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In seinem fesselnden Buch, das international für Furore gesorgt hat, wirft Quinn Slobodian einen neuen Blick auf die Geschichte von Freihandel und neoliberaler Globalisierung. Im Mittelpunkt steht dabei eine Gruppe von Ökonomen um Friedrich von Hayek und Wilhelm Röpke, die aus einer Außenseiterposition heraus die Deutungshoheit eroberten. Getrieben von der Angst, nationale Massendemokratien könnten durch Zölle oder Kapitalverkehrskontrollen das reibungslose Funktionieren der Weltwirtschaft stören, bestand ihre Vision darin, den Markt auf der globalen Ebene zu verrechtlichen und so zu schützen.
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Seitenzahl: 737
3Quinn Slobodian
Globalisten
Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Suhrkamp
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism bei Harvard University Press (Cambridge, MA/London).
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2019
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2019.
© der deutschsprachigen Ausgabe: 2019, Suhrkamp Verlag AG, Berlin© der Originalausgabe: Copyright © 2018 by the President and Fellows of Harvard CollegeAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagfoto: Pierre-Yves Dhinaut, Carouge
eISBN 978-3-518-76303-2
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung: Denken in Weltordnungen
Nicht Befreiung, sondern Ummantelung
Die Genfer, nicht die Chicagoer Schule
Nicht Marktfundamentalismus, sondern militanter Globalismus
Die drei Umwälzungen im neoliberalen Jahrhundert
Vertikale Lösungen für das Problem einer zerfallenden Welt
1. Eine Welt der Mauern
Wehrhafter Liberalismus in der Ringstraße
Die Erfindung der Zollmauern
Juli 1927: Barrikaden in der Stadt
Mit den Augen eines Handelsguts
2. Eine Welt der Zahlen
Der Blick auf das Barometer
Die Konjunkturforschung und der moderne Staat
Der Puls der Welt
Gibt es eine Weltwirtschaft?
Das Lippmann-Kolloquium als Weltprojekt
3. Eine Welt der Föderationen
Dekolonisation und Weltwirtschaft
Robbins und die Idee der Ent-Planung
Hayeks neoliberale Föderation
Mises und die Ursprünge der Doppelregierung im Habsburgerreich
Röpke, das
dominium
und das
imperium
4. Eine Welt der Rechte
Die Gefahr der wirtschaftlichen Demokratie
Das Menschenrecht auf Kapitalflucht
Die kapitalistische Magna Carta
Die bilaterale Lösung
5. Eine Welt der Rassen
Röpke und die »Zambesi-Linie«
Der Kampf gegen den globalen New Deal
Das ökonomische Orakel aus dem anderen Europa
Die Front wird nach Süden verschoben
Die Zinstheorie der Zivilisation
Hutt und die Lösung des gewichteten Wahlrechts
Friedmans und Hayeks militanter Globalismus gegen Sanktionen
6. Eine Welt der Verfassungen
Die Universalisten: Neoliberale Gegner der europäischen Integration
GATT
gegen Eurafrika: Der Haberler-Bericht von 1958
Die Konstitutionalisten: Die Römischen Verträge als Ursprung der mehrschichtigen Governance
Mestmäcker, Böhm und Schmitt: Die Wirtschaftsverfassung und die Entscheidung
7. Eine Welt der Signale
Der Homo regularis und die Anmaßung von Wissen
Die dünne Schicht des bewussten menschlichen Entwurfs
Die
NWWO
als Systemfehler
Die Kalibrierung der stratifizierten Ordnung
Schluss: Eine Welt der Völker ohne Volk
Seattle und die Lösung von unten
Anmerkungen
Einleitung: Denken in Weltordnungen
1. Eine Welt der Mauern
2. Eine Welt der Zahlen
3. Eine Welt der Föderationen
4. Eine Welt der Rechte
5. Eine Welt der Rassen
6. Eine Welt der Verfassungen
7. Eine Welt der Signale
Schluss: Eine Welt der Völker ohne Volk
Bildnachweise
Danksagung
Personenregister
Sachregister
Fußnoten
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Eine Nation kann ihre barbarischen Invasoren selbst hervorbringen.
Wilhelm Röpke, 1942
Am Ende des 20. Jahrhunderts war die Überzeugung verbreitet, die Ideologie des freien Marktes habe die Welt endgültig erobert. Die Staaten konnten die Kräfte der Weltwirtschaft kaum beeinflussen. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos, einer ikonischen Veranstaltung jener Zeit, erklärte US-Präsident Bill Clinton im Jahr 1995, dass die »rund um die Uhr geöffneten Märkte mit atemberaubender und manchmal erbarmungsloser Geschwindigkeit reagieren können«.1 Im Jahr 2002 sprach Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung die »Stürme der Globalisierung« an, als er eine große Reform des Sozialsystems im wiedervereinigten Deutschland ankündigte. Das Land müsse seine soziale Marktwirtschaft modernisieren, erklärte er, »oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden«.2 Die Politik konnte nur noch reagieren, die Aktion war der globalen Wirtschaft vorbehalten. Alan Greenspan, der Vorsitzende der amerikanischen Federal Reserve, sagte es im Jahr 2007 ganz unverblümt: Es spiele »kaum eine Rolle, wer der nächste Präsident wird. Die Welt wird durch die Marktkräfte regiert«.3 In den Augen der Kritiker wirkte die8se Welt wie ein neues Kolonialreich, in dem »die Globalisierung den Kolonialismus ersetzt«.4 In den Augen der Befürworter war es eine Welt, in der sich Güter und Kapital, wenn auch nicht die Menschen, gemäß der Logik von Angebot und Nachfrage ungehindert bewegen konnten, wodurch Wohlstand – oder zumindest Chancen – für alle entstanden.5 Diese Philosophie einer Herrschaft der Marktkräfte wurde von Kritikern als »Neoliberalismus« bezeichnet. Die Neoliberalen, erklärte man uns, glaubten an den globalen Laissez-faire-Kapitalismus mit sich selbst regulierenden Märkten, schlanken Staatsbürokratien und einer Reduktion der menschlichen Motivation auf das eindimensionale rationale Eigeninteresse des Homo oeconomicus. Die neoliberalen Globalisten, hieß es, verschmölzen den Kapitalismus des freien Marktes mit der Demokratie und träumten von einem einzigen, grenzenlosen Weltmarkt.
In meiner Version der Geschichte versuche ich, dieses Bild zu korrigieren. Ich werde zeigen, dass jene Gruppe von Intellektuellen, die sich selbst als Neoliberale bezeichneten, keineswegs an sich selbst regulierende Märkte als eigenständige Gebilde glaubte. Sie setzte den Kapitalismus nicht mit Demokratie gleich. Sie glaubte nicht, dass die Menschen nur von der wirtschaftlichen Vernunft motiviert werden. Sie wollte weder den Staat noch die Grenzen beseitigen. Und sie betrachtete die Welt keineswegs nur mit den Augen des Individuums. Tatsächlich ist die grundlegende neoliberale Erkenntnis mit der von John Maynard Keynes und Karl Polanyi vergleichbar: Der Markt reguliert sich nicht selbst und kann sich nicht selbst regulieren. Im Kern des neoliberalen Denkens im 20. Jahrhundert finden wir das, was die Neoliberalen als metaökonomische oder extraökonomische Bedingungen für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus im globalen Maßstab bezeichneten. Ich werde zeigen, dass im Mittelpunkt des neoliberalen Projekts die Gestaltung von Institutionen stand – und dass das Ziel nicht darin bestand, die Märkte zu befreien, sondern sie zu ummanteln, um 9den Kapitalismus gegen die von der Demokratie ausgehende Bedrohung zu isolieren und einen Ordnungsrahmen zu schaffen, der es ermöglichen würde, das oft irrationale menschliche Verhalten unter Kontrolle zu bringen. Die Neoliberalen wollten die Welt nach dem Ende der Kolonialreiche neu ordnen und in einen Raum mit konkurrierenden Staaten verwandeln, deren Grenzen eine unverzichtbare Funktion erfüllten.
Wie können wir den Neoliberalismus verstehen – und sollten wir diese Bezeichnung überhaupt verwenden? Viele vertreten seit Langem die Ansicht, dass der Begriff mehr oder weniger sinnlos ist. Kürzlich erklärte ein Autor, für praktische Zwecke gebe es so etwas wie eine neoliberale Theorie überhaupt nicht.6 Hingegen bezeichnete der Internationale Währungsfonds (IWF) den Neoliberalismus im Jahr 2016 nicht nur als kohärente Doktrin, sondern stellte auch die Frage, ob die Erfolge der Politik von Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung womöglich übertrieben positiv dargestellt worden seien.7 In der Zeitschrift Fortune hieß es: »Mittlerweile gibt sogar der IWF zu, dass der Neoliberalismus gescheitert ist.«8 Doch die Darstellung der Zeitschrift, dabei handle es sich um eine neue Entwicklung, war nicht ganz korrekt. Die mit dem Neoliberalismus verbundene Politik wurde – zumindest theoretisch – bereits seit zwei Jahrzehnten infrage gestellt. Zu den frühen Zweiflern zählte Joseph Stiglitz.9 Der Wirtschaftsnobelpreisträger, der von 1997 bis 2000 als Chefvolkswirt der Weltbank amtierte, verwandelte sich nach der asiatischen Finanzkrise von 1997 in einen lautstarken Kritiker der neoliberalen Globalisierung. Ende der neunziger Jahre erklärten weitere Skeptiker, der nicht regulierte freie Weltmarkt sei »das letzte Utopia«, und die internationalen Finanzinstitutionen stimmten diesem Urteil teilweise zu.10 Sie gaben ihren doktrinären Widerstand gegen Kapitalverkehrskontrollen auf, die das Thema des Fortune-Artikels von 2016 waren. Die Welthandelsorganisation (WTO) versuchte ebenfalls, sich dem Zeitgeist anzupassen: Nachdem ihr Gipfel im Jahr 1999 durch Protestkund10gebungen verhindert worden war, machte sie sich daran, die menschliche Seite der Globalisierung zu betonen.
Aber auch wenn die als neoliberal bezeichnete Politik seit Langem kritisiert wurde, war der IWF-Bericht bedeutsam, weil er das Etikett »Neoliberalismus« sanktionierte. Damit hielt der Begriff Einzug in die Diskussion der breiten Öffentlichkeit und tauchte in der Financial Times, dem Guardian und anderen Zeitungen auf.11 Ebenfalls im Jahr 2016 bekannte sich das 1977 gegründete Adam Smith Institute, an dessen Analysen sich seinerzeit Margaret Thatcher orientiert hatte, öffentlich zum Neoliberalismus und distanzierte sich von seiner früheren Einstufung als »libertäre« Einrichtung.12 Das Institut nahm für sich eine »globalistische Ausrichtung« in Anspruch. Im Jahr 2017 verteidigte der Leiter des deutschen Walter Eucken Instituts öffentlich die Ehre des »klassischen Neoliberalismus«, der »einen starken Staat« fordere, der »über den Partikularinteressen steht«.13 Anscheinend konnte »die Bewegung, die ihren Namen nicht zu sagen wagte«, nun sowohl von Kritikern als auch von Anhängern beim Namen genannt werden.14 Die Klärung ist zu begrüßen. Die Benennung des Neoliberalismus hilft uns, ihn als ein geschlossenes Gedankengebäude und als eine Theorie der Governance unter mehreren zu betrachten, das heißt als eine Form oder Variante der Regulierung anstatt als radikale Verneinung der Regulierung.
Im vergangenen Jahrzehnt sind große Anstrengungen unternommen worden, um den Neoliberalismus und seine Empfehlungen zur globalen Governance zu historisieren und das »politische Schimpfwort« beziehungsweise den »antiliberalen Slogan« in einen Gegenstand der rigorosen Archivforschung zu verwandeln.15 Meine Darstellung stellt eine Verbindung zwischen zwei Forschungsrichtungen her, zwischen denen sonderbarerweise ein Graben klafft. Da sind auf der einen Seite die Untersuchungen zur Ideengeschichte der neoliberalen Bewegung;16 auf der anderen Seite widmen sich Sozialwissenschaftler, nicht jedoch Historiker, dem Studium der 11neoliberalen globalistischen Theorie. Sie haben gezeigt, dass der Begriff des »Neoliberalismus« erstmals im Jahr 1938 im Walter Lippmann Colloquium in Paris auftauchte, wo er den Wunsch der versammelten Ökonomen, Soziologen, Journalisten und Wirtschaftsführer nach einer »Erneuerung« des Liberalismus ausdrückte.17 Wie ein Autor erklärt, besteht eine der solidesten Methoden zum Studium der neoliberalen Bewegung darin, »eine organisierte Gruppe von Personen« zu betrachten, die »den Gedankenaustausch in einem gemeinsamen intellektuellen Rahmen pflegt«.18 Die Historiker haben sich insbesondere auf die 1947 von Friedrich August von Hayek und anderen gegründete Mont Pèlerin Society (MPS) konzentriert, eine Gruppe gleichgesinnter Intellektueller und Politiker, die sich periodisch versammelte, um über das Weltgeschehen und die aktuelle Situation des politischen Projekts zu diskutieren, dem sie sich verschrieben hatte. In dieser Gruppe gab es durchaus Meinungsverschiedenheiten, wie die in den Endnoten zu diesem Abschnitt zitierten Arbeiten zeigen. Sieht man jedoch von der Geldpolitik und der Entwicklungsökonomie ab, so findet die Frage der internationalen und globalen Governance in diesen historischen Darstellungen überraschend wenig Beachtung.19 Obwohl die neoliberalen Intellektuellen unterschiedliche Vorstellungen vertraten, stelle ich die These auf, dass wir in ihren Texten und Aktivitäten die groben Umrisse eines kohärenten Projekts für eine bestimmte Weltordnung finden. Sie globalisierten das ordoliberale Prinzip des »Denkens in Ordnungen« und legten in ihrem Projekt der Auseinandersetzung mit Weltordnungen eine Reihe von Vorschlägen vor, deren Ziel es war, die Weltwirtschaft gegen die Demokratie zu verteidigen, die sich erst im 20. Jahrhundert in der gesamten Welt ausbreitete, was die Neoliberalen mit einer Weltlage und einer Reihe von Herausforderungen konfrontierte, die ihre Vorläufer, die klassischen Liberalen, unmöglich hätten voraussehen können.
Die scharfsinnigsten akademischen Untersuchungen zur neoli12beralen Philosophie der globalen Ordnung stammen nicht von Historikerinnen, sondern von Sozialwissenschaftlern. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Politikwissenschaftlerinnen und Soziologen sorgfältige Analysen des neoliberalen Projekts vorgelegt. Sie haben beschrieben, wie eine Reihe von Institutionen – darunter der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, Hafenbehörden und Zentralbanken, Governance-Strukturen wie die Europäische Union, die WTO und Handelsabkommen wie das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) – versucht, die Marktakteure gegen demokratischen Druck abzuschirmen. Ähnliche Bemühungen wurden in der Ausweitung des internationalen Investitionsrechts, mit dem ausländische Investoren vor verschiedenen Formen der Enteignung geschützt werden sollen, sowie in einem parallelen globalen Rechtssystem erkannt, das als transnationales Handelsrecht bezeichnet wird.20 Andere Autoren haben die Entstehung der »Offshore-Welt« der Steueroasen und die Ausbreitung von verschiedenartigen Wirtschaftszonen beschrieben, die allesamt dazu dienen, dem Kapital Zufluchtsorte zu bieten, an denen es vor Steuerprogression und Umverteilungsmaßnahmen sicher ist.21 Die »Isolierung der Märkte« ist eine hilfreiche Metapher, um das Ziel des Neoliberalismus nicht als nebulöse »Logik« oder »Rationalität«, sondern als konkretes Projekt zur Errichtung von Institutionen zu beschreiben. Sozialwissenschaftlerinnen haben die Isolierung der Märkte gegen demokratische Einflussnahme rigoros beschrieben, aber ihre Geschichte der neoliberalen Theorie ist weniger rigoros: Oft gestehen sie Intellektuellen wie Hayek und Milton Friedman nur Statistenrollen zu.22 Es heißt, die Ideen dieser führenden neoliberalen Köpfe hätten bestimmte Formen der globalen und regionalen Governance inspiriert oder sie »nahegelegt«, aber es bleibt ungeklärt, wie diese Einflüsse tatsächlich wirkten und wo die Vorstellungen ihren Ursprung hatten. Insbesondere der Name Hayek fungiert oft als frei flottierender Signifikant ohne klaren Bezug zu einer tatsächlichen historischen Figur. Beispiels13weise sehen manche in der Europäischen Union eine »hayeksche Föderation«, während andere den Wunsch, die EU zu verlassen, als Hoffnung auf eine »Wiederbelebung von Hayeks Traum« bezeichnen.23 Was genau strebten Intellektuelle wie Hayek an? Wo und wann haben die Konzepte des neoliberalen Globalismus ihren Ursprung? Ich siedle eine wichtige Quelle der globalistischen Vorstellungen der Neoliberalen in der epochalen Neuordnung an, die am Ende der Ära der Imperien stattfand. Die Entkolonialisierung hatte wesentlichen Einfluss auf die Entstehung des neoliberalen Modells der globalen Governance.
Der Versuch, die Neoliberalen anhand ihrer eigenen Konzepte zu verstehen, wird unter anderem durch die übertriebene Fixierung auf die Vorstellungen des ungarischen Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi behindert, der »nach Michel Foucault wahrscheinlich der bei den heutigen Sozialwissenschaftlern populärste Theoretiker« ist, wie eine Soziologin feststellt.24 Viele Versuche zur Beschreibung der neoliberalen Globalisierung sind von Polanyis 1944 erschienenem Buch The Great Transformation geprägt. Nach Ansicht derer, die Polanyis Narrativ übernehmen, bewegte der »Marktfundamentalismus« die Neoliberalen dazu, den »natürlichen« Markt aus der Gesellschaft zu »entbetten« und so ihren utopischen Traum von einem »selbstregulierenden Markt« zu verwirklichen. Obwohl regelmäßig darauf hingewiesen wird, dass Polanyi eigentlich über das 19. Jahrhundert schrieb, gehen die Kritiker oft so weit, ihm eine vorausschauende Kritik des Neoliberalismus zuzuschreiben. Die Vorstellung, das Ziel der Neoliberalen sei es, die Märkte zu befreien, deckt sich mit dieser polanyischen Logik. Im angloamerikanischen Diskurs wird »den Märkten« häufig das ansonsten eher unübliche Adjektiv »unfettered« (ungehindert) zugeordnet, und 14zwar sowohl als neoliberales Ziel als auch als vermeintliche Realität.25 Entgegen den Absichten der Urheber der neoliberalen Theorie essentialisiert diese Metapher den Gegenstand der Kritik: Der Markt wird zu etwas, das von Akteuren befreit werden kann, anstatt, wie die Neoliberalen selbst glaubten, ein Gefüge von Beziehungen zu sein, die von einem institutionellen Rahmen abhängen.26
Die Anwendung von Polanyis Kategorien hat wesentliche Einsichten ermöglicht, und ich stütze mich auf die Erkenntnisse von Forschern, die seit der Jahrtausendwende versuchen, das neoliberale Projekt als »gleichzeitige Einschränkung und Ausweitung der staatlichen Funktionen« zu definieren.27 In Anlehnung an Polanyi sprechen einige Autoren sogar vom »eingebetteten Neoliberalismus«.28 Wenn wir den Neoliberalismus jedoch aus sich selbst heraus verstehen wollen – was eine unverzichtbare Voraussetzung für eine Kritik ist –, dürfen wir uns nicht von der Vorstellung eines von der staatlichen Einflussnahme befreiten selbstregulierenden Marktes in die Irre führen lassen. Beim Studium der Schriften der Neoliberalen, die sich mit der globalen Ordnung befassten, wird klar, wie wichtig es ist, dass sie Zeitgenossen Polanyis waren. Wie er sahen sie in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre einen Beleg dafür, dass die althergebrachte Form des Kapitalismus untauglich war, und machten sich daran, die Bedingungen zu definieren, die für sein Überleben erforderlich waren. Sowohl Hayek als auch Polanyi »beschäftigten sich mit sozioinstitutionellen Antworten auf den freien Markt«, wie es ein Politikwissenschaftler ausdrückt.29 Tatsächlich entwickelte Hayek eine eigene Vorstellung von »sozial eingebetteten freien Märkten«.30 Wenn wir uns zu sehr auf den Marktfundamentalismus fixieren, entgeht uns, dass die neoliberalen Vorschläge in Wahrheit nicht auf den Markt an sich zielen, sondern auf eine Umgestaltung von Staat, Recht und anderen Institutionen zum Schutz des Marktes. Juristen verweisen auf die zunehmende »Verrechtlichung« oder »Juridizierung« des 15Welthandels.31 Die Konzentration auf Hayek und seine Mitstreiter ermöglicht es uns, diesen Prozess mit der Geschichte des neoliberalen Denkens zu verknüpfen.
In einem Artikel in der führenden neoliberalen Zeitschrift Ordo aus dem Jahr 2006 wird klargestellt, dass die Gründer der neoliberalen Bewegung das Präfix »neo« ergänzten, weil sie die Notwendigkeit sahen, »die Staatstätigkeit genauer und teilweise auch anders« zu definieren, und dies beinhaltete größere Aufmerksamkeit für den »rechtlich-institutionelle[n] Rahmen«.32 Die Neoliberalen hegten keineswegs einen utopischen Glauben an einen Markt, der unabhängig von menschlichen Eingriffen funktionierte, sondern sie wiesen auf die »außerökonomischen Bedingungen für ein freiheitliches Wirtschaftssystem« hin.33 Es wird nicht ausreichend gewürdigt, dass das Augenmerk sowohl des deutschen Ordoliberalismus als auch der österreichischen Ökonomik nicht auf der Wirtschaft an sich liegt, sondern auf den Institutionen, die einen Raum für die Entfaltung der Wirtschaft schaffen.34 Wenn Hayek von den »selbstregulierenden Kräften der Wirtschaft« sprach, was er zum Beispiel in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Freiburg tat, ging er rasch zu einer Diskussion der Notwendigkeit eines »Rahmens« für die Wirtschaft über.35 Sein Werk war in erster Linie der Frage gewidmet, wie man eine »Verfassung der Freiheit« gestalten konnte, wie er in dem Buch schrieb, das er nach Der Weg zur Knechtschaft veröffentlichte.36
Ein Autor erklärt: »Hayek sah klar, dass der Markt eine soziale Institution ist, die in eine Vielzahl von Institutionen eingebettet ist, die ihr Sinn verleihen.«37 Hayek selbst wies die Behauptung zurück, er fordere einen »Minimalstaat«.38 Die verkürzte Formel »Starker Staat, freier Markt« ist nützlich zur Erklärung des Neoliberalismus, aber damit ist noch nicht gesagt, was mit diesem starken Staat gemeint ist.39 Ein Autor erklärt, es sei nicht sinnvoll, den Staat quantitativ statt qualitativ zu definieren: Die Frage, »wie viel« Staat nötig sei, müsse durch die Frage ersetzt werden, 16»welche Art« von Staat nötig sei.40 In den folgenden Kapiteln werde ich nachzeichnen, wie sich die neoliberale Vorstellung, die Märkte seien nicht naturgegeben, sondern Produkte der politisch konstruierten Institutionen, die sie ummanteln, im Lauf der Zeit entwickelte. Die Märkte brächten zudem eine Reihe kultureller Werte hervor, die notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für die andauernde Existenz der Märkte seien.
Im Jahr 1983 schrieb der Hayek-Schüler Ernst-Ulrich Petersmann, ein führender Experte für internationales Wirtschaftsrecht: »Der gemeinsame Ausgangspunkt der neoliberalen Wirtschaftstheorie ist die Erkenntnis, dass in jeder gut funktionierenden Marktwirtschaft die ›unsichtbare Hand‹ des Marktwettbewerbs notwendigerweise durch die ›sichtbare Hand‹ des Gesetzes ergänzt werden muss.« Petersmann listet die bekannten neoliberalen Denkschulen auf: die Freiburger Schule, die der Geburtsort des deutschen Ordoliberalismus und die akademische Heimat Walter Euckens und Franz Böhms war, die Chicagoer Schule, die mit dem Werk von Milton Friedman, Aaron Director, Richard Posner und anderen identifiziert wird, und die Kölner Schule von Ludwig Müller-Armack. Und dann nennt er eine praktisch unbekannte: die Genfer Schule.41
Was war die Genfer Schule? Wer gehörte dieser Schule an? Die folgenden Kapitel enthalten die Geschichte einer von den Historikern bislang vernachlässigten Strömung des Neoliberalismus. Ich stelle eine Gruppe von Intellektuellen vor, die in der angloamerikanischen Literatur keine wichtige Rolle spielen, und ordne das Werk von Theoretikern, die im englischsprachigen Raum umfassend rezipiert wurden, anders ein als gewohnt. Ich verwende und erweitere das Etikett der »Genfer Schule«, um eine Variante des neolibera17len Denkens zu beschreiben, deren Geschichte sich von Seminarräumen im Wien des Fin de Siècle bis in die Hallen der Welthandelsorganisation im Genf der Jahrtausendwende erstreckt. Mit der Einführung dieses Begriffs beabsichtige ich nicht, einen Anstoß zur Haarspalterei über die Zuordnung dieses oder jenes Neoliberalen zu geben, und ich will auch nicht darüber streiten, wer nun genau zu dieser Schule gehört und wer nicht. Vielmehr möchte ich der Verwirrung ein Ende machen, die entsteht, wenn sehr unterschiedliche Denker unter dem Dachbegriff »Neoliberale« zusammengefasst werden. Ein Studium der Genfer Schule bietet provisorische, aber hilfreiche Einblicke in die mit der Weltordnung zusammenhängenden Aspekte des neoliberalen Denkens, die mehr oder weniger im Dunkeln liegen. In meiner Darstellung umfasst die Genfer Schule Intellektuelle, die akademische Posten in Genf bekleideten – Wilhelm Röpke, Ludwig von Mises, Michael A. Heilperin und andere –, Personen, die dort Forschung betrieben oder wichtige Ergebnisse vorlegten – darunter Hayek, Lionel Robbins und Gottfried Haberler –, sowie Mitarbeiter des in Genf ansässigen Sekretariats des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) – darunter Jan Tumlir, Frieder Roessler sowie Petersmann. Die Neoliberalen der Genfer Schule hatten ein Naheverhältnis zur Freiburger Schule, aber anders als diese übertrugen sie die ordoliberale Vorstellung von der »Wirtschaftsverfassung«, das heißt der Gesamtheit der Regeln, denen das Wirtschaftsleben unterworfen ist, auf eine Ebene oberhalb des Nationalstaats.
Die eigenständigen Beiträge der Genfer Schule zum neoliberalen Denken werden in der englischsprachigen Literatur zum Neoliberalismus oft ignoriert. Die meisten Darstellungen der neoliberalen Bewegung beginnen in Europa bei den Treffen der dreißiger und vierziger Jahre, aber das Augenmerk verlagert sich vor dem neoliberalen Durchbruch unter Reagan und Thatcher in den achtziger Jahren auf die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Diese Verschiebung geht mit einer Konzentration auf die Chicagoer Schule 18und insbesondere Friedman einher. Obwohl mittlerweile erfreulicherweise auch das Gebiet von Recht und Ökonomie sowie die von James M. Buchanan und anderen Mitgliedern der Virginia School entwickelte Theorie der Neuen Politischen Ökonomie Aufmerksamkeit findet, ist das Verständnis des Neoliberalismus insgesamt zugunsten der angloamerikanischen Seite verzerrt.42 So wird die Bedeutung der Beiträge jener in den Hintergrund gedrängt, die in Europa blieben oder wie Hayek dorthin zurückkehrten. Diese Vernachlässigung muss korrigiert werden, waren es doch die europäischen Neoliberalen, die der internationalen Ordnung die größte Aufmerksamkeit widmeten.
Meine Darstellung des neoliberalen Globalismus geht von Mitteleuropa aus, denn die mitteleuropäischen Neoliberalen befassten sich am gründlichsten mit der Welt als Ganzer. Sowohl die Mitglieder der Chicagoer Schule als auch jene der Virginia School legten die eigentümliche amerikanische Fähigkeit an den Tag, die übrige Welt zu ignorieren und gleichzeitig anzunehmen, die Vereinigten Staaten seien ein Modell für die Welt.43 Diesen Luxus konnten sich die europäischen Neoliberalen nicht leisten, denn sie lebten über weite Strecken des Jahrhunderts unter dem Einfluss der amerikanischen Hegemonialmacht. Es lag nahe, dass sich die mitteleuropäischen Neoliberalen in frühe Theoretiker der Weltordnung verwandelten. Ihren Heimatländern fehlte ein riesiger Binnenmarkt wie jener, über den die Vereinigten Staaten verfügten, weshalb sie sich zwangsläufig genauer mit der Frage befassten, wie ihre Länder durch Handel oder Annexion fremder Territorien Zugang zum Weltmarkt finden konnten. Das frühe Ende der Großreiche in Mitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg zwang sie auch, Strategien für einen Ausgleich zwischen staatlicher Macht und wirtschaftlicher Interdependenz zu entwickeln. Obwohl die Geschichte in Wien beginnt, wurde Genf – die spätere Heimat der WTO – zur geistigen Hauptstadt einer Gruppe von Intellektuellen, die versuchten, das Rätsel der postimperialen Ordnung zu lösen.
19Die meisten Historiker würden sagen, dass die Frage der Weltordnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend geklärt war: Die sowohl von Lenin als auch von Woodrow Wilson vertretene Idee der nationalen Selbstbestimmung setzte sich durch, und die antikolonialen Bewegungen in aller Welt verlangten nationale Unabhängigkeit. In dieser Deutung triumphierte das Prinzip der Selbstbestimmung, dessen Verwirklichung in Versailles an der mangelnden Bereitschaft der Vereinigten Staaten und der europäischen Großmächte gescheitert war, ihr eigenes Bekenntnis in die Tat umzusetzen, und das durch den faschistischen Expansionismus Italiens und Deutschlands und später durch die Kontrolle der Sowjetunion über ihre Satellitenstaaten unterdrückt wurde, schließlich in der Entkolonialisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg und in jüngerer Vergangenheit mit dem Ende der Apartheid in Südafrika und der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa.
Die Neoliberalen stimmten dieser Deutung nicht zu. In ihren Augen war das Bekenntnis zu nationaler Souveränität und Autonomie gefährlich, wenn es ernst genommen wurde. Sie waren hartnäckige Gegner der nationalen Selbstbestimmung und überzeugt, die Nationen müssten auch nach dem Ende der Kolonialzeit in eine internationale institutionelle Ordnung eingebunden bleiben, die das Kapital und seine globale Bewegungsfreiheit schützen konnte. Die Todsünde des 20. Jahrhunderts war in ihren Augen der Glaube an die unbeschränkte nationale Unabhängigkeit, und die neoliberale Weltordnung erforderte eine durchsetzbare Isonomie – ein »gleiches Gesetz«, wie es Hayek später ausdrücken sollte –, die der Illusion der Autonomie oder des »eigenen Gesetzes« entgegengesetzt wurde.
Die Neoliberalen der Genfer Schule lösten die Spannung zwischen der Weltwirtschaft und der Welt der Nationalstaaten mit einer ganz eigenen Geografie auf. Den Entwurf ihres Weltbilds lieferte der ehemalige NS-Jurist Carl Schmitt im Jahr 1950. Er sah nicht eine, sondern zwei Welten: Die eine war in territorial abge20grenzte Staaten unterteilt, in denen Regierungen über die Bevölkerungen herrschten. Diese Welt bezeichnete er unter Rückgriff auf den römischen Rechtsbegriff als imperium. Die andere war die Welt des Eigentums, in der Menschen über die ganze Erde verteilte Dinge, Geld und Land besaßen. Dies war die Welt des dominium. Die gespaltenen Sphären des modernen Kapitalismus verschmolzen im 19. Jahrhundert miteinander. Die Allgegenwärtigkeit von Auslandsinvestitionen hatte dafür gesorgt, dass viele Menschen in Ländern, deren Staatsbürgerschaft sie nicht besaßen und deren Gebiet sie in vielen Fällen nie betreten hatten, Unternehmen oder Unternehmensanteile kontrollierten. Das Geld funktionierte fast überall und konnte zu festen, an den Goldpreis gekoppelten Wechselkursen zwischen den verschiedenen Währungen getauscht werden. Verträge wurden universell durch schriftlich festgehaltene und ungeschriebene Kodizes des Geschäftsgebarens durchgesetzt. Selbst eine militärische Besatzung wirkte sich nicht auf das Privateigentum aus. Anders als in früheren Zeiten, in denen die Plünderung eroberter Gebiete üblich gewesen war, blieb das Eigentum an Land und Unternehmen auch nach dem Einfall einer feindlichen Armee unangetastet. Für Schmitt hatte die Unterscheidung zwischen dominium und imperium Vorrang vor der rein politischen Unterscheidung zwischen ausländisch und inländisch. Die wichtigste Grenze teilte die Welt nicht wie eine Orange in Osten und Westen oder Norden und Süden, sondern bewahrte die einander überlappenden Gesamtheiten wie das Fruchtfleisch und die Schale einer Orange. Schmitt erklärte, »über, unter und neben den staatlich-politischen Grenzen eines scheinbar rein zwischen-staatlichen politischen Völkerrechts« habe sich, »alles durchdringend, der Raum einer freien, d. h. nicht-staatlichen Wirtschaft« verbreitet, »die eine Weltwirtschaft war«.44
Schmitt verstand die doppelte Welt negativ, als Einschränkung der umfassenden Ausübung der nationalen Souveränität. Die Neoliberalen gelangten jedoch zu der Überzeugung, dass dies die beste 21Beschreibung der Welt war, die sie bewahren wollten. Wilhelm Röpke, der fast dreißig Jahre in Genf unterrichtete, sah in ebendieser Teilung die Grundlage für eine liberale Weltordnung. Die ideale neoliberale Ordnung würde das Gleichgewicht zwischen den beiden globalen Sphären mittels eines vollziehbaren Weltrechts aufrechterhalten, das »ein Minimum von konstitutioneller Ordnung« und eine »Trennung einer staatlich-öffentlichen Sphäre von den Bereichen des Privaten« gewährleisten würde.45 In einem Vortrag an der Akademie für Völkerrecht in Den Haag im Jahr 1955 hob Röpke die Bedeutung der Trennung hervor, wies zugleich jedoch auch auf ihre paradoxe Natur hin: »Eine Verringerung der nationalen Souveränität ist zweifellos eines der dringendsten Erfordernisse unserer Zeit«, erklärte er, aber »die übermäßige Souveränität sollte beseitigt werden, anstatt sie auf eine übergeordnete politische und geografische Einheit zu übertragen.«46
Es war also keine Lösung, die nationale durch eine globale Regierung zu ersetzen. Die Neoliberalen standen vor der schwierigen Aufgabe, geeignete Institutionen zu finden, die das oft belastete Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher und politischer Welt erhalten konnten. Die Auswirkungen der doppelten Natur der Welt auf die Bemühungen zu ihrer Neuordnung nach dem Ende der Kolonialreiche werden in den Darstellungen, in denen die moderne Weltgeschichte als Übergang von der kolonialen Unterwerfung zur nationalen Unabhängigkeit verstanden wird, allzu leicht ignoriert. Kaum eine Gruppe von Intellektuellen setzte sich eingehender mit den Auswirkungen dieser Zweiteilung der Welt auseinander als die Ökonomen und Juristen, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen werden. In der Überzeugung, es könne nur eine einzige Weltwirtschaft geben, bemühten sie sich ab dem frühen 20. Jahrhundert, die wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit mit der politischen Selbstbestimmung in Einklang zu bringen.
In seinem Vortrag in Den Haag deutete Röpke eine mögliche Lösung an, die er in dem Raum zwischen Ökonomie und Recht an22siedelte.47 Wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, war der Neoliberalismus der Genfer Schule weniger eine ökonomische Disziplin als eine Disziplin von Staatskunst und Recht. Diese Gruppe von Neoliberalen konzentrierte sich weniger auf die Schaffung von Märkten als auf die Schaffung von Institutionen, die Märkte durchsetzen können. Als Hayek 1962 von der Universität Chicago nach Freiburg wechselte, wurde er Teil der deutschen Tradition des rechtlich-ökonomischen Ordoliberalismus, und die meisten Autoren betrachten ihn als Verbündeten, wenn nicht als Mitglied der Freiburger Schule.48 Sein Buch Die Verfassung der Freiheit (1960), vor allem aber seine in den siebziger Jahren während seiner Freiburger Zeit entstandene Trilogie Recht, Gesetzgebung und Freiheit rechtfertigen diese Zuordnung, denn er konzentrierte sich zusehends auf die Suche nach einer rechtlichen und institutionellen Lösung für die Störung der Marktprozesse durch die Demokratie. Anders als die Ordoliberalen, die nach einer »Wirtschaftsverfassung« auf nationaler Ebene riefen, strebten die Neoliberalen der Genfer Schule eine Wirtschaftsverfassung für die Welt an. Ich argumentiere, dass wir den Vorschlag der Genfer Schule als Neukonzeption des Ordoliberalismus im globalen Maßstab verstehen können. Wir können ihn als Ordoglobalismus bezeichnen.49
Die Neoliberalen der Genfer Schule lieferten eine Blaupause für den Globalismus, deren Hauptbestandteile Institutionen für eine Mehrebenen-Governance sein sollten, die gegen demokratische Entscheidungsprozesse abgeschirmt sein und die Aufgabe haben sollten, das Gleichgewicht zwischen der politischen Welt des imperium und der wirtschaftlichen Welt des dominium aufrechtzuerhalten. Das dominium war dabei kein Raum für Laissez-faire oder Nichtinterventionismus, sondern ein Gegenstand unablässiger Wartung, Konfliktlösung und Neugestaltung. Im Mittelpunkt der Vorstellungswelt der Genfer Schule stand eine Vision, die in Hayeks Augen erstmals im Habsburgerreich verwirklicht worden war – ein Modell dessen, was er als »Doppelregierung aus kultureller 23und wirtschaftlicher Regierung« bezeichnete.50 Die Neoliberalen der Genfer Schule sahen weder eine Auslöschung der Politik durch die Ökonomie noch eine Auflösung der Staaten in einem globalen Markt vor, sondern träumten von einem gewissenhaft strukturierten und regulierten Ausgleich zwischen den beiden Sphären.
Wie zuvor erwähnt, verwenden die Sozialwissenschaftler gerne die Metapher der Isolierung (insulation), um die Beziehung zwischen Staat und Markt im Neoliberalismus zu beschreiben. Das ist eine ironische Tendenz. Wie wir sehen werden, verwendeten die Neoliberalen von den dreißiger bis in die siebziger Jahre eine geografische Version dieser Metapher, um den Glauben an die Möglichkeit der »wirtschaftlichen Isolation« zu bekämpfen, womit sie ein Maß an Autarkie meinten, das die Staaten gegen Schocks auf den globalen Märkten absichern würde. Die Neoliberalen waren überzeugt, die Fixierung auf die Autarkie könne »die universelle Gesellschaft zerstören« und »die Welt erschüttern«. Doch mit dem Übergang zu einer Elektrizitätsmetapher in den neunziger Jahren wurde die Isolierung zu einer neoliberalen Norm. Einer von Hayeks Nachfolgern in Freiburg schrieb: »Hayeks wichtigste Botschaft ist der Ruf nach einer institutionellen Regelung, welche die für die Festlegung der Regeln zuständige Autorität gegen die kurzfristigen Forderungen des alltäglichen Regierungsgeschäfts isoliert.«51 Der semantische Wandel war symptomatisch für eine umfassende Neukonzeption der Weltwirtschaft: An die Stelle der Idee einer aus Inseln (insulae) und Territorien bestehenden globalen Wirtschaft trat das Bild eines geschlossenen Wirtschaftskreislaufs in einer vernetzten Welt. Nun wurde nicht mehr das Endziel des Schocks des Preissignals isoliert, sondern das Kabel, das dieses Signal weiterleitete. Doch auch diese Metapher ist letzten Endes unbefriedigend. Das neoliberale Ziel ist absoluter als die von der Metapher der Isolierung vermittelte Dämpfung. Die Neoliberalen streben keinen partiellen, sondern einen vollständigen Schutz der privaten Kapitalrechte an und wollen supranationale Rechtspre24chungsorgane wie den Europäischen Gerichtshof und die WTO in die Lage versetzen, nationale Gesetze aufzuheben, welche die Rechte des Kapitals beeinträchtigen könnten. Aus diesem Grund schlage ich vor, statt der bloßen Isolierung die Metapher der Ummantelung (encasement) der Weltwirtschaft als imaginäres telos des neoliberalen Projekts zu betrachten– eines Projekts, in dem der Staat eine unverzichtbare Rolle spielt.
Dieses Narrativ ordnet den Neoliberalismus historisch ein. Es spürt der Entwicklung des neoliberalen Globalismus als eines intellektuellen Projekts nach, das in den Trümmern des Habsburgerreichs entstand und in der Gründung der WTO kulminierte. Ich betrachte den Ordoglobalismus als Versuch, der Tatsache gerecht zu werden, dass der Nationalstaat zu einem dauerhaften Bestandteil der modernen Welt geworden war. Der Neoliberalismus strebte über die Jahrzehnte hinweg eine institutionelle Ummantelung der Welt der Nationalstaaten an, um einen katastrophalen Zusammenbruch der Grenzen zwischen imperium und dominium zu verhindern. Geeignete Institutionen, Gesetze und bindende Zusagen sollten das Wohlergehen des Ganzen gewährleisten. Hier handelt es sich nicht um die Geschichte eines Triumphs – die stockende Arbeit der WTO ist bestenfalls ein Pyrrhussieg für die spezifische Strömung des neoliberalen Globalismus, die ich in den folgenden Kapiteln beschreiben werde. Vielmehr zeigt meine Darstellung, dass der Neoliberalismus als Gedankengebäude im frühen 20. Jahrhundert in Reaktion auf eine Krise entstand, bei der es darum ging, wie man die Welt insgesamt organisieren konnte.
Der Ordoglobalismus suchte während des gesamten 20. Jahrhunderts Antworten auf zwei Fragen: Wie konnte man angesichts ih25res Potenzials zur Selbstzerstörung auf die Demokratie vertrauen? Und wie konnte man in Anbetracht des Potenzials des Nationalismus zur »Desintegration der Welt« auf die Nationalstaaten vertrauen? Der erste Spannungszustand ist denen wohlbekannt, die sich mit der jüngeren Geschichte Europas beschäftigen. Wir wissen, dass die Demokratie illiberale Ergebnisse zeitigt, ja, dass sie sich mit demokratischen Mitteln selbst zerstören kann. Insbesondere in Deutschland war die Überzeugung verbreitet, die Erfahrung der Zwischenkriegszeit beweise, dass die Demokratie begrenzt werden müsse. Um illiberale Resultate zu verhindern, seien Kontrollmechanismen und Einschränkungen erforderlich. Das Konzept der »streitbaren Demokratie« wurde in den dreißiger Jahren von Politikwissenschaftlern entwickelt und nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa in die Tat umgesetzt.52 Insbesondere den Verfassungsgerichten kam eine Schlüsselrolle bei der Verteidigung der freiheitlichen Ordnung gegen Angriffe von links und rechts zu. Viele Intellektuelle waren sich darin einig, dass die liberalen Staaten in der Auseinandersetzung mit denen, welche die konstitutionelle Ordnung ablehnten, »Mut zur Intoleranz« beweisen mussten, wie es ein sozialdemokratischer Politiker ausdrückte.53
Die Konfrontation mit der Massendemokratie war auch für die Neoliberalen eine zentrale Frage des 20. Jahrhunderts. Auf der einen Seite begrüßten sie, dass die Demokratie ein Instrument für friedliche Veränderungen war und einen Raum für evolutionäre Entdeckungen bot, die dem System als Ganzem zugutekamen – was jene widerlegt, die behaupten, die Neoliberalen lehnten die Demokratie als solche ab. Auf der anderen Seite trug dieses System die Saat der Zerstörung in sich. Mit Blick auf die Probleme, mit denen die Forderungen einer politisch mobilisierten Arbeiterklasse die liberale Ordnung konfrontierten, erklärte Röpke im Jahr 1942: »Eine Nation kann ihre barbarischen Invasoren selbst hervorbringen.«54 Aus amerikanischer und britischer Sicht geschriebene Darstellungen der neoliberalen Bewegung – in dieser Perspektive ge26hört sie zur Vorgeschichte der Regierungen von Margaret Thatcher und Ronald Reagan – übersehen den spezifischen postfaschistischen Kontext der neoliberalen Pläne für die nationale und internationale Organisation.55 Tatsächlich waren die Neoliberalen wichtige Vertreter dessen, was Jan-Werner Müller als »selbstdisziplinierte Demokratie« bezeichnet.56 Es bestand eine ständige Spannung zwischen der Befürwortung der Demokratie als Vehikel der friedlichen Veränderung und ihrer Ablehnung als potenzieller Zerstörerin der Ordnung.
Die Historiker lassen allerdings nicht nur den postfaschistischen, sondern auch den postimperialen Kontext außer Acht. Es wird nur selten darauf hingewiesen, dass Hayek sich erstmals in Reaktion auf die Entstehung »neuer Nationen« im Zuge der Entkolonialisierung mit der Umgestaltung repräsentativer Regierungsmodelle befasste – wobei er sich, wie er selbst einräumte, dem Vorwurf der Inkohärenz aussetzte, indem er statt einer »gewachsenen« eine »gemachte« Verfassung propagierte.57 Er bestand darauf, dass sein Verfassungsmodell nicht für Großbritannien bestimmt war, sondern für »neue Nationen« und faschistische Staaten wie das Portugal Salazars. Mit Blick auf die neuen Nationen sowie auf südamerikanische Länder mit einer politischen Tradition, die »nicht vollkommen geeignet« für die Demokratie sei, schrieb er: »Ich glaube, dass eine Beschränkung der demokratischen Macht […] die einzige Chance ist, um die Demokratie in diesen Teilen der Welt zu erhalten. Wenn die Demokratien ihre Macht nicht selbst beschränken, werden sie zerstört werden.«58 Die Historiografie hat die Tatsache außer Acht gelassen, dass das Ende der globalen Imperien wesentlich zur Entstehung des Neoliberalismus als intellektueller Bewegung beitrug.
Neben der Konfrontation mit der Massendemokratie hatte die damit zusammenhängende Spannung zwischen Nationalstaat und Weltebene zentrale Bedeutung für die Neoliberalen. Der Nationalstaat konnte insofern nützlich sein, als er stabilisierend wirkte (viele 27Neoliberale sahen in der Beschränkung der Migration eine dieser stabilisierenden Funktionen) und für Legitimität in der politischen Sphäre sorgte. Aber wie die Demokratie war auch der Nationalstaat ständig in Gefahr, in Exzesse abzugleiten, weshalb er so wie die Demokratie Beschränkungen unterworfen werden musste. Die Neoliberalen glaubten an das, was man als militanten Globalismus oder, um Müllers Terminus zu verwenden, als selbstdisziplinierten Nationalismus bezeichnen könnte: Es bedurfte einer Reihe institutioneller Sicherungsvorkehrungen und rechtlicher Beschränkungen, um die Nationalstaaten daran zu hindern, ihre Verpflichtungen in der Weltwirtschaftsordnung zu missachten. Die Neoliberalen befürworteten einen institutionellen Rahmen, in dem die Weltwirtschaft Bedrohungen ihrer holistischen Integrität überleben würde. Der militante Globalismus würde die Nationalstaaten nicht ersetzen, sondern er würde sie einsetzen, um dafür zu sorgen, dass die Weltwirtschaft in ihrer Gesamtheit richtig funktionierte.
Wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde, können wir die Neoliberalen nicht als Kritiker des Staates an sich betrachten. Sie sind vielmehr ewige Zweifler am Nationalstaat. Hayek schrieb im Jahr 1979, er habe den Eindruck, »daß in diesem Jahrhundert unsere Versuche, eine internationale Regierung zu schaffen, die fähig ist, Frieden zu sichern, die Aufgabe im allgemeinen von der falschen Seite angepackt haben: nämlich große Mengen von spezialisierten Behörden zu schaffen, die auf bestimmte Regulierungen zielen, statt auf ein wahres internationales Recht, das die Gewalten der nationalen Regierungen, einander zu schaden, beschränken würde«.59 Er bezeichnete das als »Entthronung der Politik«, aber offenkundig war es auch eine Entthronung des Nationalstaats. So wie die Befürworter der wehrhaften Demokratie die Notwendigkeit sahen, die Demokratie einzuschränken, hielten es die Verfechter des militanten Globalismus für notwendig, die Befugnisse der Nationalstaaten einzuschränken und ihrer Souveränität Grenzen zu setzen.
28Der wehrhafte Globalismus hat Ähnlichkeit mit dem, was Hermann Heller im Jahr 1933 als »autoritären Liberalismus« bezeichnete.60 Wie Heller hielten es die Neoliberalen für nötig, Entscheidungen des Volkes außer Kraft zu setzen, wenn sie dem widersprachen, was die Neoliberalen als übergeordnetes Ordnungsprinzip betrachteten. Einige Autoren verwenden Hellers Begriff zur Erklärung der Funktionsweise der Europäischen Union.61 Ein Vorteil des militanten Globalismus als Erklärungskategorie besteht darin, dass er der Frage der Ebene Aufmerksamkeit schenkt, die in vielen Untersuchungen über das neoliberale Denken vernachlässigt wird. Wie wir sehen werden, war es kein Zufall, dass viele neoliberale Denker Lösungen auf der globalen Ebene anstrebten. Auch vertrug sich ihre Vision nicht unbedingt mit einer Logik der »variablen Dimensionen«. Für die Mitglieder der Genfer Schule, die sich eingehend mit den Problemen der globalen systemischen Interdependenz beschäftigten, kam nur der globale Maßstab infrage. Für sie war der Kapitalismus auf globaler Ebene eine unverzichtbare Voraussetzung der normativen neoliberalen Ordnung.
Ich vertrete die Einschätzung, dass die aus einer Haltung des wehrhaften Globalismus heraus betriebene Ummantelung des Marktes die internationalen Dimensionen des neoliberalen Projekts besser auf den Punkt bringt als die von Polanyi beschriebene Entbettung der Wirtschaft gemäß einer marktfundamentalistischen Doktrin. Polanyis Analyse stellt eine elegante Parabel dar, gemäß der die kapitalistische Weltwirtschaft Schritt für Schritt die Hindernisse für ihr Funktionieren beseitigt, bis sie schließlich ihre eigene Fähigkeit zur Selbstreproduktion zerstört. In dieser Darstellung ist der Markt ein Allesfresser, der unablässig Boden, Arbeit und Geld in Wirtschaftsgüter verwandelt, wodurch er schließlich die Grundlagen des sozialen Lebens zerstört. Der Kapitalismus braucht demnach einen Gegner, der ihn vor sich selbst rettet. Indem er sich mit Herausforderungen auseinandersetzt und sie absorbiert – Beispiele wären hier die Arbeitslosenversicherung oder der Ausbau 29des Sozialstaats –, stabilisiert der Kapitalismus die gesellschaftlichen Bedingungen, die sein Fortbestehen ermöglichen.62 Wie die folgenden Kapitel zeigen, bestand ein wesentlicher Aspekt des neoliberalen Projekts darin herauszufinden, wie der Widerstand der Gegner durch die Errichtung eines extraökonomischen Rahmens gebrochen werden konnte, der die Existenz des Kapitalismus dauerhaft sichern würde. Statt eines selbstregulierenden Marktes und einer alles verschlingenden Wirtschaft richteten die Neoliberalen ihren Blick und ihre Hoffnungen auf eine laufend neu auszuhandelnde Vereinbarung zwischen imperium und dominium und setzten sich gleichzeitig für politische Eingriffe ein, welche die Fähigkeit des Wettbewerbs zur Gestaltung und Lenkung des menschlichen Lebens erhöhen sollten. Die normative neoliberale Weltordnung ist kein grenzenloser Markt ohne Staaten, sondern eine doppelte Welt, die von den Hütern der Wirtschaftsverfassung vor den Forderungen der Massen nach sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung geschützt wird.
Eine neoliberale Betrachtung der Geschichte des 20. Jahrhunderts liefert ein alternatives Bild der Moderne. In einer neoliberalen Geschichte des Jahrhunderts begann die Entkolonialisierung im Jahr 1919. Der Faschismus schien einigen Neoliberalen vielversprechend, bis er Zollmauern errichtete. Der Kalte Krieg trat gegenüber dem Kampf gegen den globalen New Deal in den Hintergrund. Das Ende der Apartheid war für einige Neoliberale eine Tragödie, und die Staaten waren in ihren Augen sekundäre Gebilde, die der Gesamtheit des Erdballs untergeordnet waren. In dieser Lesart war das sogenannte Goldene Zeitalter des Nachkriegskapitalismus in Wahrheit ein dunkles Zeitalter, geprägt von keynesianischen Illusionen und irregeleiteten Träumen von globaler wirtschaft30licher Gleichheit. Diese Geschichte handelt von der Entwicklung einer Welt, die durch Geld, Information und Güter zusammengehalten wird und in der die größte Leistung des Jahrhunderts keine internationale Gemeinschaft, keine globale Zivilgesellschaft oder eine Vertiefung der Demokratie war, sondern die zunehmende Integration eines als Weltwirtschaft bezeichneten Objekts und die Institutionen, die es ummanteln sollten.
In den folgenden Kapiteln werden wir die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit den Augen der Neoliberalen betrachten, die Kapitalismus und Demokratie nicht als sich gegenseitig verstärkende Systeme betrachteten, sondern in der Demokratie tatsächlich ein Problem sahen. Die Demokratie war gleichbedeutend mit aufeinanderfolgenden Wellen von Forderungen der Massen, welche die Marktwirtschaft immer wieder aus der Bahn zu werfen drohten. Aus Sicht der Neoliberalen konnte die demokratische Bedrohung verschiedenste Formen annehmen, von der weißen Arbeiterklasse bis zur nichteuropäischen entkolonialisierten Welt. Geprägt wurde das Jahrhundert von drei Umwälzungen, die jeweils mit einer Expansion der »Demokratisierung der Welt« einhergingen, wie es der deutsche Ordoliberale Walter Eucken im Jahr 1932 ausdrückte.63 Die erste, grundlegende Umwälzung war der Erste Weltkrieg, der die Staaten dazu bewegte, die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren des Welthandels und der globalen Investitionsströme aufzugeben: den Goldstandard. In der Zwischenkriegszeit wurde die Trennung zwischen politischer und wirtschaftlicher Welt verwischt, und es kam zu einer »Politisierung« des Wirtschaftlichen, als sich das allgemeine Wahlrecht in der westlichen Welt ausbreitete und die neuen Staaten in Mittel- und Osteuropa das legitime Ziel der Unabhängigkeit mit einem aussichtslosen Projekt der Autarkie verwechselten und die regionale Arbeitsteilung beseitigten, die ein Modell für eine größere globale Interdependenz gewesen war.
Die zweite Umwälzung war die Weltwirtschaftskrise, die 1929 31ausbrach. Die Intellektuellen, die sich nach 1938 als Neoliberale bezeichneten, erkannten, dass es aussichtslos war zu versuchen, die verlorene Einheit der Weltwirtschaft durch akademische Studien und die Koordinierung internationaler Statistikexperten wiederherzustellen. Die Aufgabe war nicht nur grundsätzlich politisch, sondern sie war ausschließlich politisch. Es ist allgemein bekannt, dass die führenden Figuren der neoliberalen Bewegung, darunter Mises, Hayek und Haberler, ihre wissenschaftlichen Karrieren im Bereich der Konjunkturforschung begannen, also in der Suche nach Mustern regelmäßig auftretender Wirtschaftskrisen. Weniger bekannt ist, dass sich diese Gruppe Ende der dreißiger Jahre von der Statistik und der Konjunkturforschung abwandte. Ich werde zeigen, wie sie zu dem Schluss gelangten, die Weltwirtschaft sei erhaben, nicht darstellbar und unermesslich. Also kehrten sie der Dokumentation und Analyse der Wirtschaft den Rücken und machten sich daran, geeignete Institutionen zu entwerfen, die den unantastbaren Raum der Weltwirtschaft stabilisieren und schützen sollten.
In den Dreißigern wurde Hayek klar, dass das Wissen in einer Marktwirtschaft derart verstreut war, dass kein einzelner Mensch jemals einen anwendbaren Überblick darüber gewinnen konnte. Nach dem Schock der Weltwirtschaftskrise reifte in ihm die Überzeugung, dass die Weltwirtschaft im Grunde etwas war, das sich der menschlichen Erkenntnis entzog. Das Vorhaben, die Beziehung zwischen den beiden Welten – jener der vielen Nationalstaaten und jener der einen Wirtschaft – wiederherzustellen, musste ein Projekt des Neuentwurfs des Staates sein, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde daraus eine Neugestaltung des Rechts. Den Kern dieses Projekts stellte die Mehrebenen-Governance oder der neoliberale Föderalismus dar. Nach der Mystifizierung der Weltwirtschaft war das wichtigste Betätigungsfeld der Neoliberalen der Genfer Schule nicht länger die Ökonomie an sich, sondern das internationale Recht und die internationale Governance.
Die dritte zentrale Umwälzung des Jahrhunderts war weniger 32der Zweite Weltkrieg oder der Kalte Krieg – die im Denken der Neoliberalen keine große Rolle spielten –, sondern die Revolte des globalen Südens in den siebziger Jahren. Mit der Ölkrise von 1973/74 traten die postkolonialen Akteure ins Rampenlicht. Die von den ärmeren Ländern vorgelegte und 1974 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Erklärung über eine Neue Weltwirtschaftsordnung (NWWO) beinhaltete die Forderung nach wirtschaftlicher Umverteilung und Stabilisierung. In der Auseinandersetzung mit dem globalen Süden und dem Vormarsch der computergestützten Modelle für globale Reformen in den siebziger Jahren entwarf die Genfer Schule ihre eigene Vision einer Weltwirtschaft ohne Zahlen: einer Welt der Information und der Regeln. Die Neoliberalen der Genfer Schule beschrieben von den siebziger bis in die neunziger Jahre eine Weltwirtschaft, die ein gigantischer Informationsprozessor war, und entwarfen globale Institutionen, die mit der Feinabstimmung dieses Prozessors betraut werden sollten. Klare Regeln für den Welthandel, die mit international geltenden konstitutionellen Gesetzen durchgesetzt werden sollten, würden für Stabilität sorgen.
Der Aufstieg des Globalismus der Genfer Schule hatte wenig mit der vermeintlichen Utopie des freien Marktes oder dem Marktfundamentalismus zu tun, der dieser Schule oft vorgeworfen wird. Den liberalen Intellektuellen der dreißiger Jahre war klar, dass es nicht um eine Wahl zwischen regierten Nationalstaaten und einer nicht regierten Weltwirtschaft ging. Eine der Überraschungen in meiner Darstellung dürfte sein, dass häufig als libertär beschriebene Denker wie Hayek und Mises nüchtern über die Notwendigkeit verschiedener Formen von internationaler und sogar globaler Governance sprachen. Die Verringerung des relativen Einflusses der Nationalstaaten sollte stets mit einer entsprechenden Stärkung der supranationalen Institutionen einhergehen. Im Kern des Ordoglobalismus finden wir seine eigene Version dessen, was Polanyi als Wiedereinbettung des Marktes bezeichnete. Der entscheidende Un33terschied zwischen seiner und der neoliberalen Position ist das Ziel dieser Wiedereinbettung des Marktes: Polanyi wollte ein gewisses Maß an Menschlichkeit und sozialer Gerechtigkeit wiederherstellen; die Neoliberalen wollten egalitäre Umverteilungsvorhaben des Staates verhindern und den Wettbewerb gewährleisten, den sie alternativ als optimales Funktionieren des Systems von Preissignalen definierten.
Das 20. Jahrhundert wird im Allgemeinen als Epoche des neoliberalen Triumphs beschrieben. Lange Zeit schien es, als hätte die Geschichte den Neoliberalen recht gegeben. Alle Götter mit Ausnahme des Kapitalismus waren gescheitert. Der Kommunismus endete mit einer spektakulären Implosion. Doch trotz ihres vordergründigen Siegs wurden die Neoliberalen der Genfer Schule während des gesamten 20. Jahrhunderts von der Vision einer zerfallenden Welt gequält. Es wird ihnen manchmal ein selbstgefälliges Vertrauen in die Widerstandsfähigkeit des Kapitalismus vorgeworfen, aber in Wahrheit litten sie unter der Befürchtung, dass die globalen Fundamente, auf denen eine kapitalistische Weltwirtschaft beruht, bedroht waren. Das vorherrschende Gefühl der Neoliberalen, die im Mittelpunkt meiner Darstellung stehen, war nicht Anmaßung, sondern Angst. Sie suchten angestrengt nach Möglichkeiten, eine in ihren Augen instabile Ordnung zu stabilisieren.
Obwohl ich mich auf eine relativ kleine Personengruppe konzentriere, schreibe ich diesen Intellektuellen keine übermenschliche Kraft zu, mir geht es nicht um schlichte Kausalität und ich behandle ihre Texte auch nicht als heilige Schriften. Das neoliberale Denken wurde in der Epoche seit den achtziger Jahren nicht direkt auf die Realität übertragen. Ich stelle weder die Schriften Hayeks noch 34die irgendeines anderen Intellektuellen als Rosettastein dar, anhand dessen sich die innere Logik einer zwangsläufig komplexen Realität entschlüsseln ließe. Die seit den Wahlsiegen Thatchers und Reagans ergriffenen politischen Maßnahmen und rhetorischen Strategien entsprangen unterschiedlichen Strömungen und gingen von unterschiedlichen Interessengruppen aus, die individuell betrachtet werden müssen und sich der Verallgemeinerung entziehen. Weder versuche ich, ein abschließendes Urteil über den Neoliberalismus zu fällen, noch will ich eine alles erklärende Theorie über Jahrzehnte des sich unablässig wandelnden globalen Kapitalismus aufstellen.
Vielmehr nutze ich die Biografien der Neoliberalen der Genfer Schule, um die Diskussion über eine Reihe von Institutionen zu verfolgen, die den globalen Markt ummanteln und gegen Einmischungen nationaler Regierungen abschirmen sollten. Die folgenden Kapitel enthalten einen historischen Überblick über diese Institutionen, die teilweise tatsächlich in ihrer Urform von neoliberalen Intellektuellen entworfen wurden, deren Rolle in den meisten Fällen jedoch darauf beschränkt war, diese Institutionen zu verfechten, umzusetzen oder anzupassen. Hayeks Forderung nach einer »Entthronung der Politik« war nur der erste Schritt zur neoliberalen Lösung. Der zweite bestand darin, die Wirtschaft nicht zu inthronisieren, sondern zu ummanteln und geeignete Institutionen zu finden, um die Abschirmung gegen politische Einflussnahme durchzusetzen. Wiederholt suchten die Neoliberalen eine vertikale Lösung für das Problem der Ordnung. Diese Suche führte ein ums andere Mal zu einer Verschiebung der Ebene der Governance. Ihren Ausdruck fand diese Bestrebung in der Struktur des Völkerbunds, im internationalen Investitionsrecht, in den Entwürfen für eine supranationale Föderation, in Systemen des gewichteten Wahlrechts, im europäischen Wettbewerbsrecht und schließlich in der Welthandelsorganisation.
Der Neoliberalismus wird manchmal als Philosophie beschrie35ben, die von einem Berg herabgebracht wurde, konkret vom Gipfel des Mont Pèlerin in der Schweiz. Die Neoliberalen selbst fördern das Bild einer über die Niederungen des politischen Alltags erhabenen intellektuellen Bewegung mit Verweisen auf Alexis de Tocqueville, Immanuel Kant, John Stuart Mill und Lord Acton. Doch wie wir sehen werden, gingen die führenden Köpfe des Neoliberalismus in Wahrheit einer durchaus praktischen Aktivität nach – der Anwendung ökonomischer Kenntnisse – und machten sich die Hände schmutzig, indem sie die Wirtschaft berieten, Druck auf Regierungen ausübten, Diagramme entwarfen und Statistiken sammelten. Im Lauf des Jahrhunderts sprachen die Neoliberalen verschiedenen Einrichtungen das Potenzial zu, den Weltmarkt durchzusetzen. Die folgende Darstellung beginnt in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Die Globalisierungsdiskussion vor dem Krieg hatte viele der Tropen hervorgebracht, deren Echo noch heute nachhallt: Die Ökonomen sprachen vom Ende der Distanz, von der Überflüssigkeit von Grenzen, von der Unmöglichkeit einer autonomen Innenpolitik. In dieser Zeit wurden auch mehrere Argumente entwickelt, die zentrale Bestandteile der neoliberalen Vorstellungen wurden. Die Weltwirtschaft war unitär und konnte nicht sinnvoll in Nationalstaaten oder Imperien unterteilt werden. Sie war interdependent, denn die Industrieländer waren auf andere Länder als Rohstofflieferanten und Absatzmärkte angewiesen, und Schwankungen von Angebot und Nachfrage machten sich weltweit bemerkbar. Sie war infrastrukturell homogen und auf ein Netzwerk von Straßen, Telegrafenleitungen und Schifffahrtsrouten sowie auf einheitliche Standards in den Bereichen des Rechts, des Finanzwesens und der Produktion angewiesen. Gleichzeitig war sie funktional heterogen, weil sich die einzelnen Regionen auf wirtschaftliche Aktivitäten spezialisierten, die ihren spezifischen Voraussetzungen entsprachen, was zu einer zunehmenden internationalen Arbeitsteilung führte und eine effizientere Nutzung der globalen Ressourcen ermöglichte. Besonders wichtig 36war, dass die Weltwirtschaft eine supranationale Kraft darstellte, die Versuche einzelner Staaten, sie zu beeinflussen, abwehren konnte.
Die Internationale Handelskammer (ICC) war eine internationalistische Einrichtung, die versuchte, die Idee einer geeinten Weltwirtschaft zu dokumentieren und zu verbreiten. Die ICC sammelte internationale Wirtschaftsstatistiken und setzte sich für die Beseitigung von Handelshemmnissen und die Freizügigkeit des Kapitals ein. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Auflösung des Habsburger- und des Osmanischen Reichs gelangten Mises und sein Wiener Kreis zu der Überzeugung, diese Einrichtung sei ein geeigneter Partner. Mises selbst war Delegierter bei der ICC, und die Angehörigen der ersten Generation österreichischer Neoliberaler arbeiteten allesamt in der Wiener Handelskammer. Die neoliberale Doktrin wurde von Anfang an den Bedürfnissen ihrer Schirmherren in der Wirtschaft angepasst. Die »Welt der Mauern« (Kapitel 1), die nach dem Ersten Weltkrieg entstand, wurde zu einem Gegenentwurf, dem die Neoliberalen ihre offene Weltwirtschaft gegenüberstellten.
In den zwanziger Jahren sahen einige spätere Neoliberale dann im Völkerbund eine supranationale Behörde, die geeignet schien, die Bedingungen der doppelten Welt des Kapitalismus aufrechtzuerhalten. Mises, Hayek, Haberler und Röpke trugen in Zusammenarbeit mit dem Völkerbund in Genf zu den ersten synoptischen Darstellungen einer »Welt der Zahlen« bei (Kapitel 2). Doch Ende der dreißiger Jahre reagierten die Neoliberalen auf den Vormarsch dessen, was sie als Wirtschaftsnationalismus bezeichneten, indem sie die Möglichkeit bestritten, die Wirtschaft könne sichtbar gemacht werden. Hayeks Urteil, die Wirtschaft entziehe sich der Erfassung durch den menschlichen Verstand, widersprach den Thesen der neuen Disziplin der Makroökonomie, aber es gab dem neoliberalen Projekt eine einheitliche Richtung: Die Diskussion verlagerte sich von der Wirtschaft auf den Rahmen, der sie umschloss.
37In den dreißiger und vierziger Jahren entwickelten die Neoliberalen eigene Konzepte für eine Ordnung im großen Maßstab und entwarfen Pläne für eine internationale Föderation mit einer Doppelregierung, die den unerkennbaren Markt ummanteln sollte. Statt des Imperiums schlugen Robbins, Hayek und Mises eine »Welt der Föderationen« vor (Kapitel 3).
Das im Jahr 1944 errichtete Bretton-Woods-System schien den Neoliberalen ungeeignet, die Funktion eines Hüters der Weltwirtschaft zu erfüllen. Die Lösung der Vereinten Nationen für das Ende der Kolonialreiche – die Einräumung von Stimmrechten für die wachsende Zahl neuer Nationen in der außereuropäischen Welt – drohte das Gleichgewicht zwischen dominium und imperium zu zerstören. In Zusammenarbeit mit der ICC entwarfen die Neoliberalen einen universellen Investitionskodex und bilaterale Investitionsabkommen, die das Kapital in einer »Welt der Rechte« schützen sollten (Kapitel 4).
Die Notwendigkeit, die Weltwirtschaft zu verteidigen, bewegte einige Neoliberale dazu, sich scheinbar illiberale Bettgenossen zu suchen. Der Fall Chiles unter der Diktatur Augusto Pinochets erregte beträchtliches Aufsehen, während die Beziehung der Neoliberalen zum südafrikanischen Apartheid-Regime weniger eingehend untersucht worden ist. An diesem Punkt kam es zu einer Spaltung der Genfer Schule. Fast alle Neoliberalen, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen, lehnten insbesondere nach 1945 Rasse als analytische Kategorie ab, doch Wilhelm Röpke fiel mit seiner Überzeugung aus dem Rahmen, die Verteidigung der Weltwirtschaft erfordere auch eine Verteidigung der westlichen christlichen – und weißen europäischen – Prinzipien gegen das, was William H. Hutt, ein weiterer Neoliberaler, als »schwarzen Imperialismus« bezeichnete.64 Röpkes nach dem Krieg entwickelte Vorstellung von einer »Welt der Rassen« (Kapitel 5) wich in mehrerlei Hinsicht deutlich von der Hauptströmung der Genfer Schule ab. Figuren wie Hayek, Friedman und Hutt kritisierten ebenfalls die Ausgrenzung der von 38den weißen Minderheiten bestellten Regierungen im südlichen Afrika, aber das taten sie aus Gründen, die eher mit den in diesem Buch behandelten Gefahren – insbesondere jener der unbeschränkten Demokratie – und mit der Notwendigkeit zusammenhingen, die weltwirtschaftliche Ordnung gegen politische Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit abzuschirmen.
Sehr viel eher als in den segregationistischen Lösungen im südlichen Afrika sahen die Neoliberalen der Genfer Schule in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG