Gewaltprävention und Gewaltintervention in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung - Liane Grewers - E-Book

Gewaltprävention und Gewaltintervention in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung E-Book

Liane Grewers

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Beschreibung

In Deutschland sind Menschen mit Behinderungen nicht wirksam vor Gewalt geschützt. Um die Lücken im Gewaltschutz zu schließen, bietet das Buch einen Leitfaden für strukturelle, personelle und inhaltliche Maßnahmen im Bereich der Gewaltprävention. Dazu stellt es einen Katalog von Handlungsschritten bei Grenzüberschreitungen, Übergriffen bis hin zu strafrechtsrelevanter Gewalt zur Verfügung. Die enthaltenen Mustertexte können als Bausteine für einrichtungsbezogene Gewaltpräventions- und Gewaltinterventionskonzepte dienen - von der Sexualaufklärung, über ein Präventions- und Interventionskonzept bis hin zu einem Beschwerdemanagement. 10 exemplarische Fälle mit Lösungen veranschaulichen die Darstellung auf praxisnahe Weise.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Einleitung

1.1 Der besondere historische Hintergrund für die gegenwärtige Sichtweise

1.2 Gegenwärtige Wertschätzungs- und Gleichbehandlungsdefizite

1.3 Erhebungen sowie eigene Erfahrungen über tatsächliche Belastungen, Diskriminierungen und Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderung

2 Rechtsgrundlagen

2.1 Völkerrechtliche Regelungen

2.2 Regelungen im Grundgesetz

2.3 Regelungen in Bundesgesetzen

2.4 Regelungen in Landesgesetzen

2.5 Handlungsbedarf

3 Gewaltpräventions- und Gewaltinterventionskonzept

3.1 Konzept zum Umgang mit Sexualität und Behinderung – ein Leitfaden (in vereinfachter Sprache)

3.1.1 Information und Bildung

3.1.2 Aufklärung

3.1.3 Beratung

3.1.4 Weiterbildung

3.1.5 Elternarbeit

3.1.6 Intimsphäre und Grenzen

3.1.7 Grenzüberschreitungen und Gewalt

3.1.8 Konsequenzen

3.1.9 Prävention gegen sexuelle Übergriffe

3.1.10 Vorgehen bei Gewalt und in Verdachtsfällen

3.2 Beschwerderat – externe Beschwerdestelle (in vereinfachter Sprache)

Externe Beschwerdestelle

3.3 Geschäftsordnung für den Beschwerderat

3.4 Einrichtungsvereinbarung – zur Verhinderung von Übergriffen und (sexualisierter) Gewalt sowie zur Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen gegen Menschen mit Behinderungen (in vereinfachter Sprache)

3.4.1 Vorwort

3.4.2 Allgemeines

3.4.3 Umgang mit Verstößen

3.4.4 Rechte der Betroffenen

3.4.5 Prävention

3.5 Selbstverpflichtungserklärung – (aller Mitarbeiter/innen der Einrichtung) zur Gewaltprävention

3.6 Verhaltensregeln – für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Bewohnerinnen/Bewohner und Beschäftigten zur Verhinderung von Gewalt (in vereinfachter Sprache)

4 Exemplarische Einzelfälle mit Lösungsansätzen

4.1 Fall 1: Eintreten in Bewohnerzimmer, ohne anzuklopfen

4.2 Fall 2: Einschränkungen bei der Nahrungsaufnahme (Adipositas)

4.3 Fall 3: Keine Erlaubnis für Bewohnerin, ihren Freund abends zu besuchen

4.4 Fall 4: Pflege im 2-Bett-Zimmer ohne Sichtschutzvorkehrungen

4.5 Fall 5: Gabe von starken Beruhigungsmitteln

4.6 Fall 6: Anbringen eines Sperrgitters vor Bewohnerzimmer

4.7 Fall 7: Vermuteter sexueller Missbrauch einer Mitbewohnerin in Behindertentoilette durch einen Mitbewohner

4.8 Fall 8: Vermuteter sexueller Missbrauch einer Bewohnerin durch »Freund« der Wohngruppe während Bettruhezeit

4.9 Fall 9: Vermeintliche Sexualassistenz

4.10 Fall 10: Vermuteter sexueller Missbrauch durch Busfahrer

5 Schlussbemerkungen

Literatur-/Quellenverzeichnis

Die Autorin

Liane Grewers ist Juristin und war Referatsleiterin im Hessischen Sozialministerium.

Liane Grewers

Gewaltprävention und Gewaltintervention in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung

Schutzkonzepte – Mustertexte – Fallbeispiele

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-044303-7

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-044304-4epub:ISBN 978-3-17-044305-1

Vorwort

Schon seit meinem ersten Praktikum in einem Kinderheim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche im frühen Erwachsenenalter beschäftigen mich die Rahmenbedingungen für ein menschenwürdiges Leben von beeinträchtigten bzw. sozial benachteiligten Menschen. Im Rahmen meiner langjährigen Tätigkeit als Referatsleiterin und Juristin im Hessischen Sozialministerium in unterschiedlichen Abteilungen und Referaten habe ich mich 14 Jahre mit Behindertenpolitik im Bereich der investiven Förderung von Behinderteneinrichtungen und Behindertenverbänden, der Politik zugunsten von Frauen mit Behinderung, der Heimaufsicht und der Teilhalbepolitik im Bereich des Arbeitsmarktes und des sozialen Lebens befasst.

Emotional sehr bewegend und nachhaltig waren für mich die intensiven Einblicke, die ich im Rahmen meiner Heimaufsichtstätigkeit im Bereich von Behinderteneinrichtungen durch Begehungen und Berichte gewonnen habe. Nach meiner Pensionierung habe ich ein Jahr lang bei einem großen Einrichtungsträger als Auftragsarbeit ein Gewaltpräventionskonzept für Menschen mit Behinderung entwickelt.

Mit dem vorliegenden Buch möchte ich den Versuch unternehmen, Einrichtungen der Behindertenhilfe anzuregen, sich dem wichtigen Thema zu widmen, sich transparent damit auseinanderzusetzen, um die Rahmenbedingungen für ein teilhabegerechtes und menschenwürdiges Leben von Menschen mit Behinderung zu verbessern.

Damit die Mustertexte leichter direkt Verwendung finden können, habe ich weitgehend die vereinfachte Sprache verwendet. Nicht zuletzt können so auch von Anfang an Menschen mit Behinderung besser eingebunden werden.

Die vorgelegten Mustertexte helfen dabei, der gesetzlichen Verpflichtung zur Erstellung eines Gewaltpräventionskonzeptes nachzukommen. Der Umfang der inhaltlichen Regelungen sollte sich nach der Größe und dem Charakter der jeweiligen Einrichtung richten sowie danach, wieviel Personen konkret betreut werden und welchen Pflege- und Unterstützungsbedarf die zu betreuenden und zu pflegenden Personen haben.

Schwerpunkt der vorgeschlagenen Regelungen sind Maßnahmen im Bereich des Gewaltschutzes, da hier die einschneidendsten Menschenrechtsverletzungen stattfinden, die die Würde und die Achtung der Persönlichkeit betreffen. Darüber hinaus werden Regelungen empfohlen, die generell Grundlagen für ein menschenwürdiges Leben für Menschen mit Behinderung darstellen und vorhandene Defizite in der gegenwärtigen Behindertenhilfe zu beseitigen helfen.

1 Einleitung

1.1 Der besondere historische Hintergrund für die gegenwärtige Sichtweise

»Doch man sieht nur die im Lichte – Die im Dunklen sieht man nicht.«Bertolt Brecht: Dreigroschenoper – Mackie Messer

Menschen mit Behinderung sieht man zwar immer mehr auch im Licht: in der Öffentlichkeit, in allgemeinen Kinderbetreuungseinrichtungen, in den allgemeinen Schulen, in der allgemeinen Arbeitswelt oder in normalen Wohnverhältnissen, aber viele sind leider immer noch auf »Sonder«-Einrichtungen wie Förderschulen, Werkstätten oder Tagesförderstätten für behinderte Menschen sowie Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung oder sogar auf allgemeine Pflegeheime angewiesen. Sie stehen damit tatsächlich häufiger noch im Dunklen, abseits vom gewöhnlichen und für alle zugänglichen Bereich.

Umso mehr die Lebens- und Wohnwelten abgeschirmt und an besonderen Orten platziert sind, umso weniger findet eine soziale Kontrolle statt, umso mehr können sich Strukturen entwickeln, in denen Übergriffe und Machtmissbrauch nicht so leicht für außenstehende Dritte erkennbar sind.

In Deutschland hat die vorhandene Stellung der Menschen mit Behinderung einen besonderen geschichtlichen Hintergrund, der durch die nationalsozialistischen Verbrechen einen Höhepunkt gefunden hat.

Nach bisherigen Untersuchungen geht man davon aus, dass bis zu 250.000 Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen untergebracht waren, in der NS-Zeit getötet wurden (United States Holocaust Memorial Museum, 2019).

Die Tötungsaktionen können in vier Phasen eingeteilt werden:

Tötung geistig oder körperlich behinderter Kinder; 1939 begonnen und bis Kriegsende fortgesetzt, sogenannte »Kindereuthanasie«;

Tötung von Patienten der Heil- und Pflegeanstalten, 1939 bis 1944, im engeren Sinne als »Aktion T4« bekannt;

»Wilde Euthanasie«, nachdem die »Aktion T4« eingestellt war; 1941 bis Kriegsende;

Tötung der psychisch kranken und arbeitsunfähigen Häftlinge der KZs; Frühjahr 1941 – 1944/45; sog. »Aktion 14f3« (planet schule, 2023).

Neben der gezielten Tötung von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen gab es auch im Gesundheitsbereich gravierende menschenrechtsverletzende Eingriffe.

Bereits im Juli 1933, kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, erließ die Regierung das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Es trat am 01. 01. 1934 in Kraft und erlaubte in Deutschland die Zwangssterilisation von Menschen, die nicht den nationalsozialistischen Rasseidealen entsprachen. Diese Menschen sollten keine Möglichkeit haben, Kinder zu zeugen (Wildt, M., 2012).

Dazu zählten »angeborener Schwachsinn«, »Schizophrenie«, »Zirkuläres Irresein« (manisch-depressive Erkrankung), »Erbliche Fallsucht« (Epilepsie), »Erblicher Veitstanz« (Chorea Huntington), »Blindheit«, »Taubheit« und auch »Alkoholismus«. Diese Klassifizierungen wurden ab Jahresende 1933/34 in allen Gesundheitsämtern in speziellen Abteilungen zur »Erb- und Rassenpflege« verwendet (Eichhorn, L., 2014).

Es wird davon ausgegangen, dass von 1934 bis Kriegsende ca. 350.000 bis 400.000 Menschen zwangssterilisiert wurden. Eine genaue Zahl der Sterilisierungen lässt sich nicht angeben, da die Veröffentlichung von statistischen Erhebungen zum Sterilisierungsgesetz ab 1936 vom Reichspropagandaministerium untersagt wurde. In der Bevölkerung wurde eine Beunruhigung befürchtet. Die sterilisierten Menschen waren zwischen 18 und 40 Jahren (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie).

An den dargestellten grausamen menschenverachtenden Praktiken der NS-Zeit wird deutlich, dass es in der deutschen Geschichte gravierende Gewalttaten gegen Menschen mit Behinderung gab, angefangen von systematischen Diskriminierungen und Ausgrenzungen über drastische Maßnahmen gegen die sexuelle Selbstbestimmung bis hin zur gänzlichen Aberkennung des Rechts auf Leben.

Bis heute gibt es nur wenige Ansätze für eine grundlegende Aufarbeitung dieser Verbrechen.

Verstärkend kommt hinzu, dass es auch gegenwärtig noch nicht zu rechtfertigende Rechtsverletzungen hinsichtlich des Rechts auf (sexuelle) Selbstbestimmung gibt. Diese können durch Unterlassen notwendiger Informationen und Aufklärung über bestehende Rechte eintreten. Sie treten aber auch dann ein, wenn keine adäquaten Unterstützungsmaßnahmen eingerichtet oder angeboten werden sowie keine entsprechenden notwendigen Vorkehrungen personeller oder sächlicher Art getroffen werden.

1.2 Gegenwärtige Wertschätzungs- und Gleichbehandlungsdefizite

Dennoch kann in den letzten drei Jahrzehnten von großen gesellschaftspolitischen Veränderungen zugunsten von Menschen mit Behinderung in Richtung Normalität, Integration bis hin zu Inklusion durch eine Öffnung der Kinderbetreuungseinrichtungen, der Schulen, der Wohn- und Arbeitsverhältnisse auch für Menschen mit Behinderung gesprochen werden.

Aber immer noch tun sich auch heute in Deutschland nicht wenige Menschen schwer damit, Menschen mit Behinderung als lebens- und achtenswert, als gleichrangig mit Menschen ohne Behinderung zu betrachten.

Nach einem Bericht des deutschen Bundestages vom 04. 04. 2019 (DrS 19/9059, S. 49) werden nach einer pränatalen Diagnose bei durchschnittlich 92 % aller Schwangerschaften mit der Diagnose Trisomie 21, bei 77 % mit der Diagnose Anencephalie, bei 74 % mit der Diagnose Spina bifida, bei 55 % mit der Diagnose Lippe-Kiefer-Gaumen-Spalte und bei 46 % mit der Diagnose Fehlverteilung der Geschlechtschromosomen Schwangerschaften abgebrochen. Weiterhin ist eine Zunahme der Schwangerschaftsabbrüche bei einem Herzfehler festzustellen.

Am 19. 08. 2021 beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte, Kliniken und Krankenkassen eine Patienteninformation zu einem ab 2022 kostenlosen Bluttest für Schwangere auf Trisomien. Die bekannteste Trisomie ist die des Down-Syndroms, Nr. 21. Mit dem Bluttest können aber auch weitere Trisomien wie die auf dem Gen Nr. 13 oder 18 bestimmt werden (Kassenärztliche Bundesvereinigung, 2022). Bislang musste der Bluttest privat gezahlt werden. Ab 2022 wurde er Kassenleistung. Die schärfste Kritik an dieser Form der Selektionsmöglichkeit kommt von der Bundesvereinigung der Lebenshilfe und der katholischen Kirche.

Was sagt diese Entwicklung für unser Menschenbild aus?

Ist für viele, auch einflussreiche Politiker, die entsprechende Entscheidungen als Volksvertreter mitgetroffen haben, das Leben für einen Menschen mit einer Trisomie/mit einer Behinderung nicht lebenswert? Werden Menschen mit einer Trisomie/mit einer Behinderung nicht als willkommenes Mitglied unserer Gesellschaft betrachtet?

Wie die zentralen Medien und damit eventuell auch die Mehrheitsmeinung gegenwärtig mit den Lebensumständen von Menschen mit Behinderung umgehen, lässt sich beispielhaft an der Reaktion auf eine Gewalttat in Brandenburg an vier Heimbewohnern mit Behinderung 2021 in Potsdam festmachen.

Am 29. 4. 2021 wurden vier Menschen mit Behinderung von einer langjährigen Bediensteten durch schwere Schnittverletzungen an der Kehle ermordet, bei drei Menschen mit Behinderung führten die Angriffe nicht zum Tode, sondern zu einer gefährlichen Körperverletzung. Es handelte sich um Frauen und Männer im Alter von 31 – 56 Jahren, die im diakonischen Wohnheim für Körper- und Mehrfachbehinderungen lebten.

Die Tatverdächtige kam sehr schnell in die Psychiatrie, die zuständige Richterin vermutete alsbald das Vorliegen eingeschränkter oder vollständiger Schuldunfähigkeit. Das Geschehen hatte eine ortsbezogene starke Anteilnahme durch Angehörige, Nachbarn, Behörden und sonstige Dritte zur Folge.

Die am 01. 05. 2021 stattfindende Gedenkandacht fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Medienvertreter statt. Am 07. 09. 2021 wurde Anklage erhoben und am 22. 12. 2021 verurteilte das LG Potsdam die Täterin zu 15 Jahren Haft und zur Unterbringung in der Psychiatrie.

Es gab nur ganz spärliche Meldungen in den Medien zu dieser schrecklichen Tat: zum Beispiel eine offizielle Meldung in der Tagesschau, in der Zeit online vom 29. 04. 2021 (Zeit online, dpa, 2021), in rbb24.de und in Spiegel online vom 07. 9. 2021. Es erfolgte keine breit angelegte gesellschaftspolitische Aufarbeitung und Debatte. Die Tat gerät in das Vergessen.

Liegt das nicht im allgemeinen politischen Interesse? Wie ist diese Ungleichbehandlung in den Medien im Vergleich mit sonstigen »Mehrfachtötungen« zu erklären? Wo bleiben die Anteilnahme und Solidarität?

Auch wenn die Lebensumstände von Menschen mit Behinderung nicht im Interesse des allgemeinen Mainstreams liegen, ist es besonders wichtig, dass die Menschen, die Mitverantwortung und Mitgefühl für alle Menschen dieser Gesellschaft haben und die die Gleichbehandlung aller Menschen in unserer Gesellschaft ernst nehmen, genauer hinschauen und öffentliche Missstände und Unzulänglichkeiten offenlegen und für Abhilfe eintreten. Rechtlich ist dies ohnehin für die staatlichen Organe und die Akteure in der Behindertenarbeit und Behindertenpolitik verpflichtend.

1.3 Erhebungen sowie eigene Erfahrungen über tatsächliche Belastungen, Diskriminierungen und Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderung

2011 hat die Universität Bielefeld im Auftrag des Bundesfamilienministeriums erstmals repräsentative Daten zur Lebenssituation, zu Belastungen und Diskriminierungen sowie Gewalterfahrungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland erhoben. Der vollständige Endbericht liegt seit 06/2013 vor (Schröttle u. a., 2013).

Die Studie basiert auf einer Befragung von insgesamt 1.561 Frauen im Alter von 16 bis 65 Jahren, die in Haushalten und in Einrichtungen leben und starke, dauerhafte Beeinträchtigungen und Behinderungen haben.

Die wesentlichen Ergebnisse:

Frauen mit Behinderungen haben ein stark erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden: Mit 58 bis 75 Prozent haben fast doppelt so viele Frauen im Erwachsenenalter körperliche Gewalt erlebt als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (mit 35 Prozent).

Von sexueller Gewalt im Erwachsenenleben waren die Frauen der Befragung etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt (21 bis 44 Prozent versus 13 Prozent).

Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend tragen maßgeblich zu späteren gesundheitlichen und psychischen Belastungen im Lebensverlauf bei. Sexuelle Übergriffe in Kindheit und Jugend durch Erwachsene gaben 20 bis 34 Prozent der befragten Frauen an. Sie waren damit etwa zwei- bis dreimal häufiger davon betroffen als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (zehn Prozent).

Psychische Gewalt und psychisch verletzende Handlungen in Kindheit und Jugend durch Eltern haben etwa 50 bis 60 Prozent der befragten Frauen erlebt (im Vergleich zu 36 Prozent der Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt).

Die Studie zeigt auch, dass Gewalt überall vorkommt, wo Menschen auf Fürsorge vertrauen.

Strukturen, bei denen die Institution über den Interessen der behinderten Menschen stehen, sind sozusagen ein Nährboden für Gewalt gegen behinderte Menschen und insbesondere Frauen.