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Was, wenn deine scheinbar heile Welt sich als eine einzige große Lüge entpuppt? Die 22-jährige Abi hat alles, was man sich wünscht: liebevolle, wohlhabende Eltern und einen zukünftigen Ehemann, der die Firma ihres Vaters übernehmen soll. Doch dann der Schock! Durch einen Zufall erfährt sie von ihrer Adoption. Völlig aufgelöst sagt Abi die anstehende Hochzeit ab und begibt sich auf die Suche nach ihrer wahren Herkunft. Dabei stößt sie auf unerklärliche Zurückweisung und lang schwelende Konflikte – und auf den rebellischen Colin, der einen tiefen Hass gegen seinen Stiefvater, Abis leiblichen Vater, hegt. Obwohl Colin sie immer wieder von sich stößt, fühlt sich Abi vom ersten Augenblick an zu ihm hingezogen. Kann über die tiefe Kluft der Feindschaft hinweg Liebe erwachsen? Eine große Liebesgeschichte um Vergebung, Liebe und Hoffnung ... *** Dieses Buch ist der Folgeroman der Bestseller „I´m dreaming of you“ und "I´m fighting for you. Alle Teile sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. *** Enthält erotische Liebesszenen.
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CLAIRE O´DONOGHUE
I´M THINKING
Erotischer Liebesroman
März 2016
Copyright © by Claire O´Donoghue
All rights reserved.
ISBN: 978-3-7393-4103-3
I´M THINKING
Alle Rechte vorbehalten!
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Personen und Handlungen dieser Geschichte sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und unbeabsichtigt.
© by Claire O´Donoghue
E-Mail: [email protected]
Facebook: www.facebook.com/Claire.O.Donoghue77
Cover-Picture: pixelperfectpublishing
http://www.pixelperfectpublishing.com
Cover-Design: Claire O´Donoghue
Kapitelübersicht
I´M THINKING
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Vorschau
Danksagungen
Über die Autorin
Weitere Romane der Reihe
Impressum
Das Monster war zurück!
Ich konnte es deutlich spüren. Kate, meine sieben Jahre ältere Schwester, fürchtete sich vor ihm genauso sehr wie ich. Mit einer Hand meinen Arm fest umklammert, fasste sie all ihren Mut zusammen und betrat zögernd die Wohnung. Automatisch verstärkte sich ihr Griff, während sie mich sichtlich nervös hinter sich herzog und mir nichts anderes übrig blieb, als ihr zu folgen.
Am liebsten hätte ich mich wie ein bockiges Kind mit beiden Beinen fest gegen den Boden gestemmt, um Kate am Weitergehen zu hindern, denn es war viel zu gefährlich. Ich wollte nicht hier sein, und sie sollte es besser auch nicht, wenn er zu Hause war.
Aber Kate blieb nicht stehen, sie ging unbeirrt weiter. Also ergab ich mich ohne weitere Gegenwehr meinem Schicksal und folgte meiner Schwester, so lautlos ich konnte, durch die Eingangstür. Sofort schlug uns der beißende Geruch von altem Männerschweiß und Erbrochenem entgegen.
Igitt, wie eklig!
Angewidert verzog ich das Gesicht und schlich hinter Kates Rücken weiter in Richtung Wohnzimmer. Es hätte wirklich nicht viel gefehlt und ich wäre beinahe gegen sie gerannt, als sie von einem auf den anderen Moment, völlig unerwartet, stehen blieb und zu zittern begann.
Ängstlich spähte ich um meine Schwester herum und da sah ich ihn, das Monster, schlafend, quer über Kates und meinem Schlafsofa ausgestreckt liegen. Selbst in diesem Zustand wirkte unser Stiefvater furchteinflößend auf mich. Er war unheimlich groß und stark wie ein Bär. Seine bloße Anwesenheit löste bei mir bereits eine solche Angst aus, dass meine Zähne unkontrolliert aufeinander schlugen und mein ganzer Körper zu beben begann.
Die meiste Zeit über war er wütend und hatte ziemlich üble Laune. Doch momentan schlief er seinen Rausch aus und schnarchte mit weit offenstehendem Mund, sodass ihm ungehindert Speichel herauslief und genau auf mein Kuschelkissen tropfte. Ich wollte nicht, dass er mein Lieblingskissen besudelte. Alleine der Gedanke daran, heute Abend meinen Kopf auf diese Stelle legen zu müssen, bereitete mir Übelkeit.
Nur mit größter Mühe konnte ich gerade noch den aufkommenden Würgereiz unterdrücken. Hätte ich in diesem Augenblick einen Wunsch frei gehabt, hätte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass er für immer aus unserem Leben verschwinden und nie wieder zurückkommen würde.
Kate, der meine Anspannung natürlich nicht entgangen war, legte ihren ausgestreckten Zeigefinger auf ihre Lippen und deutete mir an, leise zu sein. Kurz nickte ich ihr zu und folgte meiner Schwester in die Küche. Mittlerweile waren wir ein eingespieltes Team und so fingen wir an, möglichst geräuschlos, die Einkäufe nach und nach in den Schränken zu verstauen. Gerade griff ich nach der Packung meiner Lieblingsflakes und warf gleichzeitig einen besorgten Blick hinüber zum Schlafsofa, als ich aus Unachtsamkeit mit meinem Arm gegen das leere Wasserglas stieß, das neben mir auf der Arbeitsplatte stand.
Oh, nein!
Voller Entsetzen hielt ich den Atem an und beobachtete, wie das Glas gefährlich nah an der Kante zu tänzeln begann, nur, um eine Sekunde später kopfüber mit einem lauten Knall zu Boden zu fallen und beim Aufprall in tausend Teile zu zerspringen.
Mein Herz blieb stehen, während ich immer noch fassungslos auf den glitzernden Scherbenhaufen zu meinen Füßen starrte und hier innerhalb kürzester Zeit die Hölle los brach.
Das Monster war erwacht!
Sofort geriet ich in Panik und so kam es, wie es kommen musste. Es war zu spät. Ich spürte bereits die warme Flüssigkeit, wie sie unaufhaltsam mein Bein hinab lief und langsam meine Hose durchnässte. Voller Scham schaute ich an mir hinab und fing gleichzeitig fürchterlich zu schluchzen an.
Oh nein, das machte alles nur noch schlimmer.
In der Zwischenzeit war Neil aufgesprungen und wankte bereits bedrohlich auf uns zu. Doch Kate reagierte sofort, indem sie mich in einer schnellen Bewegung hinter ihren Rücken zog und sich schützend vor mir aufbaute.
»Was ist das hier für eine Sauerei?«, brüllte unser Stiefvater nun so laut, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte.
»Wie oft soll ich dir kleinem, dreckigem Miststück noch sagen, dass du gefälligst aufpassen sollst? Du bist ja noch zu blöd, um …«
Abrupt hielt er inne, wobei er mit grimmigem Blick die kleine, verräterische Pfütze auf dem Boden fixierte. Das war gar nicht gut. Meine Kehle schnürte sich zu und sogleich entfuhr mir ein leises Wimmern. Bis jetzt hatte sich Neils ganze Wut immer nur gegen Kate gerichtet, aber heute war es anders, das spürte ich. Heute würde er es zum ersten Mal tun. Heute würde ihn auch Kate nicht mehr davon abhalten können, mich zu verprügeln.
Voller Panik klammerte ich mich schutzsuchend an das Shirt meiner großen Schwester. Ich wusste nur allzu gut, was gleich passieren würde. Zu oft schon hatte ich mit ansehen müssen, wie er Kate gequält und ihr wehgetan hatte. Vor meinem inneren Auge konnte ich bereits sehen, wie er langsam, mit diesem typisch hämischen Grinsen im Gesicht, seinen Gürtel löste, ihn Stück für Stück durch die Schlaufen zog, nur um kurz darauf damit auf mich einzuprügeln.
»Du elender kleiner Pisser«, spie er mir entgegen, nachdem auch ihm zwischenzeitlich klar geworden war, dass ich mich vor Angst eingenässt hatte. »Es ist an der Zeit, dir auch mal etwas Anstand in deinen kleinen verkrüppelten Leib zu prügeln.«
Kate erkannte den Ernst der Lage sofort und versuchte voller Verzweiflung meine verkrampften Finger aus ihrem Sweatshirt zu lösen und gab mir stumm zu verstehen, ich sollte so schnell wie möglich von hier verschwinden. Kurz zögerte ich, doch dann fasste ich all meinen Mut zusammen und rannte einfach los. In der Schule hatte ich noch nie zu den Schnellsten gehört, aber hier ging es nicht darum, eine Medaille oder Urkunden zu gewinnen. Nein, hier ging es lediglich darum, zu überleben.
Noch nie zuvor war ich so schnell gewesen. Nur noch ein paar Schritte, dann hätte ich es geschafft. Mein Herz hämmerte wild gegen meine Brust und ich atmete inzwischen so schnell, dass meine Lunge brannte. Endlich erreichte ich die rettende Tür. Ich legte die Hand auf den Griff und drückte die Klinke hinunter, doch ehe ich sie auch nur ein Stück weit öffnen konnte, wurde ich brutal an meinem Shirt zurückgerissen.
NEEIIINN…!
Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich erkennen, wie er seine Hand zur Faust ballte und zum ersten Schlag ausholte. Die Augen fest zusammengekniffen zog ich den Kopf ein und wartete auf den kommenden Schmerz. Doch der blieb aus. Stattdessen stürmte Kate mit einem unmenschlichen Schrei auf uns zu und warf sich in letzter Sekunde zwischen uns, sodass die Faust, die eigentlich für mich bestimmt war, sie traf.
»Kate!«
Wie eine Stoffpuppe flog sie durch die Luft und streifte mit ihrem Oberkörper die kleine Kommode, ehe sie mit einem lauten Rums gegen die Wand knallte und wie ein nasser Lappen an ihr entlang hinunterrutschte.
Stille.
Regungslos blieb sie am Boden liegen.
»Kate … oh, Kate!«, schluchzte ich mit tränenerstickter Stimme.
Oh mein Gott!
Das war alles nur meine Schuld.Wäre ich nur vorsichtiger gewesen, dann wäre das alles erst gar nicht passiert. Kate rührte sich nicht. Ihre Augen waren starr zur Decke gerichtet und bei jedem Atemzug verzog sich schmerzhaft ihr Gesicht. Nur zu gerne hätte ich mich auf unseren Stiefvater gestürzt und wie der Held aus Kates Fantasieromanen, ihn, die Bestie, mit dem Zauberschwert zur Strecke gebracht. Aber ich war erst sechs und hatte keine Chance gegen einen ausgewachsenen Mann.
Trotzdem musste ich es wenigstens versuchen. Ich liebte meine Schwester mehr als alles andere auf dieser Welt. Denn sie war alles, was ich noch hatte. Mein Entschluss stand fest, doch Neil war wieder einmal schneller als ich. Bevor ich etwas tun konnte, nahm er bereits zu seinem letzten, vernichtenden Schlag aus.
»Du nichtsnutziges, kleines Miststück wirst deine dreckige Klappe halten. Hast du mich verstanden? Sonst mache ich euch alle kalt. Du bist nur über deine eigenen, tollpatschigen Füße gestolpert, ist das klar?«
Mein Herz stand still, als ich hilflos mit ansehen musste, wie er mit seinem Fuß weit ausholte und noch einmal mit voller Wucht auf meine am Boden kauernde Schwester eintrat. Diesen Anblick würde ich nie wieder in meinem Leben vergessen können. Kates aschfahles Gesicht, wie sie sich vor Schmerzen zusammenkrümmte, während ich gleichzeitig dieselben Höllenqualen durchlebte, als hätte Neil gerade mich getreten und nicht sie.
Kate zog scharf die Luft ein, wobei sie von einem auf den anderen Moment ihre Augen verdrehte und ihr Kopf leblos zur Seite sackte.
»Nein!«, schrie ich und starrte auf meine Schwester, die sich nicht mehr bewegte. Sie lag einfach nur da. Was, wenn er sie umgebracht hatte?! Tränen verschleierten mir die Sicht und ich empfand nur noch eine unbändige Wut auf Neil.
Ja, ich hasste ihn!
Auf einmal wurde dieses Gefühl in mir übermächtig. Ohne weiter darüber nachzudenken stürmte ich mit einem markerschütternden Schrei auf ihn zu und trommelte wütend, mit geballten Fäusten, gegen seinen Rücken.
»Du Arsch, ich hasse dich!«, schrie ich aus voller Kehle, während mir die Tränen die Wangen hinunter liefen. Von meinem Ausbruch völlig unbeeindruckt, drehte er sich zu mir um, packte mich an meinem Shirt und zog mich daran so grob nach oben, dass meine Füße kaum noch den Boden berührten. Langsam beugte er sich zu mir herunter. Sein wutverzerrtes Gesicht, nun direkt vor meinem, konnte ich deutlich den üblen Geruch von Alkohol und Erbrochenem riechen. Am liebsten hätte ich meinen Kopf zur Seite gedreht, doch er hielt mich so erbarmungslos fest, dass ich nicht mehr in der Lage dazu war, mich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren.
»Was hast du gerade zu mir gesagt, du nichtsnutziger, kleiner Bastard?«, baute er sich bedrohlich vor mir auf, wobei seine Augen mich förmlich zu durchbohren schienen.
»Du … du hast sie totgeschlagen, du Arsch, ich hasse dich!«, schrie ich erneut aus vollem Hals, ohne zu wissen, woher ich plötzlich diesen Mut nahm, mich dem Monster entgegenzustellen. Doch was hatte ich noch großartig zu verlieren? Wenn Kate tatsächlich tot war, dann wollte ich auch nicht mehr leben.
»Was bist du doch bloß für ein erbärmliches Würstchen?!«, lachte er spöttisch auf. »Heulst hier rum wie ein kleines Mädchen. Ich habe dem Miststück nur eine kleine Abreibung verpasst, sonst nichts. Wenn es dich beruhigt, sie atmet noch. Kannst froh sein, dass sie den Kopf für dich hingehalten hat, ansonsten würdest du jetzt hier auf dem Boden liegen.«
Sein Griff um mein Shirt verstärkte sich. Grob umfasste er mit seinen Fingern mein Kinn und zwang mich so gewaltsam den Kopf zu meiner Schwester zu drehen.
»Sieh genau hin, das ist alles deine Schuld!«
Ja, das wusste ich bereits. Das brauchte er mir nicht noch zu sagen.
»Du wirst dich jetzt von hier verpissen und zu keinem ein Wort, hast du mich verstanden?«
Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich in diesem Augenblick keinen einzigen Laut mehr über meine Lippen gebracht.
»Ob du mich verstanden hast, will ich von dir wissen?!«, blaffte er mich ungehalten an.
»Ja!«, krächzte ich mit weinerlicher Stimme und wollte nur noch, dass er mich endlich los ließ.
»Dann hau ab und lass dich so schnell nicht wieder hier blicken.«
Endlich ließ er von mir ab. Sobald meine Beine den Boden wieder berührten, rannte ich auch schon los.
»Und vergiss nicht … zu niemandem ein Wort … sonst mache ich die kleine Schlampe das nächste Mal kalt.«
Panisch riss ich die Tür auf und lief den Hausflur entlang zur Treppe hinüber. Gleich zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte ich hinunter zu meinem geheimen Versteck, das sich tief unter der Kellertreppe befand. Dort angekommen, ließ ich mich auf die Knie fallen und krabbelte in Windeseile hinein, um mich mit angezogenen Beinen dicht an die Wand zu kauern, bis ich mir sicher sein konnte, dass ich nicht mehr zu sehen war. Ich versuchte mich allmählich wieder zu beruhigen, was mir jedoch nicht wirklich gelang.
Wütend wischte ich mir mit dem Ärmel meines Shirts die Tränen aus dem Gesicht und zog geräuschvoll die Nase nach oben. Wieder einmal hatte er es geschafft mich zu demütigen und mir gezeigt, wie nutz- und wertlos ich doch war.
Neil, dieser blöde Arsch. Ich hasste ihn!
Ich hasste ihn für all die Dinge, die er Kate und mir jeden Tag aufs Neue antat. Und ich schwor mir, hier und jetzt, dass ich nicht eher ruhen würde, bis er dafür bezahlt hätte!
Neunzehn Jahre später …
Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr.
So ein Mist.
Ich hasste es zu spät zu kommen, denn grundsätzlich kam ich nie zu spät. Mein Vater legte großen Wert darauf pünktlich zu sein. Für ihn war dies ein Zeichen von Höflichkeit, des Respekts gegenüber einer anderen Person, mit der man sich traf. Wenn man nicht rechtzeitig zur vereinbarten Zeit erschien, musste diese auf einen warten. Und wer wartete schon gerne?
Mein Vater jedenfalls nicht.
Er war durch und durch ein erfolgreicher Geschäftsmann und das strahlte er auch mit jeder Faser seines Körpers aus. Mit viel harter Arbeit und Disziplin hatte er in den letzten Jahren Grantham-Logistik zu einem der größten und erfolgreichsten Logistikunternehmen der Region aufgebaut.
Angefangen hatte alles vor etwa dreißig Jahren mit zwei alten, klapprigen Transportern. Inzwischen zählte unser Fuhrpark knapp einhundert Fahrzeuge und über einhundertsechzig Mitarbeiter.
Seit meinem Abschluss im letzten Jahr arbeitete ich in der Buchhaltung unseres Familienunternehmens mit. Schon als kleines Mädchen ist mir das Jonglieren mit Zahlen besonders leicht gefallen und hatte mir große Freude bereitet.
In der Zahlenwelt fühlte ich mich zu Hause, war gut, indem was ich tat und erledigte meine Aufgaben immer äußerst gewissenhaft und präzise. Den ganzen Tag über verkroch ich mich in meinem kleinen Eckbüro in der zweiten Etage und versuchte, so gut ich konnte, den engeren Kontakt zu meinen Kollegen zu vermeiden.
Nicht, dass ich sie nicht mochte, aber ich gehörte eher zu den zurückhaltenderen Menschen und das war noch die Untertreibung des Jahrhunderts.
Leider hatte ich eben völlig die Zeit vergessen und viel zu spät bemerkt, dass es bereits nach elf war. Ich fragte mich, was wohl so wichtig sein könnte, dass dieses Gespräch mit meinem Dad nicht Zeit bis heute Abend beim gemeinsamen Familienessen gehabt hätte. Hoffentlich ging es nicht schon wieder um das leidige Thema seiner Nachfolge.
Mein Vater spielte schon seit Längerem mit dem Gedanken kürzer zu treten. Sobald ein würdiger Nachfolger gefunden war, dem er die Geschäftsführung übertragen konnte, wollte er sich ganz aus dem Familienunternehmen zurückziehen. Der ganze Stress der letzten Jahre schlug ihm inzwischen auf seine Gesundheit. Die letzten Monate litt er unter starkem Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen, sodass ihm meine Mutter ständig damit in den Ohren lag, endlich einen Gang zurückzuschalten und in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen.
Auf mich konnte er jedoch hierbei nicht zählen. Ich war keine geborene Führungskraft. Diese Aufgabe überließ ich doch lieber anderen, die mit mehr Durchsetzungsvermögen ausgestattet waren, als ich es je haben würde. Jetzt galt es nur noch, meinen Dad davon zu überzeugen. Irgendwie musste ich versuchen, es ihm so schonend als möglich beizubringen, ohne dass ich dabei seine Gefühle verletzte.
Eine halbe Stunde später wie verabredet, stieg ich aus dem Fahrstuhl und eilte zum Empfang. Mrs. Sullivan, die freundliche Empfangsdame meines Vaters, begrüßte mich mit einem Lächeln.
»Ich weiß, ich bin viel zu spät«, stieß ich atemlos hervor.
»Eigentlich hätte ich bereits um 10.30 Uhr da sein sollen, aber ich hatte bei der Arbeit völlig die Zeit vergessen.«
Betreten blickte ich zu Boden, als mich Mrs. Sullivan jetzt doch etwas tadelnd ansah.
»Sie haben Glück, Ms. Grantham, der 11.00 Uhr Termin hat sich eben um eine Stunde verschoben. Ich sage ihrem Vater nur kurz Bescheid, dass sie jetzt hier sind«, erklärte sie mir und griff nach dem Hörer.
Nervös strich ich meinen grauen, knielangen Rock glatt und atmete ein paar Mal tief durch, um mich für das bevorstehende Gespräch innerlich zu wappnen.
»Sie können gleich durchgehen, Ms. Grantham«, informierte sie mich »er erwartet Sie bereits.«
Mit einem dankbaren Lächeln nickte ich ihr zu, drehte mich um und ging bis zum Ende des Flurs, wo sich Dads Büro befand. Kurz vor der Tür blieb ich stehen.
»Komm schon, Abi! Du schaffst das!«, sprach ich mir selber Mut zu. Wie schlimm konnte es schon werden? Zögerlich legte ich die Hand auf den Griff und öffnete die Tür. Dad saß konzentriert über ein paar Kalkulationen gebeugt und studierte aufmerksam die Unterlagen. Als ich eintrat, huschte sofort ein liebevolles Lächeln über sein faltiges Gesicht.
»Ich habe mich schon gefragt, ob du mich absichtlich versetzt hast, oder du dich bloß mal wieder nicht von deiner Arbeit trennen konntest?!«, fragte er und zwinkerte mir dabei zu.
»Letzteres!«, sagte ich kleinlaut, wobei ich schuldbewusst errötete.
»Das habe ich mir schon fast gedacht. Komm herein und setze dich zu mir, mein Schatz! Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«
Er wies auf den modernen, braunen Ledersessel vor seinem Schreibtisch und deutete mir an dort Platz zu nehmen.
»Um was geht es denn?«, wollte ich zögerlich wissen, während ich mich hinsetzte und mir meinen Rock glatt strich, damit er beim Sitzen nicht zu sehr zerknitterte. Erneut schenkte er mir dieses liebevolle, väterliche Lächeln, das mir zeigte, dass ich trotz meiner zweiundzwanzig Jahre noch immer Daddys kleines Mädchen war.
Bitte, bitte, sag jetzt nicht, dass ich die Stelle als Geschäftsführerin übernehmen soll!
Ich gab mir Mühe die Anspannung vor ihm zu verbergen. Es war noch nie meine Art gewesen meine Gefühle oder Gedanken einfach in die Welt hinauszuposaunen. Doch mein Vater war einer der wenigen Menschen, die mich ab und zu durchschauen konnten, wenn auch nicht immer.
»Ach, Abi ... jetzt sei doch nicht wieder so nervös. Du siehst so aus, als stündest du kurz vor deiner Hinrichtung«, meinte er sanft. Dad räusperte sich und rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Nun, ich mache es kurz. Ich möchte dich auch nicht mehr länger unnötig auf die Folter spannen, aber du hättest mich ruhig schon einmal vorwarnen können!«
Ähm?!
Ich blinzelte und sah irritiert zu ihm auf. Irgendwie wusste ich gerade nicht so recht, worum es hier ging. Seine Mundwinkel zuckten ein Stück nach oben.
»Mason war heute Morgen hier, um ein paar geschäftliche Dinge mit mir zu besprechen und da ist er einfach damit herausgeplatzt.«
Ich verstand immer noch nicht und blinzelte abermals verwirrt mit den Augen.
»Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie überrascht ich war, als er mich um deine Hand gebeten hat«, verriet er mir schmunzelnd und schüttelte dabei den Kopf. »Du hättest ruhig mal etwas sagen können. Ich hatte ja überhaupt keine Ahnung, wie ernst es mit euch beiden bereits ist.«
Mason hatte bitte was?
Entsetzt schnappte ich nach Luft und mein Puls schoss augenblicklich in die Höhe. Mein Vater erlaubte sich doch ganz gewiss wieder einen seiner berüchtigten Scherze. Sein Gesicht zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Belustigung, er schien es tatsächlich ernst zu meinen. Meine Gedanken begannen sich wie wild im Kreis zu drehen und im selben Moment war ich unglaublich enttäuscht, dass mich Mason einfach so übergangen hatte.
Vor etwa einem Jahr hatte ihm mein Vater, nach seinem abgeschlossenen Wirtschaftsstudium, die Leitung unserer Rechnungsabteilung übertragen und nach Dads Erkrankung hatte Mason nach und nach immer mehr wichtige Aufgaben in unserem Unternehmen übernommen. Monate später hatte ihn dann Mum als kleines Dankeschön zu einem Abendessen zu uns nach Hause eingeladen und von da an ging er bei uns regelmäßig ein und aus. Irgendwann vor ein paar Monaten, als ich ihn eines Abends zur Tür begleitet hatte, war es einfach passiert. Mason hatte mich geküsst.
Mein erster richtiger Kuss.
Es gab weder ein großes Feuerwerk, noch bekam ich weiche Knie, doch was wusste ich schon? Ich hatte ja bis dahin keinerlei Erfahrung. Jedenfalls waren wir von da an fest zusammen und es lief ganz gut zwischen uns. Beide arbeiteten wir hart für die Firma. So etwas wie Freizeit war uns nicht sonderlich wichtig. Die wenige gemeinsame Zeit, die wir zusammen verbrachten, nutzen wir für Gespräche über die Firma und ab und zu schliefen wir miteinander. Aber deswegen gleich zu heiraten, ging mir jetzt doch etwas zu schnell.
»Keine Angst. Du brauchst nicht so erschrocken zu schauen. Natürlich habe ich der Hochzeit zugestimmt und ihm gesagt, wie sehr ich mich über diese Nachricht freue«, interpretierte Dad meine Reaktion vollkommen falsch.
»Schließlich ist Mason einer meiner fähigsten und besten Männer. Er würde einen tollen Geschäftsführer abgeben, und du weiß ja selbst, wie ungern ich mir die Fäden aus der Hand nehmen lasse. Daher finde ich den Gedanken, dass er schon bald zur Familie gehören wird, sehr beruhigend. So einen Schwiegersohn und Nachfolger hatte ich mir schon immer gewünscht«, seufzte er und rieb sich müde über die Augen.
»Dann könnte ich endlich mal etwas kürzer treten oder mich sogar ganz aus dem Unternehmen zurückziehen. Du weißt ja, wie sehr mir meine Pumpe zu schaffen macht?!«, sagte er, wobei er die Hand auf seine linke Brust presste. Schmerzhaft verzog er das Gesicht.
»Dieser ganze Stress ist nicht gut für mich. Deine Mum macht sich inzwischen große Sorgen. Sie meint, ich könnte einfach auf der Stelle umfallen und wäre tot.«
Nachdenklich warf er einen Blick aus dem Fenster und atmete tief durch.
»Ich bin nur froh, dass du in Mason den Mann gefunden hast, der dich glücklich macht. Der Gedanke beruhigt mich, dass du gut versorgt bist und jemanden an deiner Seite hast, der sich mit dem Unternehmen auskennt, wenn ich mal nicht mehr bin.«
Ich schluckte und versuchte den Gedanken, mein Vater könnte schon bald sterben, schnell wieder zur Seite zu schieben. Nein, so etwas durfte ich nicht einmal denken.
»Du bist so still«, stellte er nach einer Weile fest und betrachtete mich eindringlich. »Du bist doch glücklich Abi, oder etwa nicht?«
Oh, Gott! Was wollte er denn jetzt nur von mir hören?!
Die Stille im Raum wurde allmählich unerträglich. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
»Ja, Dad. Das bin ich. Mach dir um mich keine Sorgen«, versicherte ich ihm leise, obwohl ich mir um meine Gefühle für Mason ganz und gar nicht sicher war. Ich kannte ihn ja kaum und eine Hochzeit war schließlich ein großer Schritt, den man sich reiflich überlegt haben sollte. Würde ich jetzt jedoch einen Rückzieher machen und mich den Wünschen meines Vaters widersetzen, würde ich ihm vermutlich das Herz brechen.
Unruhig rutschte ich auf dem Sessel hin und her und wusste nicht wohin mit meinen Händen. Allerdings wollte ich doch noch einen letzten Versuch wagen, ihn davon zu überzeugen, dass ich diese Verlobung für völlig überstürzt hielt. Zumindest das war ich mir schuldig.
»Dad? Wegen der Hochzeit ... also ...«, stammelte ich, unsicher, wie ich das Thema am besten ansprechen sollte.
»Mach dir darüber mal keine Sorgen, Kleines. Wir sind nicht böse, dass du uns vorher nichts davon erzählt hast«, unterbrach er mich sanft. »Mit dieser klugen Wahl machst du deine Mum und mich unheimlich glücklich.«
Verdammt!
Mein Magen verkrampfte sich. Und jetzt? Ich wollte die beiden doch auf gar keinen Fall enttäuschen.
»Komm her und lass dich mal ganz fest drücken«, winkte er mich lächelnd zu sich herüber.
Noch immer nicht sicher, was ich jetzt tun sollte, erhob ich mich mit wackeligen Knien aus dem Ledersessel und ging um den Schreibtisch herum auf ihn zu.
»Ach, meine Kleine!«, kam er mir freudestrahlend entgegen und schloss mich in seine Arme.
»Wir sind so stolz auf dich, dass du dir einen solchen gutaussehenden und ehrgeizigen, jungen Mann geangelt hast. Ich habe immer schon gewusst, dass mein cleveres Mädchen einmal einen so großartigen Fang machen würde.«
Meinte er das ernst? Gut, er war schließlich mein Vater. Wahrscheinlich musste er so etwas sagen. Ich wusste selbst, dass ich nicht gerade der Hauptgewinn für einen Mann wie Mason war. Allmählich kam ich ins Grübeln. Vielleicht sollte ich doch die Gelegenheit beim Schopfe packen und mich glücklich schätzen, dass er sich vorstellen konnte, jemanden wie mich zu heiraten? Schließlich standen die Verehrer ja nicht gerade Schlange bei mir. Vielmehr herrschte in dieser Hinsicht seit Jahren gähnende Leere.
Mir war schon klar, dass ich mit diesen aufgebrezelten Barbiepuppen aus Masons Bekanntenkreis nicht mithalten konnte. Trotzdem fand ich mich selbst durchaus passabel und gut so, wie ich war. Meine Kleidung wählte ich nicht nach der neuesten Mode und die ganzen Designerlabels sagten mir nichts. Am liebsten trug ich bequeme Röcke oder locker geschnittene Blusen, die ich online bestellen konnte. Das war praktisch und kostete nicht so viel Zeit, als durch irgendwelche Boutiquen zu streifen und ein Designerkleid nach dem anderen anzuprobieren. Ab und zu brachte mir auch meine Mum etwas Neues mit.
Leider war sie sehr konservativ, was sich auch in ihrem Modegeschmack nur allzu deutlich widerspiegelte. Da es für sie jedoch scheinbar sehr wichtig zu sein schien, mich ab und zu neu einzukleiden und ich sie nicht enttäuschen wollte, trug ich die Sachen eben auf, die sie extra für mich so liebevoll ausgesucht hatte. Mir war es sowieso egal, was ich anzog. Und wenn ich meiner Mum mit solchen Kleinigkeiten eine Freude bereiten konnte, machte mich das ebenso glücklich.
»Ich habe Mason übrigens heute Abend zu uns zum Essen eingeladen«, riss mich Dad wieder ins Hier und Jetzt zurück.
»Du kannst gerne heute Mittag etwas früher Schluss machen. Mason wird dich dann nachher mit nach Hause bringen. Ich muss nur noch ein paar dringende Telefonate führen, dann werde ich später nachkommen.«
»Wie schön!«, flüsterte ich, aber nicht, weil ich mich darüber freute, sondern, da ich wusste, dass ich meinen Dad damit glücklich machte.
Am späten Nachmittag erschien Mason pünktlich in meinem Büro und besaß tatsächlich die Frechheit so zu tun, als ob überhaupt nichts geschehen wäre. Distanziert wie immer, wenn Kollegen in der Nähe waren, beugte er sich nach vorne und hauchte mir einen keuchen Kuss auf die Wange.
»Hallo, Abi! Bist du so weit, dass wir loskönnen?«, fragte er höflich.
»Ja«, entgegnete ich knapp, vermied jedoch weiterhin seinen Blick. Ich war sauer auf ihn, beherrschte mich aber, um ihm nicht hier, vor all den Angestellten, eine Szene zu machen. Obwohl er es, wie ich fand, mehr als verdient hätte.
Aber das war nicht meine Art. Ich mochte keinen Streit und versuchte immer es allen Recht zu machen. Meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse blieben hierbei jedoch so manches Mal auf der Strecke. Trotzdem verletzte mich Masons gleichgültiges Verhalten sehr.
Auch wenn ich nicht überaus romantisch veranlagt war und eine Heirat in naher Zukunft eigentlich noch überhaupt nicht zur Diskussion gestanden hatte, wünschte ich mir doch zumindest, wie jede andere Frau auch, einen Mann, der vor mir auf die Knie ging und um meine Hand anhalten würde.
Wenigstens fragen hätte er mich können, aber selbst das hatte er nicht für notwendig empfunden. Von der Situation völlig frustriert, schnappte ich mir meine Jacke und folgte ihm stumm zu seinem Wagen. Während der ganzen Fahrt breitete sich ein unbehagliches Schweigen zwischen uns aus. Als wir endlich die gepflasterte Einfahrt hinauffuhren und vor meinem Elternhaus zum Stehen kamen, stieß ich vor Erleichterung den angehaltenen Atem aus und konnte es kaum noch erwarten, aus dem Auto zu steigen.
»Abi, warte!«, hielt Mason mich an meiner Schulter zurück, während ich bereits mit meinen Fingern den Türgriff umklammerte. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und atmete tief durch, ehe ich resigniert meine Hand zurückzog und auf meinen Schoß fallen ließ.
Gut! Sollte er sagen, was er zu sagen hatte, aber ändern würde es wahrscheinlich nichts.
Ich war unglaublich enttäuscht und fühlte mich gleichzeitig von ihm übergangen. Ich kam mir vor wie ein Kamel, das auf dem Jahrmarkt dem Meistbietenden verschachert wurde. Mason fuhr sich seufzend durch sein kurz geschnittenes Haar und wartete vermutlich darauf, dass ich irgendetwas sagen würde, aber darauf konnte er lange warten.
»Es tut mir leid, Abi, okay? Auch, wenn du es mir nicht ins Gesicht sagen kannst, sehe ich dir an der Nasenspitze an, dass du sauer auf mich bist.«
Er atmete tief durch und fasste nach meiner Hand.
»Abi, es ist mir heute beim Meeting mit deinem Vater einfach so rausgerutscht. Eigentlich wollte ich dich erst an diesem Wochenende fragen, aber nun ist es eben passiert.«
»Hmmh«, murmelte ich, wünschte mir aber gleichzeitig, dass ich ein einziges Mal aus mir herausgehen und ihm meine Meinung ins Gesicht sagen könnte. Doch das war nicht ich. Wir stritten uns nie und ich vertrat stets dieselben Standpunkte wie er, was mich wiederum zur perfekten Frau für ihn machte.
Mason brauchte so jemand Anspruchslosen wie mich. Dabei würde ich in diesem Augenblick nichts lieber tun, als völlig auszurasten und ihn zu fragen, ob er ernsthaft noch alle Tassen im Schrank hatte. Allerdings tat ich nichts dergleichen. Viel mehr schluckte ich wieder einmal meinen Frust hinunter und fügte mich still in mein Schicksal.
Es war sowieso zu spät. Die Entscheidung war bereits gefallen.
»Ist schon okay, eine größere Freude hättest du meinem Dad nicht machen können«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme. Mason hob den Kopf und runzelte die Stirn, während er mich ausgiebig betrachtete. Er war stets kühl und beherrscht, was es nahezu unmöglich machte zu sagen, was gerade in ihm vorging.
»Ich weiß«, raunte er, beugte sich zu mir vor und strich mir sanft eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Du wirst sehen, es wird großartig werden«, sagte er und zog derart verkrampft die Mundwinkel nach oben, dass es eher einer Grimasse als einem glücklichen Lächeln glich. Ich nickte und versuchte mich ebenfalls an einem kleinen Lächeln, das mir in diesem Moment jedoch nicht so recht gelingen wollte.
Heute war Sonntag.
Normalerweise genoss ich die Ruhe an diesem Tag besonders. Im Großen und Ganzen gestaltete er sich so, dass ich entspannt auf dem Sofa abhing und mich von den ausschweifenden Partys sowie den Strapazen der letzten Woche erholen musste. Alex, mein bester Kumpel und ich ließen es in regelmäßigen Abständen so richtig krachen. Auch dieses Wochenende hatten wir einige heiße Mädels am Start. Aber auf mehr als einen One-Night-Stand ließ ich mich nicht ein. Das machte ich den Frauen auch klar, bevor ich sie mit zu mir nach Hause nahm. Spätestens am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, war es Zeit für sie zu gehen.
Im Grunde konnte ich behaupten, dass ich mit meinem Leben, so wie es zur Zeit lief, weitestgehend zufrieden war. Das Einzige, was ich hin und wieder vermisste, waren die gemeinsamen Sonnabende mit meiner alten Mitbewohnerin Trish. Ich hatte es geliebt, mit ihr Zeit zu verbringen. Für eine Frau war sie vollkommen unkompliziert. Es hatte auch nicht lange gedauert, bis wir beste Freunde wurden und das waren wir bis heute auch geblieben. Früher hatten wir stundenlang zusammen abgehangen, gelacht und uns im stummen Einvernehmen eine Sitcom nach der anderen angeschaut. Bei dem Gedanken daran lächelte ich verträumt vor mich hin.
Das waren noch Zeiten.
Seit Trish jedoch vor einigen Jahren ausgezogen war, stand ihr Zimmer leer. Genauso leer wie ich mich fühlte.
Alle um mich herum befanden sich inzwischen in einer glücklichen Beziehung oder gründeten gerade ihre eigene Familie. Trish hatte Josh, den Bruder meines Schwagers geheiratet und mittlerweile hatten die beiden sogar zwei bezaubernde Kinder. Die zweieinhalb jährige Stacy und den acht Wochen alten Jacob.
Auch meine Schwester Kate erwartete in wenigen Wochen ihr erstes Kind. Ich war mehr als froh darüber, dass sie einen solch starken Partner wie Max an ihrer Seite hatte. Er verkörperte all das, was sich Kate je erträumt hatte. Max trug sie auf Händen und unterstützte meine Schwester bei allem, was sie tat. Nichts anderes hatte sie verdient!
Ich hingegen hegte mit meinen gerade mal fünfundzwanzig Jahren noch keinerlei Interesse an einer langfristigen Beziehung. Die einzige Frau, für die ich meine Freiheit je aufgegeben hätte, wäre Trish gewesen. Vor Jahren hatte ich mich schrecklich in sie verliebt. Aber ihr Herz hatte von Anfang an nur für Josh geschlagen, genauso wie heute. Inzwischen gönnte ich den beiden ihr Glück.
Das war nicht immer so gewesen. Josh hatte in der Vergangenheit ziemlich großen Mist gebaut, aber er war vor Trish zu Kreuze gekrochen und sie hatte ihm verziehen. Seitdem bewies er ihr jeden Tag aufs Neue, wie sehr er sie liebte.
Ich für meinen Teil glaubte jedoch nicht an die einzige große Liebe, wie Trish oder meine Schwester Kate es taten. Alleine der Gedanke daran, mich fest an jemanden zu binden, jagte mir eine Heidenangst ein. Seit jeher fühlte ich mich rastlos. Ständig wurde ich von einer unsichtbaren Macht getrieben und konnte einfach nicht zur Ruhe kommen. Ich hatte immer noch eine Rechnung offen!
Doch die lang ersehnte Rache würde ich nie bekommen. Leider war es schwer, mich mit dieser Tatsache abzufinden.
Ein lautes Klopfen riss mich aus meinen Gedanken.
»Hey, Colin, mach endlich die verdammte Tür auf«, rief mein Schwager von der anderen Seite.
»Komme«, brüllte ich zurück, wobei ich mich erst einmal vom Sofa hoch quälen musste, um ihm zu öffnen.
»Mann, das wurde aber auch Zeit«, brummte Max. Mit einem Sixpack und zwei Pizzakartons bewaffnet schob er sich an mir vorbei. Zielstrebig marschierte er durch den kleinen Flur ins Wohnzimmer und ließ sich geräuschvoll auf das alte Sofa plumpsen. Nachdem er das Bier und die Kartons vor sich auf dem Tisch abgestellt hatte, lehnte er seinen Kopf erschöpft an die Rückenlehne und stieß einen lauten Seufzer aus.
Mit einem breiten Grinsen folgte ich ihm und schmiss mich mit Schwung neben ihn auf die Couch.
»Und, was verschlägt dich an einem Wochenende hier her? Lass mich raten, du bist schon wieder auf der Flucht vor meiner lieben Schwester?«, feixte ich. Seitdem Kate schwanger war, litt sie unter ständigen Hormonschwankungen, sodass die sonst so friedfertige Kate in Rekordzeit zur Furie mutierte. Max schnaubte und griff nach einer der Bierflaschen.
»Du hast ja keine Ahnung, was bei uns zu Hause los ist! Ich liebe diese Frau, ja, ich liebe sie wirklich, aber manchmal da ... da könnte ich sie einfach auf den Mond schießen.«
»Das kann ich gut verstehen«, brummte ich, denn auch ich bekam des Öfteren ihre Launen zu spüren. Derzeit war es ausgesprochen schwierig Kate etwas recht zu machen.
»Sollen wir uns das Spiel ansehen?«, fragte mein Schwager, bevor er sich die Fernbedienung schnappte, um auf den Sportkanal umzuschalten.
»Meinetwegen, ich hatte eh nichts anderes vor.«
So saßen wir eine Weile schweigend nebeneinander, tranken Bier und aßen Pizza, während wir gespannt dem Footballspiel folgten. Nach dem ersten Quarter griff Max nach der Fernbedienung und stellte den Ton auf lautlos. Irritiert sah ich zu ihm rüber. Max rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. Er schien sich unwohl in seiner Haut zu fühlen, irgendetwas brannte ihm unter den Nägeln, bloß was?
»Ähm ... ich muss mit dir über etwas reden«, seufzte er und rieb sich dabei mehrmals nervös über den Nacken.
So ein Mist!
Er hatte sich doch nicht etwa ernsthaft mit Kate gestritten? Trotz aller Freundschaft müsste ich ihm, wenn dem so wäre, den Kopf zurechtrücken. »Jetzt mach endlich, spuck es schon aus«, forderte ich ihn auf, mir zu sagen, was hier los war. Inzwischen brannte ich vor Neugier. Max seufzte noch einmal laut auf.
»Kate hat mich vorgeschickt, um mit dir über etwas Wichtiges zu reden. Sie hat Angst, dass du dich zu sehr aufregst, und ehrlich gesagt, befürchte ich das auch. Das wäre weder gut für Kate, noch für das Baby!«
Ich verstand ehrlich gesagt nur Bahnhof. Mein Schwager warf mir einen nervösen Blick zu, ehe seine Augen kurz zur Zimmerdecke schweiften, so, als würde er Gott noch einmal um Beistand anflehen müssen.
Was hatte das alles bloß zu bedeuten? Es war nicht zu übersehen, wie er mit sich kämpfte. Er schien zu überlegen, wie er es mir am besten beibringen sollte.
»Die Sache ist die«, fing er schließlich doch noch an zu reden, »Kate wünscht sich wieder Kontakt zu eurer Mum.«
Was?
Das konnte doch nicht wahr sein. Aufgebracht sprang ich vom Sofa und spürte sofort eine unbändige Wut in mir aufsteigen. Automatisch ballten sich meine Hände zu Fäusten.
»Hey, Kleiner, komm mal wieder runter.« Max hatte sich inzwischen vom Sofa erhoben und begann im Wohnzimmer auf und ab zu tigern.
Der hatte vielleicht gut reden! Diese Neuigkeit warf mich völlig aus der Bahn. Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber damit mit Sicherheit nicht. Meine Mutter existierte schon seit langem nicht mehr für mich. Damals, als unser leiblicher Vater starb, hatte sie uns einfach im Stich gelassen, indem sie in Selbstmitleid versank und versucht hatte, ihren Kummer mit Alkohol zu betäuben.
So hatten Kate und ich nicht nur unseren Vater, sondern auch gleichzeitig unsere Mutter verloren. Die einzige Mutter, die ich je kannte, war Kate. Wäre sie nicht gewesen, wer weiß, was dann aus mir geworden wäre. Gerade deshalb konnte ich nicht nachvollziehen, weshalb um alles in der Welt sie sich wieder Kontakt zu ihr wünschte.
»Ich verstehe das nicht«, sprach ich meine Gedanken laut aus. »Sie alleine ist doch erst Schuld an dem ganzen Scheiß. Hätte Mum nicht so viel gesoffen, hätte sie sich nicht auf dieses Arschloch eingelassen ... dann hätte es auch nie unseren Stiefvater gegeben.«
Wie konnte Kate das alles bloß vergessen? Ich jedenfalls, wollte nichts mehr mit dieser Frau zu tun haben. Nach einem Zwischenfall, bei dem Neil meine Schwester vor meinen Augen krankenhausreif geschlagen hatte, setzte Kate alle Hebel in Bewegung, mich aus der Schusslinie zu bringen. Sie hatte Tante May dazu überreden können, mich bei sich aufzunehmen. Da unsere Tante jedoch weder über genügend Platz noch über finanzielle Mittel verfügte, um uns beiden Unterschlupf zu gewähren, war Kate alleine bei diesem Monster zurückgeblieben. Eine Zeit lang hatte ich meine Schwester für diese Entscheidung gehasst und nicht verstanden, warum sie das getan hatte.
Ich fühlte mich einsam und alleine ohne sie, wollte nicht so viele Meilen von ihr getrennt sein. Wie hätte ich auch so weit entfernt auf sie Acht geben sollen? Doch erst als ich älter wurde, begann ich allmählich zu begreifen. Sie wollte mich bloß in Sicherheit wissen. Um mich zu schützen, opferte sie sich für mich.
Somit würde ich wohl für immer in ihrer Schuld stehen.
»Glaub mir«, durchbrach Max die Stille, »mir fällt es genauso schwer, ihre Entscheidung zu akzeptieren wie dir. Ich denke, es könnte etwas mit ihrer Schwangerschaft zu tun haben. Vielleicht wünscht sie sich gerade jetzt eine Mutter an ihrer Seite!? Was weiß denn ich?«
Müde rieb er sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Aber in den letzten Tagen ist sie deswegen ständig am Weinen und ihre Albträume nehmen wieder zu. Das ist weder gut für sie, noch für das Kind.«
Er schaute mich flehentlich an. »Meinst du nicht, du könnest Kate zuliebe doch über deinen Schatten springen und dich gemeinsam mit ihr und eurer Mutter treffen?«
Ich öffnete den Mund, doch bevor ich etwas erwidern konnte, schob er noch schnell nach. »Alleine packt sie das nicht. Ich würde ihr ja gerne beistehen, aber sie wünscht sich, dass du bei ihr bist ... was ich auch verstehen kann«, seufzte er. »Bitte, Colin, nur ein einziges, beschissenes Treffen. Damit Kate mit eigenen Augen sehen kann, dass eure Alte nicht bereit dazu ist sich zu ändern und sie endlich, ein für alle Mal, mit der Sache abschließen kann.«
So eine verfluchte Scheiße!
Ich wollte das nicht. Plötzlich fühlte ich mich in die Enge getrieben. Seit meiner Rückkehr vor sechs Jahren war ich meiner Mutter nur ein einziges Mal begegnet, was reiner Zufall war. Sie hatte mich noch nicht einmal erkannt. Wie immer war sie total besoffen und hatte sich gerade Nachschub an einer Tankstelle gekauft. Ich hatte nichts als Abneigung für sie empfunden. Und nun sollte ich sie freiwillig wiedersehen? Doch, wenn Kate es sich so sehr wünschte, dann war ich es ihr wohl schuldig.
Plötzlich waren all die Erinnerungen wieder präsent. Hätte unser Stiefvater damals lediglich mich geschlagen, hätte ich es stillschweigend hingenommen und einfach ertragen. Aber hilflos mit ansehen zu müssen, wie er meine eigene Schwester meinetwegen, nur, weil ich einen dummen Fehler gemacht hatte, halb tot schlug, war das Schlimmste, was er mir je in meinem Leben hatte antun können.
Mein Puls raste.
Ich wusste bereits jetzt, dass ich es bereuen würde. Ich hasste meine Mutter und ich hasste meinen Stiefvater. Aber die Liebe zu Kate war stärker. Kurz schloss ich die Augen und atmete ein paar Mal tief durch.
»Okay«, presste ich hervor, »sag mir, wann und wo und ich werde da sein ... Kate zuliebe ... aus keinem anderen Grund.«
»Danke, Colin«, atmete er erleichtert auf, »ich hätte im Leben nicht gedacht, dass du das machen würdest.« Anerkennend klopfte er mir auf die Schulter.
Ja, was wir nicht alles für die Menschen taten, die wir über alles liebten?!
»Pfff!«, blies ich die Backen auf und ließ kurz darauf die Luft wieder entweichen. Ich konnte es drehen und wenden wie ich wollte, aber es nützte nichts. Mein Spiegelbild wollte sich einfach nicht verändern. Seit einer geschlagenen halben Stunden versteckte ich mich vor Mason in meinem eigenen Badezimmer und hoffte inständig, dass er bereits schlief.
Nachdem wir nun verlobt waren, empfand er es fast schon als selbstverständlich, zweimal die Woche, bei mir zu übernachten. Und ich wusste auch genau warum.
Er wollte Sex.
Die Betonung lag auf Er, ich hätte nämlich locker darauf verzichten können. Mir war sowieso schleierhaft, weshalb alle immer ein solches Tamtam darum machten. Um ehrlich zu sein, hätte ich mich nach diesem anstrengenden Arbeitstag viel lieber in mein Bett gelegt und ein gutes Buch gelesen. Aber nein, jetzt stand ich mir hier die Beine in den Bauch und wurde von Minute zu Minute unsicherer.
Schon vor Längerem hatte ich mir abgewöhnt, ständig in den Spiegel zu schauen. Leider musste ich mir eingestehen, dass ich keine dieser typischen Schönheiten war, von denen Mason ständig in der Firma umgarnt wurde. Auf der Highschool hatte ich sogar den Ruf des hässlichen Entleins innegehabt. Da stellte sich schon die Frage, weshalb Mason gerade mich als seine zukünftige Frau ausgewählt hatte, wenn er doch, ohne größere Probleme, weitaus Hübschere haben konnte.
Dennoch war seine Wahl auf mich gefallen und ich wollte ihm nur allzu gerne glauben, dass er wirklich etwas für mich empfinden könnte.
Zum letzten Mal warf ich einen kritischen Blick in den Spiegel und ließ den Bademantel ein Stück weit aufklaffen. Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Alles in allem fand ich meine Figur gar nicht so übel. Meine Brüste waren zwar etwas zu klein geraten, dafür aber rund und fest. Ansonsten besaß ich eine schmale Taille und einen runden Po. Es hätte also wesentlich schlimmer sein können.
Als sich mein Blick jedoch auf meine Haare richtete, entfuhr mir ein lautes Stöhnen. Da gab es nun wirklich nichts mehr schön zu reden. Seit ich denken konnte, waren sie eine einzige Katastrophe. Irgendeine undefinierbare Mischung aus hellem und dunklem Braun, und als wäre das nicht bereits schlimm genug, stand es permanent von meinem Kopf ab, sodass ich es die meiste Zeit über zusammenbinden und streng nach hinten frisieren musste. Genervt legte ich meine Brille beiseite, um das ganze Ausmaß nicht länger mit ansehen zu müssen.
Meine Augen fand ich mitunter selbst am schönsten. Sie waren groß und schimmerten je nach Lichteinfall bernsteinfarben. Leider kamen sie hinter meinen viel zu dicken Brillengläsern kaum zur Geltung. Zwar hatte ich mir irgendwann einmal Kontaktlinsen zugelegt, doch das Einsetzen und Herausnehmen hatte mir von Anfang an große Schwierigkeiten bereitet, sodass ich inzwischen wieder meine alte Brille trug.
Ob ich Mason wirklich gefiel? Machte ich ihn so an, wie die Frauen ihre Männer in diesen erotischen Romanen?
Angesichts dieses absurden Gedankens verzog ich mein Gesicht zu einer albernen Grimasse und musste über mich selbst den Kopf schütteln. Mit einem kleinen Seufzer raffte ich die Enden des Bademantels schnell wieder zusammen und band ihn zu. Ich hatte Mason bereits lange genug warten lassen.
Noch immer völlig in Gedanken, öffnete ich die Tür und ging zurück ins Schlafzimmer. Mein Kopf ruckte nach oben und ich erstarrte. Mason lag nackt auf meinem Bett und sah mit einem herausfordernden Grinsen zu mir auf. Meine Wangen glühten, während meine Augen plötzlich ein Eigenleben entwickelten. Ohne, dass ich hätte etwas dagegen tun können, wanderten sie wie von selbst über seinen drahtigen Körper, ehe sie kurz an seiner Körpermitte verweilten.
Ach du liebe Zeit!
Hastig drehte ich den Kopf in eine andere Richtung. Von da an hielt ich meinen Blick krampfhaft auf die gegenüberliegende Wand gerichtet und vermied es, ihm abermals wie eine Geistesgestörte zwischen die Beine zu starren. So locker wie möglich schritt ich auf ihn zu, während ich versuchte, meine Unsicherheit vor ihm zu verbergen. Obwohl sein bestes Stück, wie er mir selbst mehrfach versichert hatte, ganz normaler Durchschnitt zu sein schien, jagte er mir bereits im halberigierten Zustand eine Heidenangst ein.
Ich schluckte und rieb meine feuchten Hände an meinem Bademantel trocken. Oft hatten wir es noch nicht getan. Vor einigen Wochen hatte ich seinem Drängen nachgegeben und zum ersten Mal mit ihm geschlafen. Überhaupt war es für mich das erste Mal gewesen und, um ehrlich zu sein, hatte ich es mir in meiner Fantasie immer ganz anders ausgemalt, romantischer und definitiv weniger schmerzhaft. Aber was wusste ich schon über Sex.
»Komm her! Sei nicht so schüchtern«, meinte er mit rauer Stimme, wobei er auffordernd auf die Matratze klopfte. »Ich werde dich schon nicht beißen.«
Ach nein?
So hungrig wie er mich ansah, machte das gerade einen ganz anderen Eindruck auf mich. Auf wackligen Beinen ging ich auf ihn zu, während er abermals auf die leere Stelle neben sich klopfte.
»Na, komm schon her!«, sagte er schmunzelnd.
Machte er sich etwa gerade lustig?
Unsicher streifte ich mir den Frottee-Bademantel von der Schulter. Mason ließ mich dabei nicht aus den Augen. Am liebsten hätte ich das Licht ausgemacht. Stattdessen atmete ich noch einmal tief durch und schlüpfte mit hochrotem Kopf, lediglich mit Baumwollunterwäsche bekleidet, unter die Decke. Beim Anblick meiner Unterwäsche rümpfte Mason kurz die Nase. Vielleicht sollte ich mir bei Gelegenheit doch ein paar dieser teuren Dessous zulegen?! Würde auf alle Fälle nicht schaden.
Hastig versuchte ich mir die Decke bis zum Hals hochzuziehen. Doch bevor sie mein Kinn erreichte, stoppte mich Mason mitten in meiner Bewegung.
»Nicht! Ich will dich ansehen«, sagte er mit tiefer Stimme und zog das Laken wieder langsam nach unten, während seine Augen über meinen Körper wanderten. Ich hielt den Atem an und bemühte mich ruhig liegen zu bleiben, um nicht gleich wieder unter seinem kritischen Blick aus dem Bett zu springen.
»Du hast wirklich einen schönen Körper, Abi«, murmelte er vor sich hin und ließ andächtig seine Hand von meiner Brust hinab bis zu meinen Hüften gleiten. Seine Berührung verursachte mir eine Gänsehaut. Ich wollte, es wäre vor Erregung. Doch das war es nicht. Es machte mir Angst. Sofort begann ich mich zu verspannen.
»Willst du dich nicht ausziehen?«
Einen kurzen Moment lang sah ich ihn schweigend an, kam dann jedoch seiner Bitte nach. Mit zitternden Händen schlüpfte ich aus meinem BH sowie dem Slip und legte mir sofort schützend den rechten Arm über meine beiden Brüste. Die linke Hand hielt ich vor meine Scham gepresst. Verlegen biss ich mir auf die Unterlippe.
»Abi, es gibt nichts, was ich nicht schon gesehen hätte«, feixte er und schob gleichzeitig meine Hände beiseite. Röte schoss mir ins Gesicht. Am liebsten hätte ich meine Arme wieder nach oben gerissen, um meine Blöße vor ihm zu bedecken, jedoch verbot ich es mir.
Stattdessen krallte ich meine Finger in das Laken. Mason bekam von meinem Unbehagen kaum etwas mit. Wie bei allem, was er tat, kam er gleich zur Sache.
»So ist es doch schon viel besser«, raunte er mir in der einen Sekunde noch ins Ohr, um in der anderen bereits über mich herzufallen. Ohne großes Vorspiel beugte er sich über mich und drängte sein Knie zwischen meine Beine, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als meine Schenkel für ihn zu öffnen. Fordernd presste er seine Lippen auf meine und drang mit einem harten schnellen Stoß in mich ein.
Der plötzliche Druck war unangenehm und es brannte ein wenig. Während Mason mir inzwischen ins Ohr stöhnte und seine Hüften in einem schnellen Rhythmus vor und zurückbewegte, bemühte ich mich, dieses Mal nicht zu verkrampfen. Aber, so sehr ich mich auch anstrengte, es wollte mir nicht gelingen. Ein Höhepunkt war noch nicht einmal in greifbarer Nähe.
Vielleicht war ich einfach nicht für Sex geschaffen?! Währenddessen ich immer noch darüber nachdachte, ob etwas mit mir nicht stimmte, stand Mason bereits kurz davor, zu kommen. Immer härter stieß er in mich hinein, bis sich sein ganzer Körper über mir verspannte. Ein letztes Mal schob er seine Hüften nach vorn, ehe er, begleitet von einem tiefen Stöhnen, kam, um kurz darauf erschöpft über mir zusammenzubrechen.
Wie zum Dank hauchte er mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, so als hätten wir nicht gerade das Intimste geteilt, was Menschen miteinander teilen konnten.
»Du bist schon wieder nicht gekommen«, stellte er beinahe schon vorwurfsvoll fest, stemmte sich hoch und rollte sich zur Seite. »Soll ich etwas nachhelfen?«, fragte er und machte tatsächlich Anstalten nach unten zu kriechen.
»Nein!«, stieß ich fast schon hysterisch hervor und presste automatisch meine Beine fest zusammen. Mein schriller Ausruf ließ ihn augenblicklich in seiner Bewegung stoppen. »Das ... das musst du nicht tun«, stammelte ich verlegen, da die Vorstellung, dass er mich zwischen meinen Beinen küssen wollte, mich fast schon panisch werden ließ. Mit gerunzelter Stirn sah er zu mir auf.
»Ich ... also, mir geht es heute nicht so gut«, rettete ich mich mit einer Notlüge. »Ich würde jetzt lieber schlafen.«
Einen kurzen Moment lang starrte er mich an. »Wie du meinst«, murmelte er und ließ sich wieder auf den Rücken rollen. Erleichtert stieß ich den angehaltenen Atem aus.
Ich wünschte, ich hätte mein Bett wieder für mich alleine und könnte jetzt lesen. Aber sogleich schämte ich mich für diesen unmöglichen Gedanken.
Mason bettete meinen Kopf an seine Brust und schlief kurz darauf ein. Ich betrachtete ihn nachdenklich und hoffte insgeheim, dass es in Zukunft besser werden würde.
Drei Monate später ...
Das Handy in meiner Tasche vibrierte ohne Unterlass. Nein, ich konnte jetzt nicht mit ihnen darüber reden. Wie auch? Wenn doch nichts mehr so zu sein schien, wie es war. Zitternd knetete ich meine Hände im Schoß, während sich meine Gedanken förmlich überschlugen. Ich bräuchte Zeit, musste in Ruhe erst einmal über alles nachdenken.
Seit Stunden saß ich regungslos auf einer der Bänke am Pier und ließ mir den kühlen Wind ins Gesicht peitschen, währenddessen ich überlegte, was ich jetzt tun sollte. Überall um mich herum herrschte reges Treiben. Menschen wuselten geschäftig umher, befanden sich auf dem Weg zu ihren Booten oder zum nahegelegenen Fischmarkt. Geradeso, als ob sich nichts geändert hätte.
Die Welt schien sich für all diese Menschen unverändert weiter zu drehen, nur für mich, für mich stand sie still.
Mit einem Seufzen schloss ich die Augen und sog tief die Luft ein, in der stillen Hoffnung, ich könnte so meine Lungen mit der frischen Seeluft füllen. Doch es half nichts. Der Sauerstoff schaffte es kaum durch meine zugeschnürte Kehle und ich hatte das Gefühl zu ersticken.
Mir wurde schwindelig.
Automatisch krallte ich meine Hände in das harte Holz der Sitzbank. Das Stimmengewirr um mich herum rückte in weite Ferne. Während ich da saß und krampfhaft versuchte mich auf meine Atmung zu konzentrieren, lauschte ich den beruhigenden Geräuschen der Natur, die durch den Wind zu mir getragen wurden. Doch es wollte mir nicht gelingen, mich zu entspannen.
Mein Herz verkrampfte sich. Der Schmerz und die Enttäuschung über ihren Verrat saß zu tief und drohte mich innerlich zu zerreißen.
Wie konnte es nur so weit kommen? Innerhalb weniger Sekunden hatte sich meine heile Welt als eine einzige große Lüge entpuppt. Mein Leben, so wie ich es bisher kannte, würde nie wieder so sein, wie es einmal war ...
Schuld daran war nur diese dumme Verlobung. Andererseits, hätte Mason nicht um meine Hand angehalten, wäre die Wahrheit auch nicht so schnell ans Licht gekommen. Heute Morgen hatte ich mich von ihm noch völlig überrumpelt gefühlt. Wie beiläufig hatte er mich darüber informiert, dass er mich gleich abholen würde, um mit mir gemeinsam auf dem Standesamt das Aufgebot zu bestellen.
Womöglich sollte ich ihm jetzt dankbar für seine plötzliche Eile sein. Ansonsten hätte ich mich wohl nie auf die Suche nach der Abstammungsurkunde begeben und solange die zahlreichen Ordner in Dads Arbeitszimmer durchsucht, bis ich fündig geworden war.
Mit zitternden Händen griff ich in meine Tasche und zog dieses unscheinbare Papierstück hervor, das mein Leben von einer Sekunde auf die andere komplett aus der Bahn geworfen hatte. Fein säuberlich abgeheftet hatte sich die schreckliche Wahrheit, all die Jahre, direkt vor meiner Nase befunden und ich hatte nicht die leiseste Ahnung davon gehabt.
Ich blinzelte heftig, während ich auf das Dokument in meinen Händen starrte. Nach und nach begannen die Buchstaben vor meinen Augen zu verschwimmen. Doch was machte das schon? Ich wusste ohnehin bereits, was dort schwarz auf weiß geschrieben stand. Das Gefühl, den Namen einer völlig fremden Frau auf meiner Abstammungsurkunde zu lesen, würde ich wohl nie wieder vergessen können und wäre das nicht bereits schlimm genug gewesen, hatte mir der Vermerk darauf, Vater unbekannt, den Rest gegeben.
Einen kurzen Moment lang hatte ich gebraucht, um die Tragweite dieser Worte wirklich begreifen zu können. Und dann traf es mich wie ein Schlag.
Ich, Abigail Grantham, war adoptiert und nicht das Kind meiner Eltern.
Es war schwer zu beschreiben, was in diesem Augenblick in mir vorging. Zuerst war da nur diese unbändige Wut. Am liebsten hätte ich Dads Unterlagen mit der Hand vom Schreibtisch gefegt. Dieses Gefühl verging jedoch genauso schnell wieder wie es gekommen war und schlug stattdessen in große Enttäuschung und Unsicherheit um. Plötzlich fühlte ich mich wie ein Fremdkörper in meiner eigenen Familie.
Wer war ich? Und wo kam ich überhaupt her?
Fragen über Fragen schossen plötzlich durch meinen Kopf. Die einzigen Menschen, die mir jedoch hätten eine Antwort darauf geben können, wollte ich in diesem Augenblick nicht sehen. Alles was im Anschluss darauf folgte, könnte man als eine Art Kurzschlussreaktion bezeichnen. Ich stand völlig neben mir, war nicht mehr ich selbst. Insofern war es - im Nachhinein gesehen - nicht verwunderlich, dass ich mir meinen Frust über meine Eltern in einem Brief an sie von der Seele geschrieben und ihnen dabei ein paar unschöne Dinge an den Kopf geworfen hatte.
Und da ich schon mal so schön dabei war, hatte ich auch noch, so ganz nebenbei, die Verlobung mit Mason aufgelöst. Ich war mir sicher, es wäre besser so, sowohl für ihn als auch für mich. Mein ganzes Leben basierte praktisch auf einer einzigen Lüge. Wie sollte ich ihn jetzt noch heiraten, wo ich selbst nicht einmal wusste, wer ich war und wohin ich gehörte?
Nachdem ich den Brief geschrieben und für jedermann gut sichtbar, auf dem Schreibtisch platziert hatte, packte ich notdürftig ein paar Sachen zusammen und flüchtete Hals über Kopf aus dem Haus.
Letztendlich war ich nun hier an meinem Lieblingsplatz am Pier gelandet und versuchte die ganze Zeit über zu verstehen, was, um Himmelswillen, gerade passiert war. Inzwischen wusste ich überhaupt nichts mehr und fragte mich ständig, ob ich anders hätte reagieren sollen? Hätte ich ihnen eine Chance geben sollen, mir alles einmal in Ruhe zu erklären? Hätte ich ihnen die Möglichkeit geben sollen, sich zu rechtfertigen, weshalb sie mir ein solch wichtiges Detail aus meinem Leben einfach so verschwiegen hatten?
Ja, vielleicht! Vielleicht aber auch nicht!
Schließlich hätten sie in den letzten zweiundzwanzig Jahren genügend Zeit dazu gehabt, mich über diesen nicht gerade unwesentlichen Teil meines Lebens zu informieren.
Oh Gott, wie sollte ich das hier jemals überstehen?
Ich presste meine Hand fest auf meinen Brustkorb und versuchte verzweifelt diesen übermächtigen Schmerz zu kontrollieren.
Wieso ich? Weshalb musste ausgerechnet mir so etwas passieren? Ich hätte es doch merken müssen?! Oder hatte ich es bereits unbewusst gespürt? War das vielleicht der Grund dafür, weshalb ich ständig versucht hatte, es allen und jedem Recht zu machen, nur, um nicht anzuecken und dankbar zu sein, dass sie mich bei sich aufgenommen hatten?
Ich wusste es nicht! Um ehrlich zu sein, wusste ich überhaupt nichts mehr! So kam ich jedenfalls nicht weiter. Mir die ganze Zeit darüber den Kopf zu zerbrechen, war weder zielführend, noch ergab es einen Sinn.
Abi, wo ist nur dein analytischer Verstand geblieben? Denk nach!
Mein Blick fiel auf die Bushaltestelle gegenüber und auf einmal kam mir eine Idee. Es kostete mich etliche Telefonate und es war nicht leicht, auf die Schnelle an die gewünschten Informationen zu gelangen, aber ich kannte ein paar Leute in der Stadt, die mir noch einen Gefallen schuldig waren. Und wenn ich mir erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war ich hartnäckig genug, nicht eher aufzugeben, bis ich alles zusammen hatte, was ich brauchte.
Keine Stunde später bestieg ich den Reisebus. Auf wackeligen Beinen und meine Tasche so fest umklammert, als könnte sie mir Halt geben, ging ich langsam nach hinten durch, um mir einen freien Platz am Fenster zu suchen. Der Bus war fast leer, sodass ich beide Sitzplätze für mich alleine hatte. Erschöpft ließ ich mich auf die Sitzbank nieder und schlang die Arme fest um meinen Körper.
Ich zitterte. Ja, ich hatte Angst. Angst vor dem, was auf mich zukommen, aber auch was sich dadurch für mich ändern würde. Aber egal, wie diese Geschichte auch ausging, ich musste einfach Gewissheit haben. Gewissheit darüber, woher ich kam, von wem ich abstammte und vor allem, weshalb mich meine leiblichen Eltern weggegeben hatten.
Den ersten Schritt, mich in diesen Bus zu setzen, hatte ich hiermit getan. Jetzt müsste ich nur noch die nächsten Stunden überstehen und würde mit viel Glück endlich Antworten auf all meine Fragen bekommen. Antworten, die mir meine Adoptiveltern nicht geben könnten.
Die Zeit stand still, während ich unentwegt aus dem Fenster starrte.
Nach einer Weile warf ich einen Blick auf die Uhr. Inzwischen saß ich bereits seit über fünf Stunden in diesem Bus und ich spürte kaum noch meine Beine. Unruhig rutschte ich von einer schmerzenden Poseite auf die andere. Auch der herrliche Blick auf die Landschaft konnte mich von meinen seelischen und körperlichen Qualen nicht mehr ablenken.
Und so gab ich es auf und schloss die Augen, lauschte lediglich den monotonen Geräuschen des Motors, hoffte so wenigstens etwas zur Ruhe zu finden. Irgendwann musste ich wohl doch vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Bis auf ein paar kleinere Stopps waren wir die ganze Nacht über durchgefahren. Als ich am frühen Morgen wach wurde, fühlte sich mein Mund staubtrocken an und meine Beine schmerzten höllisch, da ich durch den beengten Platz keine Möglichkeit hatte, sie richtig auszustrecken.
Ich gähnte laut und stellte nach einer Weile überrascht fest, dass ich an der nächsten Station bereits aussteigen musste. Endlich war ich meinem Ziel wieder ein Stück näher gekommen.
Hastig setzte ich mich auf und warf neugierig einen Blick aus dem Fenster. Die ganze Fahrt über hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wie die Umgebung wohl aussehen mochte, in der ich unter normalen Umständen aufgewachsen wäre. Aber als ich jetzt ausstieg, war ich fast schon enttäuscht. Zwar wusste ich nicht, was ich erwartet hatte, aber hier sah es nicht viel anders aus, als zu Hause auch.