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Seit Professor Ernest Leitner als sechzehnjähriger Junge sein Elternhaus in Marburg verlassen musste, quälen ihn schmerzhafte Alpträume. So fiebert er den Tag herbei, an dem er in sein Zuhause zurückkehren kann. In dem düsteren, unter Denkmal stehenden Elternhaus findet er Bücher und seltsame Pläne, die von seinem Urahnen Theodor Bender stammen. Der Geist dieses Vorfahren nimmt immer mehr von ihm Besitz. Er zwingt ihn dazu, Menschen zu entführen und bestialische Versuche an ihnen auszuüben. Der Reporter Lothar Meissner, der ein paar vermisste Frauen sucht, setzt sich auf die Spur des Entführers, kommt aber bei der Suche nicht so recht voran. Als er den Arzt Sebastian Schneider, der Ernest Leitner verdächtigt, eine seiner Patientinnen als Versuchsperson missbraucht zu haben, kennenlernt, beschließt er, mit ihm gemeinsam den Fall zu lösen. Aber werden die beiden wirklich das dunkle Geheimnis, das das Haus von Ernest Leitner und ihm selbst umgibt, enträtseln? Dieser mysteriöse, psychologische Krimi bringt auch abgehärtete Leser zum Gruseln.
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Seitenzahl: 424
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Seit Professor Ernest Leitner als sechzähnjähriger Junge sein Elternhaus in Marburg verlassen musste, quälen ihn schmerzhafte Alpträume. So fiebert er jeden Tag herbei andem er in sein Zuhause zurückkehren kann. In dem düsteren, unter Denkmal stehenden Elternhaus findet er Bücher und seltsame Pläne die von seinem Urahnen Theodor Bender stammen. Der Geist dieses Vorfahren nimmt immer mehr von ihm in Besitz.
Er zwingt ihn dazu Menschen zu entführen und bestialische Versuche an ihnen auszuüben. Der Reporter Lothar Meissner, der ein paar vermisste Frauen sucht, setzt sich auf die Spur des Entführers, kommt aber bei der Suche nicht so recht voran. Als er den Arzt Sebastian Schneider, der Ernest Leitner verdächtigt, eine seiner Patientinnen als Versuchsperson missbraucht zu haben, kennen lernt, beschließt er mit ihm gemeinsam den Fall zu lösen.
Aber werden die beiden wirklich das dunkle Geheimnis, das das Haus von Ernest Leitner und ihm selbst umgibt zu enträtseln?
Dieser mysteriöse psychologische Krimi bringt auch abgehärtete Leser zum Gruseln.
Ich bin zu unruhig, kann mich der großen Welle noch nicht anpassen. Ich wehre mich gegen diese Einheit.
Das alte Leben auf der Erde ist noch ein Teil von mir. Die große Welle versucht mir meine Erinnerung zu rauben. Ich will dies aber nicht zulassen. Sie spürt meine noch überschüssige irdische Energie. Die große Welle fließt ruhig dahin. Sie mag mich, den Störenfried, nicht. Also treibt sie mich vorwärts und spuckt mich aus. Ich lande zwischen vielen gleich unruhigen kleinen Wellen wie ich eine bin. Ich reihe mich bei ihnen ein. Fühle mich wieder nicht am richtigen Ort. Je länger ich dahintreibe je mächtiger wird die Strömung. Eine kleine Welle nach der anderen verschwindet vor mir. Wohin? Dann bin ich an der Reihe. Eine unsägliche Kraft saugt mich auf. Nun bin ich wieder in der irdischen Atmosphäre. Noch gleite ich dahin, fliege über eine gepflasterte Straße, schwebe über eine steinerne Treppe, sehe
Menschen aufgeregt in einem älteren Fachwerkhaus wirr herumlaufen. Ich weiß nicht warum, aber ich fühle dass ich an meinem Ziel angekommen bin. Die Schreie eines Babys dringen durch den Raum. Es zieht mich in dieses kleine Wesen. Ich will mich nicht aufgeben. Will mein Wissen nicht vergessen. Aber die Schatten kommen. Sie pressen mich in den neugeborenen Körper. Diese Enge tut weh. Ich kann nichts dagegen tun. Noch ehe drei Jahre der menschlichen Zeitrechnung vergangen sind, werde ich mein früheres Leben vergessen haben. Es darf aber nicht geschehen. Ich muss mein Wissen in das Unterbewusstsein von diesem noch unbeschriebenen Gehirn verankern.
Der Regen prasselte wild auf die Ziegel, floss in die Dachrinne und sandte die gurgelnd plätschernden Geräusche in die Mansarde der Schlafenden.
Ernest erwachte aus einem seltsam wirren Traum.
Er tastete um sich und seine Hand blieb in Ilonas langen weichen Haaren hängen. Nur langsam fand er in die Realität zurück. Er schob die irrealen Bilder und Stimmen die ihn noch vor einer Minute bedrängten, den klatschenden Tropfen und dem fauchendem Wind der um das Haus zog, zu. Wer sollte auch bei so einem Wetter schlafen können? Ilona tat es. Zusammengerollt wie ein Baby lag sie neben ihm. Er betrachtete im Halbdunkel ihr entspanntes Gesicht und wartete einen Moment darauf, dass sich ihre dunkelbraunen, fast schwarz wirkenden Augen, in denen so viel Lebensfreude und Temperament lagen, öffneten.
Fast mühsam löste er sich von ihr, stand gähnend auf Und ging ins Bad. Sein Spiegelbild zeigte einen unrasierten, fahlen blassen Mann. Einen Moment war ihm, als lägen seine Augen in tiefen Höhlen.
Er stieg in die Dusche, drehte schläfrig den Hahn auf und schon platschte ein eiskalter Strahl über seinen Körper.
„Verdammt“, das war hart aber effektiv. Während er den richtigen Wärmegrad des Wassers einstellte, fiel ihm das Datum des heutigen Tages ein.
Wie konnte er das nur vergessen. Heute war Freitag, der 1. September. Der Tag des Abschiedes von München, seiner Verlobten Ilona, seiner Tante Thea und ihren Lebensgefährten Max.
Die Sonne prallte auf die Autobahn, ließ den Asphalt glänzen und trieb Ernest Leitner den Schweiß auf die Stirne. Mitten in der Hitze dieses Tages geriet er in einen Verkehrsstau und mitten in dieser Wagenkolonne gab seine Klimaanlage den Geist auf. Verärgert kurbelte er das Fenster herunter. Doch der Gestank vom Abgas drang ihm in die Kehle und reizte ihn zum Husten.
Verdammt! Warum musste es heute Mittag so heiß werden? Dieses ständige Anfahren, stoppen und wieder ein paar Meter weiter fahren ödete ihn an und bescherte ihm viel zu viel Zeit zum Nachdenken.
Das scheußliche Gewitter in der Nacht hatte sich am Morgen verzogen und beim Frühstück hatte die Sonne die letzten Regentropfen vertrieben. Die Luft war erfrischend kühl gewesen. „Das richtige Reisewetter“, hatte er gedacht.
Doch dann schien das Abschied nehmen von seiner Verlobten Ilona, seiner Tante Thea und deren Lebensgefährten Max kein Ende zu nehmen. Er hatte zwar die guten Ratschläge von ihnen allen stoisch über sich ergehen lassen. Aber er hasste diese wehmütigen Stimmungen.
Endlich rollte der Verkehr wieder an. Der Stau löste sich auf. Laut Navi hätte er sein Ziel schon vor einer Stunde erreichen müssen. Doch das gelang ihm erst nach einer weiteren Stunde der berechneten Zeit. Genervt parkte er seinen Wagen in der Einfahrt des Hauses seines Onkels.
Am Morgen war ein leichter Dunst über den Auen der Lahn gelegen. Doch jetzt am Mittag hatte ihn die Sonne vertrieben. Sie ließ ihre heißen Strahlen über den Dächern der Stadt Marburg tanzen und brachte die Menschen ins Schwitzen.
Irma Seiler lief ins Bad um sich zu erfrischen. Sie hatte das ganze Haus auf Vordermann gebracht, einen Kuchen gebacken, den Tisch liebevoll gedeckt. Doch der Gast, den sie erwartete ließ auf sich warten.
Als der langerwartete Klingelton endlich durch das Haus dröhnte, eilte Irma aufgeregt zur Tür und öffnete sie.
Im nächsten Moment starrte sie ungläubig auf den jungen Mann der ihr so fremdwirkend gegenüberstand.
Damals, vor zehn Jahren, als sie sich so plötzlich von ihm verabschieden musste, war er ein langer schlaksiger unsicherer junger Bursche gewesen und jetzt?
„Ernest?“
Sein Blick leuchtete kurz auf: „Ja Irma, ich bin es. Du hast dich gar nicht verändert.“
„Du schon“ lächelte sie geschmeichelt. „Schön, dich endlich wieder zu sehen. Aber warum stehen wir hier im Flur? Im Wohnzimmer wartet der Kaffee schon auf dich.“
Ernest schüttelte ablehnend den Kopf: „Danke Irma, aber ich möchte nur den Schlüssel für mein Haus abholen.“
Irma nickte erschrocken über die Kälte mit der er sie ansah und drehte sich gekränkt um.
„Hatte er denn alles Gute was er in diesem Haus erlebt hatte vergessen?“
Enttäuscht schlürfte sie ins Wohnzimmer, holte den Schlüssel aus der Schublade einer antiken Kommode und ging zurück zu ihm in den Flur. Dort reichte sie ihm mit einer kühlen Geste den Schlüssel und einen Brief von seinem Onkel, Professor Wegner.
Ernest spürte ihr so plötzliches abweisendes Verhalten und entschuldigte sich bei ihr: „Verzeih mir bitte die Eile.“
Irma lächelte verhalten, „schon gut.“
„Danke Irma. Morgen besuche ich dich ganz bestimmt und bringe auch genügend Zeit für dich mit.“
Irma wurde rot: „das wäre schön, komm doch bitte zum Mittagessen. Aber ehe du zu deinem Haus gehst, möchte ich dir noch etwas sagen.“
„Ist etwas mit dem Haus nicht in Ordnung?“
„Nein, eigentlich nicht, aber Richard hat mich gebeten dir zu sagen, dass er das Haus nur von außen restaurieren ließ. Innen hat er sich nicht heran gewagt. Das wollte er dir selbst überlassen. Außerdem stehe es auch unter Denkmalschutz und darf sicher bautechnisch nicht verändert werden. Doch es ist vieles reparaturbedürftig.
Unsere Zugehfrau und ich haben die Schonbezüge von den Möbeln im unteren Stockwerk genommen und alles abgestaubt…“
„Schon gut Irma“, winkte Ernest genervt ab und wandte sich der Haustür zu.
„Da ist noch etwas“, rief ihn Irma nach. „Dein Onkel bedauert sehr, dass er seine Studienreise nicht verschieben und dich bei deiner Ankunft nicht begrüßen kann. Er lässt dir ausrichten, dass du, während eventueller Umbauarbeiten hier bei uns wohnen kannst…“
„Ja danke“, unterbrach er sie hastig, „also bis Morgen.“
Ernest fuhr los und stoppte sein Auto schon nach wenigen Metern, denn sein Elternhaus lag nur drei Häuser vom Haus seines Onkels entfernt.
Onkel Richard hatte das alte Fachwerkhaus nach seinem eigenen Geschmack restaurieren lassen. Jetzt leuchtete das Weiß des Verputzes freundlich zwischen den braunen Balken und vor den kleinen Fenstern hingen Blumenkästen mit üppig bunten Geranien.
Ernest blieb einen Moment still vor dem Haus stehen und betrachtete jede Einzelheit der Vorderfront. Das neue Weiß irritierte ihn. Onkel Richard hatte es sicher gut gemeint, aber der alte Verputz hatte ihm eher zugesagt. Er hätte ihm das Gefühl gegeben ein zweites Mal heimgekehrt zu sein. „Ein zweites mal?“ Er wischte sich nervös den Schweiß von der Stirn. Seit seiner Abreise vor vielen Jahren befand er sich doch das erste Mal wieder hier.
Die weiße Farbe bröselte vor seinem inneren Auge ab, gab die grauen Mauern von damals frei und löste eine schmerzende Erinnerung in ihm aus. Langsam, wie im Trance stieg er die steinernen, steilen Treppen hinauf und schloß die Haustür auf.
Der Flur lag im Halbdunkel und das Wohnzimmer begrüßte ihn mit einer angenehmen Kühle. Genau wie früher, als Mutter bei sommerlicher Hitze die dichten Brokatvorhänge vor die kleinen Fenster gezogen hatte.
Einen von ihnen schob er zurück und sah sich gespannt um. Die Tapeten hingen verblasst an den Wänden. Doch sonst hatte sich nichts verändert. Die dunklen, antiken Möbel standen alle noch am gleichen Platz wie früher.
Nur die Luft störte ihn. Irma und die Zugehfrau hatten nicht nur die Möbel von den Schonern befreit, sondern sie kräftig mit Politur bearbeitet, deren Chemischer Duft wie eine Wolke im Zimmer hing. Er öffnete ein Fenster und ging anschließend in die Bibliothek. Auch hier strömte ihm eine angenehme Kühle entgegen und auch hier schob er die Vorhänge zurück.
Der helle Strahl der Sonne fiel über die vielen Bücher, das alte Klavier, die wertvollen Ölgemälde an den Wänden, den antiken Schreibsekretär, dem gemütlichen Lesesofa und den Lieblingssessel seiner Mutter. Einen Moment schloss er die Augen und es war ihm, als säße sie, in ein Buch vertieft, die Füße auf einen kleinen Schemel gestützt noch dort.
In den Momenten, in dem sie las, schien sie steht’s in anderen Welten zu verweilen und man durfte sie dabei nicht stören.
Jetzt wollte er, wie er es damals tat, auf leisen Sohlen die Bibliothek verlassen.
Langsam öffnete er die Augen und sah sich im Hier und Heute wieder. Seine Mutter würde nie mehr hier in diesem Sessel sitzen. Der Schmerz über ihren Verlust lähmte ihn fast. Er setzte sich auf das Sofa und weinte die Tränen, die er jahrelang zurückgehalten hatte.
Als er seine Gefühle wieder im Griff hatte, stand er auf um in das nächste Zimmer zugehen. Das Parkett knarrte unter seinen Füssen, durchbrach damit die Stille im Raum und erinnerte ihn an Stunden in seiner Kindheit, in denen ihm die seltsam knarrenden Geräusche Angst eingeflößt hatten.
Jetzt hielt er schon den Türgriff in der Hand, ließ seinen Blick aber noch einmal über den Raum schweifen, sah in alle Ecken und ärgerte sich über selbst. Wer sollte ihn hier beobachten?
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, betrat er das Gästezimmer, stellte sogleich fest, dass sich hier auch nichts verändert hatte und sah kurz darauf ins Elternschlafzimmer, das früher so gut wie tabu für ihn gewesen war. Wie ertappt schloss er schnell die Tür.
Das Bad und die Küche ließ er bei seinem Erinnerungsgang erst mal aus. Er drückte auf den Schalter für das Flurlicht, das nur gedämpft den Gang und die Treppe nach oben beleuchtete. Es tauchte die Bilder seiner Ahnen, die von unten bis oben an der Wand prangten, in seltsame Schatten.
Die Stufen der Treppe nach Oben ächzten unter seinem Gewicht wie auf einem schwankenden Schiff. Ihm fiel Onkel Richards Warnung ein und hier hatte er Recht. Die Treppe musste schnellstens erneuert werden.
Im oberen Stockwerk schlug ihm dicke, schwüle Luft entgegen, die ihm fast den Atem nahm. So ging er von Zimmer zu Zimmer und öffnete die Fenster. Doch als er zum Eckzimmer kam, blieb er stehen und drückte, so wie er es früher des Öfteren getan hatte, das Ohr neugierig an die Tür. Es gab damals Zeiten, in denen er glaubte aus diesem Raum ein Schluchzen zu hören. Jetzt blieb es still.
Er drückte auf die Klinke, aber die Tür war verschlossen. So war es eigentlich immer gewesen.
Langsam drehte er sich um und ging zu seinem ehemaligen Zimmer. Die Poster von früher hingen noch an der Wand und auf seinem Schreibtisch lag noch alles genauso angeordnet da, als wäre er nur mal kurz weggewesen.
Als er sich auf sein Bett setzte, knarrte es wie in alten Zeiten und jetzt vernahm er auch wieder das Ächzen der Balken, das alte Häuser so von sich geben. Er war endlich zuhause.
Einen Augenblick blieb er still sitzen, schloss die Augen und versank in Gedanken an seine Kindheit. Aber sie endeten jäh bei dem Tag an dem er seine Eltern durch einen Verkehrsunfall für immer verlor und sein Zuhause für lange Zeit verlassen musste. Damals war es ihm so gewesen als habe man ihn abgeschoben. Ja, er hatte sich sogar so gefühlt als sei ihm seine Identität geraubt worden. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und versuchte sich wieder zu beruhigen.
Zehn lange Jahre waren indes vergangen. Zehn Jahre in denen es keinen Tag gab an dem er sich nicht hier her in dieses Haus zurückgesehnt hatte. Seine Wurzeln lagen hier und von hier würde er sich nie mehr vertreiben lassen. Entschlossen straffte er seine Schultern und verließ sein Zimmer. Dann schloss er alle Fenster die er zuvor hier im Obergeschoss geöffnet hatte und schritt wieder nach Unten.
Es war an der Zeit, sein Gepäck ins Haus zu holen.
Als Ernest den Kofferraum öffnete, sah er Ilonas Geschenk und musste an ihre traurigen Augen beim Abschied denken. Warum hatte er sie nicht gebeten, ihn hierher zu begleiten? Und warum war er nur in den letzten Tagen so gefühlskalt gegen sie gewesen?
Während er die Koffer herauswuchtete und ins Haus brachte, sah er seinen Onkel vor sich. Lange Zeit hatte er ihm die Schuld für seine Übersiedlung nach München zugeschoben. Ja, am Anfang hatte er ihn regelrecht dafür gehasst. Doch seit seinem letzten langen Telefongespräch mit ihm, war ihm klar geworden, dass auch er unter der Trennung gelitten hatte. Ein Grund mehr wieder hierher zurückzukommen.
Selbst Ilona und Tante Thea konnten ihn nicht aufhalten in seine Heimat zurückzukehren. Im Gegenteil, ihre Bitten, er solle in München bleiben, war ihm auf die Nerven gegangen.
Doch jetzt war er über diesen Ärger hinweg.
Es war ihm, als zerspringe ein dicker Panzer über seiner Brust der den Schmerz über den Verlust seiner Eltern endlich loslöste.
Ein neues Leben konnte beginnen.
Eine Stunde später ging er ins Wohnzimmer, setzte sich in einen gemütlichen Sessel, zog sein Handy hervor und rief Ilona an.
„Hallo Ilona“, begrüßte er sie. „Ich habe mich durch einige Staus gekämpft und bin jetzt zwar mit einiger Verspätung aber heil in Marburg angekommen.“
„Prima“, freute sich Ilona, „bist du schon in deinem Elternhaus?“
„Ja, das bin ich. Es ist noch alles so wie ich es verlassen habe.“
„O je“, stöhnte Ilona, „da gibt es wohl viel zu richten. Thea sagt, dass es ein uralter, unheimlicher Kasten ist.
„Echt Thea“, knurrte er, „sie übertreibt wieder einmal maßlos. Das, was zu renovieren ist, werde ich bis du bei mir ein ziehst schon alles gerichtet haben.“
„Ist schon gut“, lachte Ilona jetzt. Jedes Haus kann man gemütlich einrichten. Die Hauptsache ist doch, dass wir dann wieder zusammen sind.“
„Gut, dass du es so siehst. Du fehlst mir.“
„Du fehlst mir auch. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch. Ich rufe dich Morgen wieder an. Grüße Thea von mir. Bis bald!“
Ernest legte das Handy zur Seite, streckte seine Beine aus und schloss die Augen. Die lange Fahrt und die Hitze des Tages trug zu dieser Trägheit bei. Wäre diese innere Unruhe, die ihn schon wieder überfiel, nicht gewesen, wäre er sicher eingeschlafen. Aber warum legte sich dieses rastlose Gefühl nicht? Gerade eben hatte er sich doch noch so wohl gefühlt.
Sicher war es nur der Hunger und Durst der ihn so melancholisch werden ließ. Langsam schob er sich aus dem Sessel und machte sich auf dem Weg in die Küche.
Dort bot sich ihm das gewohnte chaotische Bild von früher. Auf der einen Seite uralte Schränke und ein antiker Tisch mit den passenden Stühlen. Auf der anderen Seite eine Küchenzeile die vor fünfzehn Jahren hier eingebaut worden war in der alle Geräte aus der Neuzeit vorhanden waren. Der danebenstehende alte Holz-Kohlenherd wirkte in dieser Reihe fast schon abstrakt und die bemalte, wuchtige, fast zwei Meter lange Truhe gab dem Ganzen ein bedrückendes Gefühl.
Sein Mund fühlte sich trocken an, aber er hatte in seiner Eile vergessen Lebensmittel und Getränke einzukaufen. Ob Irma eine Kleinigkeit besorgt hatte? Hoffnungsvoll öffnete er den Kühlschrank und staunte nicht schlecht. Irma hatte reichlich vorgesorgt. Zufrieden griff er nach einem Sandwich, nahm eine Flasche Selters und stellte alles auf den Küchentisch. Als er einen Stuhl hervorzog gab es ein kratzendes Geräusch aber es war das Einzige das diese Stille unterbrach, an die er sich wohl erst wieder gewöhnen musste.
Während er jetzt so da saß und einen Bissen nach dem anderen hinunter schlang, stellte er sich vor, Ilona sei hier bei ihm in der Küche. Aber er konnte dieses Bild vor sich nicht lange festhalten. Ilona in der Küche? Unvorstellbar.
Nach dem Anruf von Ernest lief Ilona gutgelaunt nach unten zu Thea und setzte sich zu ihr auf die Couch.
„Ernest hat mich gerade angerufen. Er ist in Marburg gut angekommen“, sagte sie heiter. „ Anscheinend hat er es sich gerade in seinem Haus gemütlich gemacht.“
Thea sah sie ungläubig an: „Gemütlich? Ich kann mir nicht vorstellen wie man sich in einem solch alten Kasten
wohl fühlen kann.“
„Ernest kann das anscheinend“, lachte Ilona. „Er klang richtig froh, als er mir sagte, dass alles im Haus noch so aussieht wie früher. Sag mal, ist das Haus wirklich so alt wie du es mir immer schilderst?“
Thea nickte heftig: „Glaube mir, es ist so. Als mein Bruder noch gelebt hat, habe ich ihn und seine Familie ein paarmal besucht. Aber ich blieb nie lange in diesem Haus.
Zum Glück konnte ich bei Richard und seiner Frau übernachten.“
Ilona schüttelte den Kopf: „Jetzt übertreibst du aber…“
„Nein, ich sage dir, falls du wirklich zu ihm ziehen willst, musst du zuvor erst einiges in diesem unheimlichen Gemäuer verändern, sonst geht es dir wie meinem Bruder.“
Ilona wurde blass: „Was geschah denn mit deinem Bruder?“
„Man kann es nicht so genau beschreiben“, wand sich Thea heraus. „Er ist wie ich, hier in München aufgewachsen und war ein humorvoller, lebensfroher Mann.
Aber nachdem er ein paar Jahre in diesem Haus gelebt hatte, habe ich ihn fast nicht wiedererkannt. Er wirkte wie ein alter Mann und hielt sich, wie mir meine Schwägerin Anja erzählte in seiner Freizeit fast nur noch in einem Anbau des Hauses, den er sich als Labor eingerichtet hatte auf.“
Ilona nickte: „Ernest hat mir von diesem Labor erzählt. Er freut sich schon darin arbeiten zu dürfen. Aber sobald ich bei ihm wohnen werde, achte ich sicher darauf, dass er sich dort nicht allzu lange abschottet. Außerdem bringe ich bestimmt Leben in dieses Haus.“
Thea seufzte: „Ich hoffe, es gelingt dir.“
Der Abend war noch früh, aber Ernest fühlte sich schon jetzt müde und zerschlagen. Er schleppte sich die Treppen hinauf zu seinem Zimmer und zog sich aus.
Das Knistern in seiner Jackentasche erinnerte ihn an den Brief seines Onkels. Er nahm ihn heraus, legte sich damit auf sein Bett und begann ihn zu lesen. Aber bald verschwammen die Zeilen vor ihm und er schlief ein.
Doch es wurde eine unruhige Nacht für ihn. Er warf sich von einer Seite zur anderen und fühlte heftige Schmerzen in seiner Brust. Schließlich war ihm so, als löse er sich auf. Doch dann war er plötzlich ein Baby und japste nach Luft. Der Druck verstärkte sich, presste sich in seine Brust. Dann dröhnte eine Stimme in seinem Kopf: „Ich Theodor Bender bin in dir.“
Er wehrte sich gegen diesen Eindringling in seinem Körper und wachte schweißgebadet auf. Verstört ging er ins Bad und erfrischte sich. Doch das half nicht viel.
Benommen legte er sich zurück ins Bett und schlief wieder ein. Jetzt plagten ihn andere Alpträume die er mit dem ersten Traum vermischte.
Als er am Morgen erwachte, hatte er die Träume der Nacht vergessen. Doch ausgeruht sah anders aus.
Er benötigte frische Wäsche. Also packte er seinen Koffer aus und verstaute alles im Schrank.
Dann ging er mürrisch ins Bad und anschließend hinunter in die Küche. Er setzte Kaffeewasser auf, deckte den Tisch, holte alles was er für ein gutes Frühstück benötigte aus dem Kühlschrank und begann zu essen. Dabei kreiste sein Blick herum und blieb an der alten Truhe hängen. Sie war ihm schon als Kind hässlich und unpassend an der Stelle, an der sie stand, vorgekommen. Damals hatte er einmal versucht das wuchtige Ding zur Seite zu schieben. Aber seine Mutter hatte ihn dabei ertappt und gewarnt: „Lass das lieber, an der stabilen Truhe hebt man sich eher einen Bruch als dass sie sich einen Millimeter verschieben lässt.“
Das Bild seiner Mutter blieb in ihm. Sie stand am Herd, brutzelte Spiegeleier, sah ihn lächelnd an und in dem Moment mischte sich ihr Gesicht in das Bild seines nächtlichen Traumes. Ein paar Szenen daraus hingen fetzenhaft in seinem Hirn. Der Mief in der Küche drückte sich schwer auf seine Brust. Schwitzend stand er auf, lief hinaus in den Garten und atmete die frische Morgenluft ein. Sie beruhigte seine angespannten Nerven ein wenig Während er ein paar Schritte hin und her ging sah er Ilona vor sich...Immer wieder hatte sie ihn vor seiner übertriebenen Hektik gewarnt. Jetzt sah er ein, dass sie Recht gehabt hatte. In München hatte er die meiste Zeit über seinen Büchern gesessen, hatte studiert bis ihn der Kopf rauchte und dabei die Menschen um sich herum fast vergessen. Ilona und Tante Thea waren die einzigen gewesen die ihn ab und zu aus der selbstauferlegten Isolation holen konnten. Und jetzt hatte Ilona wieder Recht. Er musste sich von einigen alten Sachen im Haus trennen, besonders von dieser klobigen Truhe und dem überflüssigen Holz-Herd in der Küche. Dazu ein heller, frischer Anstrich auf den Wänden und schon würde er sich wohler fühlen.
Für Irma begann dieser Tag voller zwiespältiger Gefühle. Gestern hatte sie sich noch auf den Besuch von Ernest gefreut. Aber als er schließlich vor ihr gestanden war, hatte er so fremd und kalt wie ein Eisblock auf sie gewirkt.
Nichts an ihn hatte sie an den jungen wissbegierigen Jungen von Früher erinnert. Ihr Schwager, Professor Wegner hatte sie darum gebeten sich um ihn zu kümmern. Sie hatte freudig zugestimmt, doch jetzt war sie sich nicht mehr so ganz sicher wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte.
Die Sonne schien ebenso heiß wie am Vortag. Deshalb rollte sie schon früh die Markise über der Terrasse aus, denn zu Mittag wollte sie den Tisch dort draußen decken. Früher war Ernest fast jeden Tag hier gewesen.
Sie erinnerte sich an sein damaliges Lieblingsessen und begann es zu kochen.
Als Ernest pünktlich zur Mittagszeit bei ihr klingelte, lief Irma mit hochrotem Kopf in den Flur und öffnete ihm die Tür. „Schön, dass du gekommen bist“, sagte sie aufgeregt.
„Danke für die Einladung“, lächelte Ernest verhalten.
„Jetzt weiß ich was ich in den letzten Jahren vermisst habe. Es war deine liebevolle Bewirtung, deine hervorragende Kochkunst und die guten Gespräche mit Mutter, Tante Regina, Onkel Richard und ganz besonders mit dir.“
Der Bann war gebrochen. Um Irmas Augen bildeten sich lustige Fältchen: „Danke für die Komplimente…Ach, ich bin so froh, dass du jetzt wieder hier in Marburg bist.
Gerade jetzt, da meine Schwester Regina vor kurzem gestorben und Richard auf Reisen ist, würde ich mich hier ziemlich einsam fühlen.“
Ernest lehnte sich zurück und sah Irma mitfühlend an: „Das verstehe ich. Onkel Richard bleibt wohl längere Zeit weg?“
„Ja, seine Reise wird ihn quer durch Afrika führen. Das braucht seine Zeit.“
„Und die sei ihm gegönnt. Onkel Richard hat sein halbes Leben von solchen Reisen geträumt.“
„Ja, schon. Er hat zwar immer behauptet dieser Garten sei sein Paradies. Aber das sagte er nur Regina zuliebe.
Zugegeben, er liebte seine Rosen als wären es seine Kinder aber ich habe in seinen Augen oft die Sehnsucht nach der Ferne bemerkt.“
„Ich weiß, trotzdem finde ich es schade nicht mit ihm über meine Kindheit hier sprechen zu können. Es gibt so vieles was ich über meine Eltern und euch wissen möchte.“
„Gut, ich gebe zu, Richard wäre der bessere Gesprächspartner für dich. So von Mann zu Mann. Aber ich bin gerne für dich da und beantworte dir deine Fragen so gut wie ich sie beantworten kann. Ich verstehe dich sehr gut.
Jeder Mensch möchte gerne wissen wie seine Kindheit verlief.“
Ernst atmete erleichtert auf: „Danke.“
„Warte einen Moment. Ich räume den Tisch schnell ab, dann wird es hier gemütlicher.“
Sie räumte das Geschirr auf den Servierwagen und schob ihn in die Küche. Schon ein paar Minuten danach saß sie Ernest wieder gegenüber. Ihre Augen leuchteten gespannt: „Also, an was aus deiner Kindheit erinnerst du dich noch am Besten?“
„Es ist nicht so sehr das, an was ich mich noch erinnere, es ist viel mehr das was mich früher manchmal bedrückt hat.“
„Bedrückt?“, fragte Irma erstaunt. „Du warst zwar ein ruhiges Kind aber ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, dass du traurig bist. Jedes Mal wenn du mit deiner Mutter hierher zu Regina und mir gekommen bist haben wir uns liebevoll um dich gekümmert. Du hast dich gefreut, gespielt und gelacht wie jedes Kind, aber die meiste Zeit hast du gemalt. Wir haben uns oft über deine abstrakten Zeichnungen amüsiert. Später, als du schon im Gymnasium warst hast du deine Schularbeiten mitgebracht und die meiste Zeit gelernt oder du bist in Richards Bibliothek gegangen und hast gelesen. So oft es ging habe ich versucht dich abzulenken in dem ich dir deine Lieblingsdesserts zubereitet habe und dich damit überrascht habe.
Dann hast du dich gefreut und mit mir gesprochen. Du hast dich für die Astronomie interessiert, hast mir spannende Geschichten aus längst vergangenen Zeiten erzählt die du wahrscheinlich aus den vielen Büchern hier kanntest. Ich war immer wieder erstaunt über dein großes Wissen“.
Irma holte kurz Luft und sah ihn schmunzelnd an: „Regina glaubte gar ein Genie in dir zu sehen.“
Ernest nickte sinnend: „Ich weiß, Tante Regina liebte mich sehr. Manchmal war es schon ein bisschen zu viel des Guten. Obwohl sie sich in unserem Haus stets unwohl, ja sogar bedroht fühlte, kam sie doch immer wieder zu uns. Sie liebte alte Klassiker genauso wie ich. Sie gab mir Unterricht am Klavier und manchmal spielten wir vierhändig“.
„Das gefiel deiner Mutter auch“, sagte Irma. Sie war auch froh über unsere Fürsorge für dich, aber sie glaubte dass du zum Ausgleich auch ein paar gleichaltrige Freunde haben solltest. Für sie benahmst du dich schon viel zu erwachsen“.
„Das stimmt. Sie hat mich oft nach meinen Schulkameraden ausgefragt und mich gebeten den einen oder den anderen zu uns einzuladen. Ab und zu tat ich das auch. Doch das ging nicht gut. Keiner von ihnen wollte ein zweites Mal zu uns kommen. Doch ehrlich gesagt war ich darüber nicht sehr enttäuscht. Was mich traurig machte war eher das Fremde, das sich zwischen mir, Vater und Onkel Richard aufbaute. Manchmal lobten sie mich für mein ernsthaftes Lernen.
Aber sie hatten beide sehr selten Zeit für mich.“
„Ja, leider war es so“, stimmte ihn Irma zu. “Richard hat das später sehr bedauert. Über deinen Vater möchtest du wahrscheinlich am meisten wissen. Er hat sich in den ersten drei Jahren nach deiner Geburt sehr liebevoll und intensiv um dich gekümmert. Du warst seine ganze Freude. Doch dann richtete er sich im Anbau des Hauses ein Labor ein und verbrachte immer mehr Zeit darin.“
„Ja, leider. Deshalb ärgerte ich mich auch manchmal über meine Mutter, denn sie hinderte mich daran rüber zu Vater ins Labor zu gehen.“
Irma kräuselte die Stirn: „Anscheinend kränkt dich das Verhalten von ihr noch immer, aber du solltest es ihr nachsehen. Sie erfüllte nur den Wunsch deines Vaters.“
„Gut“, nickte Ernest, „das muss ich wohl so akzeptieren.
Doch es gab mehrere Dinge die mir bei uns zu Hause seltsam vorkamen.“
„Welche?“
„Als ich etwa vierzehn Jahre alt war, hörte ich wie mein Vater meiner Mutter von irgendwelchen jahrhundertalten Schriften erzählte, die er in der Bibliothek gefunden hatte.
Damals begann die große Suche im Haus. Zuerst half ihm meine Mutter dabei aber eines Tages bat sie ihn die Schriften zu vergessen und die Suche einzustellen. Vater lehnte das verärgert ab.“
Irma unterbrach Ernest erstaunt: „Deine Mutter hat mir nie etwas darüber erzählt. Mir fiel nur auf, dass sie immer verschlossener wurde. Sie bat Regina nicht mehr so häufig zu euch zu kommen.“
„Ja, Regina besuchte uns nicht mehr. Das tat mir sehr leid, aber ich traute mich nicht sie zu fragen warum sie das tat.
Wenn ich bei euch hier war, ließ sie sich nichts anmerken. Sie war so lieb wie immer. Aber du weißt ja wie krank sie wurde und oft tagelang nicht aus ihrem Zimmer kam.
Doch ungefähr eine Woche vor dem Tod meiner Eltern besuchte sie uns ganz unerwartet. Sie grüßte meine Mutter und mich nur kurz, fragte nach meinem Vater und ging anschließend zu ihm ins Labor. Kurz danach sah ich sie mit einer großen Tasche herauskommen.
Diese Tasche drückte sie fast zu Boden. Bis sich meine Verwunderung über ihre Aktion gelegt hatte und ihr schließlich nacheilte um ihr beim Tragen zu helfen, hatte sie das schwere Stück schon fast bis zu eurem Haus geschleppt. Das war das letzte Mal dass ich sie sah, denn in der folgenden Nacht erlitt sie einen Herzanfall und musste in die Klinik gebracht werden. Weißt du, was Vater ihr damals übergeben hat?“
Irma erblasste. Ihre Hände begannen zu zittern. „Ja, stieß sie hervor: „Ich erinnere mich an diesen Tag. Zum Glück konnten die Ärzte Regina noch retten. Doch ganz gesund wurde sie leider nie mehr. Aber das weißt du ja. Vielleicht wäre es besser gewesen du hättest nichts über den Besuch von Regina bei deinem Vater gewusst“.
Irma hielt nervös inne.
Doch Ernest, der diese ratlose Stille nicht lange aushielt, bat sie eindringlich: „Bitte Irma sage mir alles was du über meinen Vater weißt. Ich habe ein Recht darauf.“
„Vielleicht schadet es dir nur… Gut, ich habe dich gewarnt, aber viel weiß ich sowieso nicht.“
„Egal, erzähl.“
Irma hob zögernd ihre Schultern.“ Regina besuchte deinen Vater öfter in seinem Labor. Sie interessierte sich sehr für seine Forschungen. Besonders als er seine Vorliebe zur Astronomie entdeckt hatte. Dieses Fach war schon lange ihr Steckenpferd. Doch eines Tages kam sie irgendwie verstört zurück. Sie sagte mir, dass dein Vater schon seit einigen Tagen im ganzen Haus nach einer Geheimtür suche. Irgendetwas Bedeutendes sollte dahinter versteckt sein. Du weißt ja von den alten Schriften.
Regina half ihn zusammen mit deiner Mutter nach dieser Tür zu suchen aber als sie bemerkte wie sehr sich dein Vater hineinsteigerte, bat sie ihn die Suche abzubrechen.
Schließlich bewohnten schon mehrere Generationen das Haus und sollte es diese Tür geben, hätte sie bestimmt schon Jemand entdeckt. Doch dein Vater ließ sich nicht davon abhalten und suchte immer fanatischer. Daraufhin beschloss Regina ihn nicht mehr zu besuchen. Doch sie verschwieg mir den Grund dafür.
Eines Tages rief dein Vater Regina an und bat sie nur noch ein einziges Mal zu ihm zu kommen. Er müsse ihr dringend etwas übergeben das sie dir, wenn du volljährig würdest aushändigen sollte. Regina weigerte sich zuerst.“
Irma stockte.
Doch Ernest ließ nicht nach: „ Sie ging dann schließlich doch zu meinem Vater und…?“
Irma nickte: „Regina ließen die eindringlichen Worte deines Vaters keine Ruhe mehr. Sie trieben sie praktisch hinüber zu ihm.“
„Wusstest du davon?“
Irma überwältigte die Erinnerung an diesem Tag und an die nachfolgenden bitteren Jahre. Regina musste nach ihrem Krankenhausaufenthalt in die Reha. Trotzdem blieb sie ein Pflegefall.
Der ungeduldige, durchdringende Blick von Ernest brachte sie in die Gegenwart zurück. Sie schluckte hart:
„Ja. Ich wusste, dass sie mit deinem Vater sprechen wollte. Als sie damals zurückkam, wirkte sie völlig verwirrt auf mich. Sie lief an mir vorbei und versteckte die Tasche.
Ein paar Stunden darauf mussten Richard und ich sie ins Krankenhaus bringen. So habe ich nie erfahren was damals bei deinem Vater vorgefallen war. Erst kurz vor ihrem Tod hat sie mir gesagt wo sich die Tasche befindet.
Sie bat mich dir die Kiste, die sich darin befindet, sobald du wieder hierher ziehst zu übergeben.
Irma stockte kurz, dann warnte sie Ernest: „Aber bedenke, diese Kiste hat deinen Vater ins Unglück gebracht und Regina hatte seit sie dieses Ding bei sich aufbewahrte keinen einzigen guten Tag mehr. „ Ernest schüttelte lächelnd seinen Kopf: „Und du glaubst, mir geht es dann ebenso. Du solltest nicht so abergläubisch sein. Hast du mal in diese Kiste reingesehen?“
„Gott bewahre!“, entrüstete sich Irma. Regina hat mich gebeten das nie zu machen. Aber ich hätte es sowieso nie getan.“
Irma erhob sich schwerfällig und ging ins Haus, kam aber schon nach wenigen Minuten mit der Kiste auf die Terrasse zurück und überreichte sie Ernest stillschweigend.
Ernest wuchtete die Kiste hoch, verabschiedete sich von Irma und marschierte so schnell es ging hinüber zu seinem Haus. Vor der steilen Treppe, die hinauf zu seiner Haustür führte blieb er einen Moment stehen. Beobachtete ihn Jemand? Quatsch - es waren seine durchgedrehten Gefühle. Außerdem trieb ihn die Schwüle, die ein Gewitter ankündigte den Schweiß in den Nacken.
„Es gibt für alles eine Ausrede“, hörte er seine Mutter sagen. Ja, ja, sie hatte ihm keine Lüge durchgehen lassen. Die Kiste kam ihn plötzlich noch schwerer und klobiger vor. So trieb es ihn die Kiste so schnell wie möglich loszuwerden. Endlich hatte er die steile Treppe überwunden. Schwitzend sperrte er die Haustür auf und ging zur Bibliothek. Dort stellte er die Kiste auf den Tisch, dann ließ er sich in den Sessel fallen.
Wusste Onkel Richard von dieser Kiste und ihren Inhalt?
Gestern Abend war er zu müde gewesen um den Brief seines Onkels zu lesen. Er bestand aus mehreren Seiten und … Ehe er die Kiste öffnete musste er diesen Brief lesen. Nachdenklich ging er hinauf in sein Zimmer und sammelte die Blätter, die verstreut am Boden lagen auf.
Die Blätter waren ordentlich nummeriert. Genauso ordentlich wie Onkel Richard alles handhabte. Er sah ihn vor sich, streng aber gerecht und wahrheitsgetreu.
Ernest setzte sich auf sein Bett und begann den Brief zu lesen aber er fand tatsächlich kein einziges Wort über die Kiste. Nur die allgemeinen Ratschläge und sein Bedauern ihn nicht bei seiner Ankunft begrüßen zu können.
Ernest ließ die Blätter sinken und legte sich auf das Bett. Nur einen Moment ausruhen…aber als er wieder erwachte war es schon später Nachmittag.
Die Luft lag schwül und abgestanden in seinem Zimmer. Schweratmend stand er auf, ging zum Fenster, öffnete es und ließ dass laue Lüftchen, das durch die Blätter der Bäume im Garten zu ihm herüberwehte, in seine Lungen.
Dabei sah er hinunter auf das saftige Grün des Rasens, die duftenden Rosenstöcke und die vielfältige Blumenpracht.
Das alles zeigte die Hand eines guten Gärtners und lud ihn ein hinunter in den Garten zu gehen.
Nach der freundlichen Helligkeit in seinem Zimmer ließ ihn die düstere Atmosphäre im Treppengang frösteln.
Seine frohe Stimmung wich und so schnell wie es die marode Treppe erlaubte, eilte er an seinen Ahnen vorbei.
Nach Unten. Vor der Tür zur Bibliothek blieb er stehen und zögerte einen Moment. Doch dann drückte er doch auf die Klinke.
Die Kiste thronte auf dem Tisch als warte sie gerade darauf ihr Geheimnis preiszugeben. Noch stand er unschlüssig vor ihr. Sollte er sie öffnen? Enthielt sie unliebsame Wahrheiten über seinen Vater die er besser nicht wissen sollte? Er hörte die warnenden Worte von Irma.
Würde ihm der Inhalt wirklich Unglück bringen? Aber sie hatte sie ihm übergeben und wenn er sich nicht vergewisserte was in ihr lag würde er auch keine Ruhe mehr finden.
Die Kiste wog allerhand Kilo. Sicher enthielt sie nur wissenschaftliche Bücher und alte Schriften. Oder Tagebücher seines Vaters? Auf der einen Seite wurde er immer neugieriger, auf der anderen Seite verspürte er eine gewisse Scheu davor die Kiste zu öffnen. Vielleicht enthielt sie wichtige Dokumente? Aber nein! Die hatte Onkel Richard für ihn aufgehoben und ihm zusammen mit dem Brief von Irma aushändigen lassen. Lagen wichtige Aufzeichnungen seines Vaters darin? Oder hingen gar seine Alpträume mit dem Inhalt dieser Kiste zusammen? Je länger er auf sie starrte, je bekannter kam sie ihm vor und doch wusste er, dass er sie noch nie in diesem Haus gesehen hatte. Woher sollte er sie also kennen? Sie musste schon einige Jahrhunderte überdauert haben, denn sie bestand aus festen, massiven Eichenholz und war mit starken Eisenbeschlägen umfangen. Zum öffnen des Deckels war ein langer, handgefertigter, schwerer Riegel angebracht worden.
Die Dämmerung senkte sich über die Stadt, lies die Bibliothek und alles was drinnen stand so düster wie die Ahnengalerie im Flur erscheinen.
Ernest spürte die Trockenheit seines Mundes und löste sich aus seiner starren Haltung. Er ging zum Schalter, lies den Raum vom hellen Licht des großen Leuchters erstrahlen. Anschließend holte er sich ein Glas Wasser aus der Küche und trank es auf einem Zug leer. Jetzt stand sein Entschluss fest. Er ging zurück zur Kiste, griff an den Riegel und schob ihn energisch zurück.
Obenauf lag ein Brief mit Tante Reginas Handschrift und wie erwartet lagen mehrere wissenschaftliche Bücher darunter. Als er sie hochnahm um die Titel zu lesen, kamen auch die Tagebücher und Aufzeichnungen seines Vaters zum Vorschein und ein paar alte handgeschriebene Schriften. Klar war dies alles wertvoll für ihn, aber irgendwie war er doch enttäuscht. Es musste sich doch noch etwas außergewöhnliches finden lassen. Zuunterst lag ein Buch, das ihm schon sehr antik vorkam. Vorsichtig hob er es heraus und sah, dass es nach einer Technik gebunden war, die man heute nicht mehr verwandte.
Als er es aufschlug und durchblätterte, bemerkte er, dass es in mittelaltriger Handschrift verfasst und auf verschiedenen Seiten mit Formeln die ihm bekannt vorkamen, versehen war. Zwischen der letzten Seite und dem Einband lag ein zusammengefaltetes Papier aus der Neuzeit.
Sicher stammte es von seinem Vater. Er schlug es auf und staunte. Das Papier war mit ungelenkigen aber erkennbaren Formeln, die mit denen im Buch übereinstimmten, bekritzelt und auf das obere Ende des Blattes hatte sein Vater geschrieben. Diese und ähnliche Zeichnungen hat mein Sohn Ernest zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr gemalt.
Ernest merkte, dass das Blatt in seiner Hand zitterte. Er kannte diese Formeln aus seinen Träumen. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb verstaute er das Buch wieder ganz unten in der Kiste. Er wäre im Moment nicht fähig dazu gewesen, sich darin zu vertiefen. Unter den Büchern entdeckte er eine Schachtel mit einem technischen Gerät. Da er aber nicht wusste für was es geeignet sein sollte, legte er es wieder zur Seite und suchte nach Tante Reginas Brief. Sicher würde sie ihm darin einiges erklären. Zögernd nahm er den Brief aus dem Umschlag und begann ihn zu lesen.
Lieber Ernest, Du bist also in dein Elternhaus zurückgekehrt. Dieser Tag musste kommen, denn es ist Deine Bestimmung, die Forschungen Deines Vaters, dessen irdische Zeit seines Wirkens leider sehr begrenzt war, weiter zuführen. Ich sehe Dich im Labor sitzen und Du glaubst alles perfekt hergerichtet zu haben. Es stimmt, aber es gibt noch eine Ergänzung, die Dir helfen wird das menschliche Gehirn und die Stärke seines Geistes zu erforschen. Denke nicht länger nach, mit welchen Experimenten Du beginnen sollst. Lese zu allererst die Tagebücher deines Vaters.
Dann versuche die antiken Schriften zu entziffern. Dabei wird dir das Buch eines Vorfahren gute Dienste leisten. Im Boden der Kiste ist eine Schachtel mit einem seltsamen Mechanismus. Finde heraus ob er dir hilft die Geheimtür zu finden die dein Vater vergeblich im Haus gesucht hat.
Dein Vater hat mir die Kiste übergeben weil er seinen und den Tod deiner Mutter vorausgeahnt hat. Er fühlte sich ständig verfolgt. Zwar sollte ich dir die Kiste schon zu deinem achtzehnten Geburtstag aushändigen. Doch ich wollte dir zuvor ein ungestörtes Studium in München ermöglichen. Über all die Jahre, die ich krank in meinem Bett lag, war ich mit dem Geist deines Vaters verbunden. Führe sein Werk fort
Regina
Ernest lehnte mit dem Brief in der Hand an der Wand und sah hinüber zur Kiste. Das flaue Gefühl der ständigen Bevormundung erregte ihn. Seine Eltern, die ganze Verwandtschaft und sogar Ilona hatten ihn bisher versucht zu beeinflussen. Jeder von ihnen glaubte zu wissen, was für ihn das Beste war. Und was hieß hier Vaters Werk fortsetzen? Er wusste doch über das sogenannte Werk von ihm nicht das Geringste. Sollte er sich jetzt an Hand dieser Dinge in der Kiste selbst ein Bild davon machen? Es konnte monatelang dauern die alten Schriften und Bücher zu entziffern. Und wie lange würde es dauern bis er alle Tagebücher seines Vaters gelesen hatte? Und würde es überhaupt etwas nützen seine eigenen Wünsche und Ziele zurück zu stellen? Vielleicht hatte sich Vater in etwas versteigert das es nicht gab? Tante Regina hatte ihm anscheinend alles geglaubt.
Doch zu welchem Zweck benutzte man dieses technische Gerät? Er nahm es aus der Schachtel und betrachtete es von allen Seiten. Dann legte er es genervt zurück. Wie sollte er mit diesem kleinen Ding eine Geheimtür im Haus finden? Je mehr er darüber nachdachte, je mehr schien ihm das ganze Unternehmen fraglich. Keiner seiner Vorfahren hatte die Tür entdeckt. Warum sollte gerade er es tun? Wahrscheinlich würde er mit der Zeit genauso getrieben wie sein Vater nach diesem Phantom suchen.
Genervt schloss er den Deckel der Kiste und verließ die Bibliothek. „Morgen werde ich die Kiste irgendwo verstauen und sie über meiner wirklichen Arbeit vergessen“, dachte er müde und verließ die Bibliothek.
Ilona starrte verärgert auf das Telefon. Immer wieder klingelte es, aber es waren ständig die falschen Leute dran. Thea konnte Ilonas Unruhe nicht mehr mit ansehen. „Warum rufst du Ernest nicht per Handy an?“
„Das habe ich schon versucht. Keine Verbindung. Obwohl er versprochen hat mich heute Abend anzurufen.“
„Ernest wird im Stress sein. Vielleicht hat er schon mit der Renovierung des Hauses begonnen.“
„Das ist keine Entschuldigung.“
„Vielleicht ist sein Akku leer. Du kennst doch seine Vergesslichkeit.“
Ilona fauchte ärgerlich: „Ja, nimm ihn nur in Schutz. Aber so geht das nicht! Kaum sind wir getrennt soll ich mir Gedanken machen ob dies oder jenes daran schuld ist, dass er nicht mal Zeit hat mich anzurufen. Nein danke!
Ilona lief gekränkt zur Tür: „Ich treffe mich noch mit ein paar Freunden. Also gute Nacht. Es kann spät werden.
Ernest erwachte heiter und ausgeglichen wie schon lange nicht mehr. Lag es an der Sonne, die den Tag so strahlend begrüßte? Oder lag es daran, dass er sich am Abend zuvor entschlossen hatte sein Leben so zu gestalten wie er es für richtig empfand. Munter schlug er die Bettdecke zurück und lief ins Bad.
Beim Zähneputzen fiel ihm Ilona ein. Er hatte gestern Abend doch tatsächlich vergessen sie anzurufen. Gleich nach der morgendlichen Toilette holte er dies nach.
Ilona reagierte verschnupft. Doch ihr Ärger verrauchte sofort nach seiner Entschuldigung.
Als Ernest auf der Terrasse frühstückte, sah er versonnen hinüber zum Labor und beschloss es an diesem Vormittag neu herzurichten.
Während er dann die Laborgeräte auspackte und sie nacheinander auf den Tischen verteilte, dachte er an Reginas Brief. In einer Sache hatte sie Recht. Er hatte sich schon als Student vorgestellt wie man das Gehirn des Menschen besser erforschen könnte. Doch das würde er auf seine eigene Art herausfinden. Was half ihn bei dieser Forschung das Wissen aus vergangenen Jahrhunderten.
In der modernen Medizin gab es inzwischen Erkenntnisse von denen seine Vorfahren nur träumen konnten.
Er fühlte sich frei und stark und betrachtete sein Werk. Gut so, jetzt konnte er endlich ungestört arbeiten.
Zum Mittagessen ging er rüber zu Irma und berichtete ihr begeistert von seiner Arbeit und seinem Entschluss die Truhe in der Kammer, in der schon andere alte Gegenstände aufbewahrt wurden, zu lagern.
„Weißt du Irma“, sagte er ihr zu ihr, „ich möchte meine eigenen Erfahrungen machen. Außerdem möchte ich mich auf meine Aufgabe in der Universität vorbereiten.
Dann kommt ja auch noch hinzu, dass ich Ilona versprochen habe einige Renovierungen im Hause vorzunehmen. Wozu also die Zeit mit der Suche nach einem Phantom zu vergeuden?“
Irma atmete erleichtert auf. „Gott sei Dank, wenigsten ein realistischer Mensch in der Familie. Du wirst deinen Entschluss sicher nicht bereuen und wenn du Hilfe in deinem Haus brauchst, kannst du dich gerne an mich wenden.“
Nach dem vorzüglichen Mittagessen bei Irma fühlte sich Ernest noch zuversichtlicher und stärker. So holte er sich gleich nach der Ankunft in seinem Haus den großen dicken Schlüsselbund der in der Diele hing und ging damit in die Bibliothek. Dort hob er kurzentschlossen die Kiste hoch und schleppte sie in das obere Stockwerk. Vor einer Kammer setzte er sie ab und wischte sich schweratmend den Schweiß von der Stirn.
Die Suche nach dem richtigen Schlüssel an diesem dicken Eisenreifen steigerte seinen Unmut. Die Schlüssel klimperten am Bund. Doch erst der letzte passte endlich in das Türschloss. Er ließ sich schwer umdrehen und das Schloss quietschte erbärmlich.
Als er die Tür aufschob, schwollen ihm dichte, stinkende Luftschwaden entgegen. Er kämpfte sich an verstaubten Möbelstücken vorbei, vernichtete einige Spinnweben und gelangte schließlich zum Fenster. Dann hatte er einen morschen Griff in der Hand, der ihn befürchten ließ abzubrechen ehe er hier für Frischluft sorgen konnte.
Als es ihm dann doch mit viel Geduld gelungen war das Fenster zu öffnen, atmete er die frische Luft tief ein. Doch der ekelige Geschmack blieb in seiner Kehle hängen.
Nach ein paar Minuten drehte er sich um und sah sich nach einem Platz für die Kiste um. Die vielen Spinnweben regten ihn auf aber zum Glück fand er einen zerflederten Besen mit dem er einige davon entfernen konnte. Als er die Kiste hereinholte fiel die Tür hinter ihm zu. Der Knall den sie dabei verursachte fuhr ihm schreckhaft in die Glieder und er musste an die jammervollen Klänge denken, die er als Kind manchmal aus diesem Raum vernommen hatte. Er sah um sich und bemerkte einen Schreibsekretär vor dem er meinte eine Frau sitzen zu sehen die bitterlich weinte und ihr Schluchzen klang flehentlich in seinen Ohren.
Einen Moment blieb er starr stehen, dann riss er sich zusammen. Er war doch kein kleiner Junge mehr, der die alten Schauergeschichten die ihm seine Tanten über dieses Haus erzählten, glaubte. Die Gestalt vor dem Sekretär löste sich in Staub auf. Jetzt sah er sich nach einem Lappen um. Er fand ihn in der Ecke aus der er zuerst den Besen hergeholt hatte. Nun wischte er vorsichtig den Staub vom Sekretär und erkannte dessen Schönheit. Wer hatte wohl dieses wertvolle antike Stück hier in diesem Gerümpel untergebracht? Bewundernd fuhr er mit seinen Fingern über die eingelegten Intarsien. Dann klappte er die Schreibplatte herunter. Hinter ihr befanden sich ein paar verzierte Schubladen. Er öffnete eine davon und entdeckte ein Buch das er herausnahm und darin blätterte. Es enthielt viele Notizen. Doch die Tinte, die einst dazu verwendet wurde, war schon leicht vergilbt und die altdeutsche Schrift in der es verfasst war, machte es auch nicht leichter die Worte zu entziffern. Er schob das Buch in seine Tasche und zog die nächste Lade heraus. Hier fand er ein Blatt Papier auf dem der Sekretär von außen und von innen abgezeichnet war. Im inneren Teil wies ein Pfeil auf eine Stelle die man anscheinend verschieben konnte. Aber als er das Innere des Sekretärs betrachtete sah er an der eingezeichneten Stelle nur eine Schublade und merkte schnell, dass man sie nicht herausziehen konnte. Aber beim Drücken auf den kleinen Knopf in der Mitte der Lade klappte ihr Vorderteil herunter. Doch dahinter schien nur eine Holzplatte zu sein. Sie ließ sich weder nach rechts noch nach links verschieben.
Ernest wurde schon leicht nervös. Der vollgestopfte Raum, der Mief der immer noch darin hing und das Durchsuchen des Sekretärs erschöpften ihn. Eigentlich wollte er doch nur die Kiste hier abstellen. Jetzt brauchte er nur das Fenster wieder zu schließen und die Rumpelkammer verlassen. Trotzdem sah er noch einmal auf die Zeichnung. Dabei bemerkte er, dass der Pfeil nach unten ging. Er betastete die kleine Holzwand und spürte am oberen Ende eine winzige Einkerbung. Er drückte seinen Fingernagel hinein und schob das Teil nach unten. Hinter der Öffnung sah es aus als ob ein Teil darin eingesetzt werden müsste. Enttäuscht griff er in die Leere und ertastete wieder ein Stück Papier.
Gleich darauf stieß er einen überraschten Pfiff aus. Wenn er sich nicht irrte handelte es sich auf dieser Zeichnung um das mechanische Teil, das in der Kiste seines Vaters lag. Jedenfalls musste er es ausprobieren. Egal ob miese Luft oder nicht, das Teil musste her. Schon war er bei der Kiste und öffnete sie. Er nahm es heraus, schob es in die Öffnung des Sekretärs und gleich darauf hörte er einen knackenden Ton. Das Ding war eingerastet und der kleine Hebel daran ließ sich auf die Seite drücken. In dem Moment öffnete sich die Tür zu einem Geheimfach. Doch es enthielt wieder nur ein Bündel Papiere. Er nahm es heraus, verstaute es in die zweite Tasche seiner Jacke. Seine Kehle wurde immer trockener. Er begann zu husten und kämpfte sich zur Tür. Dann verschloss er sie wieder, nahm den Reif mit den vielen alten Schlüsseln und lief hastig den Flur entlang. Dann eilte er hinunter zur Küche und trank ein Glas Eistee. Es erfrischte ihn zwar ein wenig doch er spürte eine erschreckende Unruhe in sich.
Irgendetwas hatte ihn dazu getrieben in den Sekretär zu sehen und jetzt drängte es ihn die Papiere, die er dort gefunden hatte zu ordnen. So lief er zur Bibliothek, leerte seine Taschen aus und legte alles auf den Tisch. Da lagen nun das Buch und das Bündel Papiere. Noch zögerte er die Schriften zu entziffern. Sollte er nicht lieber zuvor die Tagebücher seines Vaters lesen?
Seine Gedanken schwankten unschlüssig hin und her. Noch konnte er sich an das Versprechen, das er Irma gegeben hatte halten. Er musste nur einfach diese Sachen hier wieder dahin tun wo er sie gefunden hatte.
Doch seine Unruhe wuchs. Sie sagte ihm, dass er diese Dinge nie mehr vergessen würde. Nervös griff er zu dem Buch und schlug es auf. Langsam wie ein Schüler, der gerade das Lesen lernte, las er die ersten Worte. Aber in seiner gebückten Haltung war es ihm zu unbequem. Also nahm er das Buch, setzte sich in seinen Sessel und schlug es auf. In dem Moment fiel ein zusammengefaltetes Blatt heraus. Er hob es hoch, faltete es auseinander und las laut: