Gezeitennebel - Martin Heckt - E-Book

Gezeitennebel E-Book

Martin Heckt

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Beschreibung

Konfrontiert mit seiner eigenen ungeliebten Vergangenheit, verliert der Kapitän der Soleil Royal die Beherrschung über sich selbst und verwettet sein Schiff! Kardona hat nur wenige Tage Zeit, den Heimathafen in Aritholka zu erreichen und wählt eine gewagte und gefährliche Abkürzung. Plötzlich taucht ein merkwürdiger Nebel auf, der Schiff und Besatzung verschluckt und 5 Millionen Jahre in der Vergangenheit wieder ausspuckt. Wieder und wieder steuert das Schiff in den Nebel hinein - doch scheinbar wahllos wird die Soleil Royal durch die Zeiten geschleudert! In jeder Zeit warten neue Gefahren und Abenteuer und die Hoffnung der Mannschaft scheint zu schwinden… Wird es Freya und der Besatzung der Soleil Royal gelingen, wieder in ihre Zeit zu gelangen?

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MARTIN HECKT

Die Abenteuer von Freya Warmherz

Band 4

Gezeitennebel

Für Regina

Durch den Nebel und für

alle Zeiten…

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

© Martin Heckt 2019

Coverdesign: Martin Heckt

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-347-03605-5 (Paperback)

978-3-347-03606-2 (Hardcover)

978-3-347-03607-9 (e-Book)

Prolog

Das Universum. Entstanden vor unbegreiflicher Zeit. Ein riesiges Schwarzes Meer voller Leben und Tod. Licht und Dunkelheit liegen nah beieinander. Auf unzähligen Planeten entwickelte sich Leben, glomm auf und verlosch. Das Universum ist unglaublich, unvorstellbar, unerklärlich. Vor dem Entstehen des Universums gab es weder Zeit, Raum, Materie, so sagt man.

Das Universum ist alles. Alles, was man sehen, anfassen, fühlen, wahrnehmen und messen kann. Es umfasst Milliarden von Galaxien und jede dieser Galaxien kann ebenfalls Milliarden Sterne enthalten. Einer dieser Sterne wird von seinen Bewohnern Kanthorus genannt. Dieser Stern steckt quasi noch in seinen Kindheitsschuhen, doch das wissen die darauf lebenden Völker nicht. Im Großen und Ganzen leben diese Völker friedlich nebeneinander, von kleineren Scharmützeln einmal abgesehen. Wenn es nach dem Universum ginge, würden alle diese Völker noch als Säuglinge gelten, auch wenn sie sich für fortschrittlich und modern hielten. Im Moment wissen die Bewohner von Kanthorus von vier Völkern. Da wären die stolzen und katzenähnlichen Parda, die besser sehen, hören und riechen können als jedes andere Volk auf dem Planeten. Die körperlich eindruckvollste Rasse sind die Granitianer. Sie sind groß und breit gebaut, stark und intelligent. Die Thol wiederum sind wohl am flexibelsten. Sie passen sich unheimlich gut an die verschiedensten Situationen und Gegenden an. Die Halma sind das kleinste Volk. Ihre Stärke ziehen sie aber genau aus dieser Eigenschaft. Viele von ihnen sind geschickte Handwerker oder Ärzte.

Andere Völker sind nicht bekannt. Zumindest nicht den genannten vier Völkern.

Der Planet Kanthorus besteht aus sehr viel Wasser und gewaltigen Landmassen. Daher kamen die Völker schnell auf die Idee, sich das Wasser nutzbar zu machen. Jetzt, in diesem Moment der Geschichte des Planeten, transportiert man so gut wie alle Waren an Bord von Schiffen über die blauen Meere. Auch auf den Schiffen arbeiten Angehörige aller Völker friedlich miteinander.

Eines dieser Schiffe trägt den stolzen Namen Soleil Royal. Die Frachträume sind voll und es gleitet behäbig und majestätisch durch die Wellen. Der Tag ist hell und so fällt es der weiblichen Parda im Ausguck nicht weiter schwer, ihrer Arbeit nachzugehen. Sie sieht interessiert einer Schule Boskirs zu, einer Art großem Fisch, die friedlich an der Soleil Royal vorüberziehen.

Diese Parda ist jung, vielleicht 19 Jahre alt. Sie ist zierlich gebaut und trägt eine schwarze Uniform, mit blauen und weißen Applikationen. Ihr langes und dichtes rotviolettes Haar weht im Wind, und scheint nur von einem weißen Haarband einigermaßen gebändigt zu werden. Ihre Ohren zucken aufmerksam und sie rückt ihre Brille zurecht. Das Universum nimmt alles wahr, jede Bewegung und jedes Geräusch, zu jeder Zeit. Ein Teil der Aufmerksamkeit liegt also auch auf der jungen Parda, die nun die Arme aufstützt und sich vorlehnt…

Kapitel 1

„Boah. Ist mir langweilig“, maulte Freya.

„Im Moment passiert ja mal wieder gar nichts an Bord.“ Sie seufzte. Dabei hatte sie alles, was sie wollte – und noch mehr.

Mit 18 Jahren verließ sie ihr Elternhaus, um zur See zu fahren und um Abenteuer zu erleben. Niemals hätte Freya damals gedacht, dass sie so unendlich viele Abenteuer in kurzer Zeit überstehen müsste. Sie hatte in ihrem jungen Leben bereits Seemonster gesehen, ein fremdes Volk erforscht und hatte kurze Zeit unter Piraten gelebt. Vielleicht war es genau diesen Erfahrungen zu verdanken, dass sie nun dieses Leben als normal empfand und die Bordroutine eher als langweilig.

Sie zuckte mit den Schultern.

Denn trotzdem war sie glücklich. Sie fuhr mit einem Schiff, sah viele neue Häfen und hatte großartige Freunde an Bord gefunden. Und das interessanteste Haustier, das man haben konnte, hatte sie wohl auch. Freya war verantwortlich für das Maskottchen der Soleil Royal, der Ente mit dem schier unglaublichen Namen Leviathan. Diese Ente hatte sich in Freyas erstem Jahr auf der Soleil Royal heimlich an Bord geschmuggelt und wurde schließlich von Byrt, Freyas bestem Freund an Bord, und ihr selbst entdeckt. Leviathan wollte an Bord bleiben und so mauserte er sich zum Maskottchen. Die Ente war an Bord sehr beliebt und wurde zu Freyas ständigem Begleiter. Kaum einmal sah man Freya ohne Levi, wie er von ihr genannt wurde, oder Levi ohne Freya.

Jetzt im Moment allerdings lag er unter Deck in seinem Körbchen und schlummerte selig.

Das machte er oft, wenn Freya im Ausguck war und arbeiten musste. Freya grinste, denn sie wusste genau, dass er nicht allein sein würde. In der Hängematte neben ihrer eigenen würde nun eine junge Parda mit schokoladenbrauner Haut liegen und hingebungsvoll schnarchen. Elah Jarko war Soldatin an Bord des großen Handelsschiffes und hatte meist die Nachtschichten. Dadurch verschlief sie einen Großteil der Tage, aber das machte ihr nichts. Abends, bevor ihre Schicht begann, saß sie oft mit Byrt und Freya zusammen und die drei Freunde unterhielten sich oder spielten Karten, bevor Elah zur Wache musste.

Beim Karten spielen war die Parda allerdings nicht sehr erfolgreich. Das lag daran, dass sie sich unbewusst immer eine Strähne ihres blauschwarzen Haares aus der Stirn blies, wenn sie ein sehr gutes Blatt hatte. Freya und Byrt wussten das, aber da nicht um Geld gespielt wurde, war es beiden egal.

Freya suchte mit den Augen den Horizont ab und lachte still in sich hinein. Sie freute sich bereits wieder auf den Abend, auch wenn es in der Kabine dann stets sehr beengt war. Es war eine Kabine für zwei Personen, und eigentlich genügte der Raum vollauf. Weder Elah, noch Freya selber, waren besonders groß oder breit gebaut. Bei Byrt hingegen sah das schon anders aus. Byrt gehörte dem Volk der Granitianer an und war riesige 2,61 Meter groß. Hinzu kam, dass er selbst für einen Angehörigen dieses Volkes sehr muskulös und breit gebaut war. Elah scherzte manchmal, dass sie die Kabinentür breiter machen müssten, sonst würde Byrt irgendwann darin stecken bleiben.

Freya sah, wie sich die Sonne langsam senkte, und nickte zufrieden. Nicht mehr lange und ihre Schicht wäre vorüber.

„Wieder ein Tag ohne besondere Vorkommnisse“, murmelte sie und rückte sich die Brille gerade.

„Na ja, nicht mehr lange und wir laufen Quarakalto an. Während die Packer die Fracht löschen, werden wir die Stadt unsicher machen.“ Freya lachte glockenhell auf. Sie freute sich jedes Mal, wenn sie eine Stadt erforschen konnte, die sie noch nicht kannte. Quarakalto war eine von ihnen. An Bord ging das Gerücht, dass Feyonor Kardona von dort stammen würde.

Dieser Thol war der Kapitän der Soleil Royal. Er war streng, aber auch außerordentlich fair und daher bei der Mannschaft des Schiffes sehr beliebt. Legendär war mittlerweile seine Angewohnheit in jedem dritten oder vierten Satz die Worte „wäre ich geneigt zu sagen“ zu verwenden. Es gab Trinkspiele an Bord, die darauf basierten wie oft er diese Worte wohl in seiner nächsten Ansprache verwenden würde.

Als Freya an Kardona dachte, musste sie unwillkürlich die Stirn runzeln. Je näher sie Quarakalto kamen, desto angespannter wirkte der Kapitän. Das wollte nicht so recht zu ihm passen. Normalerweise war der grauhaarige Thol mit dem dichten und langen Bart ein Muster an Ausgeglichenheit. Selbst damals, als das Seemonster Horkon das Schiff und die Besatzung in seinen Fängen hatte, wirkte er gelassener als im Moment. Freya machte sich etwas Sorgen um ihren Kapitän, denn sie mochte ihn sehr und wenn er auch ein Vorgesetzter und kein Freund war, so machte sie sich doch Gedanken.

Wie der Zufall es wollte, trat Feyonor Kardona in diesem Moment auf das Achterdeck der Soleil Royal. Er stellte sich an die Reling und schaute auf das Meer hinaus. Der Thol verschränkte die Arme auf dem Rücken und wippte leicht auf und ab. Freya legte den Kopf etwas schief und ihre Stertspitze begann zu zittern.

„Definitiv angespannt“, flüsterte sie, als befürchtete sie, der Mann könnte sie über diese Entfernung hinweg hören. Das war natürlich Unsinn. Thol hatten lange nicht so gute Ohren wie Parda, und selbst ein anderer Parda an Deck hätte Freya unmöglich hören können.

Kardona stand noch einige Minuten an der Reling und starrte in den Sonnenuntergang.

Dann drehte er sich um, nickte dem Steuermann knapp zu und verschwand wieder in seiner Kabine.

„Nanu?“

Freya rückte die Brille gerade und kontrollierte den Sitz ihres Haarbandes.

„Normal hat er doch immer ein paar freundliche Worte für die Mannschaft über?“

Den Rest ihrer Schicht nahm sie nicht mehr wirklich bewusst wahr. Mit ihren Gedanken war sie beim Kapitän der Soleil Royal und seinem eigenartigen Verhalten. Sie würde es nie zugeben, geschweige denn laut aussprechen. Aber Kardona war fast zu einer Art Ersatzvater für sie geworden, oder doch zumindest zu einer väterlichen Figur. Sie hatte ihn auch als Vorbild, was das Führen eines Schiffes anging. Irgendwann wollte sie ein eigenes Schiff besitzen, und dann wäre sie gerne so, wie Feyonor Kardona.

Als die Ablösung kam, kletterte sie aus dem Krähennest und sprang auf das Deck. Dort musste sie sich erst einmal den Zuneigungsbekundungen Leviathans erwehren. Es war schon fast eine Tradition, dass der Erpel unten auf Freya wartete und sie dort dann schnatternd und mit den Flügeln schlagend begrüßte.

Gemeinsam gingen sie dann in die Messe. Die Messe war ein großer Raum, tief im Bauch des Schiffes. Es handelte sich um eine Mischung aus Ess- und Wohnzimmer, und dort spielte sich fast das ganze soziale Leben an Bord der Soleil Royal ab, wenn das Handelsschiff die Meere bereiste. Durch Laternen an der Wand war der riesige Raum gut ausgeleuchtet und an den senkrechten Spanten, die für die Stabilität des Schiffes sorgten, hingen Mitbringsel von den verschiedensten Mannschaftsmitgliedern des Schiffes. Zwischen den Spanten und entlang der Innenwand der Royal standen Tische, die mit schweren Nägeln im Boden verankert waren, damit auch bei Sturmfahrten nichts und niemand umkippte und durch den Raum flog. Genauso verhielt es sich mit den langen Bänken, die vor den Tischen standen und auf denen die Leute saßen, um zu essen, trinken und sich zu unterhalten. Auf der anderen Seite, exakt der Innenwand gegenüber, befand sich die Essensausgabe. Freya blieb neben der Tür kurz stehen und ließ den Blick durch den Raum gleiten. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Hier war sie Zuhause. Sie kannte jeden und jede und verband etwas mit ihnen. Familie.

Freya lief langsam zur Essensausgabe und ihr Lächeln wurde breiter. Hinter der Theke stand ein grimmig dreinblickender Halma. Genaugenommen stand er auf einem kleinen Hocker, denn sonst wäre er nicht groß genug gewesen, das Essen mit einer großen Kelle in die Schüsseln zu füllen. Sein Gesicht wurde von einem Backenbart eingerahmt, auf den er ziemlich stolz war. Korann Silko versuchte mühsam als harter Kerl durchzugehen, aber Freya hatte ihn recht früh durchschaut. Die beiden wechselten sich immer wieder kleinere verbale Duelle, wenn sie sich ihr Essen holte. Freya trat an die Theke heran, zog ein Tablett aus einem Fach und stellte eine Schüssel darauf.

„Na, Korann? Was für einen Fraß setzt du uns denn heute vor?“, fragte sie mit gespielt grimmiger Miene.

„Das, was ihr wert seid!“, knurrte der kleine Halma, aber seine amüsiert funkelnden Augen verrieten ihn.

Er hob seine Kelle und ließ sie in einen Kessel mit einer dicken und herrlich duftenden Suppe versinken. Freya schnupperte.

„Ist das die Suppe, oder riechst du so unangenehm?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nimm, was du kriegen kannst. Wer weiß, wann du endlich aus dem Ausguck fällst“, brummte Korann und füllte zwei Kellen der Suppe in die Schüssel.

„Das wirst du nie erleben. Vorher bringt dich die Mannschaft wegen des schlechten Essens um“, entgegnete Freya spitz, nahm sich einen Löffel aus dem Besteckkorb und marschierte stolz und ohne sich noch einmal umzusehen, von der Essensausgabe weg.

Hauptsächlich machte sie das, damit Korann nicht ihr breites Grinsen sah.

Sie ging zu ihrem üblichen Platz und ihre Ohren stellten sich freudig auf, als sie Byrt und Elah sah, die dort saßen und sie mit stummen Kopfschütteln begrüßten.

„Na, was? Was ist denn?“

Freya runzelte die Stirn.

„Ich kapier das nicht“, murrte Byrt und verschränkte die mächtigen Unterarme vor seinem Brustkorb.

„Es sieht immer aus, als wolltet ihr euch töten, aber wenn du dann von der Ausgabe wegtrittst, seid ihr beide am Grinsen, wie die Verrückten.“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung von Korann und Freya schaute auch in die Richtung. „Ich sehe ihn nicht grinsen. Korann ist grimmig wie immer.“

In der Tat schüttelte der Halma gerade die Kelle drohend in Richtung der Parda und hatte dabei eine finstere Miene aufgesetzt. Freya zwinkerte ihm zu und setzte sich dann neben ihre beste Freundin an Bord.

Elah Jarko war optisch das komplette Gegenteil von Freya. Sie war etwas größer und auch breiter gebaut. Sie gehörte zur Wachmannschaft an Bord und war eine echte Kämpferin. Freya hatte die Freundin schon kämpfen sehen und wusste, dass sie nicht so harmlos war, wie sie auf den ersten Blick wirkte. Der größte Unterschied allerdings bestand in der Hautfarbe der beiden Pardafrauen. Freya war blass, Elah hingegen hatte eine fast schon schokoladenbraune Haut. Sie hatte eine kurze, strubbelig wirkende Frisur und blauschwarze Haare. Oft genug war sie damit beschäftigt eine widerspenstige Strähne aus der Stirn zu pusten.

Freya hatte Elah direkt am ersten Tag an Bord der Royal kennengelernt. Die beiden teilten sich eine Kabine und sie freundeten sich sehr schnell an.

Mittlerweile bildeten sie – gemeinsam mit Byrt – ein unzertrennliches Trio.

Byrt stach optisch wohl am meisten heraus. Er war ein Granitianer und fast doppelt so groß wie die beiden Pardafrauen. Der Segelmacher war muskulös und seine Haut war von einem blassen Grün. Wie bei Granitianern üblich, war die Haut etwas rau. Im Gegensatz zu seinem wilden Aussehen war er ein äußerst friedfertiger Geselle. Wenn allerdings jemand in Gefahr war, der ihm etwas bedeutete, konnte er zu einem wahren Berserker mutieren. Freya hatte schon gesehen, wie er Leute mit einer Hand wegschmiss, als wären es Puppen.

In seinem Gesicht zeigten sich mehrere Narben, aber er sprach niemals darüber, woher er sie hatte. Selbst Elah und Freya wussten es nicht, aber es war ihnen auch egal. Auf seinem Kopf trug er eine wilde schwarze Mähne, die ständig in Bewegung schien. Seit einiger Zeit besaß Byrt einen Vollbart, seinen ganzen Stolz. Auch er hatte Kardona als Vorbild und der Bart stellte eine kleine Hommage an den Bart des Kapitäns dar, auch wenn der Bart Byrts wesentlich kürzer gestutzt war. Freya hatte die beiden durch die Soleil Royal kennengelernt und mittlerweile war das Trio unzertrennlich. Sie verbrachten sämtliche Freizeit an Bord miteinander und selbst Landgänge und Landurlaube wurden zusammen verlebt. Das inoffizielle vierte Mitglied der kleinen Gruppe war Leviathan, die Ente.

Im Moment war der Erpel damit beschäftigt von Tisch zu Tisch zu eilen und Streicheleinheiten und Leckereien abzugreifen. Freya beobachtete ihn dabei und lachte innerlich. Levi war ein Mitglied der Mannschaft, das konnte niemand bestreiten. Selbst wenn die Leute im Gespräch waren und ihn bewusst gar nicht bemerkten, gaben sie ihm geistesabwesend doch etwas zu knabbern oder streichelten seinen Kopf.

„Hey! Hey, Freya, bist du noch wach?“

Freya schüttelte den Kopf und hob entschuldigend die Schultern.

„Hab ich was verpasst?“, fragte sie verlegen.

„Kann man sehen, wie man will“, brummte Byrt und schmunzelte.

„Wir reden gerade über Kardona und seine veränderte Art.“

Freya nickte so stark, dass ihr die Brille verrutschte.

„Ja, das habe ich auch mitbekommen. Heute erst habe ich ihn auf dem Achterdeck stehen sehen, angespannt wie selten. So kennt man ihn gar nicht.“

„Och, es gibt Gründe.“

Elah sah wissend in die kleine Runde und löffelte betont langsam und mit Unschuldsmiene ihre Suppe.

Byrt rückte etwas zu Elah herüber.

Dieses Gesicht trug die Parda nur zu Schau, wenn sie ein interessantes Gerücht aufgeschnappt hatte, und Byrt und Freya wussten das natürlich.

„Na, dann rück schon raus damit“, kam es lauernd von Byrt.

„Erst die Suppe.“

Elah warf Byrt einen herausfordernden Blick zu und löffelte nun noch etwas langsamer.

Freya schüttelte amüsiert den Kopf. Die beiden Freunde neckten sich oft gegenseitig und von außen konnte es durchaus so wirken, als könnten die beiden sich nicht riechen. Aber Freya wusste genau, sie würden füreinander durch das Feuer gehen.

Byrt rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Geduld war nicht die größte Stärke des Riesen und Elah wusste das natürlich. Schließlich hielt er es nicht länger aus, nahm Elah die Schüssel weg und leerte sie mit einem tiefen Schluck. Dann stellte er die Schale wieder vor Elah ab.

„Fertig!“, grinste er.

Elah hatte große Augen bekommen und die Ohren wurden verdutzt an den Kopf geklappt. „Du… du kannst doch nicht…“, stotterte die Parda.

„Also, was hast du gehört?“, fragte Byrt seelenruhig und grinste sein Gegenüber weiterhin breit an.

Elah seufzte und starrte die leere Schüssel noch einmal an, ehe sie diese frustriert in die Mitte des Tisches und somit von sich fortschob.

Freya setzte sich nun auch zurecht, stützte die beiden Unterarme auf dem Tisch auf und legte den Kopf auf die zusammengefalteten Hände. Ihre Stertspitze zitterte ganz leicht, ein Zeichen dafür, wie neugierig sie war.

„Also gut“, murrte Elah und boxte Byrt auf die Schulter.

„Dann erzähle ich mal. Ich war letztens in der Kleiderkammer. Ihr wisst doch, dass der Saum meiner Uniformjacke ganz verschlissen war.“ Elah sah in die Runde und wartete, bis ihre Freunde bestätigend genickt hatten.

„Ich kam also an, und vor mir war Thyrstin Theso, der Parda aus der Waffenkammer. Ihr wisst schon, der mit den extrem kurzen Haaren und der Brille.“

„Der Schlaksige?“, fragte Byrt.

Freya nickte. Thyrstin war für einen Parda außergewöhnlich groß und noch dazu sehr dünn. Ein netter Kerl, aber sie hatte mit ihm recht selten zu tun. Sie gehörte der Abteilung Navigation an und nicht zur Wachmannschaft. „Jedenfalls unterhielt er sich gerade mit Tamol“, fuhr Elah fort.

„Tamol kennt Kardona ja schon viel länger als wir. Und er erzählte Thyrstin, dass Kardona…“ Elah legte eine bedeutungsschwangere Kunstpause ein und starrte ihre Freunde an.

„Ja? Das Kardona… was?“

Nun neigte sich auch Freya gespannt vor.

„Er kommt aus Quarakalto!“, brach es aus Elah mit triumphierender Stimme heraus.

„Nein!“

„Doch!“

„Na ja“, sagte Freya.

„Was ist daran so Besonderes? Sollte er sich dann nicht viel eher freuen?“

Byrt nickte nachdenklich.

„Theoretisch schon. Komisch. Das erklärt also eigentlich auch nicht, warum er so angespannt ist. Hm.“

Dann erhellte sich das Gesicht des großen Granitianers.

„Vielleicht hat er ja zwei Geliebte in Quarakalto und hat erfahren, dass sie mittlerweile voneinander wissen?“

Elah verdrehte die Augen.

„Genau. Das wird es sein. Knallkopp.“

Freya lachte laut und vergnügt auf. Genau diese Abende liebte sie am meisten.

„Irgendwann heiratet ihr beiden noch“, zog sie Elah und Byrt mit einem Augenzwinkern auf. Elahs Ohren zuckten nervös und ihr Blick schien durch Freya hindurchzureichen.

„Sag mal… spinnst du? Sind das noch Nachwirkungen von dem Schlag auf den Kopf, Nise?“

Freya grinste. Nise. Das war ihr Name gewesen, als die Soleil Royal von Piraten überfallen worden war. Freya hatte sie überrascht, wurde daraufhin bewusstlos geschlagen und entführt. Daraufhin lebte sie eine Zeitlang unter den Piraten, die ihr einredeten, ihr Name sei Nise Boao. Freya hatte das geglaubt, bis Elah, Byrt und ihr Vater sie fanden. Genau darauf spielte Elah nun an.

„Na ja, ich könnte damit leben.“

Nun war es an Byrt zu grinsen, während die beiden Frauen ihn sprachlos anstarrten.

„Na, was denn, was denn“, sagte er mit hochgezogenen Brauen.

„Elah kümmert sich um den Haushalt und das Essen, und ich arbeite weiter an Bord der Soleil… umpfff!“

Elah holte aus und schlug dem Granitianer mit Wucht eine Faust in den Magen.

Byrt keuchte kurz und begann dann, laut zu lachen. Es dauerte keine Sekunde, da stimmten Elah und Freya mit ein.

In einiger Entfernung schlenderte ein Halma vorbei und pfiff dabei. Als er das laute Gelächter vernahm, schüttelte er amüsiert den Kopf und schmunzelte. Der kleine Trupp um Freya war an Bord bekannt für derartige Abende.

Kapitel 2

„Boah. Ist mir langweilig“, maulte Freya.

Genau in diesem Moment allerdings, sah die zierliche Parda etwas am Horizont. Schnell zog sie die Brille von der Nase und polierte die Gläser mit einem Ärmel ihrer Uniform. Sie setzte die Brille wieder auf und begann zu strahlen. Freya beugte sich weit über den Rand des Krähennestes, wie der Ausguck an Bord eines Schiffes allgemein genannt wurde.

„Land!“, brüllte sie, so laut ihre Stimmbänder es hergaben.

„Land in Sicht! Quarakalto voraus!“

Unten an Deck brach Jubel aus. Seeleute liebten es, auf dem Meer unterwegs zu sein. Sie liebten allerdings auch fremde Städte. Und die Tavernen, die man dort finden konnte.

Freya sah abwechselnd über den Bug nach Quarakalto und nach unten auf das Deck. Aus dem Augenwinkel bekam sie mit, wie sich die Tür der Kapitänskajüte öffnete und ein offenkundig missmutiger Feyonor Kardona auf das Achterdeck trat. Die Parda legte überrascht die Ohren an. Normalerweise freute sich der Kapitän stets genauso, wie die Mannschaft. Nun allerdings wirkte Kardona, als hätte er auf etwas sehr, sehr Saures gebissen. Er schaute kurz hinauf zu Freya und nickte ihr verdrießlich zu. Dann schien er noch dem Steuermann ein, zwei Anweisungen zu geben. Im Anschluss verschwand der Kapitän der Soleil Royal wieder in seine Kabine.

Freya schüttelte stumm den Kopf. Was, bei den Göttern, beschäftigte den Mann nur so sehr?

Sie hatte nicht mehr viel Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Der Hafen kam schnell näher und sie musste genau auf die Fahrrinne achten.

Feyonor Kardona saß derweil in seiner Kabine und nippte an einem alten und ziemlich teuren Ale. Normalerweise trank der Kapitän nicht, aber dies war der Moment für eine Ausnahme. Was Freya und ihre Freunde gehört hatten, stimmte. Feyonor war in Quarakalto geboren und aufgewachsen.

Aber er liebte diese Stadt nicht sonderlich. Er war im Gegenteil sogar sehr froh, als er sie damals verlassen hatte, um zur Marine zu gehen. Er war sehr stolz darauf, was er sich aufgebaut hatte. Ein eigenes Schiff war etwas sehr Teures und nicht viele Leute auf Kanthorus hatten das Glück eines zu besitzen. Kardona besaß mit der Soleil Royal sogar eines der größten, wenn nicht sogar das größte freie Handelsschiff, das die Meere befuhr.

Eigentlich, dachte er, sollte ich glücklich sein, mit diesem Schiff in Quarakalto einlaufen zu können.

Aber er war es nicht. Er wollte nie wieder in seine Heimatstadt zurückkehren. Aber die Ladung erforderte es. Es war ein großartiges Geschäft für ihn gewesen. Ein großes Schiff verursachte auch immer große Kosten und mit dem Gewinn aus dieser Fracht, waren vielleicht endlich die neuen Segel bezahlbar.

Allein aus diesem Grund hatte er diese Fracht mit dem Zielhafen Quarakalto angenommen. Seit mehreren Tagen allerdings hielt Feyonor es immer mehr für eine seiner dümmsten Ideen. „Da wäre ich fast lieber allein in der Höhle von Horkon“, brummte der alte Seebär vor sich hin und strich sich über den grauen und dichten Bart. Dann schnitt er eine Grimasse.

„Na gut, vielleicht nicht gerade Horkon.“

Er kippte den Alkohol in einem Zug seine Kehle herunter und schenkte sich neu ein.

Dann zog er seine Stirn in Falten. Langsam kippte er den Alkohol aus dem Glas wieder zurück in die Flasche.

„Besoffen vor der Mannschaft. Soweit kommt es noch, wäre ich geneigt zu sagen.“

Er schüttelte den Kopf und stand langsam auf. Kardona schritt zu den Fenstern, die in das Heck des Schiffes eingelassen waren, und schaute hinaus.

Normalerweise beruhigte diese Aussicht ihn, diesmal jedoch nicht.

Nachdenklich sah er auf das Fahrwasser der Soleil Royal hinab.

„Die Richtung in die wir fahren, passt mir gar nicht, altes Mädchen“, murmelte er vor sich hin. „Ganz und gar nicht.“

Wenige Stunden später lag das große Handelsschiff am Kai und die Arbeiter der Lagerarbeiter begann. Freya hatte das Anlegemanöver noch aus dem Krähennest beaufsichtigt, doch nun war ihre Schicht vorüber. Langsam kletterte sie die Wanten herab und sprang auf das Deck, als sie unten angekommen war. Sie zog sich das Haarband aus dem Zopf und schüttelte das lange rotviolette Haar aus. Als sie damit fertig war, schob sie das weiße Band so über die Stirn, dass die Haare zurückgehalten wurden, und lang am Rücken herabfielen.

„Besser.“

Freya atmete auf. Sie trug ihr Haar lieber offen, aber ihre Erfahrungen hatten ihr gezeigt, dass man es im Ausguck doch besser zum Zopf band. „Quak!“

Sie blickte herab und sah Leviathan schnatternd vor sich stehen. Schnell tätschelte sie den Kopf des Erpels und ging in Richtung ihrer Kabine. Sie war mit Byrt und Elah verabredet, um Quarakalto gemeinsam unsicher zu machen, wie Elah es nannte. Von beiden Freunden sah Freya keine Spur. Vermutlich zogen sie sich bereits um. Ab und zu gingen die drei auch in Uniform in die Städte, aber das war eher selten.

Von Kardona sah sie ebenfalls keine Spur, doch das war nicht ungewöhnlich. Meist fing die Arbeit des Kapitäns nun erst an. Kardona musste nach dem Anlegen des Schiffes stets zur jeweiligen Hafenmeisterei, um die bürokratischen Angelegenheiten zu regeln. Freya zog eine Grimasse. Sie wollte unbedingt später Kapitän werden, aber die Bürokratie war nicht der Teil, der ihr am meisten Spaß machen würde. Langsam ging sie die Gänge entlang, dicht gefolgt von Leviathan, der ihr – wie üblich – auf Schritt und Tritt folgte. Die Stimmung an Bord war gehoben. Alle Leute, denen sie begegnete, trugen ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Schließlich erreichte sie ihre Kabine, klopfte an und öffnete die Kabinentür. Elah war zwar anwesend, aber kaum zu erkennen. Sie trug schwere Stiefel und eine eng sitzende schwarze Hose. Ihr Oberkörper kämpfte sich gerade durch ein weißes und etwas grobes Hemd. Allerdings hätte sie wohl besser ein paar der Knöpfe geöffnet, denn ihr Kopf kam nicht durch die dafür vorgesehene Öffnung. Anstatt nun das Hemd noch einmal auszuziehen, die Knöpfe zu öffnen und es dann erneut zu versuchen stand Elah fluchend in der Mitte des kleinen Zimmers und versuchte mit Gewalt ihren Kopf durch die Öffnung zu zwängen.

Freya lachte hell auf und eilte zu ihrer Freundin. Schnell waren die oberen drei Knöpfe geöffnet und Elahs Gesicht kam grinsend und puterrot zum Vorschein.

„Puh, ich dachte schon, ich würde hier elendiglich ersticken!“

„Ja, weil du halt das Hemd nicht noch einmal ausziehen wolltest“, merkte Freya spitz an.

„Genau!“

Elah nickte ernst.

„Ging doch auch so.“

Lachend setzte sie sich auf eine der Kisten, die als Sitzgelegenheit dienten.

Freya schälte sich nun auch aus ihrer Uniform. Im Gegensatz zu ihrer Freundin warf sie die Einzelteile allerdings nicht wild durch die Kabine, wo sie dann einfach liegen blieben, sondern sie faltete sie ordentlich und verstaute sie dann. Sie liebte diese Uniform und dieses Gefühl nahm auch nicht ab. Jeden Tag war sie stolz darauf, an Bord der Soleil Royal sein zu dürfen.

Danach zog sie aus ihrer Seekiste ihr weißes Sommerkleid heraus. Freya zog sich gerne an Land etwas schicker an, und das weiße Sommerkleid mit den violetten Säumen war ihr Lieblingskleid.

Als sie fertig war, drehte sie sich im Kreis.