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In einem kleinen, idyllisch gelegenen Dorf liegt die stillgelegte Gärtnerei Berthold. Um ihre Bewohner und die mysteriösen Dinge die in ihrem Garten geschehen kreisen wilde böse Gerüchte. Als in diesem Garten schon die vierte Leiche gefunden wird steigt die Feindschaft der Anwohner gegen das Ehepaar Paula und Georg Berthold ins Unermessliche. Auch Hauptkommissar Stefan Berger und Kommissar Gruber die diesen Fall bearbeiten, stufen die Bertholds als Hauptverdächtige ein. Doch bei ihren Nachforschungen ergibt sich eine unheimliche Spur die sie in die Vergangenheit führt. Dieser Psychokrimi führt die Leser in tiefe Abgründe der menschlichen Seele.
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Seitenzahl: 426
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In einem kleinen, idyllisch gelegenen Dorf liegt die stillgelegte Gärtnerei Berthold. Um ihre Bewohner und die mysteriösen Dinge die in ihrem Garten geschehen kreisen wilde böse Gerüchte. Als in diesem Garten schon die vierte Leiche gefunden wird steigt die Feindschaft der Anwohner gegen das Ehepaar Paula und Georg Berthold ins Unermessliche. Auch Hauptkommissar Stefan Berger und Kommissar Gruber die diesen Fall bearbeiten, stufen die Bertholds als Hauptverdächtige ein. Doch bei ihren Nachforschungen ergibt sich eine unheimliche Spur die sie in die Vergangenheit führt.
Dieser Psychokrimi führt die Leser in tiefe Abgründe der menschlichen Seele.
Lieselotte Rositzka wurde in Ludwigsthal geboren. In ihrer Kindheit, die sie zum größten Teil in der Nähe von Bad Kissingen verbracht hat, schrieb sie schon Theaterstücke. Als junge Frau zog sie nach Ingolstadt. Dort wurden im Donaukurier ihre Kindergeschichten veröffentlicht. Danach verfasste sie Kriminalromane, unter anderen auch ein Theaterstück, das in Berlin uraufgeführt wurde. Zurzeit lebt die Autorin in Landshut.
Von Lieselotte Rositzka ist außerdem erschienen:
Getriebener Geist. Mystery Krimi Roman
Hass in meinen Schuhen Krimi Roman
Anne, die kleine Tochter von Georg und Paula liegt seit einem tragischen Unfall im heimischen Garten im Koma. Georg, der die ständigen Vorhalte von Paula nicht mehr erträgt lässt sich von seiner Firma ins Ausland versetzten. Doch das Heimweh treibt ihn wieder nach Hause. Anne ist inzwischen gestorben und Paula kann ihr Leben nur noch mit starken Beruhigungsmitteln ertragen. Ihre Schwester Lynn und ihre Freundin Melanie versuchen ihr zu helfen.
Doch als das ehemalige Kindermädchen der Familie tot im Garten aufgefunden wird überstürzen sich die Ereignisse.
Bei der Suche nach dem Mörder der jungen Frau stossen die Kommissare Berger und Gruber nach und nach auf horrormäßige Taten. Die Nerven aller Beteiligten liegen blank.
Paula schnellte mit jähem Ruck in die Höhe. Einen winzigen Moment blieb sie starr in ihrem Bett sitzen.
Dann schwang sie ihre Füße auf den Boden und fuhr im Dunkeln in ihre Pantoffeln.
Anne hatte gerufen. Das Kind benötigte ihre Hilfe. Als Paula leise in Annes Zimmer trat, ärgerte sie sich, dass sie am Abend die Rollos nicht heruntergelassen hatte.
Der Mond hing dicht und prall vor Annes Fenster und sein fahles Licht floss über die Möbel im Raum. Sie musste den Vollmond aussperren. Er hatte stets eine beunruhigende Wirkung auf sie. Warum nicht auch auf das Kind? Auf Zehenspitzen näherte sie sich dem Fenster, blieb aber am Bett des Kindes stehen.
Die Stille irritierte sie. Sie bückte sich und tastete über das leere Kopfkissen. Die Realität schlug wie Keulenhiebe auf sie ein. Weinend sank sie auf den Boden.
Anne konnte nicht mehr hier sein. Anne war tot. Am Vormittag war sie an ihrem Grab gestanden. Sie hatte gesehen wie die Leichenträger den kleinen Sarg in die Grube gleiten ließen.
„Anne“.
Der Schmerz war zu groß. Jetzt in der Nacht holte er sie voll ein. Aus den Augen, die am Grab fast teilnahmslos auf die Erde gestarrt hatten, stürzten jetzt die Tränen haltlos hervor.
Ihr Hausarzt hatte ihr vor diesem schweren Gang Beruhigungspillen gegeben. Später, als sie wieder alleine im Haus gewesen war, hatte sie, ehe die Pillen ihre Wirkung verlieren würden, noch eine Ration davon eingenommen.
„Anne!“ Der klägliche Hilferuf ihrer Tochter war in ihrer Fantasie entstanden. Paula spürte den harten Boden nicht. Ihr Rücken wurde vom Bettpfosten gestützt. Die Tränen rannen nur noch vereinzelt über ihr feuchtes Gesicht. Sie schmeckte das Salz auf ihrer Haut, aber sie fühlte sich zu schwach um aufzustehen und das bittere Nass abzuwischen.
Die Geräusche der Nacht zogen durch das offene Fenster in das Zimmer. Der Vorhang begann sich aufzubauschen. Das Wehen wurde stärker. Der Mond verschwand hinter einer dicken Wolke und nahm sein Licht von Paulas Gesicht. Von Annes Zimmer.
Das ferne Grollen kam näher. Blitze zuckten grell am Himmel und die ersten Regentropfen, trieben die Schwüle des Tages, die bis in die Nacht hinein über dem Land gelegen hatte, hinweg. Paula fühlte sich etwas leichter. Sie ließ die frische Luft ins Zimmer und schloss das Fenster erst, als der Wind den nun strömenden Regen zu ihr hereinpeitschte. Sonst gab es nichts mehr hier zu tun.
Mit hängenden Schultern verliess Paula Annes Zimmer.
Der Donner hallte dumpf durchs Haus. Sie zuckte erschrocken zusammen, dann lachte sie bitter auf. Die einfachste Lösung wäre doch, wenn ein gewaltiger Blitz ihr Haus in Brand stecken würde. Alles wäre zu Ende.
Aber nichts geschah. Das Gewitter ebbte langsam ab. Der schmerzende Gedanke an Annes Tod blieb ihr erhalten.
Paula hatte ihre Zimmertür weit offen stehen gelassen und so hörte sie, als der Morgen graute, wie Jemand die Eingangstür öffnete. Sie richtete sich erschrocken hoch.
Außer ihr besaß nur Georg einen Schlüssel für das Haus. Georg, ihr Mann. Er war also gekommen.
Jetzt, da Anne unter der Erde lag, war er zurückgekehrt.
Lange Zeit hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass er hier wäre, ihr zur Seite stehen würde. Aber darauf hatte sie vergeblich gehofft. Und nun schob sich schon allein bei dem Gedanken ihn sehen zu müssen ein brennendes Würgen in ihrer Kehle hoch. In panischer Hektik schlüpfte sie aus dem Bett, huschte zur Tür und verschloss sie.
Jetzt plumpste unten im Flur etwas Schweres auf den Boden. Eine Tür nach der anderen wurde geöffnet.
Paula hielt den Atem an. Vielleicht hatte sie sich getäuscht? Vielleicht war es gar nicht Georg, der da im Haus herum rumorte? Doch dann knarrten seine festen Schritte die Treppe herauf. Vor Annes Tür blieb er eine Weile stehen, dann näherte er sich ihrem Zimmer.
„Paula“, Georg klopfte hart an ihre Tür.
„Paula, wir müssen miteinander reden.“
Reden, was sollte sie mit ihm noch reden? Der Feigling betrat ja nicht einmal mehr das Zimmer seiner Tochter.
Der Ärger über ihn vertrieb für einen Moment die Trauer um Anne. Schon lagen ihr verbitterte, böse Worte auf der Zunge, aber sie konnte sie ihm nicht entgegenschreien.
Er klopfte noch einmal. Doch als sie weiterhin schwieg, gab er auf und schepperte, als wäre er mit schwerer Last beladen, die Treppe hinab.
Paula stand unentschlossen in ihrem Zimmer. Was sollte sie nur tun? Ewig konnte sie Georg nicht aus dem Weg gehen. Sollte sie sich der Auseinandersetzung mit ihm stellen oder sollte sie darauf hoffen und warten dass er das Haus ohne mit ihr gesprochen zu haben, wieder verließ? Doch, dass er das tatsächlich tat, stand eins zu einer Million. Sie kannte keinen anderen Menschen, der seine Ziele so strikt verfolgte wie er. Ihre sämtlichen Glieder versteiften sich und es war, als brächte sie keinen Fuß vor den anderen. Doch dann setzte sie sich mechanisch, wie eine aufgezogene Puppe in Bewegung. Sie öffnete leise die Tür und ging ebenso leise ins Bad, wusch sich, zog sich an und ging nach unten.
Als Paula ins Wohnzimmer trat, saß Georg starr wie ein Holzklotz auf dem Sofa. Seine Hand umklammerte den Bierkrug als wolle er sich daran festhalten.
Paula blieb stehen, sah verächtlich auf ihren Mann.
Sie hatte sich vorgenommen sich ihm gegenüber auszuschweigen, ihn nicht an ihrem Schmerz teilhaben zu lassen. Doch in dem Moment als er sie ansah, lag ein Funken Trauer und Ratlosigkeit in seinen Augen. Das war zuviel für Paula. Sie konnte das bohrende Gefühl der Angst, Wut, Verzweiflung, das sich in den letzten Monaten in ihr aufgestaut hatte, nicht mehr zurückhalten.
„Ja, trinke du nur dein Bier, besaufe dich“, schrie sie ihn an. „Das hast du oft genug getan. Damit hast du dich an der Verantwortung vorbeigedrückt. Wo warst du als ich dich brauchte? Und warum bist du jetzt gekommen? Jetzt wo es zu spät ist?“
Georg ließ die bitteren Vorwürfe seiner Frau über sich herabdonnern. Sie hatte Recht. Er hatte damals den Anblick des kranken Kindes nicht mehr ertragen. Aber es war nicht nur das Kind gewesen. Er hatte den ständigen Vorwurf in Paulas Augen nicht mehr ausgehalten.
Paula war während ihrer erregten Worte im Wohnzimmer hin und hergelaufen. Jetzt blieb sie abrupt vor ihm stehen. Ihre Stimme wurde um einige Töne leiser als zuvor. „Willst du etwa hier bleiben?“
Georg versuchte ihren Blick festzuhalten. „Ja, ich will hier bleiben. „Ich arbeite wieder in meiner alten Firma.“
„So plötzlich? Das glaube ich dir nicht, “ zweifelte sie.
„Ich weiß inzwischen, dass du dich nach Annes Unfall freiwillig für die Arbeit im Ausland zur Verfügung gestellt hast. Es war gar kein Muss, wie du mir damals zu verstehen gegeben hast.“
„Wer sagt das?“ brummte Georg und sah zur Seite: „Und wenn’s so gewesen wär, täte dies jetzt auch nichts mehr zur Sache. Hier ist mein Zuhause.“
„Dein Zuhause!“ fauchte Paula. „Monatelang hast du mich mit dem kranken Kind hier alleine gelassen. Wo war da dein Zuhause? Jetzt da ich mich ans Alleinsein gewöhnt habe, tauchst du plötzlich auf und machst dich breit.“ „Was heißt hier, breit machen?“ knurrte Georg. „In dem Haus hätte eine Großfamilie Platz. Wir werden uns schon nicht gegenseitig zertreten. Jetzt setz dich doch endlich zu mir an den Tisch. Dein ewiges Hin und Hergerenne macht mich ganz nervös.“
„Gut, dann macht es dich eben nervös“, sagte Paula ironisch. „Ich steh oder sitze wies mir beliebt. Wenn du unbedingt bleiben willst kann ich’s dir nicht verwehren, aber glaube ja nicht, dass ich für dich koche oder wasche und in meinem Schlafzimmer hast du auch nichts mehr zu suchen.“
Ohne eine Antwort von ihm abzuwarten drehte sie sich um und ging in die Küche.
Georg trank sein Bier aus und stellte sein leeres Glas auf den Tisch. Das Trinken unterstellte ihm Paula zu Unrecht. Er hatte sich nie sinnlos betrunken, obwohl es ihm oft danach zu Mute war. Aber er hatte sich tatsächlich in seiner Firma freiwillig für die Arbeit in Russland zur Verfügung gestellt
Die Luft im Zimmer lag schwül und dick über ihm. Fahrig wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Wenn er Paula nur endlich sagen oder zeigen könnte, wie er sich fühlte.
In den ersten Wochen nach Annes Unfall hatte er ebenso wie Paula gehofft dass Anne wieder gesund werden würde. Aber eines Tages hatte ihn Professor Meinert, der Chefarzt der Klinik zu sich gebeten. Er hatte ihm bedauernd erklärt, dass Anne nie mehr aus dem Koma erwachen würde. Zuerst hatte er es nicht glauben wollen. Er hatte Professor Meinert gebeten noch andere Spezialisten heranzuziehen. Aber der Arzt hatte ihn jeder Hoffnung beraubt.
Es war nur die Maschine, die Anne noch am Leben gehalten hatte. Annes nächste Station sollte ein Pflegeheim sein. Paula hatte sich mit Händen und Füssen dagegen gewehrt. Schließlich hatte sie sich durchgesetzt und das Kind zur Pflege nach Hause geholt.
Ab dem Moment, an dem er seine Bedenken darüber geäußert hatte, verachtete ihn Paula noch mehr, als unmittelbar nach Annes Unfall. Jetzt kam es ihm so vor, als ob sie ihn sogar hasste.
Aber in der Ferne war ihm klar geworden wie sehr er seine Frau noch liebte. Er hatte sich vorgenommen, nach seiner Rückreise um sie zu kämpfen. Doch er hatte nicht gewusst dass Anne inzwischen verstorben war. Wie sollte er gegen diesen Schmerz, gegen diese Trauer angehen?
Er fühlte sich ja selbst wie ausgebrannt.
Schwerfällig stand er auf und ging in den Garten. In den letzten Monaten war hier alles brach gelegen und dementsprechend sah es hier aus. Wo früher Gemüse, Salate und Blumen angepflanzt waren, wucherte das Unkraut fleißig dahin. Aber die wilde Natur lebte sich nicht nur auf den Beeten aus. Sie zeigte ihre Spuren im ganzen Garten. Georg atmete tief durch. Hier gab es jede Menge für ihn zu tun. Er war fast dankbar für diese Arbeit. Paula würde in der nächsten Zeit sicher nur die nötigsten Dinge mit ihm besprechen. Sie würde sich lange vor ihm zurückziehen. Er würde seinen Job in der Firma erledigen und in jeder freien Minute aus diesem Flecken Erde ein kleines Paradies für sich und Paula schaffen.
Paula stand hinter der Gardine und beobachtete Georg wie er an den ehemaligen Beeten entlang stampfte. Als er sich bückte und einen dicken Büschel Unkraut herausrupfte wurde ihr bewusst, dass der Zustand des verwahrlosten Gartens ihm fast körperlich wehtun musste. Sie grinste schadenfroh. In ihm steckte der Gärtner, nicht in ihr. Es war, als sie damals das Haus bezogen, sofort sein Reich gewesen. Sie scheute die Arbeit im Garten.
Doch er hatte jede freie Minute mit einer, wie ihr schien, geradezu besessener Leidenschaft genutzt, den Garten in einen parkähnlichen Zustand zu bringen. Er würde es sicher wieder tun. Aber sie durfte nicht allzu ungerecht sein. Jeder von ihnen hatte zu Beginn ihrer Ehe sein eigenes Reich. Er hatte ihr freie Hand für die Innengestaltung des Hauses gelassen. Es war eine kreative glückliche Zeit für sie beide gewesen. Die Erinnerung an die ersten Jahre in diesem Haus wischte das hämische Grinsen aus ihrem Gesicht. Es wurde weicher, sentimentaler. Damals hatte sie diesen erdverbundenen stämmigen Mann geliebt. Es gab auch jetzt noch Momente in denen sie sich nach seiner Umarmung sehnte. Warum konnte sie ihm nicht verzeihen? Sie begann zu frösteln.
Anne! Annes Tod stand zwischen ihnen.
Georg schien sich beobachtet zu fühlen. Er wandte sich dem Haus zu und schritt mit ernster Miene zur Terrasse.
Paula lief aus dem Wohnzimmer und eilte die Treppe hinauf. Sie fürchtete sich davor wieder auszurasten, fürchtete ihre eigene Bitterkeit. Sie musste sich erst wieder an seine Anwesenheit gewöhnen. Musste lernen mit ruhigen Worten über ihre Zukunft mit ihm zu sprechen.
Sie blieb im oberen Flur stehen, lauschte seinen Schritten. Erst als sie hörte wie er die Haustür hinter sich zuzog, das Auto aus der Garage fuhr und davonbrauste, lief sie nach unten. Sie war wieder allein im Haus. Die Stille tat ihr eine Weile gut, erwies sich aber bald als trügerisch.
Sie zauberte Geräusche für Paula hervor die es in diesem Haus gar nicht mehr gab.
Annes tappende Kinderschritte.
Annes Jauchzen und Rufen das schon lange verstummt war, von dem sie aber bis zuletzt gehofft hatte, dass es wiederkehren würde.
Melanie Kiesel schob ihren Kinderwagen an den Treibhäusern und dem riesengroßen Garten, der wie im Dornröschenschlaf dalag, vorbei bis zu dem lang gestreckten weißen Haus. Sie rief ihre kleine Tochter, die gerade ein paar Blumen am Wegesrand pflückte, heran.
Die fröhlich zwitschernden Vögel schienen die einzigen Bewohner dieses Anwesens zu sein. Doch Melanie wusste, dass sich Georgs Frau Paula, im Haus aufhielt. Sie verschanzte sich hier regelrecht. Aber das hatte sie ihrer Meinung nach schon viel zu lange getan. Entschlossen drückte sie auf die Türklingel.
Das Läuten störte Paula in ihren Gedanken an Anne. Sie erschrak. War Georg schon wieder zurückgekommen?
Aber nein, er hätte nicht geklingelt. Mit widerstrebenden Gefühlen schritt sie zur Tür und öffnete sie.
„Melanie!“
Ja, ich, “ lächelte Melanie. „Darf ich hereinkommen?“
„Ja“, sagte Paula zögernd. Sie half Melanie den Kinderwagen über die Schwelle zu heben. Dann nahm sie die Blumen, die Melanies Tochter Verena gerade gepflückt hatte, entgegen. Sie brannten wie Feuer in ihrer Hand. So fröhlich könnte jetzt Anne vor ihr stehen. Die Kinder waren im gleichen Alter. „Geht schon mal ins Wohnzimmer“, bat sie.
„Ich stelle die Blumen ins Wasser.“ Melanie sollte ihre Tränen nicht sehen.
Melanie rollte den Kinderwagen zur Terrasse und stellte ihn dort ab.
„Du hast doch nichts dagegen oder?“ fragte sie Paula, die mit ein paar Getränken ins Wohnzimmer trat. „Es ist so ein schöner Sommertag...“
„Nein, ich habe nichts dagegen“, erwiderte Paula. „Aber ich hab im Moment leider keine Sitzgelegenheit auf der Terrasse.“
Melanie sah sie forschend an:
„Willst du damit sagen dass du nie in den Garten gehst?“
„Nein, nie“, blockte Paula ab. „Was möchtest du trinken?“
„Ein Glas Wasser reicht mir schon“, sagte Melanie. „Ich habe die Gespräche mit dir vermisst. Wie geht es dir? Du solltest mich wieder einmal besuchen.“
„Vielleicht später“, wich Paula aus, „ich...“
„Es ist nicht gut wenn du dich hier verkriechst“, unterbrach Melanie die Ausrede, die Paula gebrauchen wollte.
„Ja, ich weiß, warte, ich hole zwei Stühle.“
Als sie sich gegenübersaßen fuhr Paula fort: „Ich brauche halt meine Zeit um über Annes Tod hinwegzukommen.
Melanie sah Paula zuversichtlich an:
„Georg hilft dir sicher dabei“. Ich habe gehört, dass er wieder da ist. Stimmt es, dass er die Gärtnerei wieder auf Trab bringen will? Das wäre das Beste für euch beide. Bei soviel Arbeit vergisst man seine Trauer.“
Paulas Ton wurde schneidender als sie beabsichtigt hatte.
„Ich glaube nicht, dass mich die Arbeit alles vergessen lässt und ich glaube auch nicht, dass Georg die Gärtnerei wieder eröffnet.
Die Arbeit in seiner Firma gefällt ihm sehr gut. Aber ihr im Dorf wisst ja immer alles besser. “
Melanie sah erschrocken in Paulas erhitztes Gesicht:
„Entschuldige bitte, ich wollte dir nicht zu nahe treten, aber ich dachte es ist was wahres dran mit der Gärtnerei.
Ich dachte, Georg möchte nicht im gleichen Betrieb arbeiten wie Jacqueline…
In diesem Moment schrie Verena, die von der Terrasse weggelaufen war, nach ihrer Mutter. Melanie schoss von ihrem Stuhl hoch und rannte in den Garten.
„Verena, Verena, wo bist du?“
Paula hielt sich am Stuhl fest. Es war ihr, als färbe sich der Himmel schwarz. Jacqueline, der Name klang hohl und böse in ihren Ohren. Sie hörte die Stimme des Kommissars: Jacqueline Martin ….ist nicht schuld am Tod ihrer Tochter.
Melanies Stimme erreichte sie wie aus weiter Ferne.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte sie zufrieden.
„Verena spielt schön am Sandkasten. Sie wollte mir nur ihre Burg zeigen und der Weiher ist ja jetzt abgedeckt.“
Paulas Augen weiteten sich entsetzt.
Melanie bemerkte es und sah verlegen zur Seite. Sie ärgerte sich über ihre eigene Taktlosigkeit.
Paula zwang sich zur Ruhe. „Dir geht es also gut?“
„Ja, ich kann nicht klagen“.
Das Baby begann zu schreien und Melanie stand erleichtert auf. Sie ging zum Wagen und nahm ihr Kind heraus.
Dann hielt sie es Paula entgegen:
„Willst du ihn mal auf den Arm nehmen?
Es ist ein Junge. Er heißt Thomas.“
Paula nahm das Kind auf den Arm und sah es an. Dabei bildeten sich in ihrem Kopf Sätze wie:
„Du könntest es einfach von deinem Arm rutschen lassen. Ein bedauerlicher Unfall. Warum soll nur meinem Kind etwas zustoßen?
Das Baby schrie noch weiter und Melanie nahm es Paula ab.
„Es hat keinen Zweck mehr. Ich muss nach Hause. Das Baby hat Hunger und das Höschen ist sicher auch voll.“
Sie legte den kleinen Thomas in den Wagen zurück und rief nach Verena.
Als Melanie das Haus verließ, sagte sie zu Paula:
„Also wenn du dich mal ausquatschen willst, brauchst du nur zu mir zu kommen. Du bist jederzeit willkommen.“
Paula stieß die Haustür unsanft zu, ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Melanies Gerede ging ihr nicht aus dem Sinn.
Jacqueline, ihr früheres Kindermädchen, arbeitete ausgerechnet in der gleichen Firma wie Georg. Welch seltsamer Zufall.
Die Kaffeemaschine gurgelte und zischte vor sich hin.
„Das blöde Ding ist schon wieder verkalkt!“ ärgerte sie sich. Sie müsste sich einen Entkalker besorgen. Ihre Einkaufsliste wurde immer länger. Aber allein schon das Gefühl ins Dorf in den Kramerladen gehen zu müssen und sich von den Leuten anstarren zu lassen, verursachte ihr Bauchschmerzen. Sie könnte ja auch das Auto aus der Garage holen und in die Stadt fahren... Vielleicht später.
Endlich war der Kaffee fertig. Sie goss ihn in ihre große Tasse und setzte sich damit auf die Eckbank in der Küche. Früher hatte sie den Kaffee gerne im Wintergarten getrunken. Es war schon fast eine Zeremonie gewesen.
Inmitten der Pflanzen und dem duftenden Aroma des Kaffees waren ihr die besten Ideen für ihren Beruf gekommen. Hier waren viele Skizzen und Anregungen entstanden, die ihren Kunden gefallen hatten. Es gab Minuten in denen sie sich nach ihrer Arbeit als Innenarchitektin sehnte. Doch dann vergrub sie diesen Wunsch wieder.
Sie hatte ja nicht einmal mehr dem Mut einen Stift in die Hand zu nehmen und ihre Ideen auf Papier zu bringen.
Vielleicht gab es gar keine Kreativität mehr in ihr.
Der Kaffee beruhigte sie nicht mehr wie früher. Er verursachte Herzklopfen. Oder trank sie zuviel? Die ständige Unruhe zerfraß sie fast. Alles im Haus erinnerte sie an Anne. Es war gut und schmerzlich zugleich.
Paula nahm ihre Tasse, stellte sie in die Spülmaschine und verlies mit müden Schritten die Küche.
Der untere Teil des Hauses diente früher Georgs Eltern als Blumenladen. Paula hatte ihn, als sie hier eingezogen war, völlig neu umgestalten lassen. Nun gab es hier eine Küche, ein Esszimmer, ein gemütliches Wohnzimmer, ein kleineres Arbeitszimmer für Georg und ein geräumiges Büro für sie. Jetzt stand sie vor ihrem Büro und drückte zögernd die Türklinge herunter. Seit Annes Unfall hatte sie nicht mehr hier gearbeitet. Sie warf nur einen kurzen Blick in den Raum und zog die Tür gleich wieder zu.
Schweiß trat auf ihre Stirne und ihr Körper schrie nach den Tabletten, die ihr halfen, ihr Elend zu vergessen.
Georgs erster Arbeitstag in seiner alten Firma war schwerer abgelaufen wie er erwartet hatte. In Russland hatte er ein Team einheimischer Arbeiter unter sich gehabt. Er war der Boss und konnte selbständig arbeiten.
Hier war er wieder einer von vielen Ingenieuren. Zudem waren in seiner ehemaligen Abteilung alle Stellen besetzt.
In seinem neuen Bereich vermisste er seine alten Kollegen mit denen er fast freundschaftlich verbunden gewesen war. Er musste wieder von Vorne beginnen, musste sich mit den neuen Mitarbeitern auseinandersetzen. Es war ihm, als wäre die Stimmung unter den Angestellten unkameradschaftlicher und hektischer als früher geworden. Vielleicht lag es an der unsicheren Zeit, oder er war empfindlicher als damals. Der einzige Vorteil dem ihm sein neuer Wirkungskreis bot, zeigte sich darin, dass ihm nur wenig Zeit blieb, um über sein Privatleben nachzudenken.
So müde und lustlos hatte er sich noch nie nach dem Ende eines Arbeitstages gefühlt. Die Angestellten und Arbeiter drängten eilig nach Dienstschluss zum Ausgang des Werkes und hasteten zu den Parkplätzen mit ihrem dort abgestellten Auto oder zu den Bussen.
Georg war einer der Letzten die am Pförtner vorbeigingen. Er hatte keine Eile. Er fuhr zu dem Supermarkt in dem er früher mit Paula oft eingekauft hatte und besorgte sich die nötigen Lebensmittel. Dabei sah er sie vor sich.
„Paula lässt sich gehen“, dachte er. „Sie benötigt Hilfe.
Die Luft fühlte sich noch am Abend trocken und heiß an und am Himmel zeigte sich kein Wölkchen. Georg fuhr auf das Dorf zu. „Das ist nun meine Heimat, nach der ich mich in Russland so sehr gesehnt habe“, dachte er bitter. Wie war es möglich, dass alles was ihm so bekannt und vertraut war, so fremd und abweisend werden konnte?
Immer wieder fragte er sich warum er nicht in Berlin, wo er studiert hatte, geblieben war. Damals, nach dem Tod seiner Eltern hätte er das Haus in dem er aufgewachsen war, verkaufen sollen. Die Dorfbewohner grüßten ihn zwar, aber die alte Herzlichkeit gab es nicht mehr. Er wusste dass hinter ihm getuschelt wurde. Dass die Leute ihn für die Schließung der Gärtnerei, in der so Mancher von ihnen gearbeitet hatte, verantwortlich machten.
Außerdem gaben sie ihm die Schuld am Tod seiner Eltern. Aber damals hatte Paula ihm Mut gemacht, die Stelle hier zu übernehmen. Mit ihr war das Leben wieder fröhlicher und unbeschwerter geworden. Und dann wurde Anne geboren!
Anne...Georgs Augen begannen zu tränen. Er versuchte das Bild des kranken Kindes zu verdrängen und das Bild des lachenden, lebhaften Kindes hervorzuholen. Warum war er, als das Unglück geschah, nicht ein paar Minuten eher nach Hause gekommen?
Er fuhr ins Dorf, hielt bei der Kirche an und ging in den Friedhof, der um sie herum angelegt war. Dann stand er ratlos am Grab seiner Eltern und hielt Zwiesprache mit ihnen.
„Grüß dich Georg!“
Erstaunt sah Georg zur Seite. Er hatte niemanden kommen hören.
Melanie war mit der Gießkanne neben ihn getreten. „Es ist so trocken heute“, sagte sie verlegen.
„Die Blumen brauchen Wasser.“ Sie zupfte ein paar vertrocknete Blüten ab und begann das Grab zu gießen.
„Grüß dich Melanie!“ sagte Georg. „Kommst du öfter hier her?“
„Ja, ich pflege das Grab deiner Eltern. Paula hat mich, als du nach Russland gegangen bist, darum gebeten.
Warst du schon am Grab von Anna?“
„Nein!“ entfuhr es Georg schroffer als gewollt. „Ich geh jetzt hin.“
Er wandte sich um und ging zur Reihe der Kindergräber.
Melanie wartete ab bis er wieder von Annes Grab wegging und den Ausgang des Friedhofes zustrebte. Dann lief sie hinter ihm her. „Gut, dass du wieder zuhause bist.
Ich habe mir schon Sorgen um Paula gemacht. Wer weiß was sie noch anstellt. So depressiv wie sie ist.“
Georg blieb stehen und sah Melanie fragend an: „Warst du in letzter Zeit bei ihr?“
„Ja“, erwiderte sie. „Ich habe sie zu mir eingeladen. Sie muss doch langsam wieder unter Menschen gehen. Aber bis jetzt hat sie mich noch nicht besucht. Ich glaube sie erträgt den Anblick meiner Kinder nicht.“
„Das mag wohl so sein“, nickte Georg nachdenklich. „Es wäre besser, wenn du dich mal alleine mit ihr triffst. Fahr doch mal mit ihr in die Stadt.“
Als Melanie zögerte, sah Georg sie forschend an:
„Entschuldige bitte. Ich nehme dich gleich in Beschlag.“
Melanie lächelte: „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich versteh doch, dass du dir Sorgen um Paula machst. Ich fürchte nur, dass sie nicht mit mir wegfährt, und wenn sie es tut, müsste sie ihren eigenen Wagen nehmen. Martin und ich haben uns ein kleines Haus gebaut das wir geradeso mal abzahlen können. Deswegen haben wir unser Auto verkauft. Ich könnte Paula bitten, mich in die Stadt zu fahren, weil ich etwas Dringendes erledigen muss. Diese Bitte wird sie mir nicht abschlagen.“
„Du redest immer noch soviel wie früher Melanie“, sagte Georg, „aber du bist großartig. Ich danke dir, dass du dich nicht von uns abgewendet hast.“
„Warum sollte ich? Ich war doch früher bei euch in der Gärtnerei wie zu Hause.“ dann druckste sie herum: „Siehs bitte nicht falsch, aber wenn ich mir in der Stadt nichts kaufe, bemerkt Paula, dass ich nur einen Vorwand gesucht habe mit ihr zusammen zu sein. Leider herrscht bei mir völlige Ebbe...“
„Ich verstehe“, sagte Georg etwas ironisch. „Aber daran soll’s nicht liegen.“ Er zog seine Geldbörse heraus und gab ihr fünfzig Euro.
Melanie nahm den Schein ohne Zögern. „Es ist zwar kein Vorwand, denn ich bin gerne mit Paula zusammen, aber mit ein paar Moneten in der Tasche macht so ein Stadtbummel gleich noch mehr Spaß. Danke Georg. Aber jetzt muss ich nach Hause.“
Georg musste lächeln. Das war eben Melanie. Sie hatte ihn schon als Kind um die Finger gewickelt. „Nichts zu danken!“ sagte er, „Und viele Grüsse an deine Familie.“
Georg sah Melanie nach wie sie aus dem Friedhof eilte.
In ihm stieg die Erinnerung an ihre gemeinsame Kindheit hoch. Damals war sie fast wie eine Schwester für ihn gewesen. Aber später, als sie sich zu einem jungen Mädchen entwickelte, war sie ihm oft lästig vorgekommen.
Zum Glück hatte er den Studienplatz in Berlin bekommen und somit hatte sich dieses Problem fast wie von selbst gelöst.
Langsam schritt er zum Auto und stieg ein. Eine Weile saß er da und sann über sich selbst nach. Er musste einsehen, dass er es sich immer zu leicht gemacht hatte.
Eine Zeitlang in der Versenkung verschwinden und dann...? Dieses Mal hatte ihn seine Flucht nichts genutzt.
Sie hatte seine Sorgen nur noch verstärkt.
Als Georg nach Hause kam, verstaute er die Lebensmittel die er eingekauft hatte in der Küche. Dann ging er ins Wohnzimmer.
Paula saß starr mit einem Brief in der Hand auf dem Sofa. Er sah ihr an, dass sie geweint hatte.
„Schlechte Nachrichten?“ fragte er besorgt.
„Nein!“ wehrte sie ab. Lynn kommt nächste Woche.“
„Lynn kommt dich besuchen? Und wo bleiben deine Eltern? Konnten sie zu Annes Beerdigung nicht kommen?“
„Australien ist ja der nächste Weg!“ sagte Paula hart und zynisch. Doch dann begann der Brief in ihrer Hand zu zittern. „Sie wissen nicht dass Anne tot ist. In den letzten Wochen vor und nach Annes Tod bin ich weder ans Telefon gegangen, noch habe ich irgendjemand geschrieben.
Ich werde Lynn absagen. Ich kann jetzt keinen Menschen um mich herum ertragen.“
„Aber Lynn ist doch deine Schwester. Ich kann mir vorstellen, dass sie und deine Eltern sich große Sorgen um dich machen.“
„Ja, ja, das tun sie bestimmt, aber...“ „Nichts aber, über Lynns Besuch solltest du dich freuen.
Übrigens – Ich werde oben in die Mansarde ziehen.“
Paula blieb still. Ihre Schultern sanken nach vorne.
Georg fühlte fast körperlich wie sie sich in ihr Schneckenhaus zurückzog. Seine Gesprächszeit war beendet.
Einen Moment war er versucht, zu ihr zu gehen, sie in seine Arme zu nehmen. Doch dann drehte er sich um und verliess wortlos das Wohnzimmer.
Paula erwachte vom Ton der Klingel an der Haustür. Sie lag auf dem Sofa im Wohnzimmer. Verwirrt richtete sie sich auf. Das Klingeln nahm kein Ende. Paula erhob sich mühsam und schlurfte zur Tür.
Melanie stand vor ihr und starrte sie entgeistert an. „Wie siehst du denn aus? Hast du etwa mit deinen Kleidern geschlafen?“
Peinlich berührt sah Paula an sich herab und stammelte:
„Ich glaub, ich hab zu viele Beruhigungspillen geschluckt. Wie viel Uhr ist es denn?“
„Zehn Uhr“, sagte Melanie. Sie drückte die Tür hinter sich zu und schob sich an Paula vorbei. „Ich darf doch reinkommen oder?“
„Ja, ja, natürlich. Zehn Uhr, sagst du? Dann habe ich ja sechzehn Stunden geschlafen.“
„Du lieber Himmel“ entsetzte sich Melanie. „Wo ist denn Georg? Hat er nicht gesehen in welcher Verfassung du bist?“
„Georg schläft vorübergehend in der Mansarde.“ sagte Paula verlegen.
„Ach so! sagte Melanie gedehnt. „Also, ich schlage dir vor, du gehst jetzt ins Bad und danach ziehst du ein paar schicke Klamotten an.“
„Schick? Für wen denn?
„Ich möchte dich bitten, mit mir nach Landshut zu fahren“, erklärte ihr Melanie. „Du weißt doch, dass ich zurzeit kein Auto besitze.“
„Dann fahr halt mit dem Bus.“
„Der fährt doch bloß am Morgen und am Abend in die Stadt. Aber ich muss dringend zur Apotheke“.
Sie ging an Paula vorbei in die Küche.
Paula trottete hinter Melanie her. „Ich weiß nicht ob ich heute überhaupt fahren kann“, sagte sie müde. „Alles an mir fühlt sich wie zerschlagen an, und konzentrieren kann ich mich auch nicht.“
„Ausreden gelten nicht. Stell dich unter die Dusche. Ich bring inzwischen die Kaffeemaschine in den Gang und richte dir ein Frühstück her.“
„Warum all die Mühe? Ich leih dir mein Auto...“
Melanie schüttelte den Kopf: „Ich leih mir nicht gerne fremde Autos aus.“
Paula zuckte stumm mit den Schultern und setzte sich auf einen Stuhl.
Melanie trat neben Paula und packte sie am Arm: „Gott, bist du störrisch! Soll ich dich zum Bad begleiten?“
„Nein!“ wehrte Paula mürrisch ab. „Ich geh schon.“
Eine Stunde später saß Paula verstimmt hinter dem Steuer ihres Wagens. Die Art und Weise wie Melanie sie in Beschlag nahm ärgerte sie. Aber noch mehr ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie nicht einmal die Kraft zu einem klaren Nein aufbrachte. Früher hätte sie sich nie so manipulieren lassen. „Was musst du denn so dringendes in der Stadt besorgen?“ fragte sie unwirsch.
Melanie drückte sich zufrieden in das bequeme Polster des Beifahrersitzes. „Ach du, ich hab mir eine ganze Litanei aufgeschrieben.“
Die Sonne stach heiß auf die Erde und ließ den Teer der Straße flimmern. Melanie begann zu schwärmen: „Die Klimaanlage in deinem Wagen funktioniert prima. Sie lässt die Hitze einfach draußen und die getönten Scheiben sind auch Klasse!“
Paula warf Melanie einen geringschätzigen Blick zu. „Du tust gerade so, als wärst du noch nie in einem Auto mit Klimaanlage gefahren.“
„Na und, ich werde mich doch noch über die Fahrt in deiner Luxuskarre freuen dürfen! Es kann doch nicht jeder ständig griesgrämig sein.“
Paula fauchte, „spar dir deine ironischen Bemerkungen.
Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren!“
„Ja, ja, ich weiß schon, du willst deine Ruhe haben. Du hast Angst, ich könnte dich von deinen schwermütigen Gedanken ablenken.“
Paula stöhnte: „Ist ja schon gut! Hauptsache du bist glücklich.“
„Glück? Was ist schon Glück?“ fragte Melanie. „Ich gebe mich halt mit meinem Leben zufrieden. Du hingegen vergräbst dich in deinen Schmerz, lässt keine Freude mehr zu. Aber glaube mir, du bist nicht die Einzige, die so viel Leid erfahren hat. Es geschehen noch viel schlimmere Dinge auf der Welt.“
„Schlimmere Dinge? Was gibt es schlimmeres für eine Mutter als ihr Kind zu verlieren?“
Paula krampfte ihre Finger ums Lenkrad.
Was fiel Melanie ein, so mit ihr zu sprechen. Ihre beiden Kinder waren gesund und munter. Am liebsten hätte sie ange-halten und Melanie aufgefordert auszusteigen. Aber sie fuhr verbittert weiter, dem Parkplatz in der Stadtmitte entgegen.
„Du hast Georg“, sagte Melanie. „Du bist gesund, kannst wieder ein Kind zur Welt bringen und hast keine finanziellen Sorgen.“
Paula schwieg verbissen. Sie versuchte ihre Erregung niederzukämpfen. In gewissem Sinn hatte Melanie ja Recht. Sie hatte noch nie im Leben Geldprobleme aber gesund? Was hieß das schon? Sie fühlte sich schlapp wie ein leerer Sack und funktionierte nur noch. Sie lenkte den Wagen verdrossen auf den Parkplatz und stellte die Parkuhr ein. Dann stiegen sie beide aus.
Melanie platzte fast vor Energie. „Ein Prachtwetter! Am liebsten würde ich mich jetzt an irgendeinem Strand fletzen und mich in der Sonne aalen. Aber was soll’s. Ein Stadtbummel ist auch nicht gerade verkehrt. Also, zuerst muss ich zur Apotheke.“
Paula hatte ihre Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Trotzdem fühlte sie sich unsicher. Sie fürchtete Bekannte zu treffen, die ihr unangehneme Fragen stellen könnten. Sie trabte steif neben Melanie her.
Als sie an der Apotheke angelangt waren, weigerte sich Paula mit hinein zu gehen. Sie blieb vor der Apotheke stehen bis Melanie wieder herauskam. Das Gleiche wiederholte sich auch noch bei zwei anderen Läden.
„So ein Mist“, klagte Melanie, als sie ihre Einkäufe beendet hatte.
„Mein ganzes Geld ist schon alle. Dabei hätte ich mir so gerne ein saftiges Mittagessen gegönnt; oder zumindest einen Eisbecher.“
Paulas Laune hatte sich etwas gebessert. „Gut, “sagte sie, „ich lade dich zum Essen ein. „Ich hab jetzt keine Lust nach Hause zu fahren und zu kochen.“
„Danke“, freute sich Melanie. „In der goldenen Traube kann man gut essen.“ Sie hakte sich bei Paula ein, dann steuerten sie auf das Lokal zu. Die Hauptmittagszeit war schon zu Ende. Paula war sichtlich erleichtert dass sich nur noch wenige Gäste im Lokal befanden. Sie suchten sich einen gemütlichen Fensterplatz aus und Melanie griff sofort zur Speisekarte. Sie genoss es, ihr Essen auswählen zu können, ohne erst lange nach den Preisen sehen zu müssen.
Nachdem die Kellnerin ihre Bestellung aufgenommen und die Getränke gebracht hatte, fragte Melanie Paula unvermittelt. „Warum tust du nichts gegen deine Depressionen?“
Paula zuckte wie ein ertapptes Kind zusammen. „Ich hab keine Depressionen!“ wehrte sie verstimmt ab.
„Das sehe ich anders. Schließlich kenne ich dich schon ein paar Jahre. Damals, als du zu uns ins Dorf gezogen bist, habe ich dich direkt ein wenig beneidet. Du warst fast immer gut gelaunt und so zielstrebig. Ich war der Meinung, dass dich nichts umhauen könnte.“
„Zu der Zeit sah ja auch noch alles ganz anders aus. “ erwiderte Paula nachdenklich. „Es ist schwer, wieder einen Sinn im Leben zu finden, aber als depressiv würde ich mich trotzdem nicht bezeichnen.“
„Wie geht Georg eigentlich mit der Situation um?“
Paula sah Melanie überrascht an; „Georg? Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Jeder von uns muss alleine mit dem Tod von Anne fertig werden. Du fragst oft nach Georg…“
Melanie überflog eine leichte Röte: „Georg ist fast wie ein Bruder für mich. Ich bin praktisch in der Gärtnerei seiner Eltern aufgewachsen. Du weisst doch, dass ich bei ihnen Floristin gelernt und dort gearbeitet habe bis der Betrieb geschlossen wurde.“
Paula sah nachdenklich an Melanie vorbei: „Ist schon gut…“
Melanie strich sich erhitzt eine Strähne ihres langen blonden Haares aus ihrer Stirn: „Nichts ist gut. Früher hättest du nie so komische Andeutungen gemacht und ich hätte mich auch nie so umständlich gerechtfertigt. Aber seit Annes Unfall können wir alle nicht mehr ehrlich miteinander sprechen und…“
„Bitte nicht, nicht jetzt!“ Paulas Rücken versteifte sich.
Ihre Adern klopften wild unter ihren Schläfen und ihre Hände zitterten als sie ihr Glas ergriff.
Melanie schwieg.
Endlich kam die Kellnerin heran und tischte das Essen auf. Melanie griff sofort nach dem Besteck. Dann sah sie Paula vorsichtig lächelnd an: „Ich wünsche dir einen guten Appetit.“
Paula murmelte etwas Ähnliches vor sich hin. Sie schluckte lustlos ein paar Bissen hinunter und schob bald ihren Teller zur Seite. Melanie lies sich davon nicht stören. Sie aß alles bis zum letzten Krümel auf. Als sie das Besteck und die Serviette zurücklegte, stöhnte sie wohlig gut gelaunt: „Pah, das hat gut geschmeckt. Am liebsten würde ich hier Wurzeln schlagen.“ Sie sah träge auf die Uhr. „Leider vergeht die Zeit in guten Momenten viel zu schnell. Wir müssen nach Hause fahren. Ich werde bestimmt schon erwartet.“
Paula nickte. Sie winkte die Kellnerin heran und bezahlte. Draussen, vor dem Lokal blieb Paula stehen. Die Sonne prallte noch genauso heiss wie zuvor auf die Dächer der Stadt, über die Menschen, bis hinunter auf das Pflaster der Strasse. Die Hitze breitete sich in ihren Schuhen aus und kroch rauf bis in ihre Kehle, die sich schon wieder so staubtrocken anfühlte, als befände sie sich in der Wüste. Sie versuchte tief einzuatmen. Aber das drehende Gefühl liess sich nicht vertreiben.
Melanie legte ihr die Hand auf die Schulter: „Willst du hier Wurzeln schlagen?“ Sie wartete Paulas Antwort erst gar nicht ab, sondern hakte sich bei ihr ein und zog sie mit sich. „Komm, gehen wir zum Auto.“
Ein paar Schritte liess sich Paula schlaff mitschleifen.
Doch dann wurde ihr Gang fester. Die trockene, heitere, aber doch unnachgiebige Art Melanies riss sie aus ihrer Lethargie. Sie gab ihr sogar ein wenig Kraft. Als sie in den Wagen stiegen sagte Paula: „Danke dass du mich aus meiner Höhle gelockt hast.“
„Das würde ich auch gerne mal wiederholen“, lachte Melanie.
Paula startete den Wagen. Aber als sie sich dem Dorf näherten befiehl sie wieder diese traurige Stimmung.
Melanie bemerkte ihren melancholischen Gesichtsausdruck.
„Nimms mir nicht übel Paula“, sagte sie, „aber ich denke mir, dass dir ein Ausflug mit mir gut tut, aber nicht genügt. Du solltest dich einer Psychologin anvertrauen. Sie kann dir sicher mehr helfen wie ich.“
Paula lehnte Melanies Rat schroff ab: „Ich schaffe es auch ohne Seelenklempner.“
Melanie glaubte nicht so recht daran: „Das ist ungeheuer schwer. Wenn ich mir vorstelle, wie du so untätig in dem großen Haus herumhängst, wird es mir ganz mulmig zu Mute. Du solltest wenigstens versuchen wieder zu arbeiten.“ Paula sagte müde: „Daran habe ich selbst schon gedacht, aber ich schaffe es nicht. Ich fühle mich schlapp und ausgelaugt.“
„Natürlich fühlst du dich jetzt noch so. Aber gehe doch mal in dein Büro, setze dich an deine Zeichentafel und wenn es nur ein paar Kritzer sind, die du zustande bringst, wirst du dennoch wieder einen Bezug zu deiner Arbeit finden.“
Langsam rollte Paula das Auto in die Einfahrt des Hauses. „Wahrscheinlich hast du recht“, sagte sie zu Melanie.
„Ich werde mal versuchen ein paar Striche zu Wege zu bringen. Danke Melanie, für deine ehrlichen Worte. Die vergangenen Stunden haben mir gut getan.“
„Schon in Ordnung!“ lachte Melanie. Danke fürs fahren.“
Melanies Fahrrad lehnte am Zaun. Sie verstaute ihre Päckchen in den Korb auf dem Rücksitz, schwang sich auf das Rad und fuhr los.
Paula sah Melanie eine Weile nach, dann schloss sie die Tür auf und ging ins Haus. In dieser Stille drang wieder das einsame, leere Gefühl in sie. Doch dann war es, als wäre Melanie noch bei Ihr.
„Geh in dein Büro“, hörte sie die junge Frau sagen. Warum nicht? Warum sollte sie nicht gleich mit der Eigentherapie beginnen? Sie ging auf die Bürotür zu und drückte sachte die Türklinke nieder. Einen Augenblick verweilte sie auf der Schwelle, sah sich im Raum um und erstarrte.
Mitten auf ihrem Schreibtisch prangte ein rundes buntes Etwas.
Annes Ball.
„Anne…!“ Ihr Schrei blieb ihr auf den Lippen hängen. Sie krallte sich wie hypntosiert am Türrahmen fest und starrte den Ball an. Ihr Blutdruck stieg hoch und ihr Herz begann zu rasen. Im nächsten Moment hörte sie wie eine Tür im Haus mit lautem Knall ins Schloß fiel. Entsetzt drehte sie sich um, hetzte den Flur entlang, konnte aber Niemand entdecken und rannte verzweifelt die Treppe hoch. Doch im oberen Stockwerk empfing sie nur eine unheimliche Stille. Wie eine Marionette ging sie in ihr Schlafzimmer, legte sich auf ihr Bett und weinte. Wer hatte ihr das angetan?
Ihr Kopf begann zu dröhnen und ihre Hände zitterten. Ihr Hausartzt hatte sie vor Angstattacken und falschen Vorstellungen die sie in ihrer Einsamkeit überfallen könnten, gewarnt. Doch der Ball auf ihrem Schreibtisch war keine Halluzination. Es gab ihn. Sollte sie ihm von diesem Erlebnis etwas erzählen? Nein! Aber sie musste unbedingt die Pille, die ihr der Arzt für solche Situationen verschrieben hatte einnehmen.
Die Pille ermüdete sie. Doch nach einer Stunde Schlaf fühlte sie sich wieder dazu fähig hinunter in das Wohnzimmer zu gehen. Dort entdeckte sie die offene Tür, die in den Wintergarten führte. Schließlich bemerkte sie, dass auch die Tür, die zur Terrasse führte, nicht verschlossen war.
„Vielleicht“, so dachte sie, „war Georg im Garten und hatte vergessen die Tür zu schließen? “
Eine Weile blieb sie ratlos stehen. Dann ging sie in die Küche um sich einen Kaffee zu kochen. Vielleicht half ihr das Getränk die Mattigkeit in ihrem Körper und ihrer Seele zu überwinden.
Als sie am Küchentisch saß und den ersten Schluck Kaffee trank, glaubte sie das Zuschlagen einer Tür zu hören. Sie stellte ihre Tasse ab und lief ins Wohnzimmer.
Die Tür zum Wintergarten war tatsächlich zu. Sie sah hinaus und bemerkte den aufkommenden Wind und die dunklen Wolken. Beruhigt ging sie in die Küche zurück.
Der Wind pfiff jetzt durch das gekippte Küchenfenster.
Paula klappte es zu. Die ersten Regentropfen landeten auf der Scheibe. Paula ging ins obere Stockwerk des Hauses um auch dort die Fenster zu schließen. Als sie in Annes Zimmer stand, erfasste sie wieder diese Wehmut.
Mit hängenden Schultern zog sie die Kinderzimmertür hinter sich zu und schritt die Treppe hinab.
Als Paula auf der untersten Stufe angekommen war, hörte sie, wie sich der Schlüssel im Schloss der Haustür drehte. Die Klinke wurde heruntergedrückt. Georg trat ein und schritt mit zwei Einkaufstüten beladen auf die Küche zu. Paula blieb einen Moment unschlüssig stehen. Doch dann ging sie ihm nach. Er stand inzwischen vor dem Kühlschrank räumte ein paar Lebensmittel ein.
Paula blieb an der Tür stehen. „Ich dachte, du wohnst jetzt oben?“ sagte sie so ruhig wie möglich.
Georg sah sie verlegen lächelnd an: „Ja, das stimmt schon. Ich habe zuviel für mich eingekauft. Jetzt gebe ich dir etwas davon ab.“
„Danke“, sagte Paula, „aber wegen mir brauchst du dir keine Mühe zu machen. Ich komm schon zurecht.“
Georg schloss den Kühlschrank und nahm den leeren Karton. „Na, dann gehe ich mal wieder nach oben.“
„Warst du heute morgen im Wohnzimmer?“ fragte Paula.
„Ich? Nein. Warum?“
Paula forschte in seinem Gesicht. „Die Türen zum Wintergarten und der Terrasse waren offen.“
Georg schüttelte den Kopf: „Vielleicht hast du sie selbst vergessen zu schließen.“
„Dann warst du also auch nicht in meinem Büro?“ fragte Paula zweifelnd.
„Nein!“ sagte Georg leicht verärgert. „Was sollte ich in deinem Büro tun?“
„Jemand hat einen Ball von Anne auf meinen Schreibtisch gelegt.“
„Das ist ja absurd!“
„Du glaubst mir nicht? Dann geh doch selbst ins Büro und überzeuge dich.“ Georg lief aus der Küche zum Büro und öffnete die Tür.
Paula folgte ihm.
„Ich sehe keinen Ball!“ sagte Georg verwundert.
Paula drängte sich an ihm vorbei, ging zum Schreibtisch und starrte ungläubig darauf. Der Ball war verschwunden.
„Der Ball lag hier, glaube mir bitte. Ich habe ihn wirklich hier liegen gesehen.“
Georg zog die Braue hoch: „Jetzt beruhige dich doch wieder. Vielleicht hast du das auch nur geträumt.“
„Nein, das habe ich nicht geträumt“, versuchte Paula Georg zu überzeugen. „Ich war mit Melanie in der Stadt.
Danach ging es mir besser und ich wollte Melanies Rat befolgen, wieder mit dem Zeichnen zu beginnen. Aber der Ball auf dem Schreibtisch…!“
Georg sah Paula ratlos an: „Hast du die Tür zum Garten offen gelassen bevor ihr weggefahren seid?“
„Das weiß ich eben nicht!“
„Du zitterst ja“, sagte Georg besorgt. „Soll ich Doktor Schreiber anrufen?“
Paula starrte Georg erregt an: „Nein! Lass mich in Ruhe!“ Sie konnte die Anwesenheit ihres Mannes nicht mehr ertragen.
Georg sah die Tränen in Paulas Augen. Doch er verließ steif, mit hängenden Schultern das Zimmer, und ging in den Garten.
Der Wind hatte die dunklen Wolken vertrieben. Jetzt strich er nur noch sachte durch die Bäume und Sträucher.
Georg blieb stehen, straffte die Schultern und versuchte sich selbst aufzuheitern. Idealer konnte das Wetter nicht sein um hier draußen arbeiten zu können. Er lief zum Schuppen um die nötigen Gartengeräte herauszuholen.
Kurz davor stoppte er. Die Schuppentür war nur angelehnt. Verwundert zog er sie auf und sah sich um. Aber es stand alles da wo es hin gehörte. Nur Annes Ball lag in der Ecke. Weit ab von ihrem anderen Gartenspielzeug.
Georg schüttelte unsicher den Kopf. Doch dann wandte er sich von dem Ball ab, nahm die Heckenschere und ging zu den dichten, hochgewachsenen Hecken, die es nötig hatten gestutzt und ausgeschnitten zu werden.
Das Arbeiten im Garten erforderte seine Kraft, und brachte ihn zum Schwitzen. Doch die schier unlöslichen Probleme, die ihm das Leben schwer machten, waren anderer Art. Sie belagerten seinen Geist und drückten auf seine Seele. Warum konnte er Paula nicht einfach in den Arm nehmen und sie trösten? Warum konnte er Ihr nicht sagen, wie sehr auch ihn der Tod von Anne schmerzte.
Wie sehr er das Kind vermisste. Würden sie beide jemals über den Verlust von Anne hinweg kommen? Paulas Augen sagten ihm immer wieder, dass sie ihn nicht verzeihen konnte. Er legte die Heckenschere zur Seite, und trug das Reisig auf einen Haufen zusammen.
Vom schmalen Weg her, der am Zaun des Gartens vorbei führte, hörte er Stimmen. Neugierig spähte er hinüber und entdeckte Melanie. Ihre kleine Tochter lief fröhlich plappernd neben dem Kinderwagen, den sie vor sich her schob. Ein feiner Stich bohrte sich in Georgs Herz. Anne!
Anne könnte jetzt ebenso wie Verena lustig hier herumtollen. Jetzt konnte er verstehen, warum Paula Melanie nicht besuchen wollte. Melanie kam näher, und winkte ihm zu. Georg näherte sich dem Zaun.
„Grüß dich Georg, rief ihm Melanie zu.
„Da hast du dir ja allerhand vorgenommen. Willst du den Garten ganz alleine wieder in Schuss bringen?“
Georg entspannte sich:
„Ja, warum nicht? Mir schreibt Keiner vor wie lange ich dazu brauchen darf.“
Melanie stellte den Kinderwagen neben dem Zaun und lächelte Georg an: „Ich würde dir gerne bei der Gartenarbeit helfen.“
„Das ist nicht nötig“, wehrte Georg schnell ab. „Du hast mit deinem Haushalt und den Kindern genug zu tun.“
„Ja schon“, sagte Melanie enttäuscht. „Aber ich möchte auch mal was anderes tun.“
„Dann kümmere dich weiter um Paula. Das wird ihr sicher helfen.“
Melanie sah Georg zweifelnd an: „Ich glaube nicht, dass ich Paula helfen kann. Eine Therapeutin wäre dazu wohl besser geeignet. Wie geht es ihr?“
„Nicht sehr gut!“ sagte Georg ratlos.
Melanie zog die Stirne kraus: „ Der Ausflug mit mir in die Stadt hat ihr auch nicht weiter geholfen.“
„So kann man das nicht sagen“, widersprach ihr Georg.
„Paula hat mir erzählt, dass sie sich besser gefühlt hat.
Sie war sogar entschlossen wieder mit dem Zeichnen zu beginnen. Aber der Ball auf ihrem Schreibtisch hat sie wieder aus der Fassung gebracht.“
„Welcher Ball?“
„Der Ball von Anne.“
Melanie starrte Georg ungläubig an: „Wie kam Annes Ball in Paulas Büro?“
„Das würde ich auch gerne wissen“, sinnierte Georg.
„Hast du den Ball auch gesehen?“
Georg schüttelte den Kopf:
„Nein, als Paula ihn mir zeigen wollte, war er nicht mehr da. Er liegt jetzt im Schuppen.“
Melanie wirkte bekümmert: „Vielleicht hat Paula sich nur eingebildet Annes Ball auf dem Schreibtisch zu sehen. Sie war am Morgen als ich mit ihr in die Stadt fahren wollte total neben der Rolle.“
Georg erschrak: „Wie meinst du das? Was war denn los?“
„Sie hatte Beruhigungspillen eingenommen und hat sechzehn Stunden geschlafen. Trotzdem bereitete es mir Mühe sie wach zu kriegen. Hast du denn gar nichts davon gemerkt?“
Georg wurde blass: „Nein, ich wohne jetzt oben.“
Melanie sah Georg nachdenklich an: „Die Situation ist für euch beide schwer. Ihr solltet eine Weile verreisen.“
„Ich bekomme jetzt keinen Urlaub“, wehrte Georg ab.“
Außerdem war ich lange genug von zu Hause weg. Zudem weiß ich nicht wie Paula auf so einem Vorschlag von mir reagieren würde. Ich möchte dich lieber darum bitten weiterhin mit Paula in die Stadt zu fahren. Das tut ihr gut.“
„Ja gut“, sagte Melanie zögernd. „Aber den Fünfziger hab ich schon ausgegeben.“
„Ich weiß ja wie knapp du bei Kasse bist. Ich mache dir einen Vorschlag. Du besuchst Paula so oft du kannst und einmal pro Woche fährst du mit ihr in die Stadt. Dafür bezahle ich dir vierhundert Euro im Monat. Einverstanden?“
„Das hört sich gut an“, lachte Melanie. „Das mache ich doch prompt. Kannst du mir das Geld immer bar geben?“
Georg nickte: „Meinetwegen.“ Er holte seinen Geldbeutel aus der Hosentasche und fischte einen Hunderter heraus.
„Das ist gleich für den Rest des Monats. Es sind ja nur noch ein paar Tage.“
Melanie schnappte sich den Schein und steckte ihn ein.
„Danke Georg“, sagte sie, „aber jetzt muss ich nach Hause. Servus!“
Georg blieb eine Weile am Zaun stehen und sah Melanie und ihren Kindern nach. Er stand mit beiden Füssen auf festem Boden, nahm die Geräusche der Natur wahr, fühlte die leichte Brise, atmete den Duft der Blumen ein. Trotzdem fühlte er sich wie in einer irrealen Welt. Er hatte gerade Melanies Freundschaft zu Paula mit Geld erkauft. Sein Magen begann zu rebellieren. Er löste sich vom Zaun und stampfte auf das Haus zu.
Paula saß im Wohnzimmer und trank Tee.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte Georg
Paula sah an ihm vorbei: „Ja, ich fühle mich nur müde.
Ich gehe heute früh zu Bett.“
„Na dann – gute Nacht.“
Aber es wurde keine gute Nacht für Paula. Ihr Körper war schon zu sehr an die Beruhigungsmittel gewöhnt. Die kleine Dosis, die sie noch hatte, reichte nur bis Mitternacht. Dann war sie hellwach. Sie holte sich ein Buch und begann zu lesen. Aber es lenkte sie nicht von ihrer Unruhe ab. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie stieg aus dem Bett, ging ins Bad und hoffte noch eine Pille zu finden. Doch im Medizinschrank lagen außer der üblichen Füllung nur ein paar Aspirintabletten. Sie schluckte zwei davon. Paulas Schläfen pochten. Sie fror, aber in ihren Händen sammelte sich der Schweiß. Erst in den frühen Morgenstunden versank sie in einem bleiernen Schlaf.
Als sie wieder erwachte, war es bereits Neun Uhr. Sie richtete sich langsam auf, und stieg benommen aus dem Bett. Irgendwann musste sie diese Müdigkeit doch loslassen. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und wankte ins Bad. Ihr war speiübel. Das Zittern erfasste jetzt ihren ganzen Körper. Mit der einen Hand hielt sie sich am