tag und Nacht ist die einfühlsame Kinderkrankenschwester Jessica bei ihm. Sie schenkt ihm Mut - und unendlich viel Zärtlichkeit …
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Seitenzahl: 179
IMPRESSUM
Voller Mut und Zärtlichkeit erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2004 by Lilian Darcy Originaltitel: „Caring for His Babies“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA ARZTROMANBand 75 - 2006 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Peter Friedrich
Umschlagsmotive: Wavebreakmedia / Getty Images
Veröffentlicht im ePub Format in 11/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733735883
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Die Telefonverbindung von Sydney nach Riad war gut, womit Keelan gar nicht gerechnet hatte.
„Erzählen Sie mir von den Zwillingen“, bat Jessica Russell am anderen Ende der Leitung.
In Saudi-Arabien war es vier Uhr nachmittags, aber ihre Stimme klang, als wäre sie gerade aufgewacht. Vielleicht hatte sie Nachtschicht gehabt und tagsüber geschlafen. Wie auch immer, in zwei Tagen würde sie im Flugzeug Richtung Australien sitzen und ihre kleinen neuen Patienten selbst kennen lernen.
„Nun ja, verglichen mit Tam ist Tavies Zustand stabiler …“, begann Keelan zögernd.
Mit dem schnurlosen Telefon am Ohr wanderte er zum Fenster seines Arbeitszimmers und starrte in die Nacht. Die Hafenszenerie sah unverändert aus – eine weite Fläche glitzernden schwarzen Wassers, auf der die blauen und roten Neonlichter der Stadt am jenseitigen Ufer tanzten.
Doch ansonsten war seit zehn Tagen nichts mehr wie früher. „Wir brauchen Sie so bald wie möglich“, fuhr er fort.
„Warum sagte er eigentlich ‚wir‘?“ Seine Verwandten wussten seinen Einsatz zu schätzen, allerdings weigerten sie sich strikt, sich selbst um die Babys zu kümmern.
Seine Mutter legte mehr Hilfsbereitschaft an den Tag. Am Wochenende kam sie ins Krankenhaus, obwohl sie mit den Zwillingen nicht einmal leiblich verwandt war. Aber sie wohnte mehr als vier Stunden entfernt, und Keelan wollte ihr eigentlich nicht die Enkelkinder der Frau aufdrängen, die vor dreiundzwanzig Jahren ihre Ehe zerstört hatte.
Sein Vater schien vor Entsetzen wie gelähmt zu sein und würde eher die Flucht ergreifen, als sich zu engagieren. Hatte er ein schlechtes Gewissen, oder lag es daran, dass die Babys so winzig und zerbrechlich aussahen?
Keelan zwang sich, sein Augenmerk wieder auf die anstehenden Probleme zu richten. „Das Mädchen – Tavie – dürfte nächste Woche entlassen werden.“
In einer besseren Welt wäre die Kleine in die Arme ihrer Mutter entlassen worden, aber Brooke – Keelans Halbschwester – war tot und …
Dann dachte er, dass in einer besseren Welt die einundzwanzigjährige Brooke gar nicht erst schwanger geworden wäre durch eine ihrer wilden Affären. Und sie wäre zu Vorsorgeuntersuchungen gegangen, so dass die Zwillinge nicht gar so früh zur Welt gekommen wären. Und Brooke hätte gemerkt, dass die Blutung nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus viel stärker war, als sie sein durfte.
Es gab zu viele Wenns.
Und zu viele dramatische Ereignisse in zu kurzer Zeit.
Die in der achtundzwanzigsten Schwangerschaftswoche geborenen Babys waren jetzt zehn Tage alt, und das Leben des kleinen Jungen – Tam – hing an einem seidenen Faden. Brooke war vor einer Woche in einem Café zusammengebrochen, und trotz sofortiger ärztlicher Hilfe auf dem Weg ins Krankenhaus verblutet. Der Hunter-Clan hatte die Beerdigung – und den Presserummel – mit seiner üblichen stoischen Würde überstanden.
Keelans Ex-Stiefmutter Louise jedoch – Brookes Mutter – erlitt einen Nervenzusammenbruch.
Ihr jetziger Ehemann Philipp hatte Keelan kategorisch erklärt: „Wir können die Babys nicht nehmen. Unmöglich. Vor allem wenn sich herausstellen sollte, dass sie behindert sind. Ich bin zu alt, und Louise ist psychisch angeschlagen. Es muss eine andere Lösung geben.“
Da war Keelan klar, dass nur eine einzige Möglichkeit blieb. Der Vater der Zwillinge war schon vor Monaten aus Brookes Leben verschwunden, und niemand wusste, wie er hieß. Keelan kam als einziger naher Verwandter in Frage, um die Vaterrolle für Tavie und Tam zu übernehmen. Als Kinderarzt am North Sydney Hospital wusste er genau, welche Probleme auf ihn zukamen.
Trotzdem würde er die beiden adoptieren.
Es war keine Ideallösung, aber die Welt war eben nicht perfekt. Keelan fragte sich, wie viel er der neuen Krankenschwester der Babys erzählen sollte. Als Nachfahre von vier Generationen höchst erfolgreicher Rechtsanwälte, Ärzte, Politiker und Finanziers aus der Hunter-Familie schätzte er Diskretion.
„Dann soll ich mich bis dahin also mehr oder weniger nur einleben?“, fragte Jessica Russell am Telefon. „Bis Tavie nach Hause kommt?“
„Ich möchte, dass Sie so viel Zeit wie möglich mit den beiden im Krankenhaus verbringen und sich mit dem Zustand und den Bedürfnissen der Babys vertraut machen“, erwiderte Keelan. „Einleben können Sie sich in Ihrer Freizeit.“
Sie lachte ironisch. „Wie viel Freizeit wird es geben? Die Zwillinge werden meinen Stundenplan bestimmen.“
Keelan vertraute ihr noch nicht völlig. Aber ein Kollege in Adelaide hatte sie wärmstens empfohlen, und bei einer Vermittlungsagentur für Krankenschwestern in Sydney tauchte ihr Name dann zufällig ebenfalls auf.
„Miss Russells Zeugnisse und Referenzen sind erstklassig. An Ihrer Stelle würde ich sie mit Handkuss nehmen“, hieß es da.
Jessica Russell war derzeit an einer Frühgeborenenstation in Saudi-Arabien beschäftigt, aber nach zwei Jahren dort hatte sie genug. Und sie war bereit, sofort anzufangen.
Das zufällige Zusammentreffen beunruhigte Keelan. Er hielt nichts von den sogenannten Zeichen des Himmels. Aber Miss Russells Qualifikation war unbestreitbar gut, und über die Empfehlung eines Mannes, dem er vertraute, konnte er sich nicht hinwegsetzen.
„Was will sie in Saudi-Arabien?“, hatte er seinen Kollegen Lukas Cheah gefragt. „Für eine Frau ist dieser Teil der Welt nicht ungefährlich.“
„Das weiß ich nicht. Reiselust?“
„Abenteuerlust?“
„Nicht unbedingt. Vielleicht will sie Geld ansparen? Der Verdienst ist dort ausgezeichnet. Meine Frau meint, sie hat hier keine Familie, die ihr unter die Arme greifen könnte.“
Im Unterschied zu ihr hatte Keelan genug Familie. Manchmal setzte es ihn unter Druck. Gelegentlich machte es ihn stolz.
„Dann haben Sie nichts gegen unregelmäßige Arbeitszeiten und Überstunden?“, fragte Keelan.
„Nun, das bringt der Job so mit sich, und das ist wohl ein Grund für das … äh … großzügige Gehalt, das Sie mir anbieten. Egal“, fügte sie schnell hinzu, „ich mache das nicht zum ersten Mal.“
Er schien ihr peinlich zu sein, über Geld zu sprechen. Keelan ging es ebenso, wenn auch aus anderen Gründen. Die Hunter-Familie hatte jede Menge davon, aber das verschwieg er tunlichst. Stattdessen kam er auf den Gesundheitszustand der Zwillinge zurück.
„Ich möchte Ihnen noch genauer sagen, was auf Sie zukommt. Die Babys kamen zwischen der achtundzwanzigsten und neunundzwanzigsten Woche zur Welt. Das Mädchen – Tavie – ist deutlich schwerer und kräftiger.“
„Wie viel hat sie bei der Geburt gewogen?“
„1220 Gramm. Tam lag knapp unter einem Kilo – 990 Gramm –, aber zu ihm kommen wir später. Ich will versuchen, systematisch vorzugehen. Tavie bekommt immer noch Sauerstoff.“
„CPAP?“
„Erst war sie am Respirator, aber ja, inzwischen genügt CPAP.“
Natürlich kannte Jessie die Methode – continuous positive airway pressure, kontinuierliche positive Überdruckbeatmung –, bei der die Eigenatmung des Kindes durch einen konstanten Überdruck unterstützt wird. Es war gut, nicht alles erklären zu müssen.
„Seit zwei Tagen bekommt sie auch UV-Lichttherapie gegen Gelbsucht“, fuhr er fort. „Sie hatte ein Herzgeräusch, das auf PDA hindeutete,“ – die häufigste Herzerkrankung bei Frühgeborenen, persistierender Ductus arteriosus – „aber das hat sich glücklicherweise von selbst gegeben.“
„Darmprobleme?“
„Ihr Darm ist in Ordnung, aber sie hat immer noch wiederkehrende Apnoe und Bradykardien. Sie kann nur mit Sauerstoff und Überwachungsgeräten entlassen werden.“
„Ja.“
„Aber erst muss sie gleichmäßig zunehmen, um ihr Geburtsgewicht wieder zu erreichen.“
„Wird Sie mit der Sonde ernährt?“
„Ja.“
„Und der Junge – Tam?“
Keelan konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. „Ihm geht es schlechter. Er hat ernste Herzprobleme. Wir … äh … realistisch gesehen … wissen nicht, ob er durchkommt.“
„Das ist möglich.“ Die Bemerkung klang nicht herzlos. Jessie erlebte so etwas nicht zum ersten Mal und wusste, dass es keinen Trost gab.
„Als er ein paar Tage alt war, hörten wir ein Herzgeräusch“, erläuterte Keelan und versuchte, sachlich zu bleiben. „Ein Echokardiogramm zeigte zwei Ventrikelseptumdefekte – VSDs.“ Löcher in der Herzscheidewand waren einer der verbreitetsten angeborenen Herzfehler.
„Schwerwiegend?“
„Wir hofften, sie würden sich von selbst schließen. Aber vor vier Tagen begann sein Blutsauerstoffwert zu fallen. Nach einem weiteren Scan fanden wir ein drittes Loch, etwa sieben Millimeter groß. Außerdem eine Koarktation der Aorta.“
„Für eine Operation ist er wohl noch nicht kräftig genug“, vermutete sie. „Aber die Verdünnung der Aorta ist bedenklich.“
„Vor einer Operation müssen wir ihn erst aufpäppeln und stabilisieren.“
„Bekommt er auch UV-Licht, wie seine Schwester?“, fragte sie.
„Ja.“
„Damit können wir wenigstens etwas für sie tun, ohne ihnen Schmerzen zu bereiten.“
„Ich weiß, was Sie meinen.“
„Und auch noch der Verlust ihrer Mutter … Ein harter Weg.“ Ihre Stimme klang belegt. „Ich hoffe, Sie wissen, dass es eine Heldentat von Ihnen ist, sie zu sich zu nehmen, Dr. Hunter.“
„Es gab keine Alternative“, erwiderte er knapp.
Ihre Feststellung war sicher gut gemeint gewesen, aber sie hatte ihn damit auf dem falschen Fuß erwischt. Ein Kommentar wie dieser bedeutete, dass sie sich auch das Recht zur Kritik nehmen würde, und das kam nicht in Frage. Sie war lediglich eine bezahlte Pflegerin, ausgewählt nach ihrer Qualifikation, nicht wegen ihrer Ansichten oder Gefühle.
Nur …
Früh geborene Babys brauchten Liebe. Es war eine medizinische Tatsache, dass sie sich besser entwickelten, wenn sie warmen, liebevollen Körperkontakt bekamen. Tavie und Tam brauchten Jessica Russell.
Keelan war nicht verheiratet und hatte derzeit auch keine ernsthafte Beziehung. Unter seinem Dach gab es kein anderes weibliches Wesen, das eine mütterliche Rolle ausfüllen konnte, aber gleichzeitig wollte er nicht, dass Miss Russell zu wichtig für die Babys wurde, denn irgendwann würde sie wieder fortgehen. Was sollte dann aus den Kleinen werden, die bis dahin eine innige Bindung zu ihr aufgebaut hatten?
Herrgott, es würde nicht leicht werden!
Nach Keelan Hunters Anruf legte Jessica auf und starrte ins gleißende Nachmittagslicht der Wüste. Ihre Augen sehnten sich nach dem üppigen, beinahe tropischen Grün von Sydney. Noch zwei Tage. Es würde Spaß machen, in einer Stadt zu leben, die sie nur von gelegentlichen Urlaubsreisen kannte. Und vielleicht war es ganz angenehm, als private Pflegerin zu arbeiten.
Sie verspürte ein Gefühl der Ruhelosigkeit, das ihre Laune trübte. Die letzten zwei Jahre war sie so brav und vernünftig gewesen, hatte nur gearbeitet und so viel wie möglich von ihrem Gehalt in einem australischen Investmentfonds angelegt.
Ihre geschiedenen und mit neuen Partnern verheirateten Eltern lebten an entgegengesetzten Enden des Kontinents und waren nicht besonders begierig darauf, von Jessica an die unglückliche Ehe erinnert zu werden, die sie in viel zu jungen Jahren ihretwegen eingegangen waren. Also stand sie praktisch allein auf der Welt und musste für sich selbst sorgen.
Und dann ging die Fondgesellschaft bankrott und sie verlor alles.
Falls es eine Lehre daraus gab, konnte sie sie nicht erkennen.
Eines wusste sie jedenfalls.
Sie hatte Heimweh.
Schade, dass es kein Zuhause gab, in das sie zurückkehren konnte. Die meiste Zeit hatte sie im Ausland verbracht. Zwischen zwei Einsätzen für Ärzte ohne Grenzen in Liberia und Sierra Leone war sie nur einmal kurz zurückgekehrt, ohne Wurzeln zu schlagen. Jane Cheah war die einzige Freundin, die ihr aus dieser Zeit geblieben war.
Diese private Pflegestelle in Sydney, bei der sie im Haus wohnen würde, beinhaltete die gefährliche Versuchung, sich vorzumachen, sie hätte ein Heim. So wie Dr. Hunter am Telefon klang, war es allerdings nicht seine Art, einer solchen Illusion Nahrung zu geben, und das war vermutlich auch gut so. Ein ungebundenes Leben hatte seine Vorzüge, und der wichtigste davon war, dass man immer genau wusste, wo man stand.
Sie versuchte, sich Dr. Hunter aufgrund seiner Stimme und der Dinge, die sie von ihm wusste, vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Sogar sein Verhältnis zu den Babys war schwer durchschaubar. Sie musste abwarten.
Zwei Tage und ein langer Flug. Dann würde Keelan Hunter sie am Flughafen abholen und … wohin bringen?
Nein.
Nicht nach Hause. Nur zu einer weiteren Station auf ihrem Weg.
Bei diesem Gedanken krampfte sich ihr Magen zusammen.
Miss Russell wirkte wie eine erfahrene Reisende, die nach langer Abwesenheit zurückgekehrt war. Als Keelan ihren Namen auf einem Pappschild in die Höhe hielt, steuerte sie zielsicher durch die überfüllte Ankunftshalle des Flughafens auf ihn zu. Sie wirkte müde, erleichtert, ein wenig zerzaust und misstrauisch.
Ihm ging es nicht anders. Müde, weil er die halbe Nacht im Krankenhaus verbracht hatte, erleichtert, weil er nicht ganz überzeugt gewesen war, dass sie kommen würde, und definitiv misstrauisch.
Er versuchte es zu verbergen, aber es würde so bleiben, bis ihm klar war, ob die Sache funktionierte. Bis er wusste, ob Tam überlebte und wie lange die beiden Babys noch professionelle Betreuung zu Hause brauchten.
„Hallo.“ Sie stellte zwei ramponierte Koffer ab und streckte die Hand aus. „Dr. Hunter?“
„Ja.“ Er überlegte, ob er sie bitten sollte, ihn Keelan zu nennen, meinte dann aber nur: „Wie war der Flug? Ist das Ihr ganzes Gepäck?“
„Ich reise gern mit leichtem Gepäck.“ Sie ging davon aus, dass er sich aus ihrem Lebenslauf an die beiden Aufenthalte an Krankenhäusern in Entwicklungsländern erinnerte.
„Sie brauchen neue Koffer“, sagte er.
„Und ich reise gern billig.“
Ihr Lächeln war ansteckend, offen und sorglos. Es passte zu ihren Sommersprossen und dem rötlich braunen Haar, das vom Flug zerzaust war. Ihre Augen hatten ein erstaunliches Blau und schienen zu leuchten wie Sonnenlicht auf dem Wasser. Er wusste, dass sie zweiunddreißig war, aber sie wirkte jünger.
„Dagegen ist nichts einzuwenden“, meinte er und griff nach den abgenützten Koffern.
Die Dinger wogen glatt eine Tonne. Von wegen, dass sie mit leichtem Gepäck reiste. Das waren bestimmt keine Kleider. Sie trug einen langen, unauffälligen Rock und ein langärmliges Top. Um den Hals schlang sich ein breiter weißer Schal, den sie vermutlich in Saudi-Arabien gebraucht hatte, um Haar und Gesicht zu verhüllen.
„Tut mir leid“, sagte sie. „Das sind alles Bücher. In Riad habe ich sie gehortet, weil sie so schwer zu bekommen waren.“
„Wäre es nicht möglich gewesen, sie jemandem zu überlassen, der genauso gerne liest wie Sie?“
„Doch, alle, von denen ich mich trennen konnte.“ Dann entschuldigte sie sich abermals und meinte: „Hoffentlich ist es nicht allzu weit zu Ihrem Wagen.“
„Kein Problem. Und in Ihrem Zimmer gibt es Bücherregale.“
Sie runzelte kurz die Stirn, als müsse sie sich mit einem unvertrauten Gedanken anfreunden – zum Beispiel ihre Bücher auszupacken und sie ins Regal zu stellen – dann sagte sie: „Wir haben uns noch gar nicht über die Dauer meines Jobs unterhalten. Ich meine, wenn die Babys erst mal alt genug sind, also etwa vier Monate nach der Geburt, dann brauchen Sie hoffentlich nicht mehr meine hoch qualifizierten Fähigkeiten. Und eine Vollzeitkrankenschwester im Haus ist …“ Sie brach ab.
„Teuer“, vollendete er ihren Satz. „Hören Sie, das ist kein Thema.“
Eine Sekunde herrschte Stille. „Aha, na gut.“
Keelan konnte beinahe spüren, wie es in ihr arbeitete. Es war sinnlos so zu tun, als wäre er ein armer Mann. Bald schon würde sie sich mit eigenen Augen von seinem gehobenen Lebensstil überzeugen können.
„Ich möchte, dass Sie so lange bleiben, wie es im Interesse der Zwillinge nötig ist“, sagte er. „Sie haben recht. Das dürften aus medizinischer Sicht etwa vier Monate sein.“ In anderer Hinsicht lagen die Dinge komplizierter, aber das konnte warten, bis sie sich besser kannten. „Müssen Sie es gleich wissen? Haben Sie schon Pläne?“
„Nein. Ich habe aus reiner Neugier gefragt.“
„Ob es sich für Sie lohnt, die Bücher auszupacken?“
„Etwas in der Art.“
Bis jetzt gab es keine besonderen Überraschungen – abgesehen von diesem umwerfenden Lächeln. Toll für Tavie und Tam, die in einigen Wochen darauf reagieren würden. Zumindest Tavie. Was den kleinen Tam betraf, durfte er sich noch keine Hoffnungen machen.
Plötzlich wurde ihm das Herz schwer, und Tränen traten ihm in die Augen. Er hing bereits an diesen Babys, als wären sie seine eigenen. Er musste diesen Kampf unbedingt gewinnen.
Wenn er tat, wozu niemand sonst bereit war, nämlich Vaterstelle an ihnen zu vertreten, dann wollte er alles, aber auch alles richtig machen.
Darum hatte er auch eine erfahrene Säuglingsschwester als Pflegerin gewählt, nicht nur ein Kindermädchen mit Erste-Hilfe-Ausbildung. Die Babys mussten leben, und sie mussten gedeihen. Das war alles, was von Jessica Russell verlangt wurde. Ihre Kompetenz, Sorgfalt und professionelle Fürsorge. Etwa vier Monate lang.
„Können wir ins Krankenhaus fahren, sobald Sie ausgepackt haben?“, fragte er.
„Sagen wir ausgepackt und geduscht, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, stimmte sie zu.
„Natürlich. Vielleicht möchten Sie sich auch erst ein wenig hinlegen.“
„Lieber nicht, dann kann ich heute Nacht nicht schlafen.“
„Gut.“ Vor seinem geistigen Auge sah er sie nachts um eins in seinem Haus herumgeistern, und der Gedanke missfiel ihm.
„Eine Dusche reicht fürs Erste, vorausgesetzt, Sie zeigen mir, wo der Kaffee steht.“
Sie schenkte ihm wieder dieses Lächeln, aber er erwiderte es nicht. Schlagartig wurde ihm die Situation deutlich.
Sie würden sich Kaffeemaschine und Kühlschrank teilen und unter einem Dach leben.
Das Haus war für einen einzelnen Erwachsenen viel zu groß. Er hatte es vor sieben Jahren von seinem Großvater geerbt und renoviert. Aber damals war er verheiratet, und es bestand noch die Aussicht auf Kinder. Doch dann ging die Ehe in die Brüche und wurde geschieden, und Tanya kehrte nach Neuseeland zurück.
Immerhin war jetzt genügend Platz für einen Adoptivvater, ein Paar neugeborener Zwillinge und ihre Krankenschwester. Trotzdem fühlte er sich dabei unwohl. Babys konnten schlecht Grenzen einhalten. Manche Erwachsene auch.
„Ich zeige Ihnen die Küche“, sagte er schnell. „Da ich nicht oft zu Hause esse, werden wir uns nicht in die Quere kommen.“
„Ich werde mich jedenfalls bemühen.“
„Benutzen Sie Kühlschrank und Vorratskammer nach Belieben. Sie haben Ihr eigenes Bad und Wohnzimmer. Aber das werden Sie ja gleich sehen.“
Sie fuhren den Southern Cross Drive entlang, dann durch die Tunnel, die Hafen und Stadt miteinander verbanden. Es herrschte nicht viel Verkehr, und sie brauchten nur fünfzehn Minuten vom Flugplatz zu seinem Haus in der Vorstadt Cremorne am North Shore.
Während der Fahrt wechselten sie kein einziges Wort, weil Jessie die Augen schloss und vorgab zu schlafen. Keelan wusste ihre Rücksichtnahme zu schätzen.
Als sie sich im Beifahrersitz regte, den Rücken durchbog und eine bequemere Haltung suchte, sträubten sich ihm die Haare wie einem Hinterhofkater, in dessen Revier ein Rivale eingedrungen ist. Irgendwie schien sie seinen persönlichen Freiraum zu verletzen, und das mochte er nicht.
Nachdem sie angekommen waren, brachte er ihr Gepäck nach oben. Da sie hinter ihm ging, konnte er nicht sehen, was sie von seinem Haus hielt. Aber es gab kaum Grund zur Beschwerde. Es handelte sich um ein erstklassiges Anwesen mit Blick auf den Hafen und einem großen Garten, in ruhiger Lage.
Das Innere war in einem klaren, warmen und unaufdringlichen Stil gehalten – viel blasses Gelb, Cremeweiß und Salbeigrün, mit einzelnen Akzenten in Rost und Türkis. Es gab Ledersofas, einzelne strategisch platzierte Antiquitäten und Originalgemälde aus Familienbesitz.
„Unten sind ein Wohn- und Esszimmer, Arbeits- und Frühstückszimmer und Küche“, informierte er sie knapp. „Vom Frühstückszimmer geht es auf die Terrasse und in den Garten. Ach ja, und dort ist auch der Hauswirtschaftsraum.“
„Den werde ich brauchen, sobald Tavie heimkommt!“
„Hier oben ist meine Suite, und alles andere gehört Ihnen. Das Kinderzimmer ist hier, gleich neben Ihrem Schlafzimmer.“
Sie standen beide in der Tür, sodass er Jessies Nähe spüren konnte.
„Da fehlt ja noch so einiges“, sagte sie.
Das Zimmer enthielt ein Sofa, einen Schaukelstuhl und eine Kommode. Er war bis jetzt nicht zum Einkaufen gekommen. In einem Anfall von Aberglauben, für den er sich insgeheim verspottete, hatte er beschlossen, erst dann ein Kinderbett für Tam zu kaufen, wenn die Operation überstanden war.
„Sie können selbst besorgen, was noch fehlt“, antwortete er. „Ich habe eine Liste gemacht, aber ich lasse Ihnen freie Hand. Einiges habe ich sicher vergessen.“
„Wollen Sie Wegwerf- oder Stoffwindeln?“
„Die Entscheidung überlasse ich Ihnen.“
„Wahrscheinlich beides. Stoff ist besser gegen Hautausschlag, aber Wegwerfwindeln sind leichter zu wechseln, solange die Babys noch an die Geräte angeschlossen sind.“
„Ich wünschte, es gäbe eine Verbindungstür zwischen Ihrem Zimmer und dem hier. Ich wollte eine Tür einbauen lassen, aber ich hatte zu viel zu tun.“
„Natürlich“, murmelte sie. „Das kann ich mir vorstellen.“
Er ging weiter, um ihrem Mitgefühl zu entfliehen. „Da ist das Bad, und dort Ihr Wohnzimmer mit Balkon und Fernseher. Handtücher, Bettwäsche … die Putzfrau – oder eher Haushälterin – hat alles vorbereitet. Sie kommt stundenweise, aber wenn Sie zusätzlich Hilfe brauchen, geht es auch öfter.“
„Danke“, sagte Jessica.
Sie fühlte sich etwas unbehaglich in ihrem neuen Schlafzimmer, während Dr. Hunter ihre schäbigen Koffer abstellte. Seine Handflächen waren gerötet von den rauen abgenutzten Griffen. Wenn sie wieder mal zu irgendeinem abgelegenen Winkel der Erde aufbrechen sollte, würde sie sich vorher neues Gepäck anschaffen.
„Sie können duschen, während ich Kaffee mache“, schlug er vor. „Kommen Sie dann einfach runter in die Küche.“
Sie nickte. „Ich brauche nicht lange.“
„Lassen Sie sich Zeit. Ich muss noch ein paar Telefonate erledigen.“ Jessica vermutete, dass es dabei um sie ging.
Aus den hektischen Anrufen und Emails, die zwischen ihnen beiden und der Agentur gewechselt wurden, hatte Jessica den Eindruck gewonnen, dass es bei den Zwillingen irgendwie um eine von Dr. Hunter übernommene familiäre Verpflichtung ging, und er bestimmten Familienmitgliedern Rechenschaft schuldete.
Traurig.
Schwierig.