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In 66 kunstvoll komponierten kleinen Glossen spießt Wolf Schneider auf, was er im öffentlichen Sprachgebrauch von Werbetextern, Journalisten oder Politikern an Marotten, Wortverdrehungen und sinnlosen Anglizismen fand – und an Gemeinheiten gegen die Grammatik. Amüsante kleine Deutschstunden für alle, die nach dem Bestseller «Speak German!» Lust auf noch mehr liebevolle Verteidigung der deutschen Sprache haben. «Deutschlands bester Deutschlehrer.» Welt am Sonntag
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Seitenzahl: 264
Wolf Schneider
Gewönne doch der Konjunktiv!
Sprachwitz in 66 Lektionen
Warum ausgerechnet «Konjunktiv»?
1 Gewönne er doch!
2 Auch Eisberge kochen nur mit Wasser
3 «Kyrill» heißt mein Wirbelsturm
4 Akademische Oberschwanzdeckfedern
5 Der weit überschätzte Nebensatz
6 Warum man zu wenig schreiben sollte
7 Ein Kaubeu am Rein
8 Das erzählte Mittagessen
9 Vom Christinnen- und Christentum
10 Lob der Festrede
11 Von Zwecken und Dampfhühnern
12 Wie man einen Text mit Punkten tötet
13 Heimweh nach der Zensur
14 Qualität kommt von Qual
15 «Bedenke wohl die erste Zeile!»
16 Sie, sie liegt mir am Herzen
17 Die Teufelskralle der Abstraktion
18 Was möchten viele Schweizer?
19 Nachruf auf den Elchtest
20 Wie man Innovationen implementiert
21 «Frühling» – welche Albernheit!
22 Widrige Witterungsbedingungen
23 Pflicht – oder Schuldigkeit?
24 Singe, wem Ressourcen gegeben!
25 Wer erschafft ein neues Wort?
26 Text vorhanden – Titel gesucht
27 Nachruf aufs Esperanto
28 Der vierstöckige Hausbesitzer
29 Musik – tonlos und flächendeckend
30 Nur wer stolpert, schläft nicht ein
31 Gott in zwei Buchstaben
32 Das Moshimoshi-Problem
33 Wie man sich nach oben liest
34 Abkürzungen? KAKFIF!
35 Weil, Deutsch taugt nichts mehr
36 Die Super-Mega-Katastrophe
37 Wer schenkt schon Gehör?
38 Lob der Tiefstapelei
39 Sohn Josef auf Pferd Otto
40 Mit Senf gegen schöne Wörter
41 Satzbau im Sekundentakt
42 Unruhe in der Untiefe
43 Preisbereinigung auf der Verbraucherstufe
44 Die Tücken des Lesens
45 Gedichte, die keine sind
46 Visite am Ballhausplatz
47 Geisterfahrer im Internet
48 Jetzt, demnächst oder nie
49 Viel Gegacker, wenig Eier
50 Schön wie ausgekämmte Haare
51 Wie man Talente wässert
52 Vom Eindampfen und Überfließen
53 Drei Wüte über zahllose Aktivitäten
54 Vorsicht mit Horaz
55 Fiel Spaß im Kaos
56 Gerechtigkeit für die Lüge!
57 Stress im Chaos der Begriffe
58 Verwirrung und Verhöhnung
59 Feuer frei für Friedrich Schiller!
60 Die Sprachpolizei geht um
61 Weltschmerz und Leberwurst
62 Die Wahrheit über die iv-Sprache
63 Wer schaut wem aufs Maul?
64 Wie Schreiber Leser prügeln können
65 Kunstwerke zum Mitnehmen
66 Listige Worte in der Neujahrsnacht
Register
Bücher von Wolf Schneider
Weil er so schön und zugleich so schwierig ist. Vor allem aber, weil die Sprache einst mit ihm ihren ersten Höhenflug angetreten hat: Die Wörter sind für uns nicht nur dazu da, zu beschreiben, was ist – wir träumen auch mit ihnen, wir schwingen uns ins Unmögliche empor: «Ach, hätte ich doch…!»
Wie viel Farbe, wie viel Leben steckt schon im korrekten Deutsch, wenn wir Feinheiten nutzen wie diese! Und natürlich sind wir eingeladen, weit mehr als das nur Richtige zu tun: geschmeidig mit der Sprache umzugehen, sie mit Saft zu füllen, sie aufzuladen mit Witz und Hintersinn.
Bedroht ist sie gerade genug: durch Alltagsgeschwätz und elektronisches Gelaber, durch Fernsehroutine und akademische Protzerei; durch den Imponierjargon von Managern und Anlageberatern; durch die Verknöcherungen und Versteinerungen, die aus den Türen der Behörden poltern.
Dies alles anzuleuchten mit Ärger, Spott und Liebe und ein paar Empfehlungen zu geben, wie man schönes, kerniges Deutsch produziert – das habe ich versucht; durchaus mit Luther und Goethe im Bunde, denn so griffig wie eine durchschnittliche deutsche Tageszeitung haben sie allemal geschrieben.
Wer noch ein Herz für die Sprache – wer vielleicht sogar etwas zu sagen hat und es unverschnörkelt und sympathisch sagen möchte: Der möge sich hier erfrischt und hoffentlich ein bisschen bereichert fühlen.
Wolf Schneider
1
«Was wäre, wenn…?» Irgendwann muss diese Frage zum ersten Mal erklungen sein, und mit ihr hatte die Sprache einen Durchbruch von unerhörter Kühnheit vollzogen: Wer so fragte, der wollte nicht mehr beschreiben, was ist, sondern dreist darüber spekulieren, was sein könnte oder sollte. Die Welt wollte er in Frage stellen, die Utopie gegen sie ausspielen, sie mit Zweifeln zersetzen oder mit Forderungen überziehen. Eine verwegenere Tat haben wir mit sprachlichen Mitteln nie vollbracht.
Umso bedauerlicher, dass der Konjunktiv es im deutschen Sprachraum so schwer hat: Seine beiden Formen auseinanderzuhalten und jede korrekt zu verwenden war heimisch immer nur in einer sprachbewussten Minderheit und hat in den letzten Jahrzehnten weiter an Geltung verloren.
Ja, auch jüngere Leute können Sätze wie diesen noch verstehen: «Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?». (Matthäus 16, 26) Aber sie mögen es nicht mehr, und wenn ein lebender Mensch mit «hülfe» und «gewönne» vor sie hinträte, würden sie ihn auslachen. Schriftsteller und Journalisten, Pfarrer und Werbetexter – wer immer sein Publikum gewinnen will, muss wohl in Rechnung stellen, dass die schönen alten Formen (oh, glömme doch ein Feuer!) auf die meisten Adressaten archaisch wirken, wenn nicht manieriert.
Lebendig ist dieser Konjunktiv der Unwirklichkeit, der Irrealis, nur noch bei den Hilfszeitwörtern (er hätte, ich wäre) und in einigen wenigen anderen populären Formen: Ich möchte, das ginge schon, ich bräuchte dringend Geld. Doch mit dem bräuchte sind wir schon bei einer neuen Not.
Grammatisch wird ja der Irrealis im Regelfall von den Formen der einfachen Vergangenheit abgeleitet: Ich sprach – ich spräche; er trug – er trüge. Das funktioniert indessen nur bei den starken Verben. Die schwachen lassen keine eigenständige Form des Irrealis zu: «Sagtest du mir nur einmal ein freundliches Wort!» ist den Umständen nach ein Konjunktiv, der sich in der Form jedoch nicht von der einfachen Vergangenheit unterscheidet.
Daraus ist offenbar der Drang entstanden, bei den letzten geläufigen Formen des Irrealis eine Unterscheidung in die Welt zu setzen, welche die Grammatik nicht hergibt: statt «Ich brauchte einen Schraubenzieher» lieber «Ich bräuchte ihn». Das mag man begrüßen als Signal dafür, dass wir auf den Konjunktiv eben doch nicht verzichten können; nur ist damit eine Form erfunden, die uns in Teufels Küche brächte, wollten wir sie konsequent verwenden: Täuchte der Taucher, wenn er seinen Schnorchel – schmäuchte der Raucher, wenn er seinen Tabak fände?
Viel schmerzlicher aber wird die Grammatik aufs Rad geflochten, wenn es um die allgegenwärtige Aufgabe geht, den Konjunktiv der Unwirklichkeit (Er käme ja gern, wenn nicht leider…) abzugrenzen gegen den Konjunktiv der indirekten Rede (Er komme gern, sagte er). Und ebendieser, eine noble Besonderheit der deutschen Sprache, ist mehr als ein intelligenter Modus der Mitteilung – er ist eine politische Notwendigkeit.
Wo angelsächsische Zeitungen in jedem Satz einer zitierten Rede ein «he said» einstreuen müssen, um das Bewusstsein wachzuhalten, dass sie nicht etwa für den Inhalt haften – da steht den Journalisten deutscher Sprache das ungleich elegantere Mittel zur Verfügung, jeden Irrtum auszuschließen durch ein konsequentes «Er sagte, er habe, er sei, er wolle, er werde». Wenn ein Chemie-Unternehmen nach einer Gasexplosion mitteilt: «Für die Anwohner besteht keinerlei Gefahr», so wäre es grotesk, das Wort «besteht» in die Radionachrichten zu übernehmen; vielmehr teilt dort das Unternehmen mit, es bestehe keine Gefahr – und dieses eine e anstelle des t macht jedem klar: Na ja, das sagen die halt.
Wie politisch der Konjunktiv der indirekten Rede ist, wird besonders augenfällig an dem grotesken Umgang mit ihm, den die untergegangene DDR ihren Journalisten anbefahl: «Honecker sagte, die DDR sei…» war unzulässig, denn wenn Honecker es so sagte, dann war es auch so; also: «Honecker sagte, die DDR ist…» Zwingend aber war der Konjunktiv in Sätzen wie: «Kohl sagte, die BRD sei…» Denn wenn Kohl es sagt, ist sie es natürlich nicht.
Wie schön, dass diesem Unfug ein jäher Tod beschieden war. Stürben doch die anderen Missbräuche ebenso gründlich! Der häufigste ist, dass die Formen des Konjunktivs der indirekten Rede, das wolle und das habe, den wenigsten geläufig sind, sodass sie sich arglos der Formen des anderen Konjunktivs bedienen: Er sagte, er hätte – obwohl sie er habe meinen und den Unterschied kennen sollten. Er sagte, er habe Geld, heißt ja: Er hat welches; «er hätte Geld» aber wäre nur korrekt, wenn es weiterginge: «…wenn es ihm nicht gestohlen worden wäre»; er hat also keins.
In geschriebenen Texten bewältigen kaum zwei oder drei Prozent der Deutschsprachigen diesen Unterschied, in mündlicher Rede gar nur noch ein Tausendstel davon; und von denen lebt merkwürdigerweise die Mehrzahl in der Schweiz. Hier kann man alte Bergbauern sagen hören: «Er sagte mir, er habe…» In bundesdeutschen Ohren klingt das ganz unglaublich intellektuell. Dabei ist es einfach herrlich direkt aus dem Brunnen der Sprache geschöpft, dort, wo er am tiefsten ist.
2
Wenn sich Vögel mausern, so stoßen sie die alten Federn ab und bekommen ein frisches Kleid. Dass sie dabei Vögel bleiben, sollte festgehalten werden – wenn wir nämlich eines der beliebtesten Beispiele für Bildersprache anleuchten: dass dieser oder jenes sich gemausert habe zu … Etwa ein Bahnhof zum Museum oder ein Feind zum Freund oder «die Seifenoper zum Einschaltquotenrenner». All das kann man in der Zeitung lesen. Was geht hier im Kopf des Schreibers vor?
Erstens, er wünscht seine Sprache mit einem Bild zu schmücken. Zweitens, er bedient sich – das spart Zeit und Geisteskraft – eines Bildes, an dem schon tausend Schreiber vor ihm herumgefummelt haben; viel Schmuck für die eigene Sprache fällt da nicht mehr ab. Drittens, er glaubt entweder, dass Feinde, Opern, Bahnhöfe ein Federkleid besäßen – oder dass es zumindest naheliegend wäre, sie mit gefiederten Flugobjekten zu vergleichen. Viertens schließlich unterstellt der Schreiber, dass am Ende der Mauser ein gänzlich anderes Wesen stehen, aus dem Vogel also etwa ein Zitronenfalter geworden sein könnte.
Wer so viele Torheiten mit nur zwei Silben zu begehen weiß, der lässt die Spitze eines Eisbergs aufblitzen, den wir nicht unter den Teppich kehren sollten: Er verwendet Bilder, aber er betrachtet sie nicht, oder anders ausgedrückt: Zwar soll ein Publikum ihm lauschen, aber sich selber hört er nicht zu. Er sollte wissen und beherzigen, dass Stauseen nicht brechen und Dämme nicht überlaufen, sondern umgekehrt; dass man sich auf Quellen nicht stützt, sondern aus ihnen trinkt oder schöpft – das sind klare Bilder, die die Sprache frisch halten und dem Schreiber Blamagen ersparen.
Dabei ist einzuräumen: Eine stimmige Bildersprache hat es nicht leicht, sich gegen schlechte Gewohnheiten und eingebaute Schwierigkeiten durchzusetzen. Wer Öl ins Feuer schüttet, facht es an; wer Öl auf die Wogen gießt, besänftigt sie. Jedes der beiden Bilder entspricht einer Eigenschaft des Öls – doch sie sprechend oder hörend auseinanderzuhalten ist nicht leicht. Die Farbe Schwarz drückt bei Listen und bei Schafen etwas Negatives, bei Zahlen etwas Positives aus; und während wir uns bei den Öl-Bildern noch an die natürliche Beschaffenheit halten, geraten wir hier mit unserer eigenen Bildersprache in Konflikt: Was heißt denn «schwarz»? Wenn wir blaue Zahlen in grüne Listen setzten, wäre nichts verloren.
Auch kennen wir schiefe Bilder mit literarischer Beglaubigung: Wenn in Goethes «Prometheus» nicht alle Blütenträume reiften, muss der Hinweis gestattet sein, dass das Reifen nicht den Träumen, sondern den Blüten widerfährt, dass also von den allein korrekten «Traumblüten» nur mit einer gewissen Strapazierung der dichterischen Freiheit abgewichen werden kann. Mephistos Satz «Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum» würde uns einen ähnlichen Schmerz bereiten – wäre da nicht die Hoffnung, die Wahl der unverträglichen Farben sei eine stilistische Entsprechung zum Zynismus der Ratschläge, die Mephisto dem Schüler erteilt.
Nur dass wir damit leider auf ein weiteres Problem der Bildersprache stoßen: Manchmal will sie ja die Bilder durcheinandermengen, von der ironischen Absicht über die Flapsigkeit des Jugendjargons (in einer Musikzeitschrift für junge Leute: «Der Star lässt vergessen, dass hier einer am stinknormalen Flügel auch nur mit Wasser kocht») bis zum schieren Mutwillen des Schülerwitzes («Das schlägt dem Fass die Krone auf den Gipfel»). Und nicht immer lässt sich entscheiden, ob da ein klarer, ein bedingter oder überhaupt kein Vorsatz waltete. Angenommen, ein Provinzbildhauer würde in der Kritik als «der Michelangelo von Wurmansquick» gerühmt – sollen wir dies als gutgemeintes Lob oder als Verspottung lesen?
Ganz offensichtlich gut gemeint und eben dabei unfreiwillig komisch: Das ist die Bildersprache, die uns als Hörer und Leser entzückt. Ihre Großmeisterin war Friederike Kempner, «die schlesische Nachtigall», die 1873 in ihren «Gedichten» ein Kompendium der Stilblüten lieferte; so kreuzte sie die böse Stiefmutter mit dem Glückspilz zum bejammernswerten «Stiefpilz des Geschicks». Politiker sind nicht viel besser, wenn sie beispielsweise fordern: «Die öffentliche Hand sollte endlich auf die Preisbremse treten.» Der Sorge, dass die staatlichen Wohltaten sich vermindern könnten, stellten die deutschen Gewerkschaften die Warnung entgegen: «Wir lassen uns das soziale Netz nicht durchlöchern!»
Der gern unterschätzte Rhetor Helmut Kohl machte auch zwischen seinen Bildern eine starke Figur. Zu Weihnachten sprach er: «Die Menschen wollen Wärme sehen». (als ob nicht mancher sie lieber hören würde!), und in die Annalen der unfreiwilligen Komik schrieb er sich ein mit dem Satz: «Entscheidend ist, was hinten rauskommt.» Dass auch darüber gelacht wurde, ist insofern tragisch, als es an der Wahrheit dieses Kohl’schen Ausspruchs eigentlich nichts zu rütteln gibt.
3
Und «auch Familienhund Bo» erschien zu dem Empfang, der dem Staatsgast im Weißen Haus gegeben wurde, der «Tagesschau» zufolge. Es ist noch nicht lange her, da waren Stürme namenlos und Hundenamen nicht nachrichtenwürdig. Was ist hier geschehen?
Die Kosenamen von Haustieren ihren Lesern routinemäßig mitzuteilen, das ist eine Erfindung der Boulevardzeitungen: Wenn sie das Muster der Krawatte und den Namen des Hundes drucken, so erwecken sie den Anschein von Genauigkeit, der den Leser in dem Glauben wiegen soll, er könne auch den Hauptsachen vertrauen. Außerdem verbreiten sie damit eine Atmosphäre des Dabeigewesenseins, sie holen den Staatsgast in die Wohnküche und bieten den dort Hockenden zum Streicheln an. (Das ist der Zwangshandlung verwandt, zu der Walt Disney Millionen Großmütter im gesamten Abendland getrieben hat: «Bambi!», rufen sie, sobald ein Reh über die Bildschirme hüpft.)
Wirbelstürme, ja sogar Hoch- und Tiefdruckgebiete mit menschlichen Vornamen zu versehen, war zunächst ein Sprachwitz, den sich die Meteorologen leisteten – zur leichteren internationalen Verständigung, wie sie sagten, aber natürlich mit einem Schuss Mutwillen: Denn wenn schon Autokäufer einen 600SLI spielend von einem 400CLX-24 unterscheiden können, so wäre natürlich eine Nummerierung der Wettererscheinungen zumutbar und noch weit praktischer gewesen. Aber sie wollten sich einen Spaß machen, die Meteorologen – warum nicht.
Sobald sie nun im Fernsehen auftraten oder ihre Sprachsitten an Journalisten weitergaben, war es geschehen: «Tief Quirin bringt Regen» und «Kyrill fetzt übers Ferienparadies»; natürlich sammelt er auch «neue Kraft» und «verwüstet Versicherungsbilanzen». So ein Kerl ist er, der Kyrill. Auch 47Menschen hat er umgebracht.
Daraus ergeben sich eine nachdenkliche Beobachtung und eine Frage. Heißen eigentlich Wirbelstürme? Was heißt das, «heißen»? Heißt ein Auto «Bimbo», wenn sein Eigentümer diesen Namen auf die Heckscheibe gepinselt hat – oder ist er einfach ein Narr, der die Leute mit einer privaten Albernheit behelligt? Die nachdenkliche Beobachtung aber ist, dass wir uns mit «Kyrill» zu den Anfängen der Sprache zurückbegeben: zur Personifizierung.
Das Echo war ja im griechischen Mythos keine Sache, sondern eine Nymphe, die Echo, die sich mit den Menschen einen Schabernack erlaubte, und im germanischen Mythos entstand der Donner durch die Hammerschläge des Gottes Donar oder Thor. So hat sich der primitive Mensch einst alle Naturerscheinungen erklärt, und kleine Kinder sind dafür noch heute leicht zu haben, ja sie setzen von sich aus Gnome in die Welt: eine Person an die Stelle eines Rätsels.
Auf dieses Entwicklungsstadium also fallen wir zurück, wenn wir zum Wirbelsturm «Hallo, Kyrill» sagen. Natürlich, wir wissen, dass da kein Dämon bläst; doch indem wir so tun, als müsse eine Katastrophe einen menschlichen Namen tragen, haben wir den Hurrikan ein bisschen enträtselt und entdämonisiert. Er passt nun besser in die Küche, zu Bambi dem Reh und Bo dem Hund.
Nur: Heißt er «Kyrill»? Das lässt sich bestreiten. Wörter zu erfinden, Namen zu verleihen, das ruft ja noch nicht Sprache ins Leben; heißen tut ein Ding erst dann, wenn die Sprachgemeinschaft einen Vorschlag angenommen hat. Auch Finger und Zehen «heißen» nicht, obwohl man von gutmütigen Irren hört, die sich zwanzig Namen für sie haben einfallen lassen.
Die Namen der Wirbelstürme scheinen sich im kritischen Stadium zu befinden: Nach den Meteorologen und den Journalisten soll es schon die ersten Mitbürger außerhalb dieser beiden Berufsgruppen geben, die den Hurrikan mit Namen anreden, ihm also gleichsam auf die Schulter klopfen. Wäre es so, dann «hieße» er. Dann wäre die Welt um eine Kinderei bereichert. Desto leichter könnte die Zeitung ihn auch einen «Mörder» schelten (welche Wohltat bei der Suche nach der Überschrift).
Für ein paar Feinfühlige bliebe in diesem Fall nur noch, sich dem Wirbelsturm gegenüber so zu verhalten wie Hans Castorp im «Zauberberg» gegen die schöne Russin, die Thomas Mann, beziehungsreich genug, Clawdia Chauchat getauft hat: Castorp sprach den Namen mehrmals nach, indem er «zu Frau Chauchat hinüberblickte und ihn ihr gewissermaßen anprobierte».
Wollten wir, auf vergleichbarem Niveau, den Hurrikanen Namen anprobieren – würde dann ausgerechnet «Kyrill» herauskommen? Der Name ist armselig und beziehungslos. Winfried hat nichts mit Wind zu tun und wäre überdies zu freundlich. Hotzenköcherle, das ist ein guter schweizerischer Name und ergäbe einen absolut unverwechselbaren Wirbelsturm. Schionatulander aus dem «Parzival» vielleicht eher für ein Hochdruckgebiet. Uitznauatlailotlac hieß ein aztekischer Fürst, das ist nicht gelogen – ideal für Dauerregen. Schließlich die Delegation, die James Joyce im «Ulysses» zusammengestellt hat: Don Pecadillo y Palabras y Paternoster de la Malora de la Malaria, den hört man wahrlich die Karibik heimsuchen, und (so im englischen Original!) den Herrn Hurhausdirektorpräsident Hans Chuechli-Steuerli. Wie viel Charakter ist darin, mit Kyrill verglichen! Weniger haben etwas so Kraftvolles wie Hunde und Hurrikane nicht verdient.
4
Dass die menschliche Sprache der Verständigung diene, war schon immer eine stark übertriebene Behauptung. Von jeher ist sie in viel höherem Grade das Vehikel des Geschwätzes («Da sag ich doch zu ihm: ‹Mein Gott!›, sag ich»); des magischen Rituals in Gebet, Beschwörung, Aberglauben und der Manipulation durch politische, kommerzielle und private Propaganda. Zieht man noch die traurige Rolle der Lüge, des Befehls und der Beschimpfung ab, so blieb für den Wunsch, eine Mitteilung zu machen, immer nur ein bescheidener Teil unseres Wortaufkommens übrig.
Dieser Rest nun hat sich in den letzten Jahrzehnten weiter verkleinert durch den Wortfleiß einer explodierenden Anzahl von Professoren und Studenten der Geisteswissenschaften, zumal der Kommunikationswissenschaft und der Soziologie. Verständigung kann einfach nicht ihr Ziel sein, wenn sie schreiben: «Ambiguitätstoleranz ist das psychische Korrelat der Normen- und Interpretationsdiskrepanzen sowie der nicht voll komplementären Bedürfnisbefriedigung im Interaktionssystem.»
Was liegt hier vor? Der Wunsch, Nichtwissende durch Information zu Wissenden zu machen? Das wäre ein Versuch mit untauglichen Mitteln. Nein: Offensichtlich geht es um den Ausweis der Zugehörigkeit nach innen und um die Einschüchterung nach außen. Wer sich so auszudrücken versucht, teilt den Fachkollegen mit, dass er ein würdiges Mitglied ihrer Clique ist; den Studenten gibt er das Signal: Wenn du so schreiben lernst, werden wir dir akademische Grade verleihen; und wer das erhabene Kauderwelsch nicht beherrscht, der wird von der Kommunikation ausgeschlossen und hat uns sprachlos zu bewundern. Da schlägt ein Pfau sein Rad und will uns, statt mit Oberschwanzdeckfedern, mit ebenso gespreizten Vokabeln imponieren.
Nun kommen sie natürlich, die Experten, und behaupten, das Neuartige und Komplizierte ihrer geistigen Höhenflüge sei in schlichteren Worten nicht zu fassen. Doch diese Behauptung ist falsch. Wer hätte je seinen Zeitgenossen ungewohntere Gedanken zugemutet, als Franz Kafka und Sigmund Freud dies taten? Doch Kafka transportierte seine Botschaft mit einem auffallend kargen Wortvorrat, und Freud war ein brillanter Stilist von bestechender Klarheit. Mit Recht wird in seinem Namen ein Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa verliehen; sein Träger von 1985, der Historiker Hermann Heimpel, sagte: «Wissenschaftliche Prosa ist genau, also unbequem für den Autor; und einfach, also bequem für den Benutzer gelehrter Arbeiten, mitten in dem ungerügten schlechten Deutsch eines ausufernden Wissenschaftsbetriebs.»
Wenn unsere Geisteswissenschafter von interessierten Laien verstanden werden wollten und wenn sie bereit wären, die Plage der Einfachheit auf sich zu nehmen: so wäre die Verständlichkeit herstellbar. Aber sie wollen eben nicht. Zu dem Vorzug der elitären Absonderung vom gemeinen Volk tritt ja noch ein anderer. Wenn man etwa den Geologen ihr scheußliches Chinesisch nähme («Die mesozoische Geosynklinalphase wurde vom kontinentalen Verrucano eingeleitet») – so blieben ihnen doch die Steine. Was aber bleibt den Soziologen, wenn man sie ihrer pompösen Begriffe beraubt? Die Soziologie bedient sich keiner Fachsprache, sie ist eine.
Der Philosoph Karl Popper hat das auf brutale Weise anschaulich gemacht: Er hat typischen Zunftjargon auf seinen Informationsgehalt reduziert. So nahm er den Satz von Jürgen Habermas «Theorien erweisen sich für einen speziellen Gegenstandsbereich dann als brauchbar, wenn sich ihnen die reale Mannigfaltigkeit fügt» – und übersetzte ihn: «Theorien sind auf ein spezielles Gebiet dann anwendbar, wenn sie anwendbar sind.» Eine gewisse Dürftigkeit der Aussage ist da nicht zu übersehen; dass Habermas solche Sätze nicht zu Büchern hätte schichten können, ist offensichtlich. Jargon-Zertrümmerung würde folglich die Existenzgefährdung streifen; auf entsprechenden Hass muss der Zertrümmerer vorbereitet sein.
Das soll uns nicht hindern. Wir haben starke Bundesgenossen. «Ach, wie sie mich ekeln, die absichtsvoll verrätselten Worte!», sagt Elias Canetti, Träger des Nobelpreises für Literatur. «Was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen», schreibt der Philosoph Ludwig Wittgenstein, «und worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen» – mit der Popper’schen Variante: «Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann.»
Ein schrecklicher Rat für jemanden wie den Schreiber des folgenden Satzes: «Die Erkundung molestierender Ontologiegehalte legt jenen Offenhaltungsanspruch diskreter Hintertüren von Subjektkonstitution gegen affirmative Dementi frei, welcher sich einer violentes Verbot genealogischen Ermittelns ob seiner Exkulpationsprämien favorisierenden Tradition indolenter Kritik verdankt.» Da sollten wir gar nicht zu verstehen versuchen – da sollten wir verachten.
Von der Verachtung ausdrücklich ausgenommen sei jener offenbar akademisch gebildete Bettler, der aus dem Jargon die Komik kitzelte, indem er an seinen umgestülpten Hut ein Schild mit der Aufschrift lehnte: «Ich möchte diesen Spendenaufruf als Thematisierung gesellschaftlicher Widersprüche verstanden wissen.»
5
«Blamier mich nicht, mein schönes Kind, und grüß mich nicht Unter den Linden», heißt es in Heines berühmtem Gedicht – vom Satzbau her ein Grund zu stutzen. Blamier mich nicht, indem du, dadurch dass du mich Unter den Linden grüßt: Wäre das nicht der korrekte Ausdruck des Kausalzusammenhangs? Heine zog die Reihung zweier Hauptsätze vor, durch ein und verbunden, das, rein logisch betrachtet, nichts begründet. Warum ist ein Satz wie «Sei doch so nett, mir das Buch zu geben» im mündlichen Deutsch kaum je zu hören? Weil wir lieber auf die Begründung der Nettigkeit verzichten und stattdessen sagen: «Sei doch so nett und gib mir…»
Das kann nur heißen: Wir lieben die Hauptsätze. Sie sind die natürlichste und zugleich die poetischste Form, uns mitzuteilen. Sie dominieren bei Homer, in den isländischen Sagas, in den Grimm’schen Märchen und in der Bibel. Hiob sprach eben nicht: Der Herr, der’s gegeben hat, hat’s auch genommen, sodass sein Name gelobt sei – sondern: «Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt!» Der Nebensatz hat einen Beigeschmack von Schriftlichkeit, Literatur, Abstraktion. Er ist ein Produkt des Schulunterrichts. Er hat Meriten, auf die zu verzichten unsinnig wäre; aber zugleich stellt er schlimme Versuchungen bereit.
Erste Versuchung: Wir schieben den Nebensatz mitten in den Hauptsatz hinein und zerreißen damit alle Vernunft. «Er hatte das Buch, das er seinem Freund leihen wollte, leider verloren» – korrekt und dabei ziemlich töricht. «Er hatte das Buch». (wie schön), «das er seinem Freund leihen wollte». (ja doch, aber was war nun mit dem Buch?), «leider verloren.» Aha, er hatte es also nicht. Der Autor entschied sich, die Information A auf halbem Weg zu unterbrechen, uns mit der Information B zu bedienen und dann die Information A zu komplettieren. Sollte es wirklich keine unverkrampftere Form der Mitteilung geben? «Leider hatte er das Buch verloren, das er seinem Freund leihen wollte» – nun steht der Nebensatz da, wo er hingehört: am Schluss, und aus der Abfolge A-B-A ist die allein vernünftige Abfolge A-B geworden. Nicht gerechnet, dass man sich für zwei Hauptsätze entscheiden könnte: «Er wollte seinem Freund das Buch leihen, aber er hatte es verloren.»
Zweite Versuchung: Der eingeschobene Nebensatz enthält gar keine erläuternde Nebensache (was allein ihn allenfalls rechtfertigen könnte), sondern eine gleichrangige Hauptsache. In einem Artikel über junge Unternehmer war zu lesen: «Heute sind die beiden, die eine Million in das Geschäft investiert hatten, zerstritten.» Der Autor erzählt also zunächst die halbe Gegenwart (zwei sind, was auch immer), dann springt er in die Vergangenheit, dann beschenkt er uns mit dem Rest der Gegenwart. Gründlicher kann man es nicht zertrümmern, jenes Drama in zwei Akten, das nach zwei Hauptsätzen schreit: «Erst haben sie eine Million investiert – und nun sind sie zerstritten.»
Die dritte Versuchung: Man schachtelt in den einen Nebensatz einen zweiten und vielleicht einen dritten – völlig korrekt natürlich, aber die Pest für Ausländer und ein Ärgernis für alle Leser. In der Karikatur: «Derjenige, der denjenigen, der den Pfahl, der an der Brücke, über die der Weg, der nach Wien führt, steht, umgeworfen hat, anzeigt, erhält eine Belohnung.» Und ernst gemeint (2007 in der «Süddeutschen Zeitung»): «Dieser Mechanismus, mit dem sich Hindenburg als Mann der Vorsehung und charismatischer Führer erfand, dem Millionen später blindlings vertrauten, als sie ihn zweimal, 1925 und 1932, zum Reichspräsidenten wählten, der dank der Weimarer Verfassung über einen großen politischen Entscheidungsspielraum gebot, wird von Wolfram Pyta mit bewundernswerter Detailgenauigkeit geschildert.»
Da wird es Zeit, etwas zur Ehrenrettung des Nebensatzes vorzubringen. Er kann, an den Hauptsatz angehängt, der Befreiungsschlag gegen andere Formen der Verschachtelung sein: nicht «Dies ist das Ihnen von der Direktion für die nächsten drei Wochen zugewiesene Zimmer», sondern: «Dies ist das Zimmer, das die Direktion Ihnen…». Nicht: «Er forderte von X die Widerrufung aller gegen ihn vorgebrachten Verleumdungen», sondern: «Er forderte X auf, die Verleumdung zu widerrufen, die X gegen ihn vorgebracht hatte.»
Und der Nebensatz kann den Gipfel der Eleganz erklimmen – wenn er meisterlich gehandhabt wird. «Es gibt jetzt der Vorschriften, was man sein soll, so mancherlei Arten, dass es kein Wunder wäre, wenn die Menge auf den Gedanken geriete, zu bleiben, was sie ist». (Lichtenberg). Oder: «Haben wir bisher gestaunt, dass solche Bauwerke nur so weit gediehen, so werden wir mit der größten Bewunderung erfahren, was eigentlich zu leisten die Absicht war». (Goethe über den Kölner Dom). Oder: «Die Juden, wenn sie gut, sind sie besser, wenn sie schlecht, sind sie schlimmer als die Christen». (Heine). Oder Dürrenmatts Spott auf die Intellektuellen: «Von der Welt, wie sie ist, leben sie; von der Welt, wie sie sein sollte, nehmen sie die Maßstäbe, die Welt zu verurteilen, von der sie leben.»
Wer sich aber solchen Satzmodellen nicht gewachsen fühlt, der tut gut daran, es mit Tucholskys drei «Ratschlägen für einen guten Redner» zu halten: Hauptsätze. Hauptsätze. Hauptsätze.
6
Schreiben kann man natürlich so: «Mehr und mehr von heftiger Rührung ergriffen, konnte Heinrich die Worte nur mit Anstrengung herausstoßen. Die Tränen strömten über seine Wangen, und als ihm die Stimme unter Schluchzen versagte, stand er stumm vor den im Innersten ergriffenen Eltern. Bestürzt und erschüttert blickten sie auf diesen Sohn, der nun der Verzweiflung nahe war.»
So kann man schreiben, aber man sollte es nicht – nicht also wie in diesem Beispiel aus «Engelhorns Roman-Bibliothek» von 1905.Ein Schriftsteller darf von zehn beabsichtigten Wörtern nur eines schreiben und nicht elf, hat Ludwig Thoma gefordert – und hier wimmelt es von elften Wörtern: zu den Tränen auch noch das Schluchzen, stumm mit versagender Stimme und bei alldem der Verzweiflung nah, und wo waren die bestürzten Eltern ergriffen? Im Innersten. Ungebremste Geschwätzigkeit oder Zeilenschinderei? Egal – wer Leser fesseln will, der ist zum Gegenteil aufgerufen; nach dem Satz Voltaires: «Die Kunst, langweilig zu sein, besteht darin, alles zu sagen.»
Wie man nicht alles ausdrückt, das demonstrieren große Schreiber auf viererlei Weise. Erstens: Sie geizen mit Wörtern nach Ludwig Thomas Rat, sie streichen Füllwörter und die meisten Adjektive, weil die die Sätze nur verdünnen. Die farbigsten Bilder entstehen im Kopf des Lesers dann, wenn er kraftvolle Worte mit seinen eigenen Vorstellungen und Erfahrungen ergänzen kann.
Zweitens: Große Schreiber geizen mit Einzelheiten. Alle Gegenstände in einem Zimmer, alle Handlungen während eines Aufruhrs zu beschreiben ist unmöglich. Nur sollte man daraus nicht folgern, man dürfe Leser mit Floskeln abspeisen (überladenes Zimmer, großes Durcheinander). Nein, Leser lechzen nach Details – nur eben nicht nach allen, sondern nach typischen, dem Pars pro Toto, dem Teil statt des Ganzen. Es gibt keine bessere Stilfigur – vom biblischen Gleichnis, das nur die Lilien auf dem Felde nennt, obwohl für alle Pflanzen dasselbe gilt, bis zu Fräulein Smillas Bekenntnis (bei Peter Høeg): «Ich habe eine Schwäche für Verlierer – für Invalide, Ausländer, den Dicken in der Klasse und für alle, mit denen keiner tanzt.»
Drittens: Sie beschreiben nur Handlungen und überlassen alle Gedanken dazu dem Leser. Meister darin sind Isaak Babel und Ernest Hemingway, beide ohnehin durch kargen Stil bekannt; doch oft wählen auch solche Dichter diesen Weg, von denen man es nicht vermutet hätte, Grillparzer zum Beispiel. In seiner Selbstbiographie berichtet er von seinem Besuch beim alten Geheimrat Goethe: «Von den Tischereignissen ist mir nur noch als charakteristisch erinnerlich, dass ich… in dem neben mir liegenden Stücke Brot krümelte und dadurch unschöne Brosamen erzeugte. Da tippte denn Goethe mit dem Finger auf jedes einzelne und legte sie auf ein regelmäßiges Häufchen zusammen.» Und mit keinem Wort erwähnt der Schreiber, dass er dies als abstoßend empfunden haben dürfte; diese Vorstellung selbst zu gewinnen, aktiviert den Leser und befriedigt ihn.
Viertens: Nicht einmal die Handlungen beschreiben sie ganz. Den Tod Dantons teilt Büchner, außer im Titel des Dramas, gar nicht mit. Danton schmäht den Henker – nächste Szene: Vier Frauen plaudern und klagen über das Sterben – letzte Szene: Zwei Henker gehen singend heim. Ähnlich endet Hemingways «Wem die Stunde schlägt»: Robert Jordan, der Held, liegt mit zerschmettertem Bein auf dem Waldboden und kämpft nur noch um eines: dass er, bevor er die Besinnung verliert, die Flucht seiner Freunde vor Francos Soldaten decken kann, indem er möglichst viele tötet. Als die Verfolger sich ihm ahnungslos auf zwanzig Meter genähert haben, schließt der Roman mit dem Satz: «Er spürte das Pochen seines Herzens auf dem Nadelboden des Waldes.»
Hemingway selbst hat dem Schriftsteller die «Eisberg-Technik» empfohlen: nur die Spitze zeigen; der Leser ergänzt sie in seiner Phantasie um die viel größere Eismenge, die unter Wasser liegt. Die Stilistik spricht hier von Implikation (das Nichtgesagte wird einbezogen) oder Unterdetermination (es wird weniger als das logisch Notwendige ausgedrückt). Ist bei Büchner wie bei Hemingway der unausgesprochene Schluss der Handlung völlig klar, so geht Somerset Maugham in seiner Novelle «Rain» noch weiter: Der Leser muss sich selber zusammenreimen, was geschehen ist.
Da will also ein Missionar auf einer Südsee-Insel eine Hure vor der Hölle retten, in heiligem Eifer redet er auf sie ein bei Tag und bei Nacht. Eines Morgens aber liegt er mit durchschnittener Kehle am Strand– Selbstmord! Die Hure lässt von ihrem Grammophon Ragtime auf die Straße dröhnen, und den entgeisterten Freund des Missionars, Dr.Macphail, empfängt sie mit den Worten: «Ihr Männer seid alle Schweine.» Danach heißt es nur noch: «Dr.Macphail keuchte. Er verstand.»
Hier alles zu sagen, hätte den Leser um eine kleine Anspannung betrogen, um ein Aha-Erlebnis. «Wenn zwei Sätze geschrieben sind, muss ein dritter, nicht geschriebener, entstehen», sagt Julien Green. «Der Klang dieses idealen Satzes muss hörbar sein, doch nur ein schlechter Schriftsteller würde versuchen, ihn in die Schrift zu sperren – er muss wehen wie ein Hauch, er ist es, der die Seite atmen lässt.» Anders als bei jenen Schluchzenden, die erschütternderweise auch noch Tränen vergießen.