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Die halballeinerziehende Mutter und Architektin Eva gerät in eine Krise, als sie erkennt, wie perspektivlos ihre Lebensumstände sind. Sie entscheidet sich für die Flucht nach vorn, nimmt an einer Ausschreibung für ein ökologisches Uniprojekt teil – und gewinnt. Im Hochsommer arbeitet Eva daraufhin drei Wochen lang allein an ihrem Autark-Haus, das im idyllischen Berliner Umland steht. Doch diese heiß ersehnte Zeit für sich allein wird durch ihren guten Freund Tom gestört, der mit seinem alten VW-Bus in ihr neues Leben rauscht. Toms Zielstrebigkeit, seine Träume mit ihr in die Realität umzusetzen, zwingt Eva, sich mit den Grenzen ihrer angestrebten Unabhängigkeit auseinanderzusetzen. Kann man autark in einer Beziehung bleiben? Ist es dann noch eine Beziehung? Und was ist mit der Liebe? Was tun, wenn man zu dem Schluss kommt, dass die Liebe bekloppt ist und man doch eigentlich allein sehr gut zurechtkommt … wären da nicht diese unsagbar schönen Momente zu zweit.
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Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2013
Anna Blumbach
1
»Piña Colada?«, fragt er auf dem Weg zur Bar, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich sehe völlig abgerockt aus, mein Kopf ist vom Tanzen völlig verwuschelt und betrunken bin ich auch. Zur Tarnung ziehe ich mir einige Strähnen vors Gesicht. »Deine Haare sind ganz schön lang geworden«, stellt er fest, als er sich mit zwei Cocktails wieder zu mir setzt. Womit ich just in den Genuss der charmantesten Wolf-Begrüßungen überhaupt geraten wäre. Früher hätte er so etwas von sich gegeben wie: »Da hat sich aber wer ’ne ordentliche Mähne zugelegt«, oder dergleichen. Wohl darauf bedacht, bloß kein persönliches Fürwort an mich zu verschwenden. Wir prosten uns lächelnd zu. Nur will er dann auf die alteFreundschaft! trinken. Ohne es unter Kontrolle zu haben, stürzen meine Mundwinkel ab. Idiot! Das hat er mit Absicht gemacht! Um sich die hergegebene Zacke aus seiner Krone wieder zurückzuergattern. Und dass er bekommen hat, was er wollte, das ist an seinem zufriedenen Schmunzeln ablesbar. Ja, in der Tat, ich muss nun leider zugeben, dass mir selbst nach einem Jahr der Trennung immer noch übel wird, bei diesem Wort »Freundschaft« aus seinem Mund. Darauf saugen wir nun an unseren Strohhalmen. »Und? Was machst du jetzt so?«, fragt er, lehnt sich zurück und sieht mich immer noch mit diesem blöden Grinsen an.
Hier sitzen und mich fragen, was ich hier eigentlich mache. Als ich ihm auf dem Heimweg in die Arme gelaufen bin und er dann diesen Absacker vorschlug, habe ich wie ein Zombie den Weg zu unserer Bar eingeschlagen. Knapp erzähle ich von meinem miesen Job, dann frage ich schnell: »Und bei dir so?«
Er zählt die lange Liste seiner jüngsten literarischen Erfolge auf. Gut bezahlte Lesung in der Literaturwerkstatt, das Senats-stipendium für Lyrik hat er bekommen, Veröffentlichung seines neuesten Bandes in einem renommierten, aber armen Kleinverlag ... Ich schalte irgendwann ab, weil zu viele Namen fallen, die mir unbekannt sind.
Im Grunde habe ich das früher auch schon so gemacht. Ich meine, abschalten, bis wir beide den notwendigen Pegelstand erreicht hatten. Dann war es immer leicht, mich auch nach der x-ten Trennung mit nach Hause zu nehmen, in seine Jung-gesellenhöhle, in seine Höhle, in der er sich jeden Tag einredete, dass morgen, ja morgen, sein neues Leben beginnt. Einmal ließ er mich wissen, dass meine Anwesenheit den gesamten Raum ausfülle, sogar seinen Kopf. Erst dachte ich, das sei ein Kompliment gewesen, aber irgendwann, da habe ich geschnallt, dass ich ihm lästig falle. Deshalb lief auch ständig die Glotze, während wir weiter den Alkohol in uns hineinkippten und besinnungslos rumvögelten, meistens mit einem Nachrichtensender im Blickfeld.
In diesem Zustand dachte ich nicht mehr darüber nach, wie kaputt das alles war. Er hätte alles Mögliche mit mir anstellen können damals. Manchmal konnte ich spüren, wie sehr es ihn anstrengte, dieses Alles-Mögliche nicht mit mir zu veranstalten. Ich glaube, dann hasste er mich besonders. Dafür, dass ich dermaßen schlaff bin, aber auch dafür, dass ich in ihm solche Gelüste auslösen kann. So ungefähr erkläre ich es mir heute. Wahrscheinlich wollte er bloß immer nur checken, was passiert, wenn er mich vorher noch einmal mitnimmt, bevor sein neues Leben beginnt. Mehr wollte er nie. Das hatte ich nach dreieinhalb Jahren dann endlich begriffen. Aber dieser ganze kranke Kram ist offensichtlich immer noch nicht lang genug her, um mich jetzt wie neu mit ihm zu fühlen. Wieso flirten wir nicht, wie zwei postpubertäre Samstagabendpartypeople?
Na, weil es dann so kommen wird, wie es immer kam: Nach zwei, drei Cocktails lasse ich mich in seine Höhle verschleppen, wo ich eh nie vernünftig schlafen kann, weil er besoffen schnarcht wie ein Elch und mich dieses Gefühl höllisch nervt, dass er mich nach dem Vögeln am liebsten aus seinem Bett treten würde. Außerdem finden an den Wochenenden, in der Wohnung über seiner, frühmorgens immer Bobby-Car-Rennen statt. Ich weiß es doch.
»Und? Sind die Yuppies von oben mit ihren lärmenden Gören endlich ausgezogen?«, frage ich mitten in seinen medienwiederkäuenden Monolog über die Macht sozialer Netzwerke hinein. Er will wohl gerade etwas Böses sagen, das kann ich an seinem Gesicht erkennen, aber dann mutiert der Ausdruck mehr in eine verwunderte, fragende Richtung, bis sich plötzlich ein siegesbewusstes, fröhliches Grinsen dort breitmacht. Süffisant lächelnd, saugt er an seinem Strohhalm und antwortet: »Tatsächlich sind sie ausgezogen und jetzt wohnen da zwei ruhige amerikanische Studentinnen. Ziemlich hübsch, aber eher scheue Rehlein. Man bekommt sie kaum zu Gesicht. Schade eigentlich.«
So genau wollte ich es nun auch wieder nicht wissen. Gleich erzählt er mir, wie er sie beide zusammen dann doch noch besprungen hat, seine scheuen Rehlein, der röhrende Hirsch. »Schreib doch mal ’n Buch drüber«, zicke ich rum.
»Ach, wie ich das vermisst habe.«
Ehrlich, ich weiß nicht, weshalb ich hier sitze. Spätestens jetzt weiß er es sicher auch nicht mehr. Trotzdem prostet er mir zu, und ich ihm. Klong! Seltsamerweise kommt mir gerade einer seiner Sprüche in den Sinn: »Wenn du magst, darfst du mir auch mal den Finger in den Po stecken.« Ich grinse.
Er sieht mich jetzt schon etwas verwundert an. »Dein Aphex-Twin-Gesicht hat mir schon immer Angst gemacht«, sagt er.
Ich ebne ihm dann mal lieber schnell den Weg zurück in seine Social-Media-Rede, die er auch ganz dankbar wieder aufnimmt. Ob ich ihm unter die Nase reibe, dass er gerade bloß meine verwegene These wiederholt, die er vor zwei Jahren noch großgönnerhaft weggelächelt hatte, so von wegen Wittgensteins: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen! Woher sollte er denn wissen, was im Netz abgeht, wenn er immer dermaßen dämlich stolz darauf gewesen war, sich aus allem herauszuhalten, mit seinen Ach-so-wertvollen-Daten. Und dann spricht er sie auch noch aus, meine verwegene Prophezeiung von damals: »Facebook hat das Potenzial, Revolutionen auszulösen.« Ich weiß wirklich nicht, wem von uns beiden das hier gerade peinlicher sein sollte.
Den Finger-in-den-Po-Spruch hatte er vor verschlossener Tür gerufen, als ich mich einmal heulend ins Bad verzogen hatte, um mich eben davor zu bewahren. Ich fühlte mich einfach schon verarscht genug. Liebe kann man nun einmal nicht einfordern, und es gibt auch keine guten Argumente, die den anderen ganz vernünftig davon überzeugen könnten, einen bitte schön doch zu lieben.
Meinen Cocktail schlürfend, versuche ich, ein aufmerksames Gesicht zu mimen, während Wolf sich in die Analyse des gesamten Weltgeschehens hineinspult. Seine Augen sind immer noch sehr schön. Nur das Drumherum um seine Augen, das sieht verquollen aus. Dann fällt mir auf, dass sich seine Nasenspitze ganz leicht auf und ab bewegt, während er spricht. Ich muss mich zusammenreißen, ihm nicht noch länger auf die Nase zu starren und vor allem dieses aufkommende Lachen zu unterdrücken. Wieso ist mir das noch nie aufgefallen? Prompt habe ich das Bild eines Tapirs im Kopf ... Ich lehne meine Ellenbogen auf den Tisch, lege meine Handflächen auf meine Wangen und verstecke mich unter meinen Haaren, wo ich endlich unauffällig in mich hineingrinsen kann. Nur leider nützt es nichts, denn jetzt pruste ich los und je mehr ich mich zusammenreißen will, desto mehr will dieses Lachen aus mir heraus.
»Entschuldige ...«, gluckse ich noch, aber der Lachflash ist nicht mehr aufzuhalten.
Wolf lehnt sich zurück, verschränkt die Arme vor seiner Brust: »Sag ruhig Bescheid, wenn ich dich langweile.«
Ich lache laut los. In meinem Kopf lümmelt sich nun einmal ein dumm dreinblickender Tapir mit seinem wackelnden Stummelrüssel. Die sind doch einfach zum Schreien komisch. Wie soll ich mich da zusammenreißen? Und dann nehme ich nur schemenhaft wahr, wie sich eine Frau am Nachbartisch zum Kellner rüberbeugt und sagt: »Ich nehme das Gleiche wie sie.« Großes Gelächter nun auch am Nebentisch.
»Was hast du denn genommen?«, fragt Wolf dann und grinst jetzt langsam ebenfalls. »Hast du noch was davon?«
Es ist mir gerade wirklich schnuppe, dass er das nur gesagt hat, um mit unseren Sitznachbarinnen anzubändeln. Ich kenne ihn doch schon lang genug. Inzwischen habe ich Tränen in den Augen, wische sie mir mit den Fingerrücken weg, womit ich die Wimperntusche wahrscheinlich nur noch schlimmer verschmiere. Ist doch jetzt wirklich egal, wie ich aussehe. Plötzlich flackert da dieses Bild eines Tapirs mit langbewimperten Äuglein auf, wie seine rot geschminkte Rüsselschnute auf und nieder geht. Ichkannnichtmehr. Mir tut inzwischen der Bauch weh. Reiß dich zusammen, Eva!
»Entschuldige ... aber ich musste gerade an einen Tapir denken«, gluckse ich dann, in der Hoffnung, er würde mit einem Gespräch den Tapir mal wieder aus meinem Kopf holen. »Was sich der liebe Gott wohl bei dieser Erfindung gedacht hat?«, gluckse ich prustend. »Wahrscheinlich wollte er auch mal etwas zum Lachen haben.«
»Wie bitte? Hast du gerade ›Tapir‹ gesagt?«, fragt Wolf ungläubig lächelnd.
Ich nicke und versuche, mich nun wirklich zusammenzureißen, tupfe mir die Augenwinkel mit der Serviette trocken, die ich unter meinem Cocktailglas herausgezogen habe, hole tief Luft ... Und dann ... mit jedem Atemzug entschwindet das Lachen nun langsam wieder ... Puh, das tat echt gut ...
Wolf sieht mich kopfschüttelnd, aber immer noch lächelnd an, nimmt sein Glas vom Tisch, saugt am Strohhalm, sagt nichts. Nun, dem ist auch nichts mehr hinzuzufügen.
»Ja genau! Ich mach dann mal die Biege Richtung Bett«, sage ich schmunzelnd nach einer Weile Schweigen.
»In welche Richtung?«, fragt Wolf. Seine gelüpften Augenbrauen und die gekräuselte Stirn dazu wirken auf mich wie eine schlecht gespielte Schauspielszene. Oder? Nein, Wolf sieht mich gerade an wie ein alternder Gigolo, der sich der Tatsache ergeben hat, seine besten Zeiten hinter sich gelassen zu haben. Und doch ... seine Augen sind immer noch schön, verquollenes Gesicht hin oder her. Herzerweichend sanftmütig sieht er mich an. Ich möchte meine Handfläche auf seine Wange legen und ihm sagen können, wie sehr ich ihn geliebt habe.
»Na, dann machs mal gut, Eva!«, verabschiedet er mich.
»Machs besser!«, muss ich ihm aber doch noch frech grinsend reindrücken. Er hat verstanden, sagen mir seine Augen und der nickende Kopf dazu. Ich hebe meine Hand zum Abschied. Ob er mein Getränk bezahlt hätte, frage ich im Gehen. Er winkt ab. Der Wolf lächelt.
*
Vor der Bar stöpsele ich mir meine Musik in die Ohren und hole tief Luft. »Now that I know ...«, säuselt Devendra Banhart. Ich liebe seine Stimme und dieses Lied. Ich sehe in den Sternenhimmel. Hier in der Stadt kommt man ihm einfach nicht so nah. Viel zu hell hier überall. Trotzdem ist es sehr schön, durch diese milde Sommernacht die Schönhauser hinaufzuspazieren. Doch nach einer Weile, auf der Höhe des Jüdischen Friedhofs, da wird mir plötzlich jeder Schritt so schwer ... und traurig bin ich auch. Es fühlt sich seltsam an, mit dieser schweren tiefen Traurigkeit meinen Prenzlberg raufzustapfen, aber im selben Moment spüre ich auch mit jedem Schritt ein noch unsicheres Gefühl der Erleichterung in mir aufkommen. Das ist neu. Leicht und schwer im selben Moment. Wie geht das?
Ich hatte mich daran gewöhnt, dass mein Basisgefühl für Wolf Liebe ist und bleibt – für immer, dachte ich … Aber jetzt … in diesem Moment … da dehnt sich an dieser Stelle Müdigkeit aus – wie das Universum dehnt sie sich aus mir heraus, um mich herum, in meinem Astronautenanzug im Vakuum atme ich den Sauerstofftank leer … leicht und schwer im selben Moment … geht es doch.
*
Unten an der Wand hockend, suche ich in meinem Ordner nach Papieren, die jetzt wichtig sein könnten. Weil mir bald die Beine einschlafen, setze ich mich auf den Boden und strecke sie aus, auch wenn der Flur hier viel zu schmal ist – ist ja niemand weiter da, so kurz vor Feierabend. Im Loop höre ich To The Lighthouse, das beruhigt etwas. Durch das Fenster über mir beobachte ich hoch oben, wie Schwalben atemberaubende Pirouetten drehen, stürzen, sich wieder fangen, aufsteigen – das sieht nach einem mordsmäßigen Spaß aus.
Zwei ältere, übergewichtige Frauen in mattfarbenen Jacken mit Handtaschen tauchen im Flur auf. Ich dimme die Laut-stärke runter und ziehe meine Beine an. Sie klopfen an verschiedene Türen und verabschieden sich wohl von ihren Kollegen in den Zimmern. Bei mir angekommen, nicken sie gleichmütig zu mir runter, klopfen zackig an der Tür, stehen mit einem Bein im Zimmer, die Klinke in der Hand. Was geredet wird, höre ich trotzdem nicht so richtig. Im Weggehen sagt die eine mit einer pikiert verzogenen Schnute: »Da ist heute aber jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden.«
Das beruhigt mich jetzt nicht gerade. Ich stelle die Musik wieder lauter und sehe den Schwalben zu. Nach einer Weile öffnet sich die Tür, vor der ich hocke. Meine neue Fallmanagerin bittet mich herein. Den Player stecke ich in meine Jackentasche, schiebe mich am Rücken die Wand hoch, da rutschen mir die Unterlagen seitlich aus dem Ordner. Ein Blatt schwebt noch hübsch hin und her, bevor es landet. Ich denke an die Schwalben über uns da draußen. Während sie mir hilft, die Blätter vom Boden aufzusammeln, fällt mir auf, dass sie sicher zehn Jahre jünger ist als ich. An ihrem braven Gesichtchen kann ich gerade keine bestimmte Laune ablesen. Fast hätte ich einen Knicks gemacht bei meinem Dankeschön.
Unser Gespräch verläuft sachlich. Sie macht einen müden Eindruck, oder gelangweilt vielleicht, während sie mir die üblichen Fragen stellt. Vor Aufregung rede ich viel zu viel. Dieses junge Mädel hinter ihrem Schreibtisch da drüben entscheidet schließlich über meine Zukunft – über Lasses und meine Zukunft. Sie könnte mir den größtmöglichen Stress bereiten, wenn das hier nicht gut läuft mit ihr. Sie könnte mich zu einer Umschulung zur Altenpflegerin verdonnern, sie könnte mir eine MAE-Stelle in einer Kita an die Backe tackern, oder sie könnte mir gar eine Ganztagsfestanstellung als Architektin vermitteln (ha ha, als ob es solche Stellen noch gäbe für Leute wie mich), die ich aber trotzdem nicht wollen würde, weil ich dann Lasse gar nicht mehr zu Gesicht bekäme. Wie soll ich ihr bloß klarmachen, dass ich diesen Scheißjob behalten will, weil er zeitlich einigermaßen zu meinem Kind passt, auch wenn ich nichts verdiene und weiterhin auf die Unterstützung vom Arbeitsamt angewiesen sein werde. Ich muss jetzt also engagiert und willig rüberkommen, sonst …
Sie interessiert sich für die Details meines Autark-Hauses, stellt viele Fragen, ein ganz gutes Gespräch kommt mit der Zeit in Gang, und dann werde ich mutig. Ich gebe ihr die Adresse meiner Webseite, die Wolf damals für mich eingerichtet hatte. Sie nimmt sich ein Gummibärchen aus der Tüte neben ihrem Monitor, schiebt mir auch drei hin, ohne etwas zu sagen, und klickt sich schweigend durch die Seiten, während ich weiter erzähle, dass im Frühjahr noch die Rede von einem Stipendium und einer Lehramtsstelle an der Uni war, dass die Gelder nach der Krise leider eingefroren wurden (wahr), aber dass es sein könnte, dass doch noch etwas daraus wird (gelogen). Deshalb hätte ich mich nur vorübergehend in diesen Job als Sekretärin begeben, weil ich arbeiten muss, um nicht depressiv zu werden (halb gelogen, weil ich nämlich gerade durch diese Scheißarbeit depressiv werde im Moment – ansonsten stimmt der Spruch schon). Dann weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll, und lasse sie mal in Ruhe meine Seite durchstöbern.
Was ich ihr nicht erzählen werde, ist, dass ich diesen Job angefangen hatte, weil mir dort schon seit einem Jahr Hoffnung auf eine Halbtagsfestanstellung gemacht wird. Aber in Wirklichkeit verarschen die mich schon die ganze Zeit über, denn mehr als ein Mini-Job wird bei denen nie drin sein, das muss ich wohl inzwischen so langsam begreifen. Die haben es sogar mit der Masche versucht: »Oh, wenn Sie Hartz IV bekommen, dann können wir Ihnen ja die Summe auszahlen, die sie dazuverdienen dürfen.« So läuft das ständig, sobald die Hartz IV hören. Und dann geht man jeden Tag zur Arbeit in der Hoffnung, dass man sich durch gute Leistungen einen Festvertrag erarbeiten kann, und bekommt am Ende des Monats 160 Euro mit einem feuchten Händedruck. In zukünftigen Bewerbungen werde ich definitiv nicht mehr angeben, dass ich ein Kind habe oder mich so halb selbstständig mit Hartz IV über Wasser halten muss. Überhaupt werde ich nur noch total übertriebene völlig erstunken und erlogene Bewerbungen verschicken. Die Arbeitgeber lügen einem doch auch permanent die Hucke voll. Mit Arbeitsverträgen kann man sich doch inzwischen eh den Hintern abwischen. Weil alle Angst haben, gekündigt zu werden, muckt niemand mehr auf und lässt jeden Scheiß mit sich machen, bis man mit einem Burn-out eingeliefert wird oder sich vorher vielleicht doch lieber aufgehängt hat.
Es ist gar nicht so lange her, da habe ich in der Tram vier junge Frauen über ihre Jobs sprechen hören. Die waren garantiert alle noch keine dreißig. Jede von ihnen hatte entweder Migräne, Magenprobleme oder litt unter Schlafmangel, Geldnöten und Stress auf Arbeit. Sie lachten zwar über ihr Gequengel so als kreative Freischaffende und dass es schon jede Menge Bücher darüber gäbe, aber denen ist doch sicher klar, dass diese Ausbeutungskackscheiße schnurstracks ins Krankenhaus führen wird.
Es fühlt sich seltsam an, dass diese fremde junge Frau da gerade meine geistigen Ergüsse im Netz begutachtet. Die hat doch gar keine Ahnung von dem, was ich mir da ausgedacht habe. Endlich dreht sie sich auf ihrem Stuhl zu mir um und lächelt mich strahlend an. Puh! Sie sagt, schon ziemlich überzeugt, dass ich unbedingt versuchen solle, in meinem Beruf wieder Fuß zu fassen, auch wenn das mit der Uni doch nichts mehr werden sollte. Jetzt habe ich echt Angst, dass sie mir Job-angebote unter die Nase schiebt. »Sie können doch etwas!«, sagt sie und sie würde sich sofort von mir ein Haus bauen lassen, eines Tages, ob ich schon einmal an eine Selbstständigkeit gedacht hätte. Ich sage schnell noch, dass ich mich in zwei Wochen mit einer Architektin, die ganz alleinerziehend ist, treffen wolle, um mich diesbezüglich mit ihr auszutauschen (volle Elle gelogen). Sie lobt meine Eigeninitiative: »Das hört sich doch gut an!« Dann druckt sie die Eingliederungsvereinbarung aus, wir unterschreiben und überreichen uns die Blätter. Ich lese sie gar nicht groß durch, nur schnell raus hier.
Zum Abschied stehen wir auf und geben uns die Hand. Als ich loslassen will, hält sie meine fest und sagt, dass sie mir viel Erfolg wünsche, und dass ich mir überlegen solle, ob ich den Bürojob wirklich weitermachen möchte, weil der Stundenlohn ja schon an »Sittenwidrigkeit« grenze. Erst jetzt lässt sie meine Hand los. »Auf Wiedersehen«, sagt sie. Rückwärts auf die Tür zugehend, antworte ich: »Ich hoffe eigentlich, dass wir uns so bald nicht wiedersehen. Ich suche ja eine Festanstellung (gelogen!). Entschuldigung. (Wahrheit).« Ich lächele sie an. Sie wirkt aber nicht beleidigt, ihr Gesicht bleibt freundlich und sie nickt bloß dazu.
Draußen setze ich mich auf eine Bank, um die Eingliederungsvereinbarung mit der letzten zu vergleichen. Zum Glück steht nichts Neues drin, also kein Knebelvertrag von wegen 100 Pflichtbewerbungen pro Monat oder dergleichen. Verdammt, ist die nett! Die süße Frau Stiller sollte sich aber auch mal besser einen neuen Job suchen, die ist viel zu lieb und viel zu gut im Kopf, um in diesem Laden zu versauern, und am Ende sieht sie genauso zerknirscht aus wie die beiden alten Frauen von vorhin. Jetzt hat sie noch etwas Mädchenhaftes, etwas Liebes, an sich. Allerdings wäre es besser, ich würde sie nicht in mein Herz schließen – immerhin sind wir doch Feinde.
Mit beschwingtem Gang grinse ich auf dem Weg zur S-Bahn vor mich hin. Hab ich ein Glück! Meine Energietanks fühlen sich aufgeladen an. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass mich jemand für meine Entwürfe gelobt hat. In diesem Moment glaube ich plötzlich wirklich daran, dass mir sehr wohl alle Türen offen stehen, dass alles gut wird, dass ich schaffen kann, was ich mir vorgenommen habe, und so spontan war diese Lüge mit der alleinerziehenden Architektin ein Geniestreich. Allerdings, diese Idee ist doch tatsächlich sehr gut. Wieso nicht? Na, weil ich doch ganz genau weiß, dass ich mir gerade ebenso etwas vormache wie meiner viel zu freundlichen Fallmanagerin. Moment mal … ihre süßliche Nettigkeit war doch bestimmt nur ein Trick, um mich besser aushorchen zu können, solche freundlichen Fallmanagerinnen gibts doch gar nicht im wirklichen Leben.
Spätestens an der S-Bahn wird mich die Realität wieder eingeholt haben – schon kann ich sie in meinem Rücken unheimlich zielsicher hinter mir herkriechen spüren ...
*
Mitten in meinem hektischen Gerenne zur Bank tritt mein nächster Schritt plötzlich ins Leere … ich habe das Gefühl, mein Bein tut nicht, was es soll – standhalten –, gleich falle ich – gleich … und gleichzeitig packt mich von hinten diese Panik … da ist doch jemand, der mich verfolgt! Ich stütze mich an der Wand ab … jetzt kommt jede Sekunde jemand von hinten mit einer Waffe auf mich zu, erschießt mich oder sticht mir mit einer riesigen Klinge in den Rücken … ich lehne mich an die Wand, sehe mich um, aber da ist nichts Auffälliges … ich schnappe nach Luft, das Blut war in einem Mordstempo aus meinen Wangen hinuntergestürzt, meine Beine hatten aber wider Erwarten standgehalten, mein Herz pocht wie verrückt, eigentlich muss ich mich setzen, aber da ist kein Treppenabsatz in Sicht und hier in der Menschenmenge an der Wand runter auf meinen Hintern zu rutschen, das bringe ich jetzt trotz meiner schwächelnden Beine nicht … ich japse nach Luft. Mein Herz rast. Was war das denn? Hilfe! Werde ich jetzt irre? Bin ich gerade paranoid geworden? Ich weiß nur eins: Ich hatte Angst – Todesangst!? Mit den Handflächen auf den Wangen, versuche ich mir diesen Schock aus dem Gesicht zu wischen. Mir ist zum Heulen … Da ist nichts, Eva! Alles ist gut! Beruhige dich. Niemand verfolgt dich. Niemand erschießt dich. Niemand sticht dir in den Rücken …
Luft holen! Luft!
*
Als ich Lasse abholen will, lädt mich die hochschwangere Mutter seines Schulfreundes noch zum Tee ein. Ich will erst nicht, aber Lasse ist schon wieder mit seinem Kumpel rübergelaufen und ich fühle mich zu schwach, jetzt mit ihm zu kämpfen. Am Küchentisch plaudern wir Frauen über Schule und Schwangerschaft. Sie erzählt von einer Freundin, die ganz übel an einer postnatalen Depression leiden würde, und sagt: »Also wenn es mir schlecht geht, dann nehme ich mein Strickzeug und setze mich vor den Fernseher. Dann habe ich auch noch das Gefühl, ich hätte etwas geschafft.«
»Ja, das ist die berühmte Stricktherapie«, sage ich und bemerke selbst, wie gereizt ich dabei klinge, nur habe ich da auch schon von mir gegeben: »Die werde ich gleich heute Abend einmal anwenden.«
Zum Glück kommen die Kinder reingelaufen. Ich drängele den protestierenden Lasse zum Aufbruch, weil wir doch noch baden wollten heute Abend.
Einatmen … und wieder ausatmen.
*
Nach unserer ersten Sitzung drückt mir der Herr Dr. Psychologe die Hand zum Abschied und sagt: »Suchen Sie sich eine gut bezahlte Arbeit.« Ich weiß nicht, was ich zuerst machen soll: mit einem Heulkrampf zusammenbrechen oder ihm mit meiner Faust eine Delle in seine teigige Fresse hauen. Kein Wunder, dass dieser Profi von Vollpfosten noch einen freien Therapieplatz für einen Kassenpatienten anzubieten hatte. Ich habe echt keine Kraft mehr, weiter zu suchen und zu suchen … in meinem Bezirk gibt es einfach viel zu viele kaputte Leute.
Und ich erzähle diesem wildfremden Menschen auch noch, dass ich mich ständig krampfhaft bemühe, die frischgewaschene Wäsche nicht mit Klammern in der passenden Farbe aufzuhängen. Warum ich mit solchen Peinlichkeiten rübergekommen bin, weiß ich wirklich nicht. Wahrscheinlich hält irgendetwas in mir diesen Drang für besonders behandlungsbedürftig durchgeknallt. Die ganze Zeit über musste ich mich zusammenreißen, nicht gleich loszuheulen, obwohl ich gar nicht von meinen wahren Wehwehchen gesprochen hatte.
Wieso habe ich über alles Mögliche geredet, nur nicht über diese ätzenden Angstattacken in letzter Zeit? Vielleicht hätte er mir heute schon eine Glücklichpille dagegen verschrieben. Ich bin so doof manchmal!
Meinen Heimweg muss ich im Slalom um Designer-Kinderwagen mit den dazugehörigen Luxusmuttis zurücklegen. Gott, gehen die mir auf den Keks! Mitten im goldigen Herbst hocken sie in Rudeln auf den Sonnenplätzen vor den Cafés herum, tratschen mit den vorüberflanierenden Artgenossinnen, ihre Accessoiregören auf Lammfellen in Dreirad-Buggys drapiert, in selbstgekaufte, handgestrickte Schurwollmützen, schals und socken vom Ökomarkt am Kollwitzplatz gestopft. Ich bahne mir meinen Weg durch ihre herumeiernden Drei- bis Vierjährigen auf Holzlaufrädern, während ihre Muttis das lautstarke Geplärre der Früchte ihrer yogapilatesrück-bildungsgymnastikgestählten Lenden total relaxt ignorieren und gemütlich weiter ihre dampfenden Drei-achtzig-Lattes aus den eheberingten wellnesssalonmanikürten Händen schlürfen, gerade so, als hätte jeder hier die Zeit, es ihnen gleichzutun, als hätte man es nicht eilig, sein Ziel zu erreichen, und als wäre es kein großes Ding, ständig um sie herumlaufen zu müssen oder sich den Weg durch ihre schnatternden Schwärme freizutreten. Verschwindet! Und lasst mich vorbei, verdammt!
Und jetzt parkt mir Mutti mit ihrer Sechs-Sitzer-Familienkarosse auch noch meinen Weg an der Straßenecke zu, und Vati tut es ihr mit seinem Zweit-Stadtwagen an der nächsten Ecke gleich. Also laufe ich jetzt auch noch um deren Wagen herum. Wie soll man die denn bitte schön ignorieren? Wie? Wenn sie mir mit ihrem Lifestyle auf jedem meiner Wege breitarschig vor den Füßen hocken?
Ich brauche dringend eine Peitsche! Ja, genau! Und damit werde ich diese ganze Brut dann durch die Bronx treiben. Ha, ha … ich will sehen, wie die da ihre Macchiatos süffeln. Oder nee, ich bastele einfach ein paar Bomben! Genialer Plan! Damit werde ich mir dann den Weg hier durch diese dummdreisten Wohlstandsbürger auf meinem P-Berg freibomben: KRAWUMM! Und eine für diesen Schlauberger von Psychologen: WANGO! Da siehste mal, wie es wirklich um mich steht! Und natürlich muss ich auch gleich ein paar Bomben basteln für diese Scheißschickiläden hier mit lauter Zeugs, die echt kein Mensch zum Leben braucht: BÄNG! BÄNG! Und natürlich noch eine für das Büro, in dem ich seit einem Jahr arbeite, aber mit einem Witz von Lohn nach Hause geschickt werde. Da! Nehmt dies, elende Sklaventreiber! BÄM!
Vor meiner Haustür angekommen, hole ich tief Luft. Aber was nützt es eigentlich, ständig ganz tief Luft zu holen, wenn sie mir bloß noch dazu dient, hyperventilierend rumzumeckern und zu zetern, um mich auf 180 hochzujapsen? Hilfe! Bald drehe ich wirklich durch ... sicher in Bälde schon …
*
Auf dem Balkon mit Kaffee und Zigarette komme ich so langsam wieder runter. Endlich in Sicherheit. Endlich allein. Ach, wozu brauche ich denn eine Therapie? Bald kommt Lasse aus der Schule und dann verbringen wir einen netten Nachmittag damit, nach Bombenbauinstruktionen zu googeln, und mein technisch begabtes Schnuckelchen wird einen mordsmäßigen Spaß daran haben, seiner Mama beim Basteln zu helfen, das Leben auf diesem Planeten ein Stück weit besser zu gestalten. Wir zwei Superweltverbesserer, wir!
Und da frage ich mich ... Hat mich dieser blöde Psychodoktor bloß dermaßen auf die Palme gebracht, um meine Überlebensgeister wachzurütteln? Schon nach der ersten Sitzung weiß ich wieder, wozu ich da bin. Und statt mit einer weiteren Panikattacke an den Hauswänden im Rücken entlangzujapsen, bin ich wütend schnurstracks durch meinen Kiez gestapft. Vielleicht ist das eine ganz neue Therapieform: Überwinde deine Angst! Sag Hallo zum Terroristen in dir! Plötzlich wird mir klar, dass Terroristen nichts weiter als angstgebeutelte Schisser sind. Man muss sich doch bloß ohnmächtig genug fühlen, um fröhlich blindwütig alles zerstören zu wollen, was einen kaputt macht. Wenn man nichts weiter zu verlieren hat außer dieses elende, ätzende, dahinkrepelnde Leben, dann schreckt einen der Tod wie ein schlechter Gruselschocker: Es ist zum Brüllen komisch.
Ja, ich bin stinkeneidisch auf alle Leute mit Geld. Aber nur, weil die sich mit ihrem Scheißgeld Ruhe kaufen können. Sie können sich ein gutes Öko-pc-Gewissen einkaufen, sich eine liebevolle Kinderbetreuung und die beste Bildung leisten. Und sie gehen mit einem Stundenlohn nach Hause, der ihnen nicht das Gefühl gibt, ihre Lebenszeit auf Arbeit wie eine halbtote Crackhure zu prostituieren, so wie ich im Moment.
Irgendetwas muss passieren in meinem Leben. Aber es bringt nichts, jeden Abend ins Bett zu gehen und sich vorzunehmen, dass man morgen alles besser machen wird, nur um sich dann den gesamten Tag über bloß dabei zuzusehen, wie man doch wieder alles ganz genauso macht wie zuvor. Diese elende Schlaffheit ist erbärmlich und entwürdigend und schlimm und hässlich. Nur weiß ich einfach nicht, wie ich da herauskommen soll … allein ... ich weiß einfach nicht wie … Wieso finde ich keine Halbtagsstelle in meinem Beruf? Wieso kann ich mir nicht eine ganze Stelle mit einer anderen alleinerziehenden Mutter teilen? Das wird doch wohl möglich sein im Jahre 2010 in Deutschland. Ich brauche doch gar keine Reichtümer zum Leben. Ich will doch bloß meine Rechnungen bezahlen und in Ruhe schlafen können. Warum ist das nur so ein Ding der Unmöglichkeit, in Frieden leben zu können mit meinem Kind? Ich will für Lasse da sein, wenn er aus der Schule kommt. Ich habe ihn doch bloß vier Tage in der Woche, und davon nur den halben Tag, also sind wir im Grunde nur zwei Tage pro Woche zusammen. Dafür soll ich ein Kind auf diese Welt gebracht haben? Das kann doch nicht der Plan gewesen sein. Wie machen das denn die anderen Leute? Wieso schaffe ich es nicht, alles richtig zu machen? Was läuft denn bloß so schief bei mir? Ich will doch bloß alles richtig machen ...
*
Inzwischen haben sich in meinem Empfangsbüro sieben Kollegen eingefunden, die bestimmt schon seit 20 Minuten fröhlich kreuz und quer über die schniekesten Designs und die Tauglichkeit diverser Schutzhüllen ihrer iPhones plappern, während ich krampfhaft versuche, mich auf diesen Scheißserienbrief zu konzentrieren. Mir ist gerade aufgefallen, dass das Anrede-Feld von irgendeinem Idioten, der nicht kapiert hat, dass man Vorlagen nach der Bearbeitung nicht als dot-Dokument abspeichern darf, ordentlich zerfunzt worden ist.
Ich kann so nicht arbeiten! Also stöpsele ich mir meine Musik in die Ohren; falls das Telefon klingeln sollte, stehen hier ja genügend Leute rum. Ich weiß genau, dass es irgendwo ein Wenn-dann-Abfrage-Feld gibt, aber ich weiß noch nicht einmal, wie dieses Ding von Word genannt wird, und deshalb weiß ich auch nicht, wonach ich in der Hilfe überhaupt suchen soll. Ist ja nicht gerade der Sinn eines Serienbriefs, in jede einzelne Seite die richtige Anrede reinzutippen. Dieser Brief muss heute noch 200-mal eingetütet werden und rausgehen.
Die Chefin kommt mit ihrem Assistenten reingehechtet. Ich rupfe mir schnell die Stöpsel aus den Ohren, und die plappernde Kollegentraube verzieht sich endlich. In meinem Kopf läuft Stilettos von Holy Fuck weiter, während sie auf mich einbrabbelt: »Ja, die Webseite müssen wir noch … und da fällt mir ein … ja, Photoshop wollte ich noch besorgen … das ist besser … wenn ich das der Grafikerin immer gebe, kostet die mich 60 Euro in der Stunde ... Sie können das ja auch, nicht? Morgen … nein, Freitag machen wir das, ja? Vorher … nein, vorher schaffe ich … Ach, wissen Sie was? Wir machen jetzt mal einen Termin, sonst … Wie wäre es um neun? Also besser Freitag, da können wir den ganzen Tag … ich brauche noch Bahnkarten für die Messe, ich glaube, Mittwoch … Moment … 6.21 Uhr geht ein Zug … zurück gegen 18 Uhr, zwei Personen, eine BahnCard 50, eine ohne, ja, und auch noch Reservierungen, wenn da noch genug Geld in der Kasse … oooh, das ist knapp ... hier die Karte, ich gebe Ihnen mal die Nummer … aber lieber bar am Schalter, über Internet … ich traue dem nicht so … also besser bar, ja, wenn das Geld nicht ausreicht ... Moment! Frank, bist du so nett und hilfst der Frau Rock einmal aus? Danke! Hier, das müsste reichen. Wie gesagt, besser bar. Ich bin später wieder im Büro … oder … ich weiß gar nicht so genau … Frank, bist du heute lange da? Nein, du brauchst mir die Tickets nicht zu bringen. Ich bin rechtzeitig wieder zurück. Sie … wie lange sind Sie heute …? Ach, ich dachte, Sie können nicht so lange … also hole ich sie mir dann ab, ja? Gut! Und wie schnell Sie das da immer machen im Internet … ist ja wie im Reisebüro hier … und ach ja, das hätte ich fast vergessen … ich weiß, Sie wollen ja fest im Büro anfangen … und leisten hier sehr gute Arbeit … also wir hätten das alles nicht geschafft in letzter Zeit … aber im Moment und da Sie ja nur halbtags können … ich meine, wir können hier ganz einfach nicht auf alle persönlichen Umstände der Mitarbeiter, wissen Sie … also kurz gesagt, wir bieten Ihnen einen Mini-Job-Vertrag … natürlich vorübergehend … aber im Moment … Sie verstehen … der Frank, der gibt Ihnen später die Unterlagen.«
Echt, die kann mich kreuzweise mit ihrem Mini-Kack-Vertrag und ihrem ach-so-dringendst-wichtig-wichtigen-Serienbrief. Den werde ich jetzt aber leider leider heute nicht mehr schaffen, Sie Schnepfe. Morgen ist ja auch noch ein Tag, nicht? Nur wenn ich das später dem Frank sagen muss, wird der mich wahrscheinlich wieder fragen, ob ich mich denn auf seinen Schoß oder auf den eines anderen Kollegen setzen wolle, weil dienstags doch kein Arbeitsplatz für mich frei sei. Die Schote hat er inzwischen schon zweimal gebracht. Aber ansehen kann er mich nicht, wenn er solche Sprüche klopft. Er stiert dann auf den Monitor und tippt ganz geschäftig vor sich hin und tut so, als wäre nix gewesen. Aber sein blödes, rot anlaufendes Gesicht verrät, dass er sehr wohl weiß, was für einen sexistischen Kackscheiß er da abgesondert hat. Beim ersten Mal hatte ich mich noch so ganz spontan bloß darüber gewundert, weshalb er mich nicht imaginär auf den Schoß einer meiner vier Kolleginnen gesetzt hatte. Aber für heute werde ich mir mal eine richtig knackige Antwort einfallen lassen, für den Herrn Oberassistenten. Oder nee, ich weiß etwas Besseres …
Im Sommer bin ich immer mit dem Rad zur Arbeit, und da saß ich ihm einmal, als ich gerade angekommen war, an unseren Schreibtischen schwitzend und etwas kurzatmig gegenüber. DerFrank, der machte sich auch gleich darüber lustig, von wegen so alt sei ich ja wohl noch nicht, und ich meinte dazu, dass es doch morgens schon ziemlich heiß sei, und da fragte er in einem irgendwie psychopathisch klingenden Ton: »Ja? Ist dir heiß?«
Als ich ihn daraufhin verwundert und nach einer vernünftigen Erklärung für seine Frage suchend ansah, glotzte er krampfhaft auf seinen Monitor, schien immer nervöser zu werden, schnappte sich plötzlich seine Kaffeetasse, sprang von seinem Stuhl auf und flüchtete aus dem Raum.
Der ist heute so was von fällig! Wenn ich zurück bin, werde ich gleich zu ihm gehen und erzählen, wie heiß mir gerade ist, in meinem dicken Daunenmantel unter meiner mollig warmen Mütze und dem flauschigen Schal. Und dann werde ich, von unten zu ihm hoch hauchend, mit meinen rot dampfenden Bäckchen und Lippen nach Luft schnappen, ihn dabei anklimpern mit meinen Wimpern, mir dann die Mütze vom Kopf reißen, mit der flachen Hand über den Nacken fahren und mit einer ausholenden Geste meine blonden Locken unter Schal und Mantel herausziehen … »Uh!«, werde ich stöhnen und mit dem Schalende vor meinen verschwitzten Gesichtchen herumfächeln. Dann lasse ich mir beim Öffnen meines molligen, viel zu heißen, dicken Daunenmantels genug Zeit, um jeden einzelnen Druckknopf beim Auseinanderrupfen deutlich vernehmbar aufklacken zu lassen. Vielleicht singe ich dazu auch noch: »It’s gettin’ hot in heeere ...«
Während ich schadenfroh in mich hineingrinse, stecke ich alles Notwendige in einen Ordner, um diese bekloppten Tickets am Schalter kaufen zu gehen. Was für eine hirnrissige Zeitverschwendung! Als ob ich nicht schon seit Monaten den Posteingang und damit auch die Kontoauszüge in die Finger bekäme. Da ist genug Geld auf der Bank. Ich bräuchte doch bloß den Code auszudrucken und sie hätte ihre Tickets sofort in den Patscherchen, dumme Nudel, saudumme! In Wirklichkeit geilt die sich doch bloß hübsch daran auf, mich in dieses Wetter rausjagen zu können.
Dem Gestammel der Frau Chefin am Handy ist zu entnehmen, dass sie für die zwei Tage der Messereise ihren Sohn irgendwohin organisieren muss, aber ihr Mann scheint ebenfalls keine Zeit für das Kind zu haben, das übrigens zwei Jahre jünger ist als Lasse. Also mache ich mich schon darauf gefasst, doch nicht mehr loszumüssen, hocke mich auf meinen Stuhl und höre mir an, wie sie weiter fröhlich jeden Satz zerhackstückelt. Meint die eigentlich, dass ihre Untergebenen sich gefälligst den Rest selbst zusammenzupuzzeln haben? Glaubt diese Frau etwa, dass sie auch für diese Leistung zahlen würde? Nachdem ihre Diskussion endlich beendet ist, sieht sie mich verdutzt an: »Ist noch etwas?« Huch! Ein vollständiger rhetorischer Fragesatz! Ich schüttele meinen Kopf. Stimmt schon, ist ja nicht mein Problem, ist ja ihr Gör. Für einen Nieselschneeweg zum Fahrkartenschalter mummele ich mich dann ordentlich ein, stöpsele mir meine Musik in die Ohren und schlurfe los mit The Golden Path als Soundtrack. Draußen spanne ich meinen Schirm auf, der, bald mit einer Eisschicht bedeckt, immer schwerer wird. Wieso halten Menschen eigentlich keinen Winterschlaf? Ich seufze. »Help me, Lord!«, singe ich laut und am Ende des Liedes quietsche ich schräg mit den Chemical Brothers: »Pleeese forgive me ...« Ich denke an Tom, an seinen Raubtierblick damals, aus seiner Ecke heraus, rüber zu mir, während ich mich auf der Tanzfläche zu genau dieser Songzeile drehte und drehte ... Angst bekam und hineinfloh in die schützende Menge.
2
Auf unserer üblichen Bemudadreieck-Clubtour landen Tom und ich zum Schluss wieder im Bassy. Obwohl mir dieser Burlesk-Rockabilly-Hype schon seit Jahren auf den Keks geht. Alles Eskapissnelken! Wir sitzen auf den Stufen der Bühne. Ich sehe mir die Leute im Jahr 2010 an, wie sie hirnlos den beknackten alten Zeiten frönen, und dann zeigt Tom mir auch ganz passend dazu auf der Tanzfläche ein Mädchen, das ihn an seine erste große Liebe erinnert. Mein Angebot, die Annäherung etwas zu beschleunigen, nimmt er mit einem ungläubigen Blick, aber in freudiger Erwartung an. Gegen die Lautstärke neben uns aus den Boxen kommentiere ich mein Tun in sein Ohr: »Ich werde jetzt beim Reden immer wieder meine Hand auf dein Knie legen, und gleich stupse ich deine Schulter an und werde lachen, als hättest du mit mir herumgeschäkert. Jetzt fahre ich mit meiner Hand durch mein Haar, wickele mir eine Locke um den Finger, lehne meine Schulter beim Sprechen an deine, ich neige meinen Kopf und blinzele kokett lächelnd zu dir auf.« Obwohl Tom noch verlegen grinsend sagt, dass ich das aber verdammt gut draufhätte – er sei schon ganz wuschig geworden davon –, fühle ich mich dann doch nicht mehr ganz so cool, dabei zuzusehen, wie sich die beiden auf der Tanzfläche tatsächlich sehr schnell näherkommen. Ziemlich bedrupst nuckele ich nun an dem Bier, das er mir dann nach ihrem Geknutsche zur Belohnung in die Hand gedrückt hat. Im Eigentoreschießen bin ich echt unschlagbar.
Aber da taucht Mathieu auf. Ich danke dem lieben Gott für diese das natürliche Gleichgewicht wiederherstellende Geste. Mit Mathieu läuft seit über einem Jahr ab und zu mal etwas. Es fühlt sich immer gut an, ihm zu begegnen. Keine Ahnung, wie er das macht, aber sobald er in meiner Nähe ist, mutiere ich zu ebendiesem Weibchen, das ich Tom gerade noch vorgespielt habe. Dann zwitschere ich in einer höheren Stimmlage, meine Muskulatur wird weich und ich neige mich immer mehr zu ihm hinüber, und wenn er im Gespräch auch noch eine Locke aus meinem Gesicht streicht oder seine Hand meinen Oberarm drückt, er sie dann auf meinen Schenkel legt und dort bleiben lässt ... Ach ja ... Das sind bestimmt die Pheromone. Vielleicht ist es aber auch seine schöne tiefe Stimme, die angenehm dahersonort, in diesem Englisch mit leichtem französischen Akzent. Ja, es ist sicher bloß dieser Akzent. Jedenfalls bin ich inzwischen schon wieder ganz weich und fluffig geworden an seiner Seite, da pflanzt sich eine Frau neben ihn, die er zu kennen scheint, denn sie plappern gleich munter drauflos. Eine Schönheit ist sie auch noch. Und als wäre das noch nicht genug, entdecke ich nach einer grummelnden Weile, mitten auf der Tanzfläche, meinen zweiten Ab-und-an-Lover Vito, der gerade dabei ist, mit einer hübschen jungen Blondine herumzuknutschen, natürlich in einem Lichtkegel präsentiert, extra für mich, damit ich auch ja nichts davon verpasse.
Nee. Das gefällt mir alles gar nicht. Aber ich freue mich, dass Vito jetzt zu mir rüberkommt, mir sein Bier in die Hand drückt und schon fast entschuldigend erklärt, er hätte sie nebenan aufgegabelt und das Schöne sei gewesen, dass sie noch kein Wort miteinander gewechselt hätten. Ich nehme einen Schluck von seinem Bier, sage, dass mir das auch sehr gefallen hätte, er lädt mich ein, sie auch einmal zu küssen, ich lehne dankend ab, sein Bier lässt er bei mir, tanzt dann aber zurück, zu der nach ihm schon Ausschau haltenden Blondie, die mir dann auch gleich einen bösen Blick unter ihrem Pony über seine Schulter hinweg zuwirft, als er sie wieder in den Arm nimmt.
Immerhin würde die Knutscherei für ihn wohl gleich noch heißer werden, wegen mir, immerhin, bilde ich mir dann ein und fühle mich allerdings reichlich ungeknutscht an diesem Abend. Als die beiden dann gen Klo verschwinden, Tom rechts von mir immer noch am Knutschen ist, Mathieu sich links von mir immer noch äußerst angeregt unterhält, da muss ich plötzlich auch mal aufs Klo. Dort sehe ich gerade noch, wie Vito und Blondie die Tür hinter sich schließen, und ich denke: Hoffentlich benutzen die ein Gummi! Oder zwei. Nach dem Händewaschen ist mir gerade irgendwie danach, mal ordentlich gegen ihre Tür zu treten. Viel besser fühle ich mich dann aber auch nicht wirklich.
Zum Rauchen gehe ich rüber in den anderen Raum, wo es kaum noch freie Plätze gibt. Ich setze mich auf das große Sofa neben ein junges Mädchen mit hochgesteckten dunklen Haaren, das in einem Etuikleid steckt. Die Zigarettenschachtel ziehe ich aus meinem Stiefelschaft. Da stecke ich die immer rein, wenn ich Klamotten ohne Taschen trage. Das Mädel dreht ihren Kopf in meine Richtung, lüpft ihre Augen-brauen, schmunzelt betrunken, dann fragt sie mich nach Feuer, schwankt aber vor der Flamme hin und her, kriegt es nicht gebacken, die Zigarette anzubekommen, also nehme ich sie ihr aus der Hand, zünde sie an und gebe sie ihr zurück.
Ein Typ quetscht sich neben sie, sie rückt näher an mich heran, um ihm Platz zu machen. Während er auf sie einredet, stiert sie bloß ins Leere und raucht. Als er wieder weg ist, lehnt sie ihre Schulter an meine und sagt mir ins Ohr: »Der Typ da meint, er ist der Leader, nur weil er unsere Coversongs aussucht. Coversongs!«, und dann prustet sie los und kringelt sich einen ab. Ich nehme meine Flasche vom Tisch und proste ihr zu. Klong!
»Dabei bin ich die bessere Musikerin und mit dieser Truppe werde ich eh nicht alt ... und der denkt, weil er da was zwischen seinen Beinen bammeln hat und älter ist, hätte er was zu melden ... dabei bin ich die bessere Musikerin! Ich spiele vier Instrumente! Und was kann der? Trom-peee-täh-hä-hä-hä!«, prustet sie wieder.
Jetzt muss ich auch lachen.
»Ist doch großes, dickes Gold wert, Musik machen zu können. Damit hat man immer etwas, womit man sich ausdrücken kann ... vor allem, wenn es einem dreckig geht ...«, brabbele ich Schulter an Schulter in ihr Ohr.
»Ey, du hast keine Ahnung, wie es einen runterzieht, wenn da nix kommt … Musik rettet einen auch nicht davor, sich umzubringen.«
»Also mich rettet Musik immer. In guter Musik fühle ich mich aufgehoben. Musik ist mein Zuhause, egal, wo ich bin, egal, wie ätzend es um mich herum ist.«
»Aber wenn du in den unendlichen Weiten Schleswig--Holsteins aufgewachsen bist, dann trägt sie dich gaaanz waaait weg«, sagt sie versonnen.
»Man stirbt sowieso eines Tages und bis dahin sollte man alles mitnehmen, was kommt. Und man weiß nie, was kommt.«
»Du redest wie meine Mama.«
»Könnte ich auch locker sein.«
Sie sieht mich forschend an, aber mit ihrem trunkenen Blick erkennt sie hier in diesem rötlich diffusen Licht bestimmt kein einziges Fältchen in meinem Gesicht.
»40«, antworte ich.
»Nee!«, raunt sie.
Ich nicke.
»Meine Mutter ist genauso alt und sieht viel älter aus. Oder nee, du siehst jünger aus. Cool! Wie machst du das? Na ja, meine Mutter hat auch drei Kinder auf die Welt gebracht«, sagt sie und prostet mir zu.
»Ich möchte meinem Sohn ständig Musikunterricht angedeihen lassen, aber er will ums Verrecken keine Noten lernen.«
»Lass ihn«, sagt sie. »Etliche verdammt gute Musiker können auch keine Noten lesen. Wenn er es wirklich will … wird schon …«
»Ja, wird schon …« Nachdem ich meine Kippe ausgedrückt habe, sage ich ihr: »In deinem Leben werden sicher noch eine Menge cooler Sachen passieren, du musst ihnen bloß die Zeit geben, passieren zu können.«
Sie prostet mir zu, lächelt, nickt zwar, aber sie wirkt nicht gerade überzeugt. Ich stehe auf, beuge mich zu ihr runter und sage ihr ins Ohr: »Du hast doch einen guten Kopf!«
»Ja, weiß ich doch«, haucht sie und lässt ihren guten Kopf schlaff in den Nacken auf die Sofalehne fallen. Mit meiner Hand stupse ich ihr Knie an, sie winkt ab. In meinem Rücken ruft sie hinter mir her: »Du aber auch!«
Jetzt winke ich ab. Kein Wunder, dass Tom sich ständig mit diesen jungen Dingern verlustiert, wenn die alle so cool drauf sind. Als ich 20 war, war ich anders, viel blonder, schnuckeliger, ich hatte noch süße Träume. Ich sollte umkehren und sie einladen, meine neue beste Freundin zu werden. Was für eine Verschwendung, wenn sie sich eines Tages tatsächlich das Leben nehmen würde. Aber seit ich Mila kenne, weiß ich, dass dies die Krankheit aller zu klugen, zu schönen, zu talentierten Menschen ist. Drüben an der Tanzfläche stehend, überlege ich, welche Instrumente ich spielen würde, wenn ich vier Instrumente spielen könnte: Gitarre, Schlagzeug, Klavier und … Das würde mir schon reichen. Aber dafür reicht mein guter Kopf eben doch nicht aus. Noch nicht einmal, um mich als Architektin selbstständig zu machen, reicht er aus. Es stimmt nicht, dass ich einen guten Kopf habe. Mein Kopf ist gerade mal ausreichend, ausreichend zum Überleben. Tom kann ich nirgends entdecken. Mathieu hockt immer noch mit der Frau da, wo wir vorhin gesessen haben, und Vito ... Na, der ist wohl noch etwas beschäftigt. Ich will sofort in mein Bett!
Im Nachtbus lehne ich meinen Kopf an die Fensterscheibe und lasse mein Hirn von der Vibration während der Fahrt durchrütteln. Da drin ist eh nichts mehr groß kaputt zu machen. Es ging mir heute gar nicht so sehr darum, dass einer meiner Jungs wüst über mich herfällt. Aber ein wenig Aufmerksamkeit hätte mir ganz gutgetan. Ich fühle mich eh schon wie der letzte Dreck. Und dann auch noch so was! Keiner – von dreien!!! – interessiert sich für mich. Ein Pärchen setzt sich zu mir auf die Viererbank. Sie sehen genauso abgerockt aus wie ich. Die Frau drückt mir gleich einen Flyer in die Hand: Silvesterparty irgendwo in der Skalitzer. Ja, 2011 wird alles anders und besser, sicher. Mein Dankeschön ist ein Nicken. Ich verstecke mich unter meinen Locken und hinter meiner Mega-Sonnenbrille. Dann hält mir der Typ ein Weichgummi aus einer lustigbunten Tüte vor die Nase, ich will es mir nehmen, aber er zieht seine Hand zurück und ich eine angesäuert Schnute, er hält mir dann aber wieder die Süßigkeit hin, ich öffne jetzt einfach meinen Mund, er stopft mir das Weichgummi mit der flachen Hand rein und noch eins hinterher. Mampfend lächeln wir uns alle an. Die beiden sind schon lässig. Das Mädchen reicht mir ihre Bierflasche, ich proste ihnen zu und nehme einen Schluck, der sehr bitter schmeckt mit dem süßen Geschmack auf der Zunge. Ob die mich mitschnacken wollen? Vielleicht habe ich gerade K.o.-Tropfen geschluckt. Ach, was solls. K.o. bin ich ohnehin schon.
Nachdem ich ausgestiegen bin, merke ich, dass jemand neben mir herläuft, aber ich habe doch meine überdimensionierte Sonnenbrille auf, also ignoriere ich ihn ganz cool. Als er nach einigen Metern immer noch neben mir herläuft, bleibe ich stehen. Er auch. Ich drehe mich zu ihm um, sehe ihn an, nach oben, er ist ein gutes Stück größer, obwohl ich meine hohen Stiefel trage. Ein freundliches Milchbubigesicht strahlt mich zuckersüß an. Fast hätte ich gelächelt bei diesem Anblick, aber ich muss mich auf meine Zickenrolle konzentrieren, also frage ich möglichst unbeeindruckt: »Was soll das hier werden?«
»Warum trägst du in der Nacht eine Sonnenbrille?«, fragt er zurück.
Die Nummer mit der Gegenfrage ist mir durchaus vertraut, Kleiner. Nee, ich habe keinen Bock auf Konversation. Ich gehe einfach weiter. Er folgt mir. Ich ignoriere ihn. Versuche ich zumindest. Mir ist nach einer Zigarette, ich bleibe stehen. Er auch. Ich fingere die Schachtel aus dem Stiefelschaft. Er fragt mich, ob er auch eine bekommt.