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Der Wunsch geliebt zu werden, ist eine unserer größten Sehnsüchte. Doch was, wenn wir uns durch diese unbändige Sehnsucht selbst aufgeben und dabei völlig verlieren? Nach einem schweren Schicksalsschlag kehrt Hope in ihre alte Heimatstadt zurück. Eine Stadt, die vor allem eines nicht vergessen hat: ihre Vergangenheit! Getrieben von dem Verlangen nach Liebe und Geborgenheit hatte sich Hope damals von einer flüchtigen Affäre in die nächste gestürzt. Nur dieser eine Mann, den sie wirklich wollte und der sie hätte retten können, blieb unerreichbar für sie. Vor zehn Jahren war es Hope zwar gelungen, Will mit ihrem angeborenen Sexappeal in den Wahnsinn zu treiben, doch passte sie einfach nicht in sein Leben. Aber nun, da sie als reifere Frau vor ihm steht, scheint es ihm unmöglich, ihr weiterhin zu widerstehen. Aus anfänglicher sexueller Begierde entwickelt sich schnell etwas viel Größeres. Will wird schon bald klar: Hope ist die Frau, die er liebt! Doch sie ist nicht mehr die, die er zu kennen glaubt. Denn Hope wird von einem dunklen Geheimnis umgeben. Ein Geheimnis, das wie ein Schatten über ihr liegt und sie davon abhält, sich ganz auf ihn einzulassen.
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CLAIRE O´DONOGHUE
Erotischer Liebesroman
September 2017
Copyright © by Claire O´Donoghue
All rights reserved.
Alle Rechte vorbehalten!
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Personen und Handlungen dieser Geschichte sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und unbeabsichtigt.
© by Claire O´Donoghue
E-Mail: [email protected]
Facebook: www.facebook.com/Claire.O.Donoghue77
Cover-Picture: London Montgomery Covers
Cover-Design: Claire O´Donoghue
Hätte ich mich je gefragt, ob es tatsächlich ein Fehler gewesen sei, zu dieser Party zu gehen, hätte ich es spätestens jetzt, in diesem Augenblick, in dem sich ihre kleine, zierliche Hand auf meinen Oberschenkel legte, gewusst.
Ja, es stand völlig außer Frage. Ich war ein Idiot. Das hier war die mit Abstand dümmste Idee, die ich seit Langem gehabt hatte.
Zu meiner eigenen Verteidigung konnte ich lediglich vorbringen, dass die Sache nicht alleine auf meinem Mist gewachsen war. Normalerweise mied ich solche Partys, die nur diesem einen Zweck dienten, sich volllaufen zu lassen und wenn alles gut lief, ein Mädchen abzuschleppen.
Ich wollte weder das eine noch das andere.
Also stellte sich die Frage, was zur Hölle ich hier eigentlich tat? Im Grunde genommen sollte ich überhaupt nicht hier sein. Aber nein, es war schon immer meine Schwäche gewesen, niemandem etwas abschlagen zu können. Und so kam es, wie es kommen musste.
Adam, mein bester Freund und Studienkollege, hatte mich gebeten, ihn zu einer dieser legendären Partys am See zu begleiten und ich Vollpfosten hatte natürlich wie immer nicht Nein sagen können. Seit Wochen ging er mir damit schon auf die Nerven und redete von nichts anderem mehr, als von dieser rassigen Kaylee, die er unbedingt heute Nacht flachlegen wollte.
Die beiden waren nun schon über eine halbe Stunde in den Büschen zugange. Und was tat ich?
Ich seufzte und starrte zu der Hand auf meinem Schenkel, die, nun ja, wie sollte ich sagen, inzwischen immer weiter nach oben wanderte und mich allmählich ganz schön in Bedrängnis brachte.
Dabei hatte der Abend doch eigentlich ganz entspannt begonnen. Ich hatte mich etwas abseits auf einem Baumstamm am Ufer des Sees niedergelassen und nippte gerade an meinem Bier, als sie plötzlich auftauchte.
Mit ihren Fingerspitzen strich sie gerade sanft über meine Jeans. Es war nicht mehr als ein Streicheln, eine sanfte Berührung und doch durchfuhr sie mich wie ein Blitz und verschaffte mir sofort eine mächtige Erektion.
So ein Mist! Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch, ehe ich sie wieder öffnete und zu ihr hinüberschaute. Dieses Mal jedoch nicht zu ihrer Hand, sondern direkt in diese unglaublichen, schokoladenfarbenen Augen. In die Augen des Mädchens, dem ich hier am allerwenigstens begegnen wollte.
Und das galt nicht nur für heute Abend. Den ganzen Sommer über hatte ich alles daran gesetzt, ihr soweit es mir möglich war, aus dem Weg zu gehen.
Sie war jung. Ach was! Sie war viel zu jung.
Vermutlich noch nicht einmal älter als sechzehn. Und das war letztlich alles, was ich von ihr wissen musste. Denn damit war die Kleine definitiv noch nicht alt genug, als dass sie mich hätte reizen dürfen.
Dennoch tat sie es. Und wie sie das tat ...
Mein Verstand appellierte gerade an meine Vernunft. Doch mein verfluchter Körper schien dies im Augenblick nur allzu gerne zu ignorieren.
»Okay, bleib ganz ruhig! Du bist doch schließlich ein Mann und kein kleiner Junge mehr«, versuchte ich mich selbst wieder zu beruhigen.
Ich mochte sie zwar begehren und gerade in diesem Moment konnte ich mir auch nichts Schöneres vorstellen, als meine Lippen auf ihre zu senken, an ihnen zu knabbern und davon zu kosten. Und dennoch wusste ich ganz genau, dass dieses Mädchen in meinen Zukunftsplänen keine Rolle spielen durfte.
Schließlich war ich schon einundzwanzig, hatte meinen Abschluss bereits in der Tasche und ging nun aufs College, wo ich Veterinärmedizin studierte, um später einmal die Praxis meines Vaters übernehmen zu können.
Man konnte also durchaus sagen, dass ich eine genaue Vorstellung davon hatte, wie mein Leben verlaufen sollte. Und in einem war ich mir ganz sicher: Ein Mädchen wie dieses hier, kam ganz gewiss nicht darin vor.
Nicht, dass ich Hope Thomson nicht gemocht hätte. Oh nein, ganz im Gegenteil. Mit ihrem zierlichen Körper und ihrem dunklen, wallenden Haar wirkte sie in diesem Augenblick verführerischer, als es je eine andere zuvor auf mich getan hatte. Nur ihr gelang es, auf eine Art, die ich mir selbst nicht einmal erklären konnte, diese unbändige Gier in mir zu wecken. Eine Gier, über die ich jetzt lieber nicht weiter nachdenken wollte.
Trotz allem war es nicht einzig und allein Hopes zartes Alter, das mich letztendlich doch davon abhielt, die Finger von ihr zu lassen. Nein! Es war ihr Ruf, der mich abschreckte und mich ermahnte, mich nicht lächerlich zu machen. Denn Hope war stadtbekannt. Es gab wohl kaum einen Jungen im Umkreis von zehn Meilen, der nicht wusste, was für eine leichte Beute sie war.
Ich räusperte mich und mein Herz begann wild zu schlagen, als ihre Hand im selben Moment gefährlich nah an meinem besten Stück vorbei strich.
Shit!
Inzwischen drückte mein Schwanz bereits schmerzhaft gegen die Naht meiner Jeans.
»Lass das!« Mit einem leisen Fluch fing ich ihr Handgelenk ein und hielt sie so davon ab, mir womöglich noch in den Schritt zu fassen. Wenn es stimmte, was die anderen Kerle so über sie erzählten und daran bestand, so wie es gerade aussah, überhaupt kein Zweifel, kam sie schneller zur Sache, als ich mich vor ihr hätte in Sicherheit bringen können.
Sie blinzelte und zuckte unter meinem schroffen Ton zusammen, sodass es mir sofort wieder leidtat, sie so hart angegangen zu haben.
Das hatte ich gewiss nicht gewollt.
Hastig senkte sie ihren Blick, während sich ihre Wangen gleichzeitig in einem tiefen Rot färbten.
Ich seufzte. Zum Teufel nochmal, wieso nur brachte mich die Kleine ständig aus dem Gleichgewicht?
Verstohlen schaute sie durch ihre langen, dichten Wimpern zu mir auf.
Ach Mann! Wie um alles in der Welt sollte ich bei diesem Bambi-Blick denn noch standhaft bleiben? Wie sollte ich diesen großen Augen, die mich geradezu anflehten, sie nicht von mir zu stoßen und sie zu retten, bloß widerstehen?
NEIN! Schluss jetzt damit, Will! Es reicht!
Ich verbot es mir einfach, jetzt auch nur noch eine einzige Sekunde länger darüber nachzudenken. Egal wie sehr ihr süßer, heißer Körper mich auch reizte. Und das tat er, sogar mehr als es gut für mich war. Ich konnte und durfte mich auf ihre Spielchen nicht einlassen.
Nein wirklich, es kam überhaupt nicht in Frage, meine Zukunft für sie aufs Spiel zu setzen. Dafür hatte ich in den letzten Jahren bereits zu hart gearbeitet, hatte Pläne geschmiedet und da passte so ein leichtes Mädchen, wie Hope Thomson es nun einmal war, nicht hinein. Ihr Leben war im Gegensatz zu meinem die reinste Katastrophe, auch wenn sie keinesfalls etwas dafür konnte.
Jeder in dieser kleinen, verschlafenen Stadt wusste, wer die Thomsons waren. Nicht gerade das beste Niveau, mit dem sich die Leute hier gerne abgaben. Ihre Eltern waren beide stinkfaul und tranken zu viel, wobei sie sich einen feuchten Kehricht darum scherten, wo sich ihre Tochter in dieser Zeit gerade rumtrieb.
Der Gedanke daran, dass ihnen ihr eigenes Kind so gleichgültig zu sein schien, erfüllte mich mit Wut. Wenn man also genauer darüber nachdachte, war es nicht einmal verwunderlich, dass Hope ständig den Anschein erweckte, sie würde vor etwas davon laufen. Sie wirkte, als wäre sie getrieben, von einer inneren Unruhe, etwas zu finden, was ihr zu Hause verwehrt wurde.
Nämlich Liebe.
Auch wenn die Kleine mir im Grunde meines Herzens leidtat und ich nicht gut fand, was sie da tat, ging es mich dennoch nichts an, dass sie sich jedem Jungen dieser Stadt an den Hals schmiss, der ihr auch nur ein klein wenig Aufmerksamkeit zu schenken schien. Dabei glaubte ich noch nicht einmal wie die anderen Kerle hier daran, dass es ihr dabei lediglich um Sex ging.
Ganz im Gegenteil. Vielmehr sagte mir mein Gefühl, dass sie auf der Suche nach etwas viel Bedeutsamerem war. Man musste doch wahrlich kein Hellseher sein, um erkennen zu können, dass sie sich lediglich nach Liebe und Aufmerksamkeit sehnte, nach dem, was sie zu Hause anscheinend vermisste und nicht bekam. Aber ganz bestimmt brauchte sie keine weiteren Idioten, die ihren Körper wie ein Spielzeug benutzten, nur um sich hinterher vor ihren Freunden lautstark damit zu brüsten.
Allein die Vorstellung daran, dass sie ihren wunderschönen Körper an all diese notgeilen Kerle verschwendete, allen voran an diesen Ethan, ließ mich beinahe durchdrehen.
Nein! Ich musste ein für alle Mal damit aufhören, darüber nachzudenken. Das war nicht mein Problem. Und ich würde es auch ganz gewiss nicht zu meinem machen.
Schnell schob ich diesen unliebsamen Gedanken zur Seite und richtete stattdessen meine Aufmerksamkeit auf ihr makelloses Gesicht. Was ich jedoch sogleich wieder bereute, als ich hilflos dabei zusehen musste, wie sie sich nachdenklich auf ihrer vollen Unterlippe herumkaute.
Wie gerne würde ich da jetzt hineinbeißen?!
Mein Gott, wo kam das denn plötzlich her? Ich verpasste mir eine mentale Ohrfeige.
Aber was sollte ich denn tun? Es war doch bloß die Wahrheit. Die Kleine war so verflucht heiß.
Weshalb sollte ich mich also selbst weiter belügen? Ich begehrte sie, na und? Doch das hieß ja wohl noch lange nicht, dass ich diesem Verlangen nach ihr auch wirklich nachgeben musste. Hope Thomson war nicht mein Mädchen und sie würde es auch nie sein. Ich teilte nicht gerne und deshalb stand es völlig außer Frage, etwas mit ihr anzufangen.
»Ich … ich wollte doch bloß nett sein.« Sie starrte auf meine Finger, die noch immer ihr Handgelenk umschlossen. Ihre Worte waren dabei nicht lauter als ein Flüstern.
»Ja«, seufzte ich, »ich weiß.«
Sie beugte sich leicht zu mir vor. »Ich möchte doch nur wissen, wie es sich anfühlt.«
»Wie sich was anfühlt?«
»Wie es sich anfühlt, wenn ein Junge wie du mich küsst.«
Oh Mann! Ich schluckte und fixierte ihre Lippen. Das hier war nicht gut. Nein, das war ganz und gar nicht gut.
»Küss mich, Will! Bitte! Nur ein einziges Mal«, hauchte sie, dabei war sie mir inzwischen so nah, dass jeder ihrer Atemzüge warm über meine Haut strich.
Heilige Scheiße! Ja, ich wusste, dass Hope Thomson nicht gut für mich war, bloß mein Körper schien das noch immer nicht so recht begreifen zu wollen.
Es kostete mich unendlich viel Kraft. Keine Ahnung, wo ich sie plötzlich hernahm, aber ich riss mich zusammen, schüttelte den Kopf und schaffte es tatsächlich, wenn auch nur schweren Herzens, ein Stück weit von ihr abzurücken.
Doch aufgeben kam für so jemanden wie Hope wohl nicht in Frage?! Anstatt sich geschlagen zu geben, beugte sie sich noch weiter zu mir vor und ließ sich von meiner Abfuhr keinesfalls beirren.
»Bitte«, flüsterte sie fast schon flehentlich, während ich es nur mit Mühe schaffte, meinen Blick von ihren feucht schimmernden Lippen zu reißen.
Nicht, dass es die Sache besser gemacht hätte.
Ganz im Gegenteil. Vielmehr war es ein Fehler. Sogar ein verdammt großer Fehler, um genau zu sein.
Hätte ich meinen Blick doch mal besser ein Stück weiter oben gelassen. Aber nein! Ich Blödmann musste ja unbedingt nach unten schauen. Meine Augen saugten sich förmlich an ihrem zierlichen Körper fest.
War ja klar! Ausgerechnet heute musste sie diese viel zu engen, knappen Shorts tragen, in der ihre ohnehin schon perfekt geformten Beine besonders sexy aussahen.
Wollte sie mich etwa umbringen?
Es fehlte wahrlich nicht mehr viel und ich würde gleich auf meine guten Vorsätze pfeifen. Wie zur Hölle sollte ich dieser zur Fleisch gewordenen Versuchung nur noch länger widerstehen?
»Du … du willst mich wirklich nicht? Oder?« So wie sie es jetzt sagte, fühlte sich die Abfuhr, die ich ihr soeben noch erteilt hatte, auf einmal irgendwie falsch an.
Ich schwieg. Was sollte ich denn darauf auch antworten? Nein, Hope, ganz im Gegenteil! Möchtest du mir zum Beweis vielleicht mal an die Beule in meiner Hose fassen?
Pffft! Wohl kaum. Ich verdrehte innerlich die Augen.
»Es liegt an mir, nicht wahr? An dem was ich in deinen Augen bin?«, flüsterte sie mit brüchiger Stimme und riss mich damit wieder ins Hier und Jetzt zurück.
»Ja … ich meine nein«, murmelte ich und fuhr mir aufgewühlt durchs Haar.
Hastig wandte sie den Kopf ab. Ihre Wangen verfärbten sich zu einem tiefen Rot.
Ach verdammt!
Mit einem gequälten Lächeln sah sie mich an und entzog mir ihre Hand, die ich zu meinem Erstaunen immer noch festhielt und um ehrlich zu sein, gerade nur äußerst widerwillig freigab.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, versuchte ich die Situation etwas zu entschärfen.
»Ach, nein?!« Hope wirkte verletzt, was ich ihr noch nicht einmal verübeln konnte.
»Nein«, sagte ich im Brustton der Überzeugung und das meinte ich auch so. Denn es war ja keineswegs so, dass ich sie nicht wollte.
Oh Mann, und wie ich sie gerade wollte. Doch ich würde den Teufel tun, ihr das jetzt auf ihre süße, kleine Nase zu binden.
Ja, es wäre durchaus sicherer für mich, sie nur aus der Ferne zu begehren, als für ein paar lächerliche Sekunden Vergnügen, all meine Prinzipien über Bord zu werfen.
»Schau, Hope, du bist wirklich unglaublich hübsch und ausgesprochen sexy, aber es geht nicht.«
Verflucht, ich räusperte mich, als ich sah, wie sie hektisch zu blinzeln begann. »Es liegt wirklich nicht an dir«, schob ich schnell hinterher, um meinen Worten etwas die Schärfe zu nehmen, »sondern ganz alleine an mir.«
»Oh!« Erstaunt riss sie die Augen auf. Sie legte den Kopf schief und betrachte mich mit zunehmender Neugier. »Natürlich … ich hätte es wissen müssen.«
Ich runzelte die Stirn.
»Was hättest du wissen müssen?«
So wie Hope mich gerade ansah, beschlich mich auf einmal ein ungutes Gefühl.
»Na, dass du schwul bist.«
Was, schwul? Ich??? Mein Kopf ruckte zur Seite.
»Alle guten Männer sind schwul. Das erklärt natürlich einiges«, redete sie weiter drauf los.
»Ich bin nicht schwul«, grunzte ich empört.
»Bist du nicht?«
»Nein, verdammt … das bin ich ganz gewiss nicht«, gab ich etwas barscher als beabsichtigt zurück. »Es hat andere Gründe.«
»Also … also liegt es doch an mir?!« Ihre Schultern sackten nach vorne, gleichzeitig nahm ihr Gesicht einen verletzten Ausdruck an.
Sofort tat mir leid, was ich gesagt hatte. Nichts lag mir ferner, als ihr auch noch weh zu tun. Ich hob vorsichtig meine Hand und strich ihr über die Wange, was ihr sogleich einen wohligen Seufzer entlockte.
»Hope, hör mir zu.« Ich schluckte, denn es fiel mir alles andere als leicht, ihr das jetzt sagen zu müssen. »Ich bin nicht der Typ, der jedes Wochenende mit einer anderen ins Bett steigt. Ich habe Pläne und Prinzipien, an die ich mich halte und denen ich auch treu bleibe … und da ...«
» … und da hat so ein Mädchen wie ich es bin natürlich keinen Platz in deinem Leben«, beendete sie traurig meinen Satz.
Ich entgegnete nichts. Was sollte ich auch großartig dazu sagen? Sie hatte ja recht. Ich dachte an ihren schlechten Ruf, den sie hatte. Auch wenn ich sie noch so sehr begehrte, ich konnte einfach nicht darüber hinwegsehen, wie viele Typen sie schon vor mir angefasst hatten. Mein Schweigen war ihr wohl Antwort genug. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Schnell wandte sie den Kopf zur Seite.
»Hope?« Ich umschloss mit beiden Händen ihr Gesicht, sodass ihr nichts weiter übrig blieb, als mich erneut anzusehen. Zärtlich fing ich mit dem Daumen die einzelne Träne ein, die sich gerade aus ihrem Augenwinkel löste.
»Nein, lass mich!«, wisperte sie verlegen, aber bestimmt und begann sich unter meinen Händen zu winden. Nur widerwillig ließ ich sie los.
»Ist schon gut. Ich weiß, dass du nicht wie die anderen Jungs in dieser Stadt bist. Die Mädchen reden über dich, schwärmen von dir ... Jede von ihnen möchte dich gerne einfangen.« Sie hielt kurz inne und blickte beschämt zu Boden. »Schon klar, dass ich in einer ganz anderen Liga spiele und so jemand wie du unerreichbar für mich bleibt.«
»Oh Hope, sag so etwas nicht!« Sie so sehen zu müssen, versetzte mir einen herben Stich.
»Aber wenn es doch die Wahrheit ist.« Sie schnaubte. »Ich sollte mich früher oder später wohl damit abfinden. Mein Leben ist doch schon längst vorbestimmt. Meine Eltern haben recht. Irgendwann werde ich wohl so einen Loser, oder noch schlimmer, so jemanden wie Ethan heiraten, der mir einen Haufen Kinder macht und es nie zu etwas bringen wird«, sagte sie bitter. »Dir hingegen steht noch die ganze Welt offen … «
Oh Süße! Ich streckte die Hand nach ihr aus, gab diesem unbändigen Drang einfach nach, sie erneut zu berühren und streichelte sanft über ihre Wange. Ich wusste nicht viel von Hope Thomson, aber mein Gefühl sagte mir, dass weitaus mehr in ihr steckte, als viele hier vermuteten. Die Kleine war alles andere als dumm. Sie musste nicht hierbleiben und versauern. Selbst für so jemanden wie sie gab es Möglichkeiten. Alles wäre jedenfalls besser, als an irgend so einem Idioten hier aus der Stadt hängen zu bleiben.
»Das muss doch nicht so laufen«, warf ich ein. »Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Du bist intelligent, witzig, siehst gut aus … Warum machst du nicht einfach etwas daraus? Und die Sache mit den ganzen Jungs, jetzt mal ehrlich … « Ich schnaubte. » … ich verstehe nicht, weshalb du dir das überhaupt antust? Du … «
»Nein Will, nicht.« Sie hob zitternd die Hand und presste mir kurz ihre Finger auf die Lippen, um mich damit zum Schweigen zu bringen. »Lass einfach gut sein, okay?«
Okay? Nein, nichts war okay! Diese zarte Berührung traf mich dermaßen unerwartet, dass mein Herzschlag von jetzt auf gleich völlig aus dem Takt geriet. Doch mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie es nicht bemerken würde.
»Das ist mein Schicksal«, flüsterte sie. »Es ist mir vorbestimmt, für immer in diesem Kaff zu hocken und hier zu versauern.« Inzwischen quollen ihre Augen über.
»Das ist doch totaler Bullshit und das weißt du!«, hielt ich dagegen. Warum zur Hölle glaubte sie nur, so wertlos zu sein?
Ich fasste erneut nach ihrer Hand und legte sie auf meine Brust, doch dieses Mal war es mir gleichgültig, ob sie meinen rasenden Herzschlag nun spürte oder nicht.
»Hope!«
»Nein, Will! Ich bin nicht dumm! Ich weiß sehr wohl, was die Leute über mich denken und hinter meinem Rücken über mich reden, auch wenn nur die Hälfte davon der Wahrheit entspricht«, fügte sie so leise hinzu, dass ich Mühe hatte, sie zu verstehen. Sie stockte und ihr Blick schweifte in die Ferne. »Aber sie haben ja keine Ahnung wie das ist, jeden Tag mit ihnen dort unter einem Dach leben zu müssen. Wenn sie auch nur einen einzigen Augenblick wüssten, wie es sich anfühlt … «
»Wie sich was anfühlt?«
»Ach, ist doch egal.« Sie seufzte. »Ich werde jetzt wohl lieber gehen, bevor uns noch die Leute zusammen sehen und anfangen, auch schlecht über dich zu denken.«
Wie? Sie wollte jetzt einfach gehen? Sie schuldete mir ja wohl noch immer eine Antwort. Was zum Teufel meinte sie denn damit „ wenn sie wüssten, wie es sich anfühlt“?
Hope löste ihre Hand von meiner Brust und machte tatsächlich Anstalten, sich von dem umgestürzten Baumstamm zu erheben.
Nein, meine Kleine! So leicht wirst du mir nicht davon kommen!
Anstatt sie frei zu geben, zog ich sie bloß noch näher an mich heran. Schwer atmend lehnte ich meine Stirn an ihre.
»Hope?!« Ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper.
Oh Mann! Plötzlich konnte ich die anderen Jungs verstehen. Ihre Nähe, ihr süßer Duft, den sie unaufhörlich zu verströmen schien, all dies erregte mich in diesem Moment so sehr, dass sich jeder vernünftige Gedanke sofort in Luft auflöste.
Und dabei war sie ja fast noch ein Kind. Aber halt nur fast.
»Bitte vergiss das mit dem Kuss … ich meine, dass ich dich darum angefleht habe«, flüsterte sie.
Ha, als ob ich das jemals so einfach wieder vergessen könnte.
»Bitte, Will«, wisperte sie dicht an meinen Lippen und ich war mir mit einem Mal nicht mehr sicher, ob sie mich damit wirklich darum bat, nicht mehr weiter über die ganze Sache nachzudenken oder mir doch noch einen Kuss abringen wollte.
Egal weshalb sie es nun auch tat oder welche Absichten dahinter stecken mochten. Es könnte mir gerade nicht gleichgültiger sein.
Ihr herrlicher Mund war meinem ganz nah. Geradezu verlockend nah, sodass ich an nichts anderes mehr denken konnte, als ihn endlich zu kosten.
Ach was soll´s!
Mit einem Knurren riss ich sie an mich und presste meine Lippen gierig auf ihre. Überrascht schnappte sie nach Luft, doch ich ließ ihr kaum Zeit, um sich von meinem Angriff zu erholen. Das war aber auch gar nicht nötig. Wirkte Hope anfänglich noch verwirrt, wich diese Verwirrung schon bald wilder, hemmungsloser Begierde. Der Kuss wurde schnell härter und fordernder. Die kleinen, süßen Laute, die sie dabei immer wieder von sich gab, brachten sofort das Blut in meinen Adern zum Kochen.
Und so war es auch nicht verwunderlich, dass ich derjenige war, der als Erster die Kontrolle verlor. Ich umfasste ihren Kopf, um meine Lippen noch fester auf ihre zu drücken. Von Sekunde zu Sekunde nahm ich mehr und mehr von ihr Besitz, bis sie sich schließlich auch voll und ganz fallen ließ und diesem Strudel der Leidenschaft hingab.
Sie seufzte und sank gegen mich. Ich konnte es spüren, fühlte, wie sie zu Wachs in meinen Händen wurde und unter meinen Berührungen förmlich dahin zu schmelzen drohte.
In diesem Augenblick war es mir egal, ob sie in mein Leben passte oder nicht!
Mein Griff in ihren Haaren verstärkte sich. Ich strich mit meinen Zähnen sanft über ihre Unterlippe, ehe ich nicht anders konnte und zu biss. Gerade so fest, dass es ihr ein leises Wimmern entlockte und sie sich hilflos an meinen Schultern festklammerte. Sofort wurde ich wieder zärtlicher, leckte mit der Zunge behutsam über die von mir zuvor noch malträtierte Stelle, nur um sie damit vollends in den Wahnsinn zu treiben.
Auf einmal spürte ich ihre Finger, wie sie sich am Verschluss meiner Hose zu schaffen machten.
Fuck! Das hier lief komplett aus dem Ruder. Eigentlich wollte ich es langsam angehen lassen, aber wie oft hatte ich von diesem Moment geträumt und nun, da er Realität wurde, konnte ich mein angestautes Verlangen nach ihr kaum noch kontrollieren.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber ganz gewiss nicht, dass sich in dem Augenblick, in dem sich unsere Lippen trafen, meine ganzen Zukunftspläne in Luft auflösen könnten.
Darauf war ich wahrlich nicht gefasst gewesen! Das war zu viel!
Abrupt ließ ich sie los, was Hope sofort mit einem protestierenden Laut kommentierte. Mit ihren noch immer von diesem unglaublichen Kuss feucht glänzenden Lippen sah sie unsicher zu mir auf.
Ich schluckte und zog eilig wieder den Reißverschluss meiner Hose zu. Auch wenn mir noch nie etwas schwerer gefallen war, als das in diesem Moment, stand ich dennoch auf und ging auf Abstand. Aufgewühlt strich ich mir durchs Haar, während ich weiterhin auf das Mädchen starrte, das mit einem einzigen Kuss geschafft hatte, was noch keiner Frau zuvor gelungen war.
Sie hatte mich berührt.
Mich sogar bis tief in mein Innerstes erschüttert. Vorher hatte ich geglaubt, dass mein Leben nahezu perfekt gewesen sei, aber erst jetzt, durch sie, fühlte ich mich zum ersten Mal richtig lebendig.
Doch was spielte das jetzt für eine Rolle? Ich wusste, wo mein Platz war und was von mir erwartet wurde. Auch wenn es mir weh tat. Mein Entschluss stand dennoch fest. Nicht umsonst hatte ich die letzten Jahre so hart an mir gearbeitet und mir so manches verkniffen, um dies alles aufgrund eines einzigen Kusses aufs Spiel zu setzen.
Aber egal, was ich jetzt auch tun würde, eines stand unwiderruflich fest: Diesen Abend mit Hope Thomson am See würde ich wohl in meinem ganzen Leben nie wieder vergessen.
Etwas wehmütig warf ich einen letzten Blick auf ihre von meinem leidenschaftlichen Kuss geschwollenen Lippen. Ich wusste, dass das, was ich jetzt zu tun gedachte, alles andere als nett war, aber die Versuchung, sie erneut an mich zu reißen und zu küssen, war einfach zu groß und so drehte ich mich schweren Herzens um und ging ohne ein einziges Wort einfach davon.
10 Jahre später …
Ich setzte den Blinker und bog in die Straße ein, die mich auch heute noch bis in meine Träume verfolgte. Sobald das heruntergekommene Reihenhaus mit der schäbigen Veranda und den fehlenden Holzschindeln vor mir auftauchte, lenkte ich den Wagen auf den rechten Seitenstreifen und kam unmittelbar davor zum Stehen.
Eine Weile saß ich einfach nur da und knetete nervös meine Hände, während ich tapfer den dicken Klos in meinem Hals ignorierte und wie hypnotisiert auf das Haus starrte, in dem ich einmal aufgewachsen war.
Irgendwas stimmte jedoch nicht. Etwas war anders. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, was genau es sein könnte.
Gelb.
Ja, das Haus war jetzt tatsächlich gelb.
Irgendwer musste ihm einen neuen Anstrich verpasst haben. Doch auch das schien schon Jahre her zu sein, denn hier und da konnte man große Flächen entdecken, an denen die Farbe aufgrund der Witterung bereits abgeplatzt war und so der dreckige Grauton von damals wieder ungehindert zum Vorschein kommen konnte.
Durch den freundlichen Gelbton wirkte es zwar jetzt auf den ersten Blick weitaus weniger bedrohlich als ich es in Erinnerung gehabt hatte, dennoch löste es noch immer dasselbe bedrückende Gefühl in mir aus, das ich noch allzu gut von früher her kannte.
Trotz der hohen Temperaturen, die draußen herrschten, begann ich plötzlich zu frieren. Ich spürte dieses altbekannte beklemmende Gefühl, wie es langsam, unaufhaltsam in mir emporkroch und mich zu ersticken drohte.
Atme! Na los, Hope! Atme!
Zitternd zog ich die Luft ein, während sich meine Finger haltsuchend um das Lenkrad krallten.
Oh Gott, was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Was zur Hölle hatte ich erwartet?
Hatte ich denn wirklich auf Antworten gehofft?! Antworten auf all die unausgesprochenen Fragen, die mir seit Jahren keine Ruhe ließen und mir auf der Seele brannten?! Ja, vermutlich schon.
Doch viel wahrscheinlicher war es, dass sie selbst nicht einmal wussten, weshalb sie mich trotz allem nicht wie ihre eigene Tochter lieben konnten. Weshalb sie mir nie auch nur annähernd die Liebe und Geborgenheit schenken konnten, wie es normalerweise Eltern bei ihren Kindern taten.
Ein Frösteln durchlief mich und ich begann erneut zu zittern. Es fühlte sich an, als würde ich durch eine unsichtbare Macht geradewegs wieder in die Vergangenheit gesogen.
Plötzlich war ich wieder sechzehn. Ich konnte mir förmlich dabei zusehen, wie ich mich aus dem Haus schlich, während meine Eltern wie üblich lauthals stritten. Und wie jedes Mal, wenn das passierte, floh ich Hals über Kopf in Richtung See, auf der Suche nach Trost und Ablenkung. Auf der Suche nach irgend einem Jungen, um wenigstens einen kurzen Moment vergessen zu können, um mich der Illusion hinzugeben, er würde in diesem Augenblick nicht bloß meinen Körper benutzen, sondern mich, Hope Thomson, wirklich lieben.
Allein bei der Erinnerung daran, wie weit ich damals gegangen war, nur um diese unbändige Sehnsucht nach Nähe und Liebe zu stillen, wurde mir schlecht.
Der Preis, den ich letztlich dafür bezahlen musste, war viel zu hoch gewesen. Es gab Dinge in meinem Leben, auf die ich nicht besonders stolz war und die ich mir selbst wohl am allerwenigsten verzeihen könnte. Und dies war eines davon.
Hastig drückte ich den Knopf und ließ die Scheibe hinunter, in der Hoffnung, der Sauerstoff könnte die aufsteigende Übelkeit wieder zurückdrängen.
Ich schloss die Augen, lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und nahm ein paar kräftige Atemzüge, wobei ich mich darauf konzentrierte tief durch die Nase ein- und durch den Mund wieder auszuatmen. Doch es half nichts.
Erst nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte ich es endlich, einen kleinen Teil davon in meine Lunge zu pressen, um so den dicken, festen Klumpen in meinem Magen zu lösen und den bitteren Geschmack auf meiner Zunge zu verdrängen.
Ich zwang mich, mich zusammenzureißen. Auf keinen Fall würde ich mich kaum, dass ich hier war, wieder in dieses naive, nach Liebe bettelnde Mädchen von früher verwandeln.
Wenn Dexter mich jetzt so sehen könnte, würde er sicherlich schrecklich enttäuscht von mir sein. Dabei hatte ich ihm doch auf dem Sterbebett mein Versprechen gegeben. Das Versprechen, endgültig mit meiner Vergangenheit abzuschließen und mir selbst zu verzeihen. Ich schwor mir, ich würde mein Wort auch halten.
Neben der Trauer machte sich nun auch noch ein tiefer Groll in mir breit. Erbarmungslos hatte das Schicksal zugeschlagen, hatte mir den Mann, den ich über alles liebte, genommen und nun war er weg und es gab nur noch mich – mich ganz allein.
Ein wehmütiger Laut entschlüpfte meinen Lippen, während ich nach dem Zündschlüssel griff, das Gaspedal durchdrückte und den Motor laut aufheulen ließ. Blind vor Tränen und ohne darauf zu achten, wohin ich eigentlich fuhr, rauschte ich mit quietschenden Reifen davon.
Dabei immer nur dieses eine Ziel vor Augen. Ich wollte hier weg. Weit weg, um zu vergessen …
Mit klopfendem Herzen lenkte ich den Mietwagen über den schmalen Kiesweg zu dem kleinen Häuschen mit dem Wellblechdach. Genau genommen kam es wohl eher einer Hütte als einem Wohnhaus gleich. Einer der dunkelgrauen Fensterläden hatte sich oben aus der Verankerung gelöst und hing schief zur Seite. Und der kleine Garten, der sich rings um das Haus erstreckte, hatte auch schon einmal bessere Zeiten erlebt.
Trotz meiner Stimmung konnte ich mir beim Anblick von Mabels schnuckeligem Häuschen ein wehmütiges Lächeln nicht verkneifen. Es war wirklich unglaublich. Stundenlang war ich ziellos in der Gegend umhergeirrt, bis mich mein Unterbewusstsein instinktiv zu dem Ort zurückführte, an dem ich auch schon früher Zuflucht gesucht hatte.
Zu Tante Mabel.
Natürlich war Mabel nicht wirklich meine Tante, sondern eine liebenswerte, verrückte alte Dame, die selbst kinderlos geblieben war und ebenfalls viel zu früh ihren Mann verloren hatte.
Ich schluckte, als ich zu begreifen begann, wie viele Parallelen es inzwischen in unser beider Leben gab. Vermutlich würde ich einmal genauso werden wie sie, würde als eine alte, verwirrte Frau enden, über die sich die Nachbarn hinter vorgehaltener Hand das Maul zerrissen und die einsam und alleine mit ihren Tieren lebte, mit denen sie sich unterhielt, als seien es ihre eigenen Kinder.
Schnell drängte ich diesen Gedanken wieder beiseite. Ich stellte den Motor ab, blieb jedoch noch eine Weile sitzen, ehe ich genügend Mut gesammelt hatte, um endlich aussteigen zu können.
Der Kies unter meinen Schuhen knirschte bei jedem Schritt. Mit einem mulmigen Gefühl stieg ich die wenigen Stufen empor und atmete ein letztes Mal tief durch, bevor ich meine Hand hob und zaghaft gegen die alte Holztür klopfte.
Ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, wieder hierher zurückzukommen? Plötzlich beschlich mich ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn Mabel gar nicht mehr hier lebte oder, noch schlimmer, zwischenzeitlich verstorben war?
Unsicher und nervös zugleich verlagerte ich mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Zehn Jahre waren seither vergangen. Zehn lange Jahre, in denen wir uns zum letzten Mal gesehen hatten und ich kurz darauf, ohne mich von ihr zu verabschieden, Hals über Kopf die Stadt verlassen hatte. Mein Gott, sie hätte wirklich allen Grund dazu, sauer auf mich zu sein und mich wieder davon zu jagen.
Was machte ich hier eigentlich? Unsicheren Schrittes wich ich von dem Fliegengitter zurück und noch während ich fieberhaft überlegte, ob es vielleicht nicht besser wäre, doch wieder zu gehen, öffnete sich bereits in der selben Sekunde ein Spalt breit die Tür. Mein Herz machte einen kleinen Ruck, als Mabels faltiges Gesicht plötzlich vor mir auftauchte. Sie sah noch genauso aus wie früher, nur dass ihre schulterlangen Haare nun vollständig ergraut waren.
Mein Gott, es tat so unendlich gut, sie wieder zu sehen. Mabel stutzte und brauchte einen Moment, bis sie begriff. Ungläubig riss sie die Augen auf und schnappte überrascht nach Luft.
»Oh, Hope! Bist du es wirklich, mein Kind?«, flüsterte sie und drückte dabei das Fliegengitter ganz auf. Dies tat sie mit einem solch warmherzigen Lächeln, dass sie es binnen weniger Sekunden geschafft hatte, meine noch so mühsam aufgebaute Selbstbeherrschung auf einen Schlag in sich zusammenstürzen zu lassen.
»Na komm schon her, lass dich mal ansehen!« Sie fasste nach meinen Händen und musterte mich einmal von oben bis unten. Voller Unbehagen begann ich mich unter ihrem intensiven Blick zu winden, denn ich wusste nur zu gut, was sie da sah. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich noch als eine Art Schönheit gegolten, doch von meiner perfekten Figur und der makellosen Haut war nach den letzten Monaten nicht mehr viel übrig geblieben.
Mein langes, dunkles Haar hatte ich mir kurz nach Dex Tod abgeschnitten und die warmen, strahlenden Augen von damals, auf die ich immer so stolz gewesen war, wirkten in meinem blassen, ausgemergelten Gesicht jetzt nur noch traurig und leer. Mabels aufmerksamem Blick blieb dies keinesfalls verborgen. Sie musterte kritisch meine schlabbrigen Jeans und das schlichte, weiße T-Shirt, das ich mir heute Morgen in der Eile achtlos übergestreift hatte. Der weiche Stoff hing wie ein Sack schlackernd an meinem mittlerweile knochigen Körper hinunter und vermochte schon längst nicht mehr zu verbergen, wie schlecht es tatsächlich um mich stand.
»Mein Gott, Hope«. Ihre Stimme war kaum noch mehr als ein leises Flüstern.
Doch so sehr Mabel sich auch bemühte, es gelang ihr nicht ganz, das Entsetzen über meine traurige Erscheinung vor mir zu verbergen. Anstatt mich jedoch wie all die anderen, mit Fragen oder gar Vorwürfen zu bombardieren, tat sie das einzig Richtige. Sie tat genau das, nach dem ich mich nach Dexters Tod so sehr gesehnt hatte.
Wortlos schloss sie mich in ihre Arme.
Und dann kam der Schmerz.
Dieser alles zerreißende Schmerz, den ich die letzten Wochen so sorgsam tief in mir drin vergraben hatte, bahnte sich nun unaufhaltsam einen Weg zur Oberfläche. Dieses Mal jedoch ließ ich ihn zum ersten Mal zu, krallte mich mit meinen Fingern hilfesuchend an der alten Frau fest und verbarg mein Gesicht an ihrer Schulter, während der Druck hinter meinen Augen immer mehr zunahm und mir ein jämmerlicher Laut über meine Lippen schlüpfte.
Mabel sagte nichts. Kein einziges Wort. Sie stand einfach nur da und streichelte mir immer wieder beruhigend über den Kopf, wog mich wie ein kleines Kind in ihren Armen, sodass ich endlich das tun konnte, wozu ich seit Monaten nicht in der Lage gewesen war.
Ich begann zu weinen.
Zu Beginn war es nur eine einzelne verlorene Träne, die sich aus meinen Wimpern löste und langsam meine Wange hinunter lief. Wie in Zeitlupe tropfte sie auf Mabels Bluse. Und im selben Moment fühlte es sich an, als sei plötzlich ein Damm in mir gebrochen. All die Tränen, die sich angestaut hatten und die ich nicht in der Lage dazu gewesen war zu weinen, schienen sich in dieser einen Sekunde zu lösen und schossen nun unaufhaltsam wie Sturzbäche aus meinen Augen.
Eine Weile standen wir einfach nur da und hielten uns zitternd in den Armen.
Nach und nach versiegten die Tränen und ganz allmählich begann ich mich wieder zu beruhigen.
»Na komm, wir gehen lieber rein, bevor sich die Nachbarn wieder das Maul über uns zwei zerreißen«, flüsterte sie mir liebevoll in mein Haar.
Mabel löste vorsichtig meine Finger aus ihrer Bluse und dirigierte mich durch die Tür. Mit ihren knochigen Fingern griff sie nach meiner Hand, während sie mich hinter sich her in Richtung Couch zog.
»Setz dich!«, sagte sie und drückte mich sanft aber bestimmt hinunter auf das dunkelgrüne Sofa, mit der Blümchendecke, die ich noch allzu gut kannte. Es war die gleiche, wie die vor zehn Jahren.
»Ich mache uns erst einmal einen Tee und dann wirst du mir in Ruhe erzählen, was passiert ist.«
Plötzlich war es genauso wie früher. Wie oft mochte ich wohl schon auf diesem Sofa gesessen und mir dabei meine Probleme von der Seele geredet, ja, mich wohlig in diese alte Decke eingewickelt und ihr mein Herz ausgeschüttet haben?! Ehrlich gesagt, wusste ich es nicht.
Ob es nun an der vertrauten Umgebung oder an Mable selbst lag, konnte ich im Nachhinein nicht mehr sagen, aber nach und nach entspannte ich mich und lauschte den bekannten beruhigenden Geräuschen, die aus der benachbarten Küche zu mir hindurchdrangen.
Ich konnte das Plätschern des Wassers hören, während sie den alten, blechernen Kessel befüllte. Das Zünden der Gasflamme am Herd, bevor sie ihn auf die Platte setzte. Ich fing das Poltern der Schranktüren auf, die geöffnet und kurz darauf wieder geschlossen wurden. Und letztendlich das Klirren der Tassen, die aneinanderstießen, bevor Mabel damit begann, den Tee aufzugießen.
All das war auf einmal wieder so vertraut, dass ich mich wie zu Hause fühlte.
Mabel. Wie konnte ich sie bloß in den letzten zehn Jahren vergessen?
Auf einmal schämte ich mich, so egoistisch gewesen zu sein und mich nie mehr bei ihr gemeldet zu haben. Dabei war sie doch immer einer der wenigen Menschen ohne Vorurteile mir gegenüber gewesen.
Ich konnte mich noch gut an unsere erste Begegnung erinnern, so als sei es gestern gewesen.
Auf dem Nachhauseweg war der Henkel ihrer Einkaufstasche gerissen und so landeten die ganzen Einkäufe direkt auf der Straße. Natürlich hatten die anderen Kinder nichts Besseres zu tun, als die verrückte Mabel auszulachen, die auf der Straße kniete und voller Verzweiflung versuchte ihre Einkäufe wieder einzusammeln. Ich schämte mich für das Verhalten der anderen. Die verwirrte Frau hatte mir schon damals immer furchtbar leidgetan und so hatte ich kurzerhand meine Schultasche zur Seite gelegt und ihr dabei geholfen, die Sachen schnell wieder aufzuheben und nach Hause zu tragen.
Dies war der Beginn unserer ungewöhnlichen Freundschaft gewesen. Von diesem Tag an hatte ich damit begonnen, Mabel regelmäßig zu besuchen. Anfangs hatte ich mir noch Mühe gegeben, nach irgendwelchen Vorwänden zu suchen, um Zeit mit ihr verbringen zu können. Doch dieser Frau konnte man so leicht nichts vormachen. Sie hatte nicht locker gelassen und so hatte ich ihr irgendwann erzählt, weshalb ich meine Zeit viel lieber bei ihr, als in meinem eigenen zu Hause verbrachte.
Wir, also meine Eltern und ich, waren nicht immer so arm gewesen. Auch wenn ich mich kaum noch daran erinnern konnte, wusste ich, dass wir irgendwann einmal in einem kleinen, schönen Haus auf der anderen Seite der Stadt gelebt hatten. Doch ganz plötzlich war kein Geld mehr da gewesen, um die Rechnungen und Hypothek zu bezahlen. Dad war schon immer faul gewesen und arbeitete nur so viel wie nötig. Ja, und meine Mum, die hatte leider schon immer mehr ausgegeben, als er verdiente. So kam es, wie es kommen musste. Unser Haus wurde versteigert und uns blieb keine andere Wahl, als umzuziehen.
Hatte ich bis dahin geglaubt, mein Leben sei bereits die Hölle, wurde ich nun eines Besseren belehrt. Denn von da an wurde alles nur noch schlimmer. Dad hielt uns mit Gelegenheitsjobs über Wasser, während meine Mum immer mehr trank und ihr Leben nun ganz dem Shoppingkanal verschrieben hatte. Den ganzen Tag hatte sie nichts Besseres zu tun, als vor dem Fernseher zu sitzen und Dinge zu bestellen, die wir weder bezahlen, noch gebrauchen konnten.
Dass sie eine Tochter hatten, schienen die beiden wohl irgendwann vergessen zu haben. Ich war ihnen nicht mehr als ein Klotz am Bein, eine zusätzliche Belastung, die ihnen die Haare vom Kopf fraß. Dass sie mich nicht mochten und mir die Schuld dafür gaben, kaum noch Geld zur Verfügung zu haben, ließen sie mich Tag für Tag aufs Neue spüren. Nein, sie hatten mich weder misshandelt, noch hatten sie mich geschlagen. Doch manchmal … manchmal hätte ich mir gewünscht, sie hätten es getan, dann hätten sie mich wenigstens gesehen. Ich hätte gespürt, dass ich noch da war und für sie existierte, aber nein, stattdessen ignorierten sie mich, schenkten mir noch nicht einmal so viel Beachtung.
»Hier, trink solange er noch heiß ist«, riss mich Mabel wieder in die Realität zurück.
Mit einem kleinen aufmunternden Lächeln drückte sie mir den dampfenden Becher in die Hand, von dem am oberen Rand ein Stück Keramik abgeplatzt war und fehlte. Vorsichtig führte ich die Tasse zum Mund, nahm einen winzigen Schluck und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Die Wärme tat gut. Ich genoss, wie sie sich langsam in meinem Innersten ausbreitete.
Mabel ging schleppend zu dem abgewetzten Ohrensessel gegenüber und nahm seufzend darin Platz.
»Geht es dir nicht gut?« Besorgt stellte ich die Tasse auf dem kleinen, braunen Holztisch ab und sah dabei zu, wie sie schmerzhaft ihr Gesicht verzog, sobald sie mit ihrem Körper die Sitzfläche berührte.
»Ach Kindchen, mach dir um mich mal keine Sorgen. Es ist bloß wieder der Rücken, was in meinem Alter ganz normal ist. Mit über achtzig bin ich nun auch nicht mehr die Jüngste. Irgendwann geht alles einmal zu Ende. Und das ist auch gut so … « Sie ächzte und zog sich, trotz der Hitze, die braune Wolldecke über die Beine.
»Jetzt schau doch nicht so, als ob du schon gleich wieder zu heulen anfängst. Noch bin ich ja da. Unkraut vergeht nicht. Das weißt du doch.«
Ich nickte und wischte mir hastig die Tränen aus dem Gesicht. Mabel beugte sich vor und reichte mir eine Packung mit Taschentüchern herüber.
»Hier, nimm und putz dir mal die Nase. Und dann erzählst du der alten Mabel, was dir so schwer auf dem Herzen liegt.«
Mit zitternden Fingern zog ich ein Taschentuch aus der Packung heraus.
»Nun gut. Wer ist er? Wie heißt er? Und wo kann ich ihn finden, um ihm zu sagen, wie dumm er ist, so eine tolle Frau wie dich einfach gehen zu lassen?«
Ich zerknüllte das Taschentuch in meiner Hand.
»Oh Gott, wenn es doch bloß so einfach wäre«, krächzte ich und hatte alle Mühe, nicht einfach wieder loszuheulen. Durch den Tränenschleier sah ich dabei zu, wie sie sich aus dem Sessel hochstemmte und sich zu mir auf das Sofa setzte.
»Was ist passiert?« Sie fasste nach meiner Hand und hielt sie in einer mütterlichen Geste. »Möchtest du es mir erzählen?«
Ich nickte und starrte auf Mabels faltige Hand, die meine zärtlich streichelte.
»Mein Mann … er … er ist tot!«
Es laut auszusprechen tat so schrecklich weh. Es dauerte eine Weile, bis ich den Kopf heben konnte und es schaffte, ihr dabei in die Augen zu sehen. Der Schmerz in meiner Brust wurde immer stärker als ich sah, wie sehr sie nun ebenfalls mit sich rang. Doch sie sagte kein Wort. Drängte mich nicht und gab mir die Zeit, die ich für meine nächsten Worte so dringend brauchte.
»Weißt du, Dexter war ein wirklich guter Mann. Als ich vor zehn Jahren von hier weg lief, wusste ich nicht wohin. Lange Zeit war ich ziellos von einer Stadt zur nächsten geirrt und hatte mich mit dem einen oder anderen Aushilfsjob über Wasser gehalten.« Ich räusperte mich.
Der Klos in meinem Hals wurde immer dicker. Hastig griff ich nach der Tasse auf dem Tisch und nahm einen kleinen Schluck, ehe ich mich wieder in der Lage dazu fühlte, mit meiner Erzählung fortzufahren.
»Nun, eines Tages streunte ich wie so oft durch die Straßen, als ich von Weitem die Galerie entdeckte. Ich kann das Gefühl kaum beschreiben, aber da war etwas, dass mich dazu zwang, stehen zu bleiben. Keine Ahnung wie lange ich bloß dagestanden und die Gemälde durch die große Glasfront angestarrt hatte. Es war unglaublich. Ich war vollkommen fasziniert von den bunten Farben und den Geschichten, die die Künstler mit ihren beeindruckenden Bildern erzählten. Immer wenn ich dachte, ich hätte alles gesehen und weitergehen wollte, entdeckte ich etwas Neues, das mich fesselte und mit in seinen Bann zog. Ja, und so bin ich zum ersten Mal Dexter begegnet.« Ein wehmütiges Lächeln schlich sich bei der Erinnerung an unsere erste Begegnung auf mein Gesicht. Dex war bereits damals Anfang sechzig, jedoch durchaus für sein Alter noch ein attraktiver Mann gewesen. Schon von der ersten Minute an hatte mich seine ruhige und besonnene Art fasziniert.
»Ich hatte ihn zuerst gar nicht bemerkt. Plötzlich stand er neben mir und betrachtete mich schweigend von der Seite. Erst nach einer Weile sprach er mich an und erzählte mir, dass ihm die Galerie gehörte. Er bat mich hinein. Nach kurzem Zögern hatte meine Neugier schließlich gesiegt und ich war ihm gefolgt. Dexter hatte mir voller Stolz seine Galerie gezeigt und geredet und geredet und ich, ich war vollkommen hingerissen von seiner Art, wie er mit mir sprach, als wäre ich ihm ebenbürtig. Ich, Hope Thomson, die jeder bloß immer belächelt und von oben herab behandelt hatte. Verstehst du, was ich meine?«
Mabel nickte und schenkte mir ein wissendes Lächeln.
»Und was geschah dann?«, bohrte sie sanft nach.
»Danach hatte er mir einen Job angeboten. Mir. Gerade mir, die aus einer Kleinstadt kam und von Kunst überhaupt keine Ahnung hatte. Aber Dexter hatte gemeint, das sei nicht wichtig. Er hätte die Leidenschaft in meinen Augen gesehen und dies würde ihm für den Anfang genügen.«
»Ein guter Mann, solche Männer trifft man nicht oft«, murmelte Mabel.
»Ja«, wisperte ich und klammerte mich an ihre Hand.
»War es für dich Liebe auf den ersten Blick?«
»Nein, das war es nicht. Mit der Zeit lernten wir uns immer besser kennen und lieben. Irgendwann hat er um meine Hand angehalten … « Natürlich hatte ich damals direkt Ja gesagt. Denn zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, angekommen zu sein, fühlte mich geliebt und geborgen. Dexter war vierzig Jahre älter gewesen, aber das machte mir nichts.
Zum ersten Mal ging es nicht um meinen Körper, ging es nicht um Sex. Nein, ganz im Gegenteil, das spielte in unserer Beziehung kaum eine Rolle. Was uns verband, war viel mehr und ging viel tiefer. Es war die Liebe zur Kunst.
Dexter mochte es, abends mit mir kuschelnd auf dem Sofa zu sitzen und stundenlang mit mir zu fachsimpeln und zu diskutieren. Auch er war es, der irgendwann mein Talent zum Malen entdeckt und auch gefördert hatte. Durch ihn habe ich zu mir selbst gefunden.
Mein Leben war perfekt gewesen, doch nun … nun war alles vorbei.
»Wie … wie ist er gestorben?«
»Vor einem Jahr hatte er begonnen, über Schmerzen in seinem Brustkorb zu klagen. Als ich ihn endlich dazu bewegen konnte, zum Arzt zu gehen, war der Tumor in seiner Lunge bereits so groß, dass sie nichts mehr für ihn tun konnten. Wir wussten, dass es zu Ende ging, aber trotzdem verrann die Zeit viel zu schnell. Vor etwas mehr als einem Monat ist er … ist er dann … «
Ich schluchzte und drückte mir die Hand vor den Mund.
»Ist schon gut, mein Kind … ist schon gut.« Mabel zog meinen Kopf an ihre Brust und rieb mir sanft über den Rücken.
»Ich weiß, es mag dir im Moment vielleicht nicht so vorkommen«, murmelte sie in mein Haar und ich konnte hören, wie schwer es ihr fiel zu sprechen, »aber mit der Zeit wird es etwas leichter werden … «
Ich schnaubte.
Das durfte doch wohl nicht wahr sein?!
Entnervt warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr und verdrehte die Augen. Noch nicht einmal neun Uhr und es herrschte schon wieder der erste Zickenkrieg im Wartezimmer. So etwas hätte es bei meinem Vater früher nicht gegeben. Aber seitdem er sich vor ein paar Monaten zur Ruhe gesetzt hatte und ich nun, um seine Praxis zu übernehmen, wieder zurückgekommen war, gaben sich hier alle Frauen im heiratsfähigen Alter die Klinke in die Hand. Einige, das wusste ich ganz genau, hatten sich sogar extra ein Haustier zugelegt, nur um einen Grund zu haben, zu mir in die Praxis zu kommen.
Zu Beginn fand ich es ja noch recht amüsant, aber nach ein paar Tagen war der Reiz verschwunden und so, wie gerade jetzt, erschwerte es meinen Arbeitsalltag enorm und fing an mich zu nerven.
Inzwischen stieg der Geräuschpegel immer weiter an, sodass ihre grellen Stimmen schon deutlich bis in mein Sprechzimmer zu hören waren.
Boah! Jetzt reichte es aber! Ich hatte mir dieses Drama jetzt schon lange genug mit anhören müssen. Was zu viel war, war zu viel.
Entnervt klappte ich die Karteikarte meines nächsten Patienten wieder zu und legte sie zurück zur Seite. Mit einem leisen Fluch auf den Lippen stand ich auf und machte mich auf den Weg zur Tür, doch noch ehe ich sie erreichen konnte, schwang sie auch schon auf und Macy, meine Arzthelferin, betrat den Raum. Die kleine, grauhaarige Frau war bereits seit Jahren die gute Seele unserer Praxis und sowohl mein Vater, als auch ich, wussten ihre Arbeit zu schätzen. Mit hochrotem Kopf schloss sie hastig hinter sich die Tür und lehnte sich zur Sicherheit mit ihrem stämmigen Körper von innen dagegen.
Oh oh! Nach ihrem mörderischen Blick zu urteilen, würde es jetzt gleich ein gewaltiges Donnerwetter geben.
»Dr. Cooper«, begann sie in ihrer resoluten Art, »bei aller Liebe. Ich arbeite bereits seit über dreißig Jahren in dieser Praxis und ich hatte noch nie einen Grund, mich zu beschweren. Aber … wenn sich hier nicht bald etwas ändert, dann … dann.« Sie schluckte und atmete noch einmal tief durch. » … dann werden Sie sich wohl nach einer neuen Sprechstundenhilfe umsehen müssen.«
Verflucht! Alles, nur das nicht!
»Macy!« Ich sah sie eindringlich an.
»Nein, nein! Kommen Sie mir nur nicht so und lassen Sie gefälligst diesen Hundeblick, der zieht bei mir nicht.«
Mist! Na ja, einen Versuch war es allemal wert.
Ich seufzte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Macy durfte mich nicht verlassen. Das käme, um es einmal milde auszudrücken, einer mittleren Katastrophe gleich. Denn es gab niemanden hier, der diesen Job hätte besser erledigen können als sie.
Außerdem hatte ich ehrlich gesagt, weder den Nerv und noch Lust dazu, eine neue Arzthelferin einzustellen, geschweige denn einzuarbeiten. Und zu allem Unglück würde sie sich dann noch womöglich in den Kopf setzen, mich ebenfalls wie all die anderen hier, verführen zu wollen.
Nein, danke! Alles bloß das nicht! Da musste sich eine andere Lösung finden.
»Macy, Sie haben ja recht.«, versuchte ich sie erst einmal wieder zu beschwichtigen. »Ich gebe ja zu, so …«, ich deutete mit dem Finger in Richtung Tür, hinter der immer noch das laute Gekeife zweier Frauen zu hören war, » … na ja, kann es jedenfalls nicht weitergehen. Ich verspreche Ihnen, mir etwas einfallen zu lassen.«
»Aber bald, Dr. Cooper. Und zwar sehr bald! Sonst habe ich die längste Zeit für Sie gearbeitet. Haben Sie mich verstanden?«, fragte sie mit strengem Blick.
»Ja, das habe ich, Macy! Und ich verspreche Ihnen alles. Hauptsache Sie bleiben weiterhin hier«, schwor ich und schenkte ihr zur Sicherheit noch eines meiner berüchtigten Lächeln.
Macy rollte übertrieben mit den Augen.
»Lassen Sie das, Doc! Glauben Sie ja nicht, ich wüsste nicht, was Sie da gerade versuchen. Aber ich bin gegen Ihren Charme immun. Heben Sie sich Ihre Energie lieber für Ihre Groupies dort draußen auf. Ich gebe Ihnen einen Monat, Dr. Cooper, keinen Tag länger. Entweder bekommen Sie das Problem bis dahin in den Griff oder Sie können gleich damit anfangen, sich eine neue Sprechstundenhilfe zu suchen.«
Was? Einen Monat? Wie stellte sie sich das denn vor?
Es war ja nicht so, als ob ich mir nicht schon des Öfteren Gedanken darüber gemacht hätte, dieses Problem zu lösen. Aber das war gar nicht so einfach, wie sie sich das vorstellte.
»Okay, okay, ich habe es ja verstanden«, murmelte ich unter ihrem strengen Blick, um sie abermals zu beschwichtigen.
Oh Mann! Das war auch etwas, was nur sie schaffte. Sobald sie mich wie gerade jetzt, in diesem Moment, mit diesem strengen Oberlehrerinnenblick über ihre Brille hinweg ansah, kam ich mir noch immer wie der kleine Junge vor, der sich nach Schulschluss in die Praxis geschlichen hatte, um sich aus ihrer Schublade, vorne am Empfang, ein paar Bonbons zu stibitzen. Und wehe sie hatte mich dabei erwischt, da war die Kacke aber am dampfen.
»Gut«, meinte sie zufrieden, »dann werde ich heute ausnahmsweise noch einmal ein Machtwort sprechen und die beiden Streithähne mal an die frische Luft setzen. Aber ab morgen wird das Ihre Aufgabe sein, Herr Doktor.«
Ja, danke auch! Ich konnte mir gerade nichts Schöneres vorstellen.
Mit einem lauten Seufzer öffnete Macy die Tür und bugsierte ihren fülligen Körper wieder nach draußen. Und kurz darauf war wie durch ein Wunder, von dem Streit nichts mehr zu hören.
Ich stieß den angehaltenen Atem aus, doch die Erleichterung darüber wehrte nur kurz.
Trotz allem musste ich Macy recht geben. So könnte es jedenfalls auf Dauer nicht weitergehen. Ich müsste mir bald etwas einfallen lassen. Wenn möglich sofort. Nur was???
Oh Gott! Wenn ich ehrlich war, wusste ich die Antwort doch schon längst.
Dennoch wollte ich es noch nicht so recht wahrhaben.
Im Grunde genommen wollte ich Victoria nicht heiraten. Zumindest noch nicht. Ich konnte zwar nicht genau sagen warum, aber irgendwas ließ mich zögern. Das Gefühl, dass es der falsche Zeitpunkt dafür wäre, ließ mich einfach nicht los.
Wenn ich jedoch wieder etwas mehr Ruhe in mein Leben bringen wollte, würde mir allerdings nichts anderes übrig bleiben, als es zu tun.
Seit der Highschool stand bereits für unsere beiden Familien fest, dass Vic und ich einmal heiraten würden. In den letzten Jahren waren wir sogar, obwohl wir kaum zueinander passten, mit einigen Unterbrechungen, mehr oder weniger ein Paar gewesen. Doch seitdem ich die Praxis übernommen hatte, waren wir wieder einmal zerstritten und lebten voneinander getrennt. Was natürlich der restlichen Damenwelt nicht entgangen zu sein schien und sich allmählich zu einem echten Problem entwickelte.
Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, ob Victoria wirklich mich liebte oder lediglich die Vorstellung davon, sich den begehrtesten Junggesellen der Stadt geschnappt zu haben. Die einzige Gemeinsamkeit, die wir wirklich noch hatten, war die Liebe zur Medizin. Victoria war eine begnadete Chirurgin und gerade sehr damit beschäftigt, ihre Karriere voranzutreiben.
Seit einigen Monaten war irgendwie die Luft bei uns raus. Ihr Job hatte sie verändert. Die meiste Zeit über war sie nur noch anstrengend, fordernd und schwierig. Darüber hätte ich vielleicht noch hinwegsehen können, wenn wenigstens der Sex gut gewesen wäre, aber inzwischen war von dem noch anfänglichen Feuer zwischen uns kaum noch etwas zu spüren. Unser Liebesleben war mit der Zeit irgendwie etwas eintönig und langweilig geworden.
Wenn ich mich also tatsächlich dazu entscheiden würde, Vic zu heiraten, dann nur aus zwei Gründen. Erstens, dass unsere Familie endlich einmal Ruhe geben würde und zweitens, dass ich ohne Stress meiner Arbeit nachgehen könnte. Der Rest würde sich dann wohl irgendwie finden.
Was für ein Scheiß!
Gefrustet marschierte ich zurück zum Schreibtisch und setzte mich hin. Ich würde sowieso nicht umhinkommen, mir eine Frau zu suchen. Und da außer Victoria momentan eh keine andere in Frage kam, würde ich nun eben zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Meine Entscheidung war gefallen.
Es war an der Zeit, erwachsen zu werden und endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Die Frau, der es gelang, mein Herz ein paar Takte höher schlagen zu lassen, gab es ohnehin nicht.
Das, was damals dieses kleine Mädchen am See geschafft hatte, war bis heute keiner anderen Frau mehr gelungen. Manchmal fragte ich mich, was zwischen uns passiert wäre, wenn ich einfach all meine Prinzipien über Bord geworfen und meinem Verlangen nach ihr nachgegeben hätte. Nach dem was sie bloß mit diesem einzigen Kuss bei mir angerichtet hatte, stand völlig außer Frage: Mit ihr hätte ich wohl den heißesten Sex aller Zeiten gehabt.
Ach verdammt! Warum musste ich ausgerechnet jetzt, nach all den Jahren, wieder an sie denken? Das waren doch lediglich Hirngespinste. Als ob man einem Geist hinterherjagen würde, der nun wirklich nichts mit der Realität zu tun hatte.
»Schluss jetzt mit diesen Spinnereien!«, ermahnte ich mich.
Entschlossener denn je öffnete ich die Schublade meines Schreibtisches und fischte mein Handy heraus.
Es widerstrebte mir zwar, mich bei ihr zu entschuldigen und sie um Verzeihung zu bitten, aber was sein musste, musste sein. Schließlich wollte ich sie ja auch in absehbarer Zeit fragen, ob sie sich vorstellen könnte, meine Frau zu werden, dahingegen würde die Entschuldigung ja dann wohl ein Kinderspiel werden …
Zwei Monate später …
Dunkelheit.
Ich konnte ihn spüren, konnte ihn riechen. Er war hier! Er war tatsächlich zurückgekommen.
Zurück zu mir.
Ich streckte zitternd die Hand nach ihm aus und tastete nach seinem Brustkorb.
Mein Gott! Es gelang mir nicht mehr, den lauten Schluchzer zu unterdrücken. Bei dem bloßen Gedanken daran, er könnte gleich wieder verschwinden, verkrampfte sich mein Herz und ich begann lautlos zu weinen.
»Dex?!«, flüsterte ich und klang dabei so flehentlich wie ein kleines, verängstigtes Kind. Doch das war mir in diesem Moment egal. Ich würde im Augenblick alles dafür tun, nur damit er bei mir bliebe.
»Hope!« Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen.
Ich spürte seine warme Hand, wie sie mir sanft über meine Wange strich, um, wie er es bereits in der Vergangenheit so oft getan hatte, voller Zärtlichkeit meine Tränen hinfort zu wischen.
Seine Berührungen, sein unverwechselbarer Geruch gaben mir die Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum gewesen war.
Ich atmete tief ein und vergrub meine Finger voller Verzweiflung in seinem Hemd. Die Angst, ihn plötzlich wieder verlieren zu können, ließ mich abermals laut Aufschluchzen.
»Schsch, ganz ruhig, Kleines!« Sein heißer Atem strich über meine Wange.
»Dex!«, murmelte ich. »Ich habe dich so vermisst.«
Ich presste meinen Kopf dicht an seine Brust und konnte so den beruhigenden Rhythmus seines Herzschlages spüren.
»Alles wird gut. Schlaf wieder ein, mein Engel. Ich bin ja bei dir und ich verspreche, so lange zu bleiben, wie du mich brauchst.«
Seine geflüsterten Worte legten sich wie Balsam über mein gebrochenes Herz und im selben Augenblick verspürte ich, wie sich Erleichterung in mir breitmachte. Zum ersten Mal seit Langem begann ich mich zu entspannen.
Dexter war zurück. Und er würde bleiben. Genauso, wie er es mir damals versprochen hatte.
Unbehagen machte sich in mir breit.
Ohne die Augen zu öffnen, tastete ich mit meinen Fingerspitzen über das leere Bettlaken und erstarrte. Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, was geschehen war.
Ich hatte geträumt. Wieder einmal!
Himmel! Hörte das denn nie auf? Wie verzweifelt musste ich eigentlich sein, damit mir mein Unterbewusstsein so etwas vorgaukeln konnte?
Ich seufzte und zwang mich, die Augen zu öffnen. Es gab ohnehin kein Entkommen. Früher oder später musste ich mich der bitteren Wahrheit stellen.
Dexter war tot und er würde nie wieder zu mir zurückkommen.
Sofort wurde der Schmerz in meiner Brust wieder übermächtig. Es kostete mich jede Menge Kraft, mich zusammen zu reißen und nicht auf der Stelle laut loszuschreien.
Seit Wochen verkroch ich mich nun hier in Mabels kleinem Haus und hoffte, dass dieser zerreißende Schmerz endlich nachlassen würde. Doch anstatt dass er mit der Zeit weniger wurde, wurde er nur noch schlimmer.
Kurz nach Dexters Tod hatte ich keine andere Wahl gehabt, als zu funktionieren. Entscheidungen hatten getroffen werden müssen, die wichtig für den Erhalt der Galerie gewesen waren, sodass mir die ganze Zeit über nichts anderes übrig geblieben war, als mich zusammenzureißen.
Doch nun, da ich allmählich zur Ruhe kam, brach plötzlich alles ungebremst über mich herein. Jeder einzelne Tag wurde zur Herausforderung, war inzwischen sowas wie eine Art Test für mich.
Jedes Mal fragte ich mich aufs Neue: Würde ich es heute schaffen, aufzustehen? Oder gar die Kraft dazu aufbringen, mich anzuziehen und zu waschen?
Die ersten Tage nach meiner Ankunft hatte ich noch versucht, mich aufzuraffen. Ich quälte mich, um mit Mabel gemeinsam zu frühstücken und ihr im Haushalt zur Hand zu gehen.
Aber dann gab es solche Momente, genau wie diesen hier, in denen ich aufwachte und noch immer seine Wärme und Nähe spüren, seine Hände auf meiner Haut fühlen konnte und dann passierte es wieder. Ich verlor den Halt, fühlte, wie unsichtbare Hände nach mir griffen, mich packten und einfach mit sich hinab in die Tiefe rissen, um mich dort für immer festzuhalten und zu vergraben.