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Freiheit und Demokratie, so der Investor Peter Thiel 2009, seien nicht länger kompatibel. Wer die Freiheit liebe, müsse daher versuchen, der Politik in all ihren Formen zu entkommen. Zuflucht suchen könnten Libertäre im Cyberspace, im Weltraum und auf dem offenen Meer. Das mag verblasen klingen, steht aber in einer jahrzehntealten Tradition marktradikaler Ideen: Denker wie Milton Friedman begeisterten sich für das noch unter britischer Oberhoheit stehende Hongkong; Margaret Thatcher träumte von einem Singapur an der Themse.
In seinem Buch Globalisten hatte sich Quinn Slobodian mit Versuchen befasst, ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung zu entziehen, etwa durch ihre Übertragung an internationale Organisationen. In Kapitalismus ohne Demokratie geht es nun um eine andere Lösung für das von Thiel beklagte Problem: die Zerschlagung der Welt in Steueroasen, Privatstädte oder Mikronationen.
Quinn Slobodian nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise durch die Welt der neoliberalen Utopien. Sie führt nach Dubai und Liechtenstein, ins vom Bürgerkrieg zerrüttete Somalia und zu Elon Musks texanischem Weltraumbahnhof. Und sie weitet den Blick auf eine mögliche Zukunft, die uns Sorgen machen sollte.
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Seitenzahl: 585
3Quinn Slobodian
Kapitalismus ohne Demokratie
Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Suhrkamp
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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Crack-up Capitalism. Market Radicals and the Dream of a World Without Democracy bei Metropolitan Books (New York).
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023.
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© 2023 by Quinn SlobodianKarten: (so nicht anders angegeben) Marion Kadi
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Umschlaggestaltung: Brian Barth
Umschlagabbildung: The Palm Jumeirah, The World Islands, Foto: William L. Stefanov, © NASA-JSC
eISBN 978-3-518-77753-4
www.suhrkamp.de
6Für meine Schwester Mayana
7Doch schon früh im 21. Jahrhundert wurde deutlich, dass der Planet nicht alle nach westlichen Standards versorgen konnte, und daraufhin zogen sich die Reichsten in ihre Festungsvillen zurück, kauften die Regierungen oder machten sie handlungsunfähig und verschanzten sich hinter verriegelten Türen, um auf ungewisse bessere Zeiten zu warten, ein Luftschloss, das im Grunde nur bis zum Rest ihrer Lebenszeit und, wenn sie sehr optimistisch waren, der ihrer Kinder reichte. Für alles Weitere galt: Après nous, le déluge.
Kim Stanley Robinson, Das Ministerium für die Zukunft (2021)
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Motto
Inhalt
Einleitung: Die Karte zerreißen
I.Inseln
1
.Zwei, drei, viele Hongkongs
2
.Stadt in Scherben
3
.Die Singapur-Lösung
II
.Phylen
4
.Das libertäre Bantustan
5
.Der wunderbare Tod eines Staates
6
.Das »neue Mittelalter«: Ein Kostümspiel
7
.Ein eigenes privates Liechtenstein
III
.Franchise-Nationen
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.Ein Geschäftsclan weißer Männer in Somalia
9
.Die rechtlichen Bubble Domes von Dubai
10
.Das Silicon Valley als Kolonialmacht
11
.Ein Cloud-Land im Metaversum
Schluss: Sei wie das Wasser
Anmerkungen
Einleitung: Die Karte zerreißen
1.Zwei, drei, viele Hongkongs
2.Stadt in Scherben
3.Die Singapur-Lösung
4.Das libertäre Bantustan
5.Der wunderbare Tod eines Staates
6.Das »neue Mittelalter«: Ein Kostümspiel
7.Ein eigenes privates Liechtenstein
8.Ein Geschäftsclan weißer Männer in Somalia
9.Die rechtlichen Bubble Domes von Dubai
10. Das Silicon Valley als Kolonialmacht
11.Ein Cloud-Land im Metaversum
Schluss: Sei wie das Wasser
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Dank
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Sonderwirtschaftszonen weltweit. Die Größe der Punkte entspricht der flächenmäßigen Ausdehnung. Eine interaktive Version der Karte findet sich unter openzonemap.com.
Versuchen Sie, die folgende Frage zu beantworten, ohne Ihr Smartphone zur Hand zu nehmen: Wie viele Länder gibt es auf der Erde? Sie sind nicht sicher? Es sind etwa 200. Versuchen Sie sich jetzt vorzustellen, wie viele Länder es im Jahr 2150 geben wird. Mehr als 200? Weniger? Was, wenn es dann 1000 Länder gibt? Oder nur noch 20? Oder zwei? Oder nur noch ein einziges? Wie sähe die Zukunft mit einer solchen Landkarte aus? Was, wenn das Schicksal der Menschheit von der Antwort abhinge?
Dieses Gedankenexperiment schlug 2009 der damals 41-jährige Wagniskapitalgeber Peter Thiel vor.1 Nachdem er mit der Gründung von Paypal und einer frühen Investition in Facebook ein kleines Vermögen verdient hatte, hatte Thiel im Jahr 2008 in der Finanzkrise viel Geld verloren. Jetzt verfolgte er ein klares Ziel: Er wollte dem demokratischen Staat entkommen, der ihn zwang, Steuern zu zahlen. »Ich glaube nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind«, schrieb er in einem selbsterklärten Forum für kontroverse Ideen. »Die große Aufgabe der Libertären besteht darin, einen Weg zu finden, um der Politik in all ihren Formen zu entkommen.«2 Und Thiel war überzeugt, je mehr Länder es gebe, desto mehr Orte könnten als Zufluchtsort für das Geld dienen, womit die Wahrscheinlichkeit geringer werde, dass ein Land die Steuern anhebe, da es sonst befürchten müsse, die Gans zu verscheuchen, die goldene Eier lege. »Wenn wir mehr Freiheit wollen«, erklärte er, »sollten wir die Zahl der Länder erhöhen.«3
Thiel entwarf diese Welt mit Tausenden Gemeinwesen als 12utopischen Traum einer zukünftigen Realität. Unerwähnt ließ er, dass die von ihm beschriebene Zukunft in mancher Hinsicht bereits existierte.
Auf einem Standardglobus sehen wir ein ungleichmäßiges Mosaik von Farbflecken, das in Europa und Afrika kleinteiliger und dichter ist, während in Asien und Nordamerika große einfarbige Flächen dominieren. Dies ist das vertraute Bild der Welt, das wir in der Schule kennengelernt haben und auf das sich Thiel bezog: Jedes Territorium hat seine eigene Flagge, seine Hymne, seine nationale Tracht und seine Küche. Während der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele wird alle zwei Jahre diese Version des Erdballs dargestellt, die uns die Gewissheit vermittelt, dass die Welt klein ist.
Aber es ist ein Irrtum, die Welt nur als Puzzle von Nationalstaaten zu betrachten. Historikerinnen und Sozialwissenschaftler rufen uns in Erinnerung, dass die moderne Welt pockennarbig, durchlöchert, verbeult und ausgefranst, zerrissen und mit Stecknadeln gespickt ist. Innerhalb der nationalen Container findet man ungewöhnliche Rechtsräume, anormale Territorien und eigentümliche Zuständigkeitsbereiche. Da sind Stadtstaaten, Steueroasen, Enklaven, Freihäfen, Technologieparks, Zollfreibezirke und Innovationszentren. Die Welt der Nationalstaaten ist übersät mit Zonen – und deren Einfluss auf die Politik der Gegenwart beginnen wir gerade erst zu verstehen.4
Was ist eine Zone? Auf einer grundlegenden Ebene ist sie eine Enklave, die aus dem Territorium eines Nationalstaats herausgelöst und von den üblichen Formen der Regulierung ausgenommen wird. Innerhalb einer Zone werden oft die Besteuerungsbefugnisse aufgehoben, so dass Investoren, die dort tätig werden, de facto selbst festlegen können, an welche Regeln sie sich halten wollen. Zonen sind beinahe extraterritoriale Gebiete: Sie gehören zum Gastland und sind zugleich von ihm getrennt. Die 13Zonen nehmen eine verwirrende Vielfalt von Formen an – einer offiziellen Einstufung zufolge gibt es mindestens 82 Varianten.5 Zu den bekanntesten zählen die Sonderwirtschaftszone, die Exportproduktionszone und die Außenhandelszone. An einem Ende des sozioökonomischen Spektrums können Zonen Knotenpunkte in grenzüberschreitenden Produktionsnetzwerken sein.6 Diese teilweise von Stacheldrahtzäunen umgebenen Orte sind oft dem Niedriglohnsektor vorbehalten. Am anderen Ende des Spektrums finden wir eine Version der Zone in den Steueroasen, wo transnationale Konzerne ihre Einnahmen verschwinden lassen – der Ökonom Gabriel Zucman spricht vom »versteckten Wohlstand der Nationen«.7 Die Flucht der Unternehmensgewinne in diese Niedrig- oder Nullsteuerjurisdiktionen kostet die Vereinigten Staaten jedes Jahr 70 Milliarden Dollar an Staatseinnahmen, und Schätzungen zufolge werden in Offshore-Steueroasen 8,7 Billionen Dollar aufbewahrt.8 Auf einigen Karibikinseln sind mehr Unternehmen als Einwohner registriert.9 In seinem ersten Wahlkampf für das Präsidentenamt lenkte Barack Obama die Aufmerksamkeit auf das Bürogebäude Ugland House in George Town auf den Cayman Islands, das 12000 Unternehmen beherbergte. »Das ist entweder das größte jemals errichtete Gebäude oder der größte Steuerbetrug aller Zeiten«, erklärte er.10 Tatsächlich waren all diese Briefkastenfirmen vollkommen legal, ein alltäglicher Bestandteil des globalen Finanzsystems.11
Weltweit gibt es mehr als 5400 Zonen, sehr viel mehr als in Thiels Traum von einer Welt der tausend Länder. Allein im letzten Jahrzehnt sind tausend neue Zonen entstanden.12 Einige sind nicht größer als eine Fabrik oder ein Lagerhaus, ein Schalter auf der Logistikschalttafel des Weltmarkts oder ein Standort für Lagerung, Montage oder Veredelung eines Produkts zwecks Vermeidung von Zöllen.13 Andere sind urbane Megaprojekte – 14darunter New Songdo City (Songdo International Business District) in Südkorea, Neom in Saudi-Arabien oder Fujisawa in Japan –, die wie private Stadtstaaten eigenen Regeln unterworfen sind.14 Im Jahr 2021 brachten Politiker in Nevada eine ähnliche Idee ins Spiel und schlugen vor, Unternehmen, die sich in ihrem Staat ansiedelten, sollten die Möglichkeit erhalten, ihre eigenen Gesetze zu schreiben – nach einem Jahrhundert sollte also die Fabrikkolonie zurückkehren, nur dass sie jetzt als »Innovationszone« bezeichnet wurde.15 In Großbritannien machte die konservative Regierung die Errichtung einer Kette von Zollfreigebieten oder Freihäfen zum Kernstück eines Vorschlags, um den deindustrialisierten Norden Englands nach dem Brexit »auf ein höheres Niveau zu heben«. Das unrealistische Ziel? Man will mit der 1985 gegründeten Freizone Jebel Ali in Dubai konkurrieren, wo Unternehmen ein halbes Jahrhundert lang keine Steuern zahlen müssen und ausländische Arbeiter einsetzen können, die in abgeriegelten Schlafstädten untergebracht sind und einen Bruchteil des britischen Existenzminimums verdienen.16
Ich verwende die Metapher der Perforation, um zu beschreiben, wie der Kapitalismus funktioniert, indem er Löcher in das Territorium des Nationalstaates stanzt und Ausnahmezonen mit eigenen Gesetzen errichtet, die oft keiner demokratischen Aufsicht unterliegen. Der Philosoph Grégoire Chamayou fügt eine weitere Metapher hinzu und vergleicht die Privatisierungsprojekte mit der Technik des Bockkäfers, der die Struktur von Bäumen von innen heraus zerfrisst.17 Wir können uns zur Veranschaulichung auch ansehen, wie ein Stück Spitze hergestellt wird, indem Garnfäden miteinander verknüpft werden, wobei Lücken zwischen ihnen gelassen werden. Das Produkt erzeugt durch die Auslassung den Eindruck eines Musters. Der Fachbegriff dafür ist »Lückenmuster«. Um die heutige Weltwirtschaft zu verstehen, müssen wir lernen, die Lücken zu sehen.
15Die meisten Zonen befinden sich in Asien, Lateinamerika und Afrika. China allein beherbergt die Hälfte von ihnen, während in Europa und Nordamerika weniger als zehn Prozent dieser Gebilde beheimatet sind.18 Doch wie wir sehen werden, haben die Zonen im Westen einige ihrer leidenschaftlichsten Anhänger, die dort mit dem experimentieren möchten, was ich als Mikroordnung bezeichne, als Errichtung alternativer, kleinmaßstäblicher politischer Arrangements. Die Befürworter der Zone erklären, die Utopie des freien Marktes könne durch Sezession und Fragmentierung der Nationalstaaten verwirklicht werden. So sollen befreite Territorien innerhalb und jenseits der nationalen Container entstehen, die disziplinierend auf die bestehenden Staaten wirken und als Anschauungsbeispiele für bessere Ordnungssysteme dienen. »Die lokalisierte Freiheit«, schrieb Stuart Butler von der Heritage Foundation im Jahr 1982, »kann die Fundamente des umgebenden unfreien Staates zersetzen.«19 Die Befürworter der Perforation positionieren sich melodramatisch als eine rechte Guerilla, die den Nationalstaat Zone für Zone zurückerobern – und zersetzen – will. Ihre Theorie: Flieht das Kapital einmal in neue nicht regulierte Niedrigsteuerzonen, so werden Volkswirtschaften, die das Kapital kontrollieren wollen, gezwungen sein, diese Anomalien nachzuahmen. Die Zone entwickelt in kleinem Maßstab das Modell eines neuen Staates für alle.
In diesem Buch erzähle ich die Geschichte dessen, was ich als Crack-up-Kapitalismus (Zersplitterungskapitalismus) bezeichnen möchte. Dieser Begriff beschreibt die Welt, die durch die unkoordinierten Anstrengungen entstanden ist, die private Akteure im Streben nach Gewinn und wirtschaftlicher Sicherheit in den letzten vierzig Jahren mit Unterstützung willfähriger Regierungen unternommen haben; zugleich beschreibt er jedoch auch eine gezielt entwickelte Ideologie. Das Etikett 16des Crack-up-Kapitalismus wende ich sowohl auf die Funktionsweise der Welt als auch auf die Art und Weise an, in der bestimmte Akteure die Welt verändern möchten. Der Begriff beschreibt eine Welt, die zunehmend vernetzt und zugleich zunehmend fragmentiert ist. Crack-up-Kapitalisten erkennen Hinweise auf eine Mutation des Gesellschaftsvertrags und fragen, ob sie die Auflösungsprozesse beschleunigen und für sich nutzen können. Sie sind Anhänger dessen, was Lionel Shriver in ihrem 2016 erschienenen Roman Eine amerikanische Familie als das neue Genre der »apokalyptischen Wirtschaftslehre« bezeichnet.20
Die Zone gibt es nicht nur draußen in der Welt. Die Zone beginnt zu Hause. Vielen ihrer Anhänger geht es nicht um offene Sezession oder die Errichtung eines neuen Staates: Sie wollen nicht die Macht erringen. Vielmehr wollen sie zahlreiche kleine Akte der Verweigerung setzen. Einer dieser radikalen Verfechter des freien Marktes bezeichnet das als »sanfte Sezession«.21 Wir können austreten, indem wir unsere Kinder aus dem staatlichen Schulsystem nehmen, unser Geld in Gold oder Kryptowährungen tauschen, in Länder mit niedrigeren Steuern umziehen, uns einen zweiten Reisepass zulegen oder uns in einem Steuerparadies niederlassen.22 Wir können austreten, indem wir in eine Gated Community ziehen und dort mit unseren Nachbarn eine private Miniregierung aufbauen. Viele Menschen tun genau das. Seit der Jahrtausendwende sind etwa die Hälfte aller neuen Siedlungen im Süden und Westen der Vereinigten Staaten eingezäunte Planstädte.23 Geschlossene Enklaven sind ein globales Phänomen: Es gibt sie in Lagos und in Buenos Aires.24 In Indien entstanden geschlossene Wohnanlagen durch die Aneignung öffentlicher Straßen mittels Errichtung von Stahlbarrieren; später ging man dazu über, rund um Sonderwirtschaftszonen vollkommen neue »Plankolonien« zu errichten.25
17Ein Venture-Kapitalist, der für Peter Thiel arbeitete, verwendet für diese Art der sanften Sezession den Begriff »underthrow«, was im Gegensatz zu »overthrow« (Umsturz) andeutet, wie das Manöver vonstattengehen sollte.26 In seinen Augen ist das Unternehmen das beste Modell für die Politik. Wir beteiligen uns als Kunden oder steigen als Kunden aus. Wenn uns das Produkt nicht gefällt, gehen wir woanders einkaufen. Niemand verlangt etwas von uns, und wir fühlen uns keiner bestimmten Person oder Gruppe gegenüber verantwortlich. Um die vor einem halben Jahrhundert von dem Ökonomen Albert Hirschman entwickelte klassische Dichotomie zu verwenden: Statt unsere Stimme zu erheben (voice), wählen wir den Ausstieg (exit).27
Jeder Akt der sanften Sezession – jedes Unternehmen, das seine Gewinne in einer Briefkastenfirma in der Schweiz oder der Karibik parkt, jede Auseinandersetzung über Weiderechte mit Beamten der amerikanischen Bundesregierung, jeder Privatpolizist, Subunternehmer oder Söldner, der engagiert wird, um zu patrouillieren, zu verhaften oder Razzien durchzuführen – ist ein weiterer kleiner Sieg für die Zone, ein weiteres kleines Loch im Gewebe der Gesellschaft. Jene, die am meisten von unserer Abkehr von der gemeinsamen Verantwortung profitieren, ermutigen uns, in Zonen zu leben. Vor hundert Jahren bauten die Räuberbarone Bibliotheken. Heute bauen sie Raumschiffe. Dieses Buch ist eine Geschichte der jüngsten Vergangenheit und unserer turbulenten Gegenwart, in der Milliardäre davon träumen, sich dem Staat zu entziehen, und in der die Idee der Allgemeinheit abstoßend wirkt. Es erzählt die Geschichte jahrzehntelanger Bemühungen, Löcher in das soziale Gewebe zu bohren, auszusteigen und dem Kollektiv den Rücken zu kehren.
Um die Bedeutung des Splitterkapitalismus zu verstehen, müssen wir einen Schritt zurücktreten und uns die großen Geschichten in Erinnerung rufen, die uns Historiker und Politik18wissenschaftlerinnen über die letzten Jahrzehnte erzählt haben. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 leitete eine Ära der Globalisierung ein. In seinem Roman Inseln im Netz aus dem Jahr 1988 beschwört Bruce Sterling ein Bild dieser extrem eng verflochtenen Welt herauf, in der alles »in einem weltumspannenden Netz verknüpft« ist, »einem globalen Nervensystem, einem bis in die letzten Winkel reichenden Daten-Oktopus«.28 Vorherrschend sind Darstellungen der Verbundenheit: Blaue Laserlinien verbinden weit voneinander entfernte Orte in einem Strang des Austauschs und der Mobilität. Der Trend ging zur Verbundenheit: Innerhalb weniger Jahre entstanden die Welthandelsorganisation, die Europäische Union, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen. Aber wenn man genauer hinsieht, erkennt man auch eine alternative Entwicklung, die nicht nur von Einheit, sondern auch von Fragmentierung gekennzeichnet war. Die beiden Teile Deutschlands vereinigten sich im Jahr 1990 wieder, aber im Jahr darauf zerfiel die Sowjetunion. Während sich die Europäische Union bildete, löste sich Jugoslawien auf. Somalia glitt in einen Bürgerkrieg ab und sollte mehr als ein Jahrzehnt lang keine zentrale Regierung haben.
Der Kalte Krieg endete, aber während alte Barrieren fielen, wurden neue errichtet. Güter und Geld konnten sich ungehindert bewegen, nicht jedoch Menschen. Überall wurden Mauern gebaut. Einer Schätzung zufolge sind weltweit mehr als 15000 Kilometer Grenzen mit Barrieren verstärkt worden.29 Im Jahr 1990 errichteten die Vereinigten Staaten südlich von San Diego erstmals einen Grenzzaun. Präsident Bill Clinton liberalisierte den Handel in Nordamerika, gab gleichzeitig jedoch grünes Licht für die »Operation Gatekeeper« zur Befestigung der Südgrenze des Landes.30 Zwei Monate nach dem Fall der Berliner Mauer strahlte die BBC den Film The March aus, in dem die Geschichte eines Sudanesen erzählt wird, der an der Spitze eines 19Heeres von Kriegsvertriebenen und Armutsflüchtlingen durch Nordafrika zieht, um nach Europa einzuwandern. Die Schlussszene zeigt die Ankunft einer großen Gruppe von Migranten in einem Urlaubsort in Südspanien, wo die Afrikaner versuchen, eine Phalanx bewaffneter Soldaten zu durchbrechen. Ein Junge, der eine Kappe der Miami Dolphins trägt, wird von den Soldaten am Strand erschossen: ein Symbol des gebrochenen Versprechens der Kosmopolitinnen. Seit 2014 sind mehr als 24000 Menschen bei dem Versuch ertrunken, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.31 Die Globalisierung entfaltet sowohl zentripetale als auch zentrifugale Kräfte. Sie verbindet uns und reißt uns zugleich auseinander.
Dieses Buch konzentriert sich auf die neunziger Jahre, eine Zeit – das wird bis heute oft übersehen – der politischen Fermentation, in der unterschiedliche nationale und postnationale Vorstellungen wie in einem Schmelzkessel am Sieden waren. Die Geschichte, die wir über dieses Jahrzehnt erzählen – eine Geschichte, die von zunehmender Integration und stetig wachsenden Wirtschaftsräumen handelt –, muss aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden, um die gewaltige sezessionistische Energie und die Begeisterung für Experimente mit Mikroordnungen zum Vorschein zu bringen. Als der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Jahr 1989 über das »Ende der Geschichte« spekulierte, dachte er an die Konvergenz der Welt im Modell der freiheitlichen Demokratie, aber auch an die unangefochtene Herrschaft eines bestimmten Modells der Weltordnung: Sie war in selbstbestimmte Nationalstaaten unterteilt, die durch das internationale Recht in einer gemeinsamen Weltwirtschaft verbunden waren.32 Aber die fortschreitende Evolution des globalen Kapitalismus hat das Bild verändert. Das Ende der Imperien sowie des Kommunismus brachte eine Schar neuer souveräner Nationalstaaten hervor, und gleichzeitig ent20stand ein weiteres politisches Gebilde. Seit den neunziger Jahren wird der Nationalstaat zunehmend durch die neue Einheit der Zone ergänzt.
Die Zonen helfen uns, uns die Globalisierung als Zersplitterung der Welt in eine »Wirtschaft der extraterritorialen Archipele« vorzustellen, in der sich die Territorien einen unablässigen Wettbewerb um nomadische Kunden, Anleger und Investoren liefern.33 Dank der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse von Thomas Piketty und Emmanuel Saez sowie der Enthüllungen in den »Panama« und »Paradise Papers« haben wir heute eine klarere Vorstellung von einer bestimmten Art von Zone: der Steueroase.34 Aber obwohl es stimmt, dass die Zone ein Werkzeug derjenigen ist, die dort ihr Vermögen horten, greift diese Betrachtungsweise zu kurz.35 Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Zone in den Augen der radikalen Anhänger des freien Marktes nicht einfach ein Mittel zu einem wirtschaftlichen Zweck, sondern eine Inspiration für die Neuordnung der globalen Politik ist.
Die Zone erfüllt für die kapitalistische Rechte zahlreiche Funktionen. Das Gespenst der Zone und die von ihr ausgehende Gefahr der Kapitalflucht werden eingesetzt, um nationale Regierungen zu erpressen, damit sie die Überreste des Sozialstaats in Westeuropa und Nordamerika beseitigen. Zudem ist die Zone Ausdruck einer weiteren Überzeugung, die einen zentralen Bestandteil der Fantasie der politischen Rechten darstellt: Sie glauben, dass der Kapitalismus ohne Demokratie existieren kann. Als Deutschland wiedervereinigt wurde, beobachtete der politische Philosoph Raymond Plant, »mit Blick auf den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa« stehe
in den Augen mancher außer Zweifel […], dass Kapitalismus und Demokratie zusammengehören. Doch das ist keineswegs 21zwangsläufig so, und einige derer, die in der Debatte über die Freiheit der Märkte eine intellektuelle Führungsrolle spielen, machen sich Sorgen über die Beziehung zwischen Märkten und Demokratie.
In ihren Augen, erklärte Plant, könne »die in der westlichen Welt entstandene Demokratie das Wachstum und die Aufrechterhaltung der Märkte beeinträchtigen«.36 Manche sahen in kolonialen Bastionen wie Hongkong, den Homelands im Südafrika der Apartheid und den autoritären Enklaven auf der Arabischen Halbinsel einen Beleg dafür, dass die politische Freiheit die wirtschaftliche Freiheit tatsächlich zersetzen kann.
Die Idee eines Kapitalismus ohne Demokratie ist weiter verbreitet, als man meinen könnte. Stephen Moore, einer der wichtigsten Wirtschaftsberater von Präsident Donald Trump und Kandidat für einen Sitz im Leitungsgremium der Federal Reserve, zudem langjähriger Mitarbeiter der Heritage Foundation sowie ein tonangebender Intellektueller der extremen Rechten, nahm kein Blatt vor den Mund: »Der Kapitalismus ist sehr viel wichtiger als die Demokratie. Ich bin eigentlich kein großer Anhänger der Demokratie.«37 Dies ist keineswegs ein unbedachter Scherz oder eine Entgleisung, sondern eine klar definierte Geisteshaltung, die seit fünfzig Jahren unmerklich auf dem Vormarsch ist und sich auf unsere Gesetze, Institutionen und politischen Bestrebungen auswirkt.
Die Zersplitterung der Welt ist kein spontaner Prozess. Sie wird gezielt vorangetrieben. Dieses Buch handelt von Thiels Vorläufern und Gefolgsleuten, von Personen, die eine solche Fragmentierung vorhergesehen haben und sie begrüßen. Nach dem Ende des Kalten Kriegs boten sie eine überraschende Deutung an: Vielleicht hatte der Kapitalismus ja unbemerkt verloren? Vielleicht machten die sozialdemokratischen Superstaaten 22ja einfach dort weiter, wo die kommunistischen aufgehört hatten, denn die Staatsausgaben stiegen unaufhörlich. Vielleicht musste man einen Schritt weitergehen, um dem Kapitalismus wirklich zum Sieg zu verhelfen. Was, wenn das Ende der Geschichte nicht das Schachbrett mit rund 200 Nationalstaaten war, die unter den Bedingungen der liberalen Demokratie existierten, sondern ein Flickwerk von Zehntausenden Jurisdiktionen mit unterschiedlichen politischen Systemen, die einander in einem nie endenden Wettbewerb gegenüberstanden? Ein Marktradikaler drückte es so aus: »Was, wenn der wichtigste politische Trend der letzten 200 Jahre, die Zentralisierung der Staatsmacht, im 21. Jahrhundert umgekehrt wird?«38 Was, wenn die Gesellschaft neu gegründet werden musste?
Ab den siebziger Jahren bot sich die Zone als schlanke Alternative zum Durcheinander der Demokratie und den wuchernden, schwerfälligen Nationalstaaten an. Die Vordenker, mit denen sich dieses Buch beschäftigt, predigten nicht den Globalismus, sondern den Sezessionismus. Wir werden diesen Marktradikalen, die nach dem idealen institutionellen Behältnis für den Kapitalismus suchten, ein halbes Jahrhundert lang rund um den Erdball folgen. Die Reise führt uns von Hongkong aus über die Londoner Docklands bis zum Stadtstaat Singapur, vom Südafrika der Apartheid zu den Neokonföderierten im Süden der Vereinigten Staaten und an die ehemalige Frontier im amerikanischen Westen, von den Kriegsgebieten am Horn von Afrika nach Dubai und zu den kleinsten Inseln der Welt. Schließlich gelangen wir ins virtuelle Reich des Metaversums. Die Anhänger des Crack-up-Kapitalismus malten sich ein neues Utopia aus: eine agile, stets in Bewegung befindliche Festung für das Kapital, sicher vor dem Zugriff des Volkes, das nach einer gerechteren Gegenwart und Zukunft strebte.
In seinem Roman Red Pill (2020) beschreibt Hari Kunzru23einen Mann, der in einem halluzinatorischen Zustand ein Manifest über ein System schreibt, das sich am Ende in der Lage sehen wird, öffentlicher Politik grundsätzlich eine Absage zu erteilen und sie durch die Kunst des Handels zu ersetzen: eine Blackbox, die unmöglich zu überwachen und nur für die beteiligten Parteien sichtbar ist. Ohne gegenseitige Kontrolle, ohne ein Recht, gegen die Entscheidungen der Handelspartner zu klagen, ohne »Rechte« überhaupt, nur von roher Gewalt und Macht regiert.39
Das ist eine gute Beschreibung der Vorstellungen, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen werden: Ihre Anhänger träumen von einer radikalen Form des Kapitalismus in einer Welt ohne Demokratie.
27Hongkong
Als Peter Thiel von einer Welt der tausend Nationen schwärmte, spielte er nicht mit einem spekulativen Gedanken: Er legte einen Business-Plan vor. An diesem Tag hielt er einen Vortrag bei einer Veranstaltung eines Instituts, das er selbst mit dem Ziel gegründet hatte, die Zahl der Staaten auf der Erde deutlich zu erhöhen. Die Einzelheiten des Vorhabens erläuterte ein knapp dreißig Jahre alter Softwareentwickler von Google, der neben Thiel auf der Bühne stand. »Kommen wir zur Zukunft«, begann Patri Friedman, um seine Pläne für die Umwandlung der politischen Souveränität in eine profitable Unternehmung zu erklären.1 Seit Menschengedenken, schrieb er an anderer Stelle, habe es nur einen Weg gegeben, um eine neue Nation zu errichten: Man musste eine bestehende zerschlagen, das Territorium aufteilen und umbenennen. Das war ein schwieriges Geschäft. Oft musste man Krieg führen. Aber wie wäre es, wenn man einen Staat errichten konnte, wo zuvor keiner existiert hatte?2 Was, wenn es dort draußen Räume gab, auf die noch niemand Anspruch erhoben hatte? Sein Vorschlag: Warum nicht die für die Ölförderung in internationalen Gewässern entwickelte Technologie einsetzen, um Siedlungen außerhalb der Jurisdiktion von Staaten zu errichten und die Ozeane zur Heimstätte neuer politischer Einheiten zu machen.3 Jenseits der »ausschließlichen Wirtschaftszone«, die sich 200 Seemeilen vor der Küste erstreckt, waren die Weltmeere frei zugänglich für die private Nutzung und politische Experimente. Für die nationalen Steuer- und Regulierungsbehörden unerreichbare »ozeanische Heimstätten« (seasteads) könnten ihre Unabhängigkeit erklären und eine 29»kambrische Explosion des Staatswesens« auslösen.4 Um es im Jargon des Silicon Valley zu sagen: Dies würden Start-up-Nationen sein.
Patri Friedman hat einen berühmten Großvater, den vielleicht berühmtesten Ökonomen der Vereinigten Staaten, der wegen seiner Beiträge zu den intellektuellen Grundlagen radikaler kapitalistischer Reformen und seiner Nebentätigkeit als Berater von Diktatoren von manchen verehrt und von anderen verteufelt wird: Milton Friedman. Beide Friedmans können nicht gerade als leidenschaftliche Anhänger der Demokratie bezeichnet werden. »Die Demokratie ist nicht die Lösung«, schreibt Patri, sondern lediglich »der gegenwärtige Industriestandard.«5 Das Vorbild seines idealen Gemeinwesens ist das Unternehmen. »Unternehmen, die miteinander um Kunden kämpfen, liefern einfach bessere Produkte als demokratische Systeme.«6 Sein Großvater hatte sich im Vorwort einer Neuauflage seines ursprünglich 1962 veröffentlichten Bestsellers Kapitalismus und Freiheit ähnlich geäußert: »Wirtschaftliche Freiheit ist eine notwendige Voraussetzung für bürgerliche politische Freiheit, doch politische Freiheit, so wünschenswert sie sein mag, ist keine notwendige Voraussetzung für wirtschaftliche und bürgerliche Freiheit.«7
Als Beleg führte Milton sein bevorzugtes Beispiel Hongkong an: Bei seinen Besuchen dort hatte er sich davon überzeugt, dass kapitalistische Freiheit auch ohne freie Wahlen möglich war. Sein Enkel Patri beschrieb in Anlehnung daran seinen Traum von einem »schwimmenden Hongkong«.8 In der Kopfzeile seines Blogs findet man das von einer maoistischen Kampagne abgeleitete Motto »Lasst tausend Nationen blühen«, aber die dazugehörige Abbildung zeigt Hongkong, und das Logo hat eine verdächtige Ähnlichkeit mit der Orchidee in der Flagge der Sonderverwaltungszone. Was macht die ehemalige britische 30Kronkolonie zur perfekten Blaupause? Um Friedmans Begeisterung zu verstehen, müssen wir in jene Zeit zurückkehren, in der sich Milton in sein koloniales kapitalistisches Paradies verliebte.
Ende des Jahres 1978 litten die Vereinigten Staaten unter einer unablässig steigenden Inflation. In Großbritannien hatte der »Winter der Unzufriedenheit« mit einer Streikwelle begonnen, die eine Gegenreaktion auslöste, die schließlich zu Margaret Thatchers Wahlsieg führte. Im Iran waren Unruhen ausgebrochen, in denen sich linksrevolutionäre Studenten mit nicht weniger revolutionären religiösen Fundamentalisten zusammentaten, um im Namen Gottes und des Volkes die Fäuste emporzurecken und die Regierung zu stürzen. Mehrere große Länder Südamerikas darbten unter Militärdiktaturen. Vietnamesische Truppen marschierten in Kambodscha ein, und China bereitete sich auf eine Invasion Vietnams vor. Weltweit war ein Prozess zu beobachten, den eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern, darunter Samuel Huntington, als »Krise der Demokratie« bezeichnete. Diese Autoren fragten sich, ob die Welt »unregierbar« geworden sei, ob die Regierungen möglicherweise nicht mehr in der Lage seien, angemessen auf die wachsende Komplexität des gesellschaftlichen Lebens und den Druck verschiedener Bevölkerungsgruppen zu reagieren. Sie zitierten die Prognose des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt, in Westeuropa sei die Demokratie nur noch zwanzig bis dreißig Jahre am Leben zu erhalten.9 Das Umschlagbild des Berichts zeigte eine Nationalflagge im Fadenkreuz.
Während die Welt anscheinend vom Untergang bedroht war, schien an einem Ort die Sonne. Ende September 1978 stand Mil31ton Friedman lächelnd vor der Kulisse der weißen Wolkenkratzer Hongkongs. Hier, am Ufer des glitzernden Südchinesischen Meers, glaubte er eine Lösung für die Krise gefunden zu haben, einen Ort, der von den Zuckungen der Volkssouveränität verschont blieb. Vielleicht, erklärte er, sei Hongkong ein Anschauungsbeispiel dafür, wie das erstrebenswerte Endstadium des globalen Kapitalismus aussehe. Vielleicht seien die Ideen von nationaler Selbstbestimmung, Wahlgleichheit und Volkssouveränität lediglich Umwege, die allesamt in den Weg zur Knechtschaft mündeten, und dieses makellose Behältnis für Handel und Finanzen sei die Zukunft: abgeschirmt gegen die Forderungen der Bevölkerung und zugleich in der Lage, flexibel auf die Forderungen des Marktes zu reagieren, eine unaufhaltsame kapitalistische Naturgewalt. Was, wenn es galt, das demokratische Chaos zu unterbinden, um den Erfolg des Marktes zu gewährleisten? Was, wenn die Flagge im Fadenkreuz tatsächlich unter Beschuss genommen werden musste, um die Welt wieder regierbar zu machen? Was, wenn die Ära der vom Nationalstaat beherrschten politischen Bestrebungen, die nach dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, lediglich ein kurzes Zwischenspiel in der Menschheitsgeschichte gewesen war? »Ich glaube, dass eine relativ freie Wirtschaft eine notwendige Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft ist«, erklärte Friedman1988 in einem Interview. »Aber ich sehe auch Hinweise darauf, dass eine demokratische Gesellschaft, wenn sie einmal gefestigt ist, die freie Wirtschaft zerstört.«10
Hongkongs Ursprünge zeigen, wie Friedmans Idealstaat errichtet werden musste: mit Waffengewalt. Die Briten sicherten sich die Oberhoheit über die Insel Hongkong im Vertrag von Nanking (1842), der den Ersten Opiumkrieg beendete, als Beute für die Ewigkeit. Der Hauptort der Insel, mit einem ausgedehnten natürlichen Tiefseehafen gesegnet und vor Taifunen 32geschützt durch einen Berg, der ein Überbleibsel eines im Mesozoikum explodierten Vulkans ist, wurde nach Königin Victoria benannt und in einen Zollfreihafen umgewandelt. Die Wirtschaft Hongkongs beruhte auf dem Handel mit Opium, das in Indien produziert und über die Kronkolonie zu den Konsumenten in China gebracht wurde.
Die Briten hofften, der Handel werde die Chinesen »in freundschaftlichem Austausch« mit den »aktiveren und unternehmerischen Einwohnern der Welt verbinden, die wir als zivilisiert zu bezeichnen pflegen« (also mit ihnen selbst), aber dieser Austausch war nicht freundschaftlich, und die Briten waren nicht zivilisiert.11 Großbritannien und Frankreich zettelten den Zweiten Opiumkrieg an, in dessen Verlauf die Briten im Jahr 1860 Kowloon auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens eroberten. Im Jahr 1898 besiegten die Japaner China und sicherten sich Taiwan als Kriegsbeute. Andere europäische Mächte witterten Blut und begannen, sich Konzessionen zu sichern und die chinesische Küste in einen Schweizerkäse mit mehr als achtzig Vertragshäfen, Konzessionen sowie internationalen Siedlungen zu verwandeln.12
Die Hoheit über die Häfen sicherten sich die ausländischen Mächte mit Pachtverträgen, deren Laufzeiten von einem Vierteljahrhundert bis zur Ewigkeit betrugen. Die Häfen befanden sich zugleich innerhalb als auch außerhalb Chinas: Sie waren extraterritoriale Zonen. Die Ausländer lebten dort außerhalb des chinesischen Hoheitsgebiets. Selbst auf chinesischem Territorium waren sie den Gesetzen ihrer Heimatländer unterworfen, und für Straftaten wurden sie vor ihren eigenen Gerichten zur Verantwortung gezogen.13 Hongkong selbst hatte einen gemischten Charakter: Während die Insel und Kowloon in britischem Besitz standen, wurde das landwirtschaftlich genutzte Hinterland der New Territories im Jahr 1898 für 99 Jahre an 33Großbritannien verpachtet, womit sich das Gebiet der Kronkolonie verzehnfachte. Das Territorium war formal souverän, aber die Regierung war vertraglich verpflichtet, an niedrigen Zöllen festzuhalten. Dem Prinzip der »Meistbegünstigung« gehorchend, wurden Privilegien, die einem Land – zum Beispiel den Vereinigten Staaten – zugestanden wurden, automatisch auch auf Russen, Deutsche, Franzosen und andere Ausländer ausgeweitet.
Diese Regelungen gingen als »Ungleiche Verträge« in die Geschichte ein und prägten das chinesische »Jahrhundert der Demütigung«. Ein hochrangiger chinesischer Diplomat erklärte im Jahr 1912, die Verträge seien »mithilfe des Schwerts« geschlossen worden.14 Seltener wird erwähnt, dass die Kombination von Gewalt, Territorium und Gesetz zur Definition des Musters beitrug, das im folgenden Jahrhundert bei der wirtschaftlichen Globalisierung angewandt wurde. Die Zonen bildeten ein Flickwerk der Semisouveränität: Containerhäfen und Militärstützpunkte wurden mittels langfristiger Pachtverträge abgetreten; internationale Handelsorganisationen wie die WHO arbeiteten am Meistbegünstigungsprinzip; Verträge sorgten dafür, dass ausländische Investoren ihrer eigenen Gerichtsbarkeit unterstanden. Die Konstellation dieser Enklaven war keineswegs ein Relikt der Vergangenheit, sondern ein Vorgriff auf die Zukunft.
Hongkong blühte unter den neuen rechtlichen Bedingungen auf. Ursprünglich ein Handelshafen, wandelte es sich rasch in einen Industriestandort, der für die Weltmärkte produzierte, nachdem der Sieg der chinesischen Kommunisten im Jahr 1949 zahlreiche Flüchtlinge in die Stadt getrieben hatte, die in kleinen Werkstätten und Fabriken Arbeit fanden, die überall aus dem Boden schossen. Mit rund einer Million Flüchtlinge und Migranten – mehr als die Gesamtbevölkerung der Kolonie zu dem Zeitpunkt, als die Truppen des Tenno das Territorium nach 34der japanischen Kapitulation wieder an die Briten übergaben–kamen Arbeitskräfte und Kapital insbesondere aus der Handelsmetropole Schanghai in die Stadt. Zwischen 1945 und 1956 vervierfachte sich die Bevölkerung.15 Die kleinen Fabriken waren informell organisiert und reagierten flexibel auf Veränderungen der Konsumnachfrage. Abhängig vom Bedarf entstanden unentwegt neue Produktionsstätten, während andere geschlossen wurden. Viele Betriebe waren in sechsstöckigen »Mietfabriken« untergebracht, die der Staat errichtet hatte, um den Handel anzukurbeln.16 Hongkong konzentrierte sich auf das Ende der Wertschöpfungskette und produzierte billige Waren für den Export – Konsumgüter für den Babyboom der Nachkriegszeit, von Textilien und Kleidung über Kunstblumen und Puppen bis zu Fertignahrung.17 Im Jahr 1972 war die Kolonie der weltweit größte Exporteur von Spielwaren.18 Ende der siebziger Jahre exportierte Hongkong mehr Kleidung als jedes andere Land.19 Ein Territorium mit einer Fläche von weniger als 1300 Quadratkilometern nahm den 20. Platz in der Rangliste der größten Exportnationen der Welt ein, und die Wirtschaft Hongkongs wuchs jedes Jahr um zehn Prozent.20 Außerdem hatte sich die Industriemetropole in die Drehscheibe der asiatischen Finanzmärkte verwandelt.21 Die Zahl der in Hongkong ansässigen Banken stieg in den siebziger Jahren um mehr als das Doppelte, die von ihnen verwalteten Vermögenswerte um das Sechsfache.22
In dieser Zeit landete Friedman in Hongkong. Mit finanzieller Unterstützung konservativer Spender, darunter Getty Oil und die Sarah Scaife Foundation, war er gekommen, um für den öffentlichen Rundfunksender PBS die erste Episode seiner sehr erfolgreichen Fernsehserie Free to Choose zu drehen.23 Friedman war Mitte sechzig, näherte sich dem Ende seiner akademischen Laufbahn und hatte den Höhepunkt seines Ruhms erreicht. Millionen Amerikaner lasen seine regelmäßige Kolumne 35in Newsweek, und sein Ansehen stieg noch weiter, als er im Jahr 1976 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde. Seine Fernsehserie erreichte Familien überall in den Vereinigten Staaten und schließlich auch in Großbritannien und wurde zu einem Buch verarbeitet, das sich im Jahr 1980 verblüffende 51 Wochen an der Spitze der Sachbuch-Bestsellerliste der New York Times hielt. Für einige hundert Dollar pro Episode konnte man sich daheim oder im Vorlesungssaal Videokassetten des Mannes ansehen, den Time als »Uncle Miltie« bezeichnete.24 Ein Journalist schrieb: »Mittlerweile sind die engelsgleiche Miene und die gnomenhafte Figur des Ökonomen Milton Friedman nicht mehr aus dem intellektuellen Leben Amerikas wegzudenken.«25
In den Szenen, die Friedman in Hongkong aufnahm, schlendert der schelmische Ökonom an Gemüseständen und Fischhändlern vorbei, und die Kamera schwenkt zu Kesselflickern am Straßenrand und Elfenbeinwerkstätten in Nebengassen. Zu in den Film hineingeschnittenen Aufnahmen aus Chinatown in New York pries Friedman den Sweatshop und erinnerte an seine Mutter, die einst unter ähnlichen Bedingungen gearbeitet hatte. Die libertäre Zeitschrift Reason feierte die prekären Arbeitsbedingungen in Hongkong: Kleine Fabriken nahmen Arbeiter für einen Monat auf, um einen Auftrag erfüllen zu können, und setzten sie anschließend wieder auf die Straße.26 In »Milton Friedmans Traumwelt«, schrieb ein Journalist, »müssen die Arbeitskräfte dorthin gehen, wo das Kapital sie hinschickt, und für jeden Lohn arbeiten, den das Kapital zu zahlen bereit ist«.27 Friedman selbst bezeichnete Hongkong als »Laborexperiment«, in dem untersucht werde, »was geschieht, wenn der Staat auf seine angemessene Funktion begrenzt wird«: Die Menschen wüssten, dass »sie die Kosten tragen« müssten, wenn sie scheiterten.28
36Die Folge, aus der diese Zitate stammen, trägt den Titel »Die Macht des Marktes«, aber eigentlich handelte sie von der Frage, wie man dem Staat Fesseln anlegen konnte. Wie konnte man verhindern, dass der Staat die Sozialprogramme ausweitete, den Bürgern immer neue soziale Rechte zugestand und mehr Geld für Umweltschutz, Gesundheitsweisen, öffentliche Bildung und Energiesparmaßnahmen ausgab? Diese und ähnliche Forderungen an den Staat machte Friedman für den Anstieg von Inflation und Arbeitslosigkeit in den siebziger Jahren verantwortlich. Hongkong gab in seinen Augen Hoffnung in einem Jahrzehnt, in dem die mit der Volkssouveränität einhergehenden Forderungen die Länder sowohl im globalen Norden als auch im globalen Süden in den wirtschaftlichen Ruin trieben. Menschen, die sich scheiden ließen, uneheliche Kinder in die Welt setzten oder in den Universitäten herumlungerten und Herbert Marcuse und Karl Marx studierten, hatten die Staatshaushalte übermäßig belastet.29 In Hongkong war von einer solchen Verweichlichung nichts zu sehen.
Ihre Disziplin verdankte die dortige Gesellschaft in erster Linie der Tatsache, dass es in der Kronkolonie keine Demokratie gab. Ohne Gewerkschaften und freie Wahlen konnten die Einwohner weder als Arbeitskräfte noch als Bürger Einfluss nehmen. Der Finanzminister war wichtiger als der Gouverneur.30 Die britische Kolonie wurde eher wie eine »Kapitalgesellschaft« als wie eine Nation geführt, wie es ein Bewunderer ausdrückte.31 Für Alvin Rabushka, einen von Friedmans Kollegen bei der konservativen Hoover Institution, war Hongkong beinahe ein Lehrbeispiel der neoklassischen Ökonomie, weil es dort kein Wahlvolk gab.32 Daher, so Rabushka, waren die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger nicht dem »in den meisten demokratischen Ländern allgegenwärtigen Druck der Wähler« ausgesetzt.33 Rabushka pries das Hongkonger Modell 37des »administrativen Absolutismus« und den »Verwaltungsstaat ohne Parteien«.34 Tatsächlich ermöglichte eben die »Abwesenheit der Politik« in seinen Augen »wirtschaftliche Freiheit«.35 Das Resultat? Ein nicht immer annehmliches oder sicheres Leben, aber eines, in dem »die arbeitenden Menschen […] das Urteil der Marktkräfte akzeptieren«.36Rabushka verwies auch darauf, dass die freie Wirtschaft vom »andauernden Status einer Kolonie« abhing.37 Großbritannien hatte Hongkong Ende der fünfziger Jahre das Recht zugestanden, selbst über seine Handels- und Steuerpolitik zu entscheiden.38 Auf diese Art war die Kronkolonie vom Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg abgekoppelt worden, und Bemühungen um Selbstbestimmung wurden dadurch verhindert, dass die Einwohner Hongkongs keine Bürger, sondern Untertanen der britischen Krone waren. Der Gouverneur der Kolonie hielt an niedrigen Steuern fest und verzichtete auf die Einführung von Zöllen. Im Jahr 1978 lag der Spitzensatz der Einkommenssteuer in Großbritannien bei 83 Prozent und in den Vereinigten Staaten bei 70 Prozent. In Hongkong hingegen wurden auf Kapitalerträge und Erbschaften keine Steuern erhoben, und der Steuertarif betrug für alle Arbeitseinkommen 15 Prozent. Dass Hongkong »der letzte wirklich kapitalistische Ort auf der Erde« war, lag nach Einschätzung des Leiters der örtlichen Handelskammer daran, dass die Kolonie den Sirenengesängen der Entkolonialisierung widerstanden hatte.39
Als Friedman die Szenen für Free to Choose drehte, war er eigentlich aus einem anderen Anlass in Hongkong: Die Kolonie war Veranstaltungsort der alle zwei Jahre stattfindenden Versammlung der Mont Pèlerin Society. Diese Einrichtung, die der österreichisch-britische Ökonom Friedrich Hayek im Jahr 1947 gegründet hatte, um der Bedrohung durch den schleichenden Vormarsch des Sozialismus und des Wohlfahrtsstaats zu begeg38nen, war ein privater Klub von Intellektuellen, Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten. (Friedman zählte zu den Gründungsmitgliedern und war Anfang der siebziger Jahre Präsident der Gesellschaft.) In den fünfziger Jahren begannen die Mitglieder, sich als »Neoliberale« zu bezeichnen.40 Es gibt verschiedene Definitionen für den Begriff, aber in diesem Buch werden mit der Mont Pèlerin Society (oder verwandten Denkfabriken) assoziierte Personen als Neoliberale bezeichnet.
Unter den Neoliberalen waren Intellektuelle mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen, die jedoch durch die Überzeugung geeint wurden, dass der Kapitalismus im Zeitalter der Massendemokratie vor der Demokratie geschützt werden musste. Die Bewegung lässt sich in mehrere Hauptgruppen unterteilen. Jene, die hier von besonderem Interesse für uns sind, identifizierten sich mit dem Libertarismus. Der Libertarismus umfasst verschiedene Denkschulen und Tendenzen, die jedoch alle die Überzeugung teilen, dass die Aufgabe des Staates darin besteht, den Markt zu schützen, während es nicht seine Funktion ist, Eigentum zu besitzen, Ressourcen zu verwalten, Unternehmen zu leiten, Infrastrukturen bereitzustellen oder die Bürger mit Gesundheitsdienstleistungen, Wohnungen, Strom oder Wasser zu versorgen. Die Hauptaufgaben des Staates sind die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit sowie der Schutz des Privateigentums und der Unverletzlichkeit von Verträgen. Wie wir sehen werden, ist der wichtigste Unterschied jener zwischen denen, die an die Notwendigkeit eines Minimalstaats glauben (sie werden manchmal als »Minarchisten« bezeichnet, ein Kofferwort aus »minimal« und dem griechischen archía, »Herrschaft«), und denen, die glauben, es sollte überhaupt keinen Staat geben (die Anarchokapitalisten).41
Es muss für die Mitglieder der Mont Pèlerin Society leicht gewesen sein, sich in Hongkong zu verlieben, als sie sich im 39Jahr 1978 dort versammelten. Das Wetter war angenehm, und der Himmel war noch nicht von den Abgasen der Kohleöfen in Shenzhen verschleiert. Die Konferenzteilnehmer logierten in zwei der luxuriösesten Hotels der Stadt, dem Excelsior und dem Mandarin.42 Das Excelsior, ein spektakulärer Turm mit mehr als vierzig Stockwerken und abgeschrägten Kanten, stand auf der »Parzelle Nr. 1« – auf dem ersten Stück Land, das versteigert worden war, nachdem die Briten die Insel in Besitz genommen hatten. Das Mandarin war das erste Fünfsternehotel der Stadt und das erste Hotel in Asien, in dem sämtliche Zimmer über eine Badewanne und ein Durchwahltelefon verfügten.43 Es war ein derart ikonisches Ziel für den internationalen Jetset, dass ein Journalist später scherzte, in der Hotellobby bekomme man genug brisante Informationen zu hören, »um eine politische Insiderkolumne aus London zu schreiben«.44
Beide Hotels gehörten dem britischen Unternehmen Jardine Matheson. Die Firma, auch bekannt als Jardines, hatte zu den ersten Handelsgesellschaften Hongkongs gezählt und in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts Opium an die Chinesen verkauft. Später hatte sie sich auf Einzelhandel, Gütertransport und Gastgewerbe verlegt. Jardines hatte bereits früh Geschäfte in der Volksrepublik gemacht (das Unternehmen hatte dort 1979 erste Joint-Ventures gegründet) – und es war frühzeitig wieder ausgestiegen, um seine Operationsbasis nach Bermuda zu verlegen, wo der Steuersatz bei attraktiven null Prozent lag.45 Zwei Jahre nach der Konferenz der Mont Pèlerin Society erlangte Jardines unter dem Namen »Noble House« Berühmtheit: Dieses Unternehmen stand im Mittelpunkt von James Clavells gleichnamigem Roman – einer 1200 Seiten starken und »vier Pfund schweren Liebeserklärung an Hongkong« –, der im Jahr 1981 eine halbe Million Käufer fand und monatelang die Bestsellerliste der New York Times anführte. »Das übervölkerte Hong40kong, wo außer den Superreichen alle Einwohner auf Tuchfühlung miteinander leben, ist eine Metapher für die moderne Welt«, schrieb ein Rezensent.46 Die National Review bezeichnete das Buch als ein »Atlas Shrugged der Achtziger« und lobte die Verherrlichung von kapitalistischem Wettbewerb und Individualismus.47 Clavell dürfte erfreut gewesen sein – er schickte eine Kopie mit einer freundlichen Widmung an Ayn Rand, »die Göttin des Marktes«.48NBC verarbeitete Noble House1988 zu einer vierteiligen Fernsehserie, in der Pierce Brosnan einen »Unternehmensleiter der Spitzenklasse« oder Tai-pan spielte, der aus dem Penthouse von Jardine House auf die Konkurrenz herabblickte. Town & Country bezeichnete Hongkong als »faszinierendste Boomtown der Gegenwart«.49
Die Landung am Flughafen Kai Tak war ein denkwürdiges Erlebnis. Die Landebahn liegt auf einer künstlichen Landzunge, die sich von der dicht besiedelten Halbinsel Kowloon ins Meer erstreckt – das Brooklyn von Hongkongs Manhattan. Während im Sinkflug der Magen in den Bauch hinabgedrückt wurde, konnten die Passagiere in die Fenster der mehrstöckigen Wohn- und Fabrikgebäude schauen, in denen sich die unablässig wachsende Bevölkerung der Stadt drängte. Um den Zustrom von Neuankömmlingen in die illegalen Siedlungen zu bewältigen (und nach gewalttätigen Protesten im Jahr 1967 die sozialen Forderungen der Bevölkerung zu erfüllen), hatte die Regierung der Kolonie begonnen, Sozialwohnungen zu bauen; es gab bereits ein öffentliches Bildungswesen und eine grundlegende medizinische Versorgung. Von 1970 bis 1972 stiegen die Staatsausgaben um die Hälfte.50 Im Jahr 1973 lebte fast ein Drittel der 4,2 Millionen Einwohner in Sozialwohnungen.51 Dies war einer der vielen Bereiche, in denen Hongkong alles andere als ein perfektes Modell des Libertarismus war. Der von mehreren Zeitungen publizierte Kolumnist John Chamberlain schrieb im Jahr 197841aus der Kronkolonie, dass es »für einige Mont-Pèlerin-Puristen schmerzhaft war, bei ihrer Versammlung aus einem Vortrag zu erfahren, dass es in Hongkong einen Mietendeckel und zahlreiche Sozialwohnungen« gab.52
Wesentlich größeren Anlass zur Sorge bot jedoch die ungewisse Zukunft Hongkongs. Der 99-jährige Pachtvertrag für die New Territories würde in weniger als zwei Jahrzehnten, im Jahr 1997, auslaufen. Der koloniale Status wirkte von Jahr zu Jahr anormaler. Im Lauf des Jahrhunderts hatte Großbritannien die Kontrolle über seine Überseegebiete abgegeben, beginnend mit den »weißen Dominions« Kanada, Australien und Neuseeland. In Indien, dem wertvollsten Besitz des Empire, war ab 1920 eine gewählte nationale Regierung für zahlreiche innere Angelegenheiten zuständig. Im Jahr 1947 wurde Indien endgültig in die Unabhängigkeit entlassen, und bald folgten andere Länder in Asien und Afrika. Mitte des 20. Jahrhunderts schwoll die Zahl der neuen souveränen Staaten deutlich an. Die meisten britischen Kolonien in Afrika und der Karibik erlangten in den Sechzigern die Unabhängigkeit. Ende der siebziger Jahre war Hongkong am Firmament der europäischen Kolonialreiche nicht länger ein Stern unter vielen, sondern einer der letzten Satelliten in der Ära des postkolonialen Nationalismus. Hongkong lebte »an einem geborgten Ort von geborgter Zeit«, wie es so schön hieß.53
Die Neoliberalen waren besorgt. Würden Maos Erben der Gans, welche die goldenen Eier legte, den Hals umdrehen? China ließ bereits im Jahr 1971 seine Absichten erkennen, als es die Vereinten Nationen dazu bewegte, Hongkong aus der Liste der Kolonien zu streichen.54 Damit wollten die Chinesen sagen, dass Hongkong stets zum chinesischen Hoheitsgebiet gehört hatte und wieder nach China zurückkehren würde. Hongkong war als Ort irgendwie fehl am Platz:55 eine Kolonie im Zeitalter 42der Nationalstaaten und ein winziges Territorium in der Ära der Großmächte. Dennoch sahen die Neoliberalen in Hongkong einen Vorboten der Zukunft. »Anstatt ein Anachronismus zu sein, der ins 19. Jahrhundert gehört«, schrieb Chamberlain über die Konferenz, sei Hongkong für die Neoliberalen etwas, »an dem man festhalten und das erweitert werden sollte«.56 Aber wie konnte man das bewerkstelligen? War es möglich, in einer Zeit, in der breiter Konsens darüber bestand, dass die Entkolonialisierung unumgänglich war, das Hongkonger Experiment mit dem kolonialen Kapitalismus auszuweiten?
Die Mitglieder der Mont Pèlerin Society waren gekommen, um Hongkong zu preisen, aber viele wollten auch seine Essenz in ihrem Gepäck hinausschmuggeln, bevor das in ihren Augen unmittelbar bevorstehende Ende kam. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entwickelten Friedman und seine Mitarbeiter ein »tragbares Hongkong«, eine Miniaturversion, die von allen inneren Widersprüchen, jeglicher Komplexität und allen kulturellen und Klassenunterschieden befreit war. Sie verwandelten es in ein mobiles, nicht ortsgebundenes Muster, das überall angewandt werden konnte. Als Modellzone schien Hongkong eine Möglichkeit zu eröffnen, den Widersprüchen und Zwängen der seit Mitte des 20. Jahrhunderts gewachsenen Demokratie zu entkommen. Im Jahr 1967, auf dem Höhepunkt der antikolonialen Rebellion, als der Nationalstaat noch den Horizont der Befreiung darstellte, hatte Che Guevara »zwei, drei, viele Vietnams« gefordert. Im Jahr 1979 wandelte Reason die Parole augenzwinkernd in einen Aufruf zur Beseitigung der Nationalstaaten ab und forderte »zwei, drei, viele Hongkongs«.57
Die Übernahme Hongkongs durch die Briten im Jahr 1841 war ein »kommerzieller Erwerb« gewesen, wie es ein Zeitgenosse ausdrückte.58 Seit damals hatte Großbritannien versucht, in der Kolonie einen möglichst vollkommenen Kapitalismus zu errichten. Das bevorstehende Ende des Empire wurde ebenfalls als Geschäft betrachtet. Einige britische Politiker betrachteten die verbliebenen Kolonien wie Berater, die es mit einem in finanzielle Schieflage geratenen Unternehmen zu tun haben: Sie versuchten, den Wert des Anlageguts zu bestimmen, und warfen Ballast ab. Mitglieder der Regierung hielten es mit Blick auf die Haushaltsstabilität für sinnvoll, die verbliebenen Territorien in die Unabhängigkeit zu entlassen.59 Andere, darunter Thatcher, fühlten sich dem Empire sowohl sentimental als auch strategisch verbunden.
Der erfolgreiche Krieg gegen Argentinien um die fernen Falkland-Inseln hatte Thatcher breiten Rückhalt in der Bevölkerung gesichert, und Hongkong war ein leistungsfähiger Außenposten Großbritanniens. Als sich die Premierministerin im Jahr 1982 erstmals mit der Zukunft der Enklave beschäftigte, schien ihr Hongkong ein »wertvoller Besitz« zu sein, der die Umstrukturierung des Empire überleben sollte.60 Wie wäre es, fragte sie, wenn man Hongkong wie eine Firma behandelte?61 In der modernen Aktiengesellschaft wurde die Eigentümerschaft von der Kontrolle getrennt. Wenn China die Souveränität über Hongkong wiedererlangte, aber Großbritannien das Territorium weiterhin verwaltete, dann wäre die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) der Aktionär und Großbritannien der Geschäftsführer. Die Briten würden dafür sorgen, dass man weiterhin vertrauensvoll mit Hongkong Handel treiben konnte, während die Chinesen die Befriedigung haben würden, die territoriale Inte44grität ihres Staatsgebiets wiederherzustellen.62 Thatcher hoffte, sie würden den Pachtvertrag für die New Territories verlängern. Sie argumentierte, die britische Verwaltung habe sich »so gut mit dem chinesischen Charakter vertragen«, dass die Chinesen möglicherweise »wie ein Vermieter, der das Grundeigentum hat, den Mietvertrag verlängern oder uns die Verwaltung überlassen würden«.63 Eine weitere Option, die in Erwägung gezogen wurde, war ebenfalls aus dem Geschäftsleben entlehnt: ein »Rückmietverkauf«, bei dem Hongkong an China zurückgegeben, anschließend jedoch erneut an Großbritannien verpachtet würde.64
Die Chinesen lehnten diese Vorschläge ab. Eines der Ziele der chinesischen Führung war es, den historischen Makel des Verlusts von Gebieten an andere Mächte zu tilgen.65 Doch die Chinesen wollten auch verhindern, dass die Kolonie ihren Nutzen verlor. China war wirtschaftlich auf Hongkong angewiesen. Obwohl sie von westlichen Beobachtern der »Zweiten Welt« zugerechnet wurde, hatte sich die Volksrepublik seit Anfang der sechziger Jahre von der Sowjetunion distanziert und ihre wichtigsten Handelspartner im Westen gefunden. Ein Großteil dieses Handels wurde über Hongkong abgewickelt.66 Für die Chinesen war wichtig, dass auch nach der Übergabe weiterhin Kapital und Güter durch das Territorium flossen und die Wirtschaft der Volksrepublik über einen inoffiziellen Kanal versorgten. Hongkong war Chinas Luftschleuse – die Offenheit der britischen Kolonie für die Weltwirtschaft ermöglichte es dem Land, sich weiterhin selektiv von ihr abzuschotten. Und das musste auch so bleiben, sobald man die Kontrolle über das Territorium wiedererlangt hatte.
Eine der ersten Herausforderungen für die Chinesen bestand darin, die Hongkonger Kapitalisten zu beschwichtigen, die »nervös nach den Notausgängen schielten«.67 Anderthalb Jahrhun45derte lang hatte die britische Kolonialregierung den Balanceakt bewältigen müssen, die Wirtschaftsgemeinde bei Laune zu halten und auf ihre Forderung nach Teilhabe an der politischen Macht einzugehen, ohne die Tür für die Massen zu öffnen. So war ein informelles System von Verhandlungen und ungeschriebenen Ansprüchen entstanden; gleichzeitig waren ausgewählte Angehörige der Elite – treffend als »the Unofficials« bezeichnet – direkt mit Posten in der Scheinregierung betraut worden.
China und die Kolonialbehörden vereinbarten, unter der neuen Verwaltung möglichst viele kapitalistische Freiheiten in der Verfassung zu verankern. Ministerpräsident Zhao Ziyang gab früh die Zusage, China werde das Territorium als Freihafen und internationales Finanzzentrum erhalten.68 Deng Xiaoping, der in der Parteiführung den Ton angab, stellte im Jahr 1979 klar, dass Hongkong nach der Eingliederung in die Volksrepublik in eine »Sonderverwaltungsregion« verwandelt würde, der es freistehen sollte, »an ihrem kapitalistischen System festzuhalten, während wir an unserem sozialistischen System festhalten«.691984 wurde dies in einer gemeinsamen Erklärung Chinas und Großbritanniens schriftlich festgehalten; die Chinesen erklärten sich bereit, das politische System Hongkongs nach der Übergabe 50 Jahre lang unangetastet zu lassen, was bedeutete, dass China das Gebiet im Jahr 2047 vollkommen absorbieren würde. Der neue Regierungschef würde den Titel »Chief Executive« erhalten, ein aus der Unternehmenswelt entlehnter Begriff. Ein weiterer Hinweis auf Kontinuität war, dass die Hongkong and Shanghai Banking Corporation (HSBC), die in der Kolonie nur »die Bank« genannt wurde, im Jahr 1986 ein neues Hauptquartier in einem von Norman Foster entworfenen Gebäude bezog. Der 56 Stockwerke hohe Wolkenkratzer wurde von einem Journalisten als »gestrandete Ölplattform« beschrieben, doch wichtiger war, dass die Bank »im Herzen des Finanzbe46zirks eine Milliarde Dollar investiert hat, die sich nicht von dort wegbewegen werden«.70
Erleichtert wurden die Verhandlungen über die Übergabe der Kronkolonie durch die Entdeckung, dass die Führung der KPCh und die Wirtschaftsgemeinde Hongkongs etwas mit Milton Friedman gemein hatten: Beide Seiten gaben der wirtschaftlichen Freiheit Vorrang vor der politischen. Die Wirtschaftseliten waren die ersten Ziele einer »Einheitsfront«-Strategie für einen reibungslosen Übergang. Sie stellten 70 Prozent der Mitglieder des Komitees, das die Miniverfassung Hongkongs – das »Basic Law« – entwerfen sollte.71 Die wenigsten Entscheidungsträger hatten Interesse daran, die Demokratie auszubauen.72 Ein Wirtschaftsrepräsentant wurde mit der Aussage zitiert, Hongkong habe »in all den Jahren vom Mangel an Demokratie profitiert«; seiner Meinung nach war es genau diesem Mangel zu verdanken, dass in den fünfziger und sechziger Jahren die Einführung eines Mindestlohns verhindert werden konnte.73 Ein anderer Wirtschaftsboss nahm kein Blatt vor den Mund und erklärte, eine »verdorbene Demokratie« sei ein System, in dem »das Ganze der Summe seiner widerwärtigen Teile« entspreche.74 Jene, die sich ein gewisses Maß an lokaler Kontrolle wünschten, wurden an den Rand gedrängt; die Einwohner Hongkongs waren »lediglich Zuschauer ihres eigenen Schicksals«, wie es die Journalistin Louisa Lim ausdrückte.75
Den Kern des Hongkonger »Grundgesetzes« bildete eine für beide Seiten vorteilhafte Vereinbarung zwischen den einheimischen Wirtschaftsbossen und den neuen chinesischen Herrschern, die nahtlos an das frühere »lohnenswerte Bündnis« mit den Kolonialherren anschloss.76 Dies wurde klar, als das Basic Law im Jahr 1990 verabschiedet wurde: Es enthielt Bestimmungen zum Schutz einiger Merkmale des alten Hongkong mittels ausgeglichener Haushalte und niedriger Steuern. Ein Rechts47anwalt traf es gut mit der Beschreibung, die Regeln läsen sich »wie ein Auszug aus Milton Friedman«.77 Tatsächlich hatte das für den Verfassungsentwurf zuständige Komitee Arbeiten der Mont-Pèlerin-Mitglieder Rabushka und James M. Buchanan direkt zitiert.78
Das Basic Law war eine Offenbarung für die neoliberalen Intellektuellen.79 Sie hatten befürchtet, die Kommunistische Partei werde die Grundlagen der wirtschaftlichen Freiheit zerstören. Doch nun stellten sie fest, dass die KPCh und die Geschäftsleute Hongkongs dasselbe wollten: Rechtssicherheit, Bankgeheimnis, schwache Arbeitsschutzgesetze, Vertragssicherheit und eine stabile Währung. Die KPCh wirkte nicht länger wie eine Bedrohung der kapitalistischen Freiheiten, sondern eher wie ihr Hüter. Und die Chinesen waren innovativ. Thatcher wurde nicht hellhörig, als der chinesische Ministerpräsident ihr gegenüber erwähnte, Teile der Südküste würden in »Sonderwirtschaftszonen« umgewandelt, die ihren Außenhandel eigenständig entwickeln dürften, doch diese Randbemerkung sollte sich als bedeutsam erweisen.80 Die chinesischen Kommunisten würden den Briten etwas über die sich wandelnde Natur des Kapitalismus beibringen, und China verdankte seinen Aufstieg zur globalen Wirtschaftsmacht teilweise der Tatsache, dass es sich in eine Galaxie von Miniatur-Hongkongs verwandelte.
Das Hongkong der Joint Declaration und des Basic Law war ein sonderbares Tier. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Staat in einem Staat. Ein Völkerrechtsexperte, der versuchte, sich einen Reim auf dieses Gebilde zu machen, erklärte, Hongkong genieße mehr Autonomie als Provinzen oder andere Einheiten eines föderalen Staates, jedoch weniger als ein vollkommen ausgebildeter Nationalstaat. Der Jurist suchte in der Vergangenheit nach Analogien und verglich die Kronkolonie mit im 19. Jahrhundert entstandenen freien Städten wie Krakau oder mit den 48Schweizer Kantonen vor der Gründung der Eidgenossenschaft.81 Der eigentümliche rechtliche Status Hongkongs beinhaltete eine interne Selbstregierung, während es extern von Peking abhing. China sollte für die Verteidigung seines Territoriums zuständig sein, aber seine inneren Angelegenheiten einschließlich Geldpolitik, Besteuerung, Justiz und öffentlicher Sicherheit würde Hongkong selbst regeln. Außerdem würde es die Kontrolle über einen Teil seiner Außenbeziehungen behalten, darunter Einreise- und Einwanderungsverfahren. Peking erhob in Hongkong keinerlei Steuern, und der Status des Territoriums als Freihafen und internationales Finanzzentrum war gesetzlich festgeschrieben; dies schloss den freien Güter- und Kapitalverkehr ein. Unter der Bezeichnung »Hongkong, China« konnte es eigenständig bestimmte internationale Vereinbarungen insbesondere in den Bereichen Handel, Gütertransport und Luftverkehr schließen. Im Jahr 1986 trat Hongkong dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) bei, und in die Welthandelsorganisation wurde es Jahre vor China aufgenommen.82 Das Territorium genoss also wirtschaftliche Freiheit und rechtliche Selbstverwaltung ohne den Status der nationalen Unabhängigkeit.
Deng Xiaoping definierte die Regelung zuerst mit Blick auf Taiwan und später in Bezug auf Hongkong mit dem Slogan »Ein Land, zwei Systeme«.83 Wir haben uns an diese oft wiederholte Phrase gewöhnt, aber es ist erwähnenswert, dass sie tatsächlich sehr ungewöhnlich ist. Der Kalte Krieg, der von den späten vierziger Jahren bis in die Neunziger dauerte, wurde als Konflikt zwischen zwei Blöcken mit monolithischen Wirtschaftssystemen betrachtet. In dieser Vorstellung standen einander Kapitalismus und Kommunismus gegenüber, und nur eines der beiden Systeme konnte überleben. Die Vorstellung, ein Wirtschaftssystem ende an den nationalen Grenzen, lag auf der 49