Glückliche Jahre - Bernd Reutler - E-Book

Glückliche Jahre E-Book

Bernd Reutler

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Beschreibung

Ein glückliches Paar für viele glückliche Jahre. Und dann dieser völlig unerwartete und unerklärliche Schicksalsschlag: Die Partnerin wird zum schweren Pflegefall. Wie damit umgehen? Der Partner übernimmt die häusliche Pflege. Alles ist neu, alles ist anders. Als Ich-Erzähler schildern beide im Wechsel das gemeinsam Erlebte aus ihrer ganz persönlichen Perspektive. Sie hatten sich kennen gelernt beim Besuch der Première von Becketts rätselhaften, absurden Schauspiel "Glückliche Tage", das jetzt gewissermaßen zu ihrem Stück wird. Was im Stück absurd ist, wird in ihrem Leben ganz real, eine Art Lehrstück, das tief zu berühren vermag.

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Winnie: Wie lautet doch die wundervolle Zeile? Oh, flücht'ge Freuden - Oh, hm-hm währendes Weh. (Samuel Beckett, Glückliche Tage)

Auf dem Umschlag: Samuel Beckett, Glückliche Tage (Inszenierung: Bernd Reutler). Die im Text kursiv hervorgehobenen Zitate sind dem Schauspiel „ Glückliche Tage" von Samuel Beckett in der Übersetzung von Erika und Elmar Tophoven entnommen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

1

“Der Mann übernimmt die Deckung der materiellen Bedürfnisse seiner Frau; die Frau die Deckung der körperlichen Bedürfnisse ihres Mannes"- so steht es jedenfalls im Programmheft; ein ganz und gar prosaischer Kommentar zum hochartifiziellen Stück des Abends. Der Intendant des Zimmertheaters hatte - wie er es vor jeder Vorstellung zu tun pflegt - jedes Mitglied seiner anhänglichen Besuchergemeinde mit einem Händedruck, mit einer angedeuteten Umarmung oder gar mit Wangenküßchen rechts und links im neu gestalteten Foyer begrüßt. Sein Ausstattungsleiter hatte die Woche vor Spielzeitbeginn noch schnell dazu benutzt, den bescheidenen Vorraum völlig neu zu gestalten: Die Versatzstücke seiner etwas abenteuerlichen Dekoration waren die Gliedmaßen weiblicher Schaufensterpuppen; da ragte ein Bein waagerecht aus der Wand, und am großen Zeh war eine elektrische Kerze befestigt; da hing ein Beinpaar von der Decke, dessen Sterilität aber ins aufdringlich Sinnliche gewandelt war, indem ein schwarzer Büschel ziemlich schamlos die weibliche Scham imaginierte; da klebten rosige Plastikbrüste an der Decke, deren Warzen durch Glühbirnen ersetzt waren. All dies mochte der Einstimmung auf die bevorstehende Première dienen: Die Frau übernimmt die Deckung der körperlichen Bedürfnisse des Mannes.

Mein Stammplatz befand sich in der vorletzten Reihe, was bei der Größe dieses Kammertheaters so gut wie 1. Parkett bedeutete. Der Vorhang war schon geöffnet, eine Inszenierungsmode jener Jahre, da auch die Stücke dazu tendier ten, den Zuschauer mit einem geheimnislosen "Der Vorhang auf und alle Fragen geklärt" aller Illusion zu berauben. Das Stück dieser Eröffnungspremière aber war voller Rätsel, auch wenn das Programmheft besserwisserisch vorgab, der Rätsel Lösungen zu kennen. Ich hatte mir damals alle möglichen Theorien angelesen in der Hoffnung, der Lösung meiner höchst persönlichen Rätsel (wie ich zur werlte sollte leben) wenigstens ein bißchen näher zu kommen. Dabei hatte ich aber zunehmend das Gefühl, daß jedes Körnchen Wahrheit letztlich nur zu dem Sandhaufen beitrug, in dem ich schließlich versinken würde; mir schienen all diese Teilwahrheiten nicht unbedingt auf Sand gebaut, sondern sich langsam zu einem bedrohlichen Sandhaufen aufzutürmen, der mich schließlich übersteigen würde, so daß ich unter ihm ersticken müßte - ganz so wie es für jene Hauptperson zu befürchten stand, die schon jetzt auf der Bühne zu erkennen war, wie sie bis zur Hüfte in jenem berühmten Sandhaufen steckte, der jedem passionierten Theatergänger ebenso vertraut ist wie das vom selben Metaphernerfinder geforderte einsame, kahl starrende Bäumchen, das in allerlei Gestalt (und sei es in Form eines Kleiderständers) aus dem Bühnenboden wächst. Das Stück, zu dessen Aufführung der Vorhang also schon geöffnet war, spielt - so etwa las ich im Programmheft - nach der apokalyptischen Katastrophe; die Apokalypse des Unbewußten, die Gesamtheit der von der Wissenschaft entwickelten ideologischen Schrecken ist ak-- tuell geworden. Was zunächst ganz profan ins Auge sticht, ist, daß die weibliche Hauptfigur sexuell unzugänglich ist, da sie nun einmal in diesem verdammten Sandhaufen steckt mitten in einer ungeheuren schattenlosen Wüste. So ist es nichts mit der Erfüllung ihrer Pflicht, der Deckung des körperlichen Bedürfnisses ihres Mannes, und es würde für ihren Mann schon zu einer Art Sisyphosarbeit ausarten, zu ihrem verborgenen Tunnel einen Tunnel graben zu wollen, der doch nur sogleich wieder zugerieselt würde, womit dieser mysteriöse Sandhaufen zugleich als eine überdimensionierte Sanduhr erscheint, die nichts anderes anzeigt als den vergeblichen Wettlauf mit der Zeit. Gleich wird die Frau ihren Mann mit ihrem zwanghaften Redefluß zu entschädigen suchen, von dem wir als Zuschauer zwei Stunden schlürfen werden. Dabei wird sie ständig in ihrer Tasche herumkramen, um uns unser kulturelles Erbe triumphierend zu demonstrieren: Zahnbürste, Lippenstift und Taschenspiegel - Exemplare jener suchtbildenden Verbrauchsgüter also, die diese uns so nahe stehende Heldin zur idealen Konsumentin machen. So geht das jeden Tag, die Verhältnisse werden immer schlechter, es gibt immer weniger Trost, und den kommerzialisierten Tröstungen verfallen, wird diese Frau den Teufelskreis der Sucht nicht zu durchbrechen vermögen. Soll ihr der Sand also am Ende ruhig bis zum Halse stehen und irgendwann, wenn diese Vorstellung längst beendet ist, ihr das Maul stopfen, um ihren Redefluß zu enden. Mag ihr Kerl immer wieder den Sandhaufen viehisch hinauf zu robben versuchen, um ihn doch immer wieder nur als ihn verhöhnende Rutschbahn zu erleben, mit ihm ist sowieso nichts mehr los, dem impotenten Rentner. Dieser Mann, der die Wünsche seiner Frau als Konsumentin nicht mehr erfüllen kann, dieser Mann hat damit den Ehevertrag gebrochen, nicht länger ist sie verpflichtet, sich ihm zu unterwerfen und ihn zu befriedigen. Hier werden alle Illusionen endlich begraben, denn was vorher war, was die beiden einmal verbunden haben mag, war ja nicht Liebe, sondern bloß Krämerliebe, Liebe als Einzelhandelsware. Uff! Ich hätte diese Gebrauchsanweisung zur Inszenierung (auch so eine Mode jener längst vergangenen Jahre des aufklärerischen Hinterfragens, insistierend und penetrant) besser nicht bis zum letzten, immer besonders dringlichen Klingelzeichen, das den Vorstellungsbeginn ankündigt, lesen sollen, zumal ich als Kritiker mich nicht von die Inszenierung flankierenden Maßnahmen beeindrucken lassen sollte. Aber auch diese Lektüre faszinierte mich wie all jene Artikel, die mir das Leben und besonders das Verhältnis zwischen Mann und Frau erklären wollten. Und auch hier vermeinte ich, das eine und andere Körnchen Wahrheit zu finden, das - so stand in meinem Zustand zu befürchten - zu dem Sandhaufen beitragen würde, der mir in meiner Wüste entweder sehr schnell wieder spurlos verweht oder mich aber unter sich begraben würde. Da aber entdeckte ich sie, die eigentliche Protagonistin dieses Abends, nein, meine Protagonistin jedes Abends, an dem sie eine Première in diesem Haus besuchte. Wäre sie Schauspielerin gewesen, so hätte man sicher von ihrer unerklärlichen Bühnenpräsenz geschwärmt, diesem Phänomen, das gerade nicht auf Extravaganz beruht, einem überspannten Umherschweifen außerhalb der Normen, einer Verstiegenheit, die alle Normalität zu übersteigen sucht, sondern auf der kaum beschreibbaren Unauffälligkeit der Mittel; wahre Bühnenpräsenz setzt eben gerade nicht auf die auftrumpfenden Mätzchen des outrierenden Mittelmaßes. Sie setzte sich auf ihren Stammplatz genau in der Mitte des Zuschauerraumes, aber es war nicht dieser räumliche Mittelpunkt, der sie für mich zur zentralen Gestalt machte, mochte es auf der Bühne auch noch so spannend, erhaben oder komisch, dramatisch oder lehrreich zugehen, für mich gingen alle emotionalen Schübe, die mich innerlich so bewegten, daß es mir schwer fiel, ruhig zu sitzen, allein von ihr aus, wozu es genügte, daß ich meinen Blick auf ihren durch den sportlichen Haarschnitt entblößten Nacken fixierte. Sie sah und hörte konzentriert zu, nicht die geringste Bewegung signalisierte irgendeine Ablenkung, und für mich bedurfte es keiner Regung von ihr, um dennoch diese ungeheure Präsenz zu empfinden, die ihr eigen war. Sie hätte genauso auf der Bühne dasitzen können, und alles noch so dramatische Geschehen um sie herum wäre unscheinbare Nebenhandlung geblieben; die bewegendsten und turbulentesten Abläufe hätten doch nur den starren Rahmen abgeben können, in dem sie in all ihrer Ruhe die einzige wirklich lebendige, die bewegendste Figur geblieben wäre.

"Chance für fixen Jungen - heller Knabe gesucht" - so höre ich den Mann auf der Bühne seiner Frau aus einer Zeitung, die er sonst gegen das gnadenlose Sonnenlicht auf seiner schrundigen Glatze ausgebreitet hat, die Stellenanzeigen vorlesen, womit er ihr wohl eine Verheißung suggerieren möchte, die angesichts der absurden Situation geradezu grotesk ist. Aber bin ich nicht selbst mit meinen Gedankenspielereien, meinen Phantasien, meinen wachen Abendträumen gerade dabei, in mir einen solchen fixen Jungen (wenn auch nicht unbedingt einen hellen Knaben) zu sehen, der sich dieser - wenn auch aus ganz anderen Gründen unerreichbaren - wunderbaren Protagonistin als Partner anzudienen wünscht, und sollte ich dabei auch nur eine ganz bescheidene Nebenrolle spielen dürfen. Würde diese Person auf der Bühne doch endlich bis zum Hals in ihrem ominösen Sandhaufen stecken, dann wäre die Vorstellung gleich zu Ende, und ich könnte meiner Protagonistin die Schlußzeilen des Stücks ins Ohr summen: "Lippen schweigen, 's flüstern Geigen..." - Nein, sie würde solchen Kitsch mit einem Hohnlächeln quittieren. Sie ist Krankengymnastin, eine durch und durch sportliche Frau und ganz sicher kein gefühliges Seelchen. Ich werde mir etwas anderes einfallen lassen müssen. Warum sie nicht am Ausgang (es gibt nur diese eine schmale Saaltür) erwarten und zu einem Glas Wein einladen: Ich würde so gern mit Ihnen über Stück und Aufführung sprechen. Schließlich bin ich Theaterkritiker, das wissen alle hier im Saal, und warum sollte es sie nicht reizen, meine Meinung schon zu erfahren, noch bevor sie im Feuilleton erscheint, privatissime et gratis gewissermaßen, das müßte ihr doch schmeicheln! Und sie ging darauf ein. Das ist jetzt zwanzig Jahre her.

Wir saßen nach der Premiere zusammen bei einem Glas Wein; sie war meiner Einladung so umstandslos gefolgt, als kennten wir uns schon lange. Zum ersten Mal konnte ich ihr Gesicht frontal aus nächster Nähe betrachten.

"Diana - ein schöner Name, klangvoll und ausdrucksstark. Der Name paßt zu Ihnen. Sie haben etwas von jener sportlichen Jägerin. Diana, Beschützerin der Schwachen - Sie strahlen Festigkeit und Optimismus aus, ich glaube, Ihre Patienten fühlen sich gut aufgehoben bei Ihnen."

"Danke für die positive Kritik. Mit was für einer Rolle könnte man mich denn besetzen?"

"Jedenfalls nicht mit einer solch inaktiven Rolle; das heißt, die Protagonistin dieses Abends war ja keineswegs untätig, aber ihr Aktivismus ist sinnlos. Diana hingegen ist eine entschlossene Göttin. Auch wenn es dabei meist um die Verteidigung der Jungfräulichkeit geht."

"Halten sie mich etwa für eine Feministin, sehe ich so aus?"

"Diana galt auch als Todesbringerin der Frauen, eine Feministin war sie insofern kaum."

"Nein, eine so düstere Rolle spiele ich wahrlich nicht. Obwohl - wir wetten in meiner Praxis tatsächlich, welche Patienten das nächste Quartal nicht mehr erleben werden. Das ist makaber, nicht wahr? Aber so helfen wir uns hinweg über unsere depressiven Anwandlungen. Wir liegen mit unseren Prognosen übrigens ziemlich oft daneben, gottseidank."

"Oder Dank Ihrer Professionalität."

"Vielleicht. Mag schon sein."

"Ich kenne einige Ihrer Patienten ; sie sind alle des Lobes voll. In der Antike hätte man Ihnen zum Dank Tempel errichtet. Kennen Sie Ihre Heiligtümer?"

"Ich verstehe nicht..."

"Darf ich Sie zu einer Erkundungsreise einladen, zu einer Rundreise ums mare nostrum?"

"Ich verstehe immer weniger."

"Bei den Griechen war Ihr Name Artemis. Wir beginnen unsere Reise in Kleinasien, in Didyma, wo Leto Sie von Zeus empfangen hat."

"Aha."

"Gleich nebenan bestaunen wir eines der sieben Weltwunder, Ihren Tempel in Ephesos, wo Sie geboren wurden."

"Das ist mir neu."

"Womöglich wurden Sie aber auch auf Delos geboren, kurz vor Ihrem Zwillingsbruder Apollon. Vielleicht ist Ihr Geburtsort aber auch Syrakus. Also müssen wir auch dorthin. Dann heißt es zurück nach Griechenland, nach Delphi, wo Sie mit Pfeil und Bogen den Riesen Tityos, der Ihre Mutter vergewaltigen wollte, erlegt haben. Von dort geht es nach Kreta, wo…"

„Genug, genug, Sie machen mich mit Ihrer Rundreise ganz schwindelig!“

„Darf ich Sie an eine Ihrer Geschichten erinnern?“

„Was wissen Sie von meinen Geschichten?“

„Sie können sehr grausam sein. Sie haben Niobe getötet, weil sie sich rühmte, mehr Kinder zu haben als Ihre Mutter Leto. Das Schlimmste aber: Sie haben den Jüngling Actaion getötet. Purpurglut, wie Wolken sie eigen, die von der Sonne Widerschein überstrahlt, wie sie eigen der Röte des Morgens, färbte Dianas Gesicht, da sie ohne Gewand sich erschaut sah. Actaion hatte sich auf der Jagd verirrt und war zu der Grotte gelangt, wo Diana nackt badete. ´Jetzt erzähle, du habest mich ohne Gewande gesehen, wenn du noch zu erzählen vermagst`. Sie drohte nicht weiter, sondern verwandelte Actaion in einen Hirsch. So erspähen ihn die eigenen Hunde. Rings umdrängen sie ihn, in den Leib die Schnauzen ihm tauchend, reißen im trügenden Bild des Hirschs ihren Herrn sie in Stücke. Erst als in zahllosen Wunden, so sagt man, geendet sein Leben, war ersättigt der Zorn der köcherbewehrten Diana."

"Das ist ziemlich gruselig."

"Und doch möchte auch ich Sie so sehen: nackt, in Didyma, in Ephesos, auf Delos, in Syrakus und Delphi und auf Kreta. Und jetzt können Sie mich zerfleischen lassen."

"Wann reisen wir?"

"Der frühe Herbst ist eine gute Reisezeit."

Mit dieser Reise begannen unsere glücklichen Jahre. Wann sprechen wir von einer glücklichen Zeit? Wenn es gelungen ist, eine Lücke, eine Leerstelle auszufüllen mit etwas Wünschenswertem? Ich stelle mir vor, wie dieses Wort entstanden sein könnte. Welche Laute geben wir von uns, wenn uns etwas gelungen ist? Das Glück ist schwer in Worte zu fassen, vielleicht nur mit dieser Lautmalerei, einem glucksenden Naturlaut. Letztlich kann ich nur umschreiben, warum ich diese Jahre glücklich nenne. Mir war bis zu dieser Reise rätselhaft, was ich eigentlich wollte, da war eine Lücke, eine Leere, die ich nicht auszufüllen vermochte, ich wußte nichts, das mir hätte wünschenswert erscheinen können. Diana war für mich alles andere als eine Lückenbüßerin. Aber mit ihr lösten sich meine Gedanken um Lücke und Leere in Nichts auf. Wir waren uns in allem einig, ich war nicht mehr allein. Vielleicht bedeutet Glück nicht nachdenken zu müssen, was nicht heißt, gedankenlos zu sein, aber das Denken denkt nicht über das Denken nach. Dianas Grundsatz war, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, und so war sie konsequenterweise auch Agnostikerin, weil sie nicht glauben mochte, daß da ein unsichtbarer Unbekannter wäre, der uns wichtig nähme. Diana konnte die Dinge wahrnehmen, ohne alles sofort auf sich zu beziehen, sie war auf eine besondere Weise objektiv, das heißt, sie nahm wahr und in sich auf, ohne gleich davon profitieren zu wollen, sie beließ den Menschen und den Dingen ihr Eigenleben, sie vereinnahmte nichts und niemanden; sie selbst, ihr Ego, blieb an der Peripherie, im Zentrum stand immer das Gegenüber, und gerade darin manifestierte sich ihr Selbstbewußtsein, das sich nicht ständig selbst bestätigen oder bestätigen lassen mußte. Es war wohl ihre Selbstgewißheit, die so ansteckend auf mich wirkte, daß Lücke und Leere aus meinem Bewußtsein gestrichen wurden, und daß ich nunmehr gewiß wahr, ganz ich selbst zu sein. Warum sich dauernd selbst befragen, in Frage stellen? Diana haßte das Modewort "hinterfragen", da sie wohl ziemlich genau spürte, daß sich hinter der Schaufassade intellektueller Ernsthaftigkeit doch nur Wichtigtuerei verbarg. Dann wäre eine Vorbedingung von Glück womöglich Oberflächlichkeit? So leicht sollte Glück zu erlangen sein? Haben wir nicht gelernt, daß wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorzustellen haben, jenen Unglücksraben, der glücklos den Stein hinaufwälzt, jenen Sturkopf, der zum Versager verdammt ist? Diana dachte nicht daran, gegen das Unmögliche anzurennen. Ich erkannte in diesem Verhalten ihre Bescheidenheit, sie überforderte sich nicht, und sie erwartete von niemandem mehr, als er zu geben fähig war, und so vermochte sie es, jeden anzuerkennen, was sie für alle liebenswert machte. Nun ließe sich süffisant fragen, ob es nicht Anzeichen einer Berufskrankheit sei, wenn sich die Krankengymnastin Diana so stark aufs Körperliche konzentriere und dabei wenig Verständnis fürs Metaphysische zeige. Ich glaube, daß für sie Glücksempfinden tatsächlich etwas ganz Körperliches war. Jede Mißstimmung überwand sie durch Bewegung, der Körper in Bewegung bedeutete für sie Wohlempfinden. Sie stellte ihre Leiblichkeit nicht in Frage, der Körper und die Körperlichkeit waren etwas Schönes. Sie war ein glück licher Mensch, weil Leibfeindlichkeit ihr fremd war. Sie konnte ihren Körper genießen, und körperlicher Genuß machte sie glücklich. Sie befreite mich vom Hirnigen, lenkte mich hin zum Erfassen mit buchstäblich jeder Faser, ohne daß wir dabei verblödeten. Sie war im besten Sinn eine Schülerin Epikurs, indem für sie die Gestaltung der praktischen Lebensführung im Mittelpunkt stand, und für sie, die Kinesotherapeutin, hatten nur die physikalischen Bedingungen Bedeutung, über ihr berufliches Interesse hinaus eine Physik, für die feststeht, daß sich die Welten (nicht nur die eine, unsere Welt) in unendlicher Zahl entwickeln, indem sich die Atome, außer denen nichts als der leere Raum existiert, zusammenballen und wieder auflösen. In den Zwischenräumen mögen die Götter selig wohnen, ohne sich um Welt und Menschen weiter zu kümmern. Diese Erkenntnis befreit von der Furcht vorm Tod, und diese Befreiung ist Voraussetzung für menschliche Glückseligkeit.

Diana war eine glückliche Frau. Sie war es, die mir die glücklichen Jahre schenkte.

2

Ich war eine gestandene Frau, kannte keinerlei Beschwerden und konnte so das Gejammere, das allgemeine große Gestöhne wirklich nicht verstehen, ich stand fest und unermüdlich auf meinen Beinen und half allen auf die Beine, die es wirklich schlimm erwischt hatte, es war mein ganzer Stolz, auch schwere Fälle in erstaunlich kurzer Zeit wieder auf die Beine gebracht zu haben, obwohl mir der privatversicherte Dauerpatient sicher mehr eingebracht hätte als jene, die sich dank meiner Hilfe als Stehaufmännchen entpuppten. Aber gerade diese Stehaufmännchen in kürzester Frist förderten mein Renommee, indem sie die Inkarnation dessen darstellten, was eigentlich kaum zu glauben war, kaum für möglich gehalten wurde, eine Art wundersam Wiederauferstandene also, die als enthusiastische Multiplikatoren, als Missionare meiner Praxis gewissermaßen, nun überall herumliefen, die Quelle des Heils zu verkünden, so daß der Patientenstrom beständig anschwoll. Ich war die erfolgreiche Kinesotherapeutin, die erste Adresse der Stadt, und mehr und mehr die Managerin meines "Betriebs" - insofern auch ökonomisch betrachtet eine gute Partie. Aber noch liebte ich die Unabhängigkeit und das Alleinsein nach getaner Arbeit. Ja, ich mußte vordergründig als erfolgsorientiert und vor allem als sehr körperbewußt erscheinen, das brachte der Beruf so mit sich. Aber ich hielt es zugleich mit dem lateinischen Motto, nach dem in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist sein möge. Also war ich auch, was meine Freizeitgestaltung angeht, zielstrebig und konsequent. Ich besuchte die Einführungsvorträge zu den verschiedenen Konzertreihen, ich absolvierte ein Fernstudium der Kunstgeschichte, hörte regelmäßig im Auto die Kassetten ab und schickte dem Veranstalter meine Hausaufgaben. Vor allem aber war ich eine fleißige Theatergängerin und sorgte mit einem Premièrenabo dafür, daß ich stets mit der Elite der Stadt zusammentraf. Ich gestehe, daß dies für mich auch ein gesellschaftliches Muß war. Warum also, wenn sich die Gelegenheit bot, nicht einen der Meinungsführer der Stadt kennenlernen, zumal wenn er so jung und durchaus ansehnlich war? Ich hatte das Programmheft zu dem Stück, nach dessen Aufführung wir beisammen saßen, in der Pause durchgeblättert und war von dem intellektuell aufgeblähten Jargon zugegebermaßen reichlich verwirrt, zumal das Stück selbst mich bis dahin ebenfalls recht ratlos gemacht hatte: Da waren zwei Krüppel, die eine gewissermaßen querschnittsgelähmt, der andere eine Art Paraleptiker, die ich beide mit meinen Mitteln auch nicht auf die Beine bringen würde. "Die Verpflichtung zum Koitus widert die Frau an, aber sie fühlt sich schuldig, weil sie ihr wegen ihrer körperlichen Situation nicht nachkommen kann. Der Sandhaufen, in dem sie steckt, macht sie sexuell unzugänglich...Von der Psyche der in der Ehe automatisch gesteuerten Ehefrau wird erwartet, daß sie das Spiel von Angebot und Nachfrage mitspielt und damit auch auf die allerletzten Konsumstrategien hereinfällt." Nein, ich wußte schon, warum ich selbständig sein und bleiben wollte.

Und dann diese theatralische Überrumpelung, diese undisziplinierte Selbstüberrumpelung, dieser fast frivole Premièrenepilog, der zum Beginn unseres Dialoges, unseres zunächst noch gar nicht so durchsichtigen Miteinanders werden sollte!

Unsere erste gemeinsame Reise! Ich wußte nicht: Wollte er wirklich nur mein Reiseleiter auf einer Bildungsreise sein, oder hatte er es darauf abgesehen, sich als Animateur aufzuspielen, indem er für die nächtlichen Events sorgte, wobei die Frage der Kostümierung bereits geklärt war - nackt sollte es zugehen. Kein Zweifel: Meinem Kritiker war ganz offensichtlich an einem Schauspiel gelegen, in dem er mich als nackte Diana zu sehen wünschte, das hatte er doch ganz unverblümt, ohne jede vorsichtige Umschreibung, in jener Direktheit also, die stets auch seine Kritiken auszeichnete, zum Ausdruck gebracht. Ich war so verblüfft, daß ich meine Scham mit einem Schnellschuß (Diana mit Pfeil und Bogen!) zu überspielen suchte, um ihn seinerseits zu verblüffen. Zu unserer beider Verblüffung hatten wir dann Reiseziele und Termine so spontan vereinbart, daß wir über unsere gegenseitige Überrumpelung in ein prustendes Lachen ausbrachen, womit wir für einen Augenblick die Aufmerksamkeit des ganzen Lokals auf uns zogen. Unsere intime Absprache und die momentane öffentliche Aufmerksamkeit standen in einem grotesken Verhältnis zueinander. Mein Kritiker murmelte ein Zitat aus dem Stück, das wir gerade gesehen hatten: „Herr und Frau Pierer oder Stärer, die braven bürgerlichen Voyeure, glotzen nach uns. Ausgraben, sagt er - Sie ausgraben womit? sagt sie - Ich würde sie mit meinen bloßen Händen ausgraben, sagt er. - Ich glaube, wir haben uns soeben gegenseitig ausgegraben, darf ich das so sagen?"

Und ich hatte ganz einfach geantwortet: "Ja, so könnte es sein." Natürlich hatte ich mich selbstkritisch gefragt, ob mich, die gerade vierzig geworden war, mithin von nun an zum Kreis der reifen Frauen zählte, die Torschlußpanik gepackt hatte, daß ich mich auf einen exakt Mittdreißiger einließ, in der Hoffnung, er öffnete mir das Tor, das mir die Flucht vor der Reife zurück in ein neues Grünen ermöglichte. Doch so bin ich eigentlich nicht gestrickt, daß ich mich in solchen Maschen verheddern könnte. Meine Denke meidet verzwickte Muster. Natürlich ist es reizvoll, einen Mann zu ergattern, der fünf Jahre jünger ist, ich habe das auch ganz sportlich gesehen: Kann ich da noch mithalten? Aber ja doch, er ist fast noch ein Junge, ein bißchen unreif, jedenfalls was seine Ansichten betrifft, er steckt voller Widersprüche, ist auf der Suche, weiß nicht so recht wohin, also werde ich ihn vorsichtig lenken müssen und mir ihn ein bißchen ziehen können. Das wird auch nötig sein. Denn was habe ich mir da eingehandelt? Einen Kritiker! Seine Kritiken signierte er reichlich prätentiös mit "Diogenes". Ich fand schon, daß seine Kritiken immer einen Schuß Zynismus enthielten. Und seine Aufrichtigkeit grenzte bisweilen an Schamlosigkeit, das heißt, seine Urteile und Formulierungen waren dann regelrecht unverschämt, was durchaus von einer löblichen Unbefangenheit kündete, für die Betroffenen aber mehr als nur ein Ärgernis war. Michael (was hebräisch "Wer ist wie Gott?" bedeutet), dies der bürgerliche Vorname des Kynikers Diogenes, spielte sich manchmal wirklich wie ein kleiner Gott auf (dies wohl die Berufskrankheit so mancher Kritiker), vor allem wenn er in der Kultursendung des Regionalfernsehens auftrat, wo er allein schon körpersprachlich gewisse Allmachtsphantasien auslebte, seine Sitzhaltung und seine Gestik waren jedenfalls ungebührlich raumgreifend, und seine Sprechweise immer ein bißchen zu laut . Hätte er privat sich so gegeben, wäre aus unserer gemeinsamen Reise ganz sicher nichts geworden, oder ich hätte ihm ein solch dominantes Gehabe sehr schnell abgewöhnt. In Wahrheit aber war er, wenn er sich nicht schriftlich oder mündlich an eine Öffentlichkeit richtete, wenn er also kein Publikum hatte, auch dann ein durchaus temperamentvoller und engagierter, aber keineswegs rücksichtsloser Gesprächspartner. Irgendein Zwiespalt mußte in ihm stekken, der ihn so janusköpfig erscheinen ließ.

Natürlich war mir nicht nur daran gelegen, mit einem guten Unterhalter ein Verhältnis zu beginnen, von seiner Jugend erwartete ich schon ein bißchen mehr als rhetorischen Witz und Einfallsreichtum. Ich hoffte, daß er auch mit einem anderen Reichtum bei mir einfallen würde, was mir seine jugendliche Männlichkeit durchaus zu versprechen schien - trotz seines etwas extravaganten und dabei düsteren Aussehens: er trug die pechschwarzen Haare scheitellos streng zurückgekämmt und am Ende mit einem schwarzen Band zu einem Schwänzchen zusammengebunden. Seinen schwarzen Vollbart hatte er so kurz geschnitten, daß man schwankte, ob dies nun ungepflegt oder interessant aussehe. Das Gesamtbild besaß jedenfalls Originalität und war nicht ohne Reiz. Seine Berufskleidung (ich vermute, daß er sie als solche verstand, denn vor allem die Funk- und Fernsehredakteure schienen diese Uniform zu schätzen) bestand obligatorisch (das heißt bei jeder Gelegenheit) aus einer engen schwarzen Samtcordhose, die seine Beine und seinen Hintern unnötig spärlich erscheinen ließen, einem offen getragenen schwarzen Hemd, darüber ein möglichst formloses schwarzes Wolljackett. Ich hoffte, daß dieses Outfit nicht unbedingt seiner Weltsicht entsprach, einer Art Schwarzseherei, die meinem eher optimistischen Naturell dann doch zu sehr widersprochen hätte, aber dazu wußte ich noch viel zu wenig über ihn.

Egal, ich hatte mich schon viel zu lange nur auf meine beruflichen Ambitionen konzentriert, ja, ihnen geradezu gefrönt; ich spürte, daß mir die Arbeit zur Fron zu werden begann, und in mir regte sich die Lust, wieder einmal einem Herren zu dienen, wobei solcher Frondienst ja zugleich Dienst für die Frau ist, darauf war ich schon bedacht, ohne daß mich dazu irgendein feministisches Gefasel hätte ermahnen müssen. Ich hoffte, der Kritiker würde seine Rolle als jugendlicher Liebhaber ohne alle Düsternis, ohne existenzphilosophisches Gehabe spielen, sondern mit aller Lust an der fleischlichen Seite unserer Existenz.