Tumult in Tusculum - Bernd Reutler - E-Book

Tumult in Tusculum E-Book

Bernd Reutler

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Beschreibung

"Atmen Sie die Luft des Monte Tusculo und spüren Sie, wie Ciceros Geist Sie umweht! - Hier finden Sie den idealen Rückzugsort zur Vervollkommnung Ihrer rednerischen Fähigkeiten.-Tusculanae dispu-tationes - aktuell im Hier und Heute." Damit wirbt Thomas als Veranstalter eines Rhetorikkurses in einer Villa bei Tusculo, um eine sehr unterschiedliche Klientel anzulocken. Die Teilnehmer erwarten an den Vormittagen handfeste Übungen und Ratschläge; die Nachmittage sind der Diskussion ganz aktueller Themen gewidmet, wobei jeweils von Zitaten aus Ciceros "Disputa-tiones Tusculanae" ausgegangen wird. An den Abenden geschieht höchst Merkwürdiges, das den Teilnehmern unfreiwillig widerfährt, seltsame Begegnungen...Eine kontrastreiche Lektüre!- Dramatischer Roman ist eine Mischform, in der erzählerische Passagen mit Szenen und Dialogen abwechseln.

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Inhaltsverzeichnis

1 Auf nach Tusculum

2 Die Kursteilnehmer

3 Lisetta und Leo

4 Ankunft der Gäste

5 Thalia und Cicero

6 Der erste Tag

7 Der zweite Tag

8 Der dritte Tag

9 Der vierte Tag

10 Der fünfte Tag

1 Auf nach Tusculum

Dies Bild ist einfach zauberhaft. Thomas hat sich verliebt: eine traumhaft gestaltete Vedute, eine antike Aquatinta, so zart handkoloriert, dass man sie auch für ein Aquarell halten könnte; die delikaten Farbübergänge haben die Wirkung einer Pastellmalerei. So oder so, es ist ein wahrer Augenschmaus. Was aber Thomas regelrecht Appetit macht, sogleich aufzubrechen, um das Motiv in Natura zu erleben, das sind all die so liebevoll inszenierten Details: Im Zentrum ein tief unten liegender, fast kreisrunder See, offenbar ein vulkanisches Maar, die Wasseroberfläche schimmernd in zartestem Hellblau, das Ufer begrenzt von grünendem Gebüsch, in dem sich alles mögliche mediterrane Getier verborgen halten mag. Um dem Bild Tiefe, gleichsam einen Sog hin zum See und seinen Geheimnissen zu geben, bilden den Vordergrund zwei uralte, knorrige Olivenbäume, zwei verwitterten, antiken Säulen gleich, dazwischen die Szene: Auf einer sanften Anhöhe der bukolischen Landschaft haben sich auf dem leicht vergilbten Gras zwei Gestalten gelagert, den Rücken zum Betrachter, den Blick zum in der Tiefe ruhenden See gerichtet. Den linken Bildrand dominiert felsiges Gestein, auch dies ein Hinweis auf den vulkanischen Ursprung der Landschaft. Wir sind in Italien, in den Albaner Bergen! Die colli Albani! „Dahin, dahin, möcht ich mit wem auch immer zieh`n!“

Dort stehen die alten Villen mit den altehrwürdigen Namen zur Miete oder gar zum Verkauf, ganz nah dem antiken Tusculum, wo Cicero seinen Sommersitz besaß. Dort residieren zu können, wo einst Cicero umherging, seine Gedanken zu schöner Rede gestaltend - das wäre die Krönung seiner atemberaubenden Karriere! Wohlan denn, die Mittel dazu besitzt Thomas jetzt! Er hatte den Ausstieg aus einer gesicherten Existenz riskiert und sich in ein ungewisses Abenteuer gestürzt. Jetzt heißt es, sich dafür zu belohnen.

Was hatte ihn damals zu seinem Ausstieg bewogen? Nachdem Thomas im Studienfach Sprechwissenschaft mit einer Dissertation (ein mittelalterliches Thema, mit dem die Gegenwart absolut nichts mehr anzufangen weiß) promoviert worden war, band ihn sein Doktorvater als wissenschaftlichen Assistent an seinen Lehrstuhl, eine befristete Stelle, womit dem armen Postdoc also beständig das Aus drohte. Aber zu seinem Glück war er nach zwei Jahren gar zum Oberassistenten befördert worden. Als nächste Stufe wäre wohl die Ernennung zum Akademischen Rat mit Beamtenstatus in Betracht gekommen. Und dann? Sollte dies womöglich die Endstation seiner Karriere sein? Müßte er sein Leben lang sich zufrieden geben mit einem nur mittelmäßigen Gehalt? Und dies unter der Bedingung, sich von Semester zu Semester mit unbedarften Studienanfängern herumquälen zu müssen, die als Lehramtskandidaten nur ein sehr begrenztes Interesse an einem von ihm gestalteten Proseminar hatten, wozu ihr Studiengang sie nun einmal verpflichtete. Vielleicht hätte ihm ein Uni-Wechsel, verbunden natürlich mit einem Ortswechsel, zu einer aussichtsreicheren Perspektive verholfen? Aber was hätte er dafür alles aufgeben müssen? Seine damalige Partnerin wäre ihm sicher nicht gefolgt, und natürlich würde er auch den Freundeskreis verloren haben. Und hätte die neue Stelle ihm die Garantie gegeben, kein weiteres Nomadenleben führen zu müssen? Er sollte die Postdoc-Zeit eigentlich genutzt haben für seine Habilitationsschrift; dazu ließe sich seine Dissertation sicher auswalzen, indem er geistvoll von Symmetrie und Proportion in mittelhochdeutschen Epen daherschwätzen würde. Doch zu wessen Nutzen? Im Grunde war dieser ganze Stoff längst ausgelutscht. Aber die Habilitation würde ihm die Chance auf eine Professur gegeben haben. Ja, die Chance – mehr auch nicht. Eine völlig nebulöse Aussicht.

Einen persönlichen Gewinn zog er durchaus aus seinem Oberassistenten- Dasein: Immer wieder war er gefordert, wissenschaftliche Ergebnisse vor einem Fachpublikum verständlich und interessant (delectare et prodesse) zu referieren. Dabei kamen ihm natürlich seine Kenntnisse der Elemente der literarischen Rhetorik zustatten. Seine Veranstaltungen hatten bei den Studenten und bei den Fachkollegen einen guten Ruf, man schätzte seine rhetorische Brillanz, mit der er abwechslungsreich zu unterhalten vermochte; daraus sollte sich doch etwas machen lassen, etwas Handfesteres, Nützlicheres und zudem Lukrativeres. Des abtrünnigen Thomas Professor schleuderte Blitze wie der erzürnte Gott: „Ich habe Ihre so aufdringlich glänzende Werbebroschüre gelesen und bin entsetzt. Schämen Sie sich nicht, die Elemente literarischer Rhetorik so banal zu instrumentalisieren, sie umzuwandeln in plattestes Rüstzeug für dubios eloquente Geschäftemacher? Die königliche Metapher von ihrem Thron gestoßen mit einer solch simplen Wendung: `Die Sturzflut Ihrer Nutzenargumentation wird alle Einwände des Kunden hinwegschwemmen.‘ Die biblische Anapher von der Kanzel herab gestoßen aufs Niveau niedrigster Plattitüden: `Wir haben das Knowhow. Wir haben die Erfahrung, Wir haben die Lösung.´ Und dann werden in diesem penetranten Machwerk hehre Begriffe trivialisiert, indem hemmungslos schwadroniert wird von `Unternehmensphilosophie´ und ´Unternehmenskultur’. Alles ein Grund, Ihnen den Doktortitel abzuerkennen, den Sie sich mit Ihrer Dissertation ´Elemente literarischer Rhetorik in der Hoheliedparaphrase des Williram von Ebersberg´ summa cum laude verdient hatten. Jetzt also wollen Sie das Hohelied der Marktwirtschaft anstimmen. Da stimmt nichts mehr bei Ihnen, und ich kündige Ihnen, dem Sänger so abscheulich falscher Töne, hiermit die Freundschaft. Nun denn, ziehen Sie also aus der einsamen Studierstube der Wissenschaft ins grelle Licht des Boulevard. Ja, Boulevard, denn Sie sind ja willens, unser durchaus elitäres Wissen der Straße zu verkaufen. Das ist Verrat!“ Natürlich war Thomas tief betroffen. Aber dann schwang er sich auf zu einer fulminanten Widerrede: „Verehrter Herr Professor, noch jetzt verfolgt mich Ihr fassungsloses Kopfschütteln, das ich hiermit abzuschütteln gedenke: Bilden Sie sich als Lehrstuhlinhaber wirklich ein, eine wichtige Botschaft für die Menschheit zu besitzen? Zu was taugt Ihr Fach denn noch? Ich fand den Fachjargon, mit dem Sie und Ihre devote Gefolgschaft sich ein Distinktionsmerkmal zu erringen mühen, schon längst zum Kotzen. Höchste Zeit, in diese schillernde Blase, in der sich nichts als heiße Luft befindet, hinein zu piksen, auf dass der ganze Schwindel mit einem lauten Knall zerplatzt! Dieses angestaubte Fach generiert nichts als weitere Generationen unwichtiger Wichtigtuer. Ich für meinen Teil steige aus diesem sich im Kreis drehenden Leerlauf aus und gedenke, mich endlich nützlich zu machen. Freundschaft? Ich war doch immer nur einer Ihrer quellenforschenden Wasserträger. Das Süppchen daraus haben Sie stets ausschließlich für sich selbst gekocht. Freundschaft? Dass ich nicht lache!“ Thomas empfand sein hemmungsloses Schmähschreiben als Befreiungsschlag. Und er hatte es verstanden, diesem Befreiungsschlag etwas abzugewinnen mit viel Gewinn.

Was war das Erfolgsrezept, das seine Honorare nur so sprudeln ließ? Er hatte mit großem Aufwand die Werbetrommel für seinen „power day“ gerührt: „Lassen Sie sich verzaubern durch die Berührung mit dem Caduceus, jenem sagenhaften Hermesstab, und erleben Sie, wie diese Berührung Ihnen Visionen und Reichtum beschert! Wie einst der Götterbote Hermes den Reisenden die Steine aus dem Weg räumte, so wird meine Botschaft Ihnen helfen, alle Widerstände zu überwinden, gegen die Sie heute noch auf Ihrem Weg zum Erfolg mühsam und oft vergeblich ankämpfen!“ Diese geflügelten Worte flatterten auf Hochglanzpapier all den nach Erfolg gierenden Führungskräften auf ihre Schreibtische. Ziel des außerordentlichen Vortragsabends sei es, jeden an sein eigenes Wesen näher heranzuführen und ihn seine transpersonale Ebene erkennen zu lassen. Nun machte sich neben seinem erfolgreichen Studium der Sprechwissenschaften auch sein Schauspielstudium bezahlt: Er schwang eine moderne Nachbildung des Heroldstabs des Schutzgottes der Kaufleute über den Köpfen des von ihm besoffen gequatschten Publikums und animierte es damit zum Gebrüll eines hysterischen „Heureka!“- „Ich hab’s gefunden!“ wobei alle zur Bestätigung die flache Hand auf die Stirn klatschten. Das Geflacker der Stroboskope imaginierte dabei göttliche, von oben gesandte Geistesblitze. Es war totaler Humbug, der da die Zuhörerschar überwältigte. Und beseligt glaubte sie an das von Thomas unter immer wilderem Zauberstabgefuchtel verkündete Heilsversprechen: „Wir zeugen eine neue Welt. Die ethische Evolution unserer Zeit zielt auf Visionen. Visionäre Ethik! Management by vision! So erlösen wir uns aus der Beliebigkeit, dem Relativismus, so befreien wir uns vom Nihilismus, so füllen wir die Leere, so überwinden wir den Geist der Geistlosigkeit, so gelangen wir zu neuer Gewißheit. Wir nehmen die Qual der Reflexion wieder auf uns und werden so wieder stark und erfolgreich, dessen seid gewiß!“ Fragte man Thomas nach seiner merkwürdigen Wandlung, dann reagierte er sarkastisch: „Ich hatte es einfach satt, vom Erfolg getrennt zu sein, und so bin ich zum Trendsetter geworden. Ich quatsche zwar einen Haufen Scheiße, aber so bin ich nun mal zum Dukatenscheißer geworden. Noch weitere Fragen?“

Thomas Blick auf die geliebte Vedute des Lago di Nemi weitete sich vor seinem inneren Auge zu einer verheißungsvollen Aussicht: Er würde seinem trivialen Metier weiterhin die höheren Weihen verleihen. Auch dort, wo Ciceros Geist noch wehen mag, würde er sein ziemlich geistloses, ach so pragmatisches, allein dem Nutzen verpflichtetes Knowhow, garniert mit allem möglichen Hokuspokus und geistlosem Firlefanz einer naiven Kundschaft teuer verkaufen. Auf denn zum Lago di Nemi, umgeben von den Colli Albani! Auf denn zum nahen Tuscolo! Cicero, ich komme.

Frascati, zu Füßen der Colli Albani gelegen, im Blick, läßt Thomas Rom schnöde rechts liegen. Was soll er auch an diesem heißen Julinachmittag in der Stadt, selbst wenn er sich nur auf die Brunnen mit ihrem kühlen sprudelnden Wasser konzentrieren würde? Aber er erweist der Stadt immerhin eine gewisse Referenz, indem er im Autoradio die Kassette mit Respighis „Fontane di Roma“ laufen läßt, und so hört er das lebhafte Geplätscher der Fontana del Tritone al mattino, die verschiedenen Tempi der Wasser der Fontana di Trevi al meriggio und das gemächliche Fließen der Fontana di Villa Medici al tramonto. Es ist höchste Zeit, um vor Sonnenuntergang das angestrebte Ziel zu erreichen: Tuscolo, oberhalb von Frascati. Hinauf auf die sanften Hügel, auf die schon die alten Römer vor der Sommerhitze flohen! Thomas läßt das Auto in dem bello borgo Monte Porzio Catone stehen, von wo eine antike römische Straße mit großen Pflastersteinen hoch zu den Ruinen des alten Tusculum führt, die Reste von Thermen, Tempeln und dem Forum, malerisch gebettet in die Natur. Aber natürlich zieht es ihn vor allem zum gut erhaltenen römischen Theater. Von der steinernen Tribüne bewundert er das herrliche Panorama: der Blick reicht bis zur Ewigen Stadt und bis zum Tyrrhenischen Meer. Und er spürt an diesem schwülen Julinachmittag den erfrischenden Wind vom Meer, den Ponentino, der frei bis hierhin weht.

Das Theater liegt in einer leicht verwilderten Umgebung aus Wiesen, Buschwerk und Wäldern. Jahrhunderte alte Eichen finden sich da, einheimische Kastanienbäume, Ginster, wild wachsender Mohn und vereinzelt ein verlorenes Gänseblümchen. Das Theatron bildet ein Dutzend gut erhaltener, halbkreisförmiger Sitzreihen, hinter denen das üppige Buschwerk wuchert, aus dem in der Nacht Feen und andere Geister auf die Scena huschen mögen. Warum nicht hier die göttliche Thalia, Muse und Beschützerin des Theaters, und den göttlichen Redner Cicero wieder auferstehen lassen? Eine leibhaftige Rediviva und ein leibhaftiger Redivivus - eine absurde, verrückte Idee. Aber das hätte doch was...

Vom römischen Altertum in die Renaissance. Thomas hat für ein paar Tage Quartier bezogen, um die umliegenden, in der Renaissance erbauten Villen zu besichtigen und zu erkunden, was sich zum Verkauf oder zur Miete anböte, um Quartier zu werden für seine Geschäftsidee. Und es gibt tatsächlich etliche Angebote. Erstaunlich die Zahl der Rentiers aus altem Adel, die ihre ererbten Immobilien vermieten, um sich als Taugenichtse dem Dolce far niente hinzugeben und im nahen Rom der Dekadenz zu frönen. Da regt sich in Andreas noch einmal seine linke Gesinnung, mit der er als Student für die Enteignung solcher Schmarotzer demonstriert hatte, was schon immer sinnlos war. Also ist er bereit, für sein abenteuerliches Unternehmen eine abenteuerliche Summe zu riskieren in der Hoffnung, letztlich selbst eine hübsche Rendite damit zu erzielen, um irgendwann sein Leben als wohlhabender Rentier beschließen zu können – womöglich auf einem Albanischen Hügel.

Die Villa, die Thomas schließlich mietet, liegt zu Füßen des Monte Tusculo, in einer Landschaft, mit der der Weltarchitekt Gott sich selbst übertroffen hat. Mit einem Blick läßt sich von hier die Herrlichkeit der Hügel und des flachen Landes übersehen. Kein Wunder, dass alle Städtchen im Umkreis zu den Borghi piu belli d’ Italia gehören! Und das nahe Rom läßt sich zumindest erahnen. Seit vierhundert Jahren ist die Villa im Besitz einer Familie, die von Generation zu Generation stets einen erfolgreichen Avvocato hervorgebracht hat. Es ist nicht gerade eine Villa Aldobrandini, die mit einem phantasievoll gestalteten „Theater der Gewässer“ zu prunken weiß. Aber dieses bescheidenere Anwesen prunkt mit einem Namen, der alles andere überstrahlt: „Villa Cicero“. Nomen est omen. Da gibt es nichts weiter zu erwägen, zumal die Ausstattung der Villa ihre etwas zurückhaltende Hülle vergessen läßt: Alle Wände sind über und über geschmückt mit Fresken, wie sie in den antiken römischen Villen in Pompeji zu finden sind. Der Renaissance-Künstler hatte sich ganz offensichtlich von den Themen und Farben inspirieren lassen, die sein antiker Ahnherr bezaubernd, verzaubernd dort zur Geltung gebracht hatte. Ein Sinnenreiz, der Thomas den Verstand zu rauben droht, die nüchternen Möglichkeiten zu bedenken, auf die es ankommt, wenn hier seine Seminare stattfinden sollen. Jetzt läßt er sich einfach berauschen, genießt es, trunken von so viel Schönheit in ihr zu ertrinken: Da lockt vor tiefem Rot eine durchsichtige Obstschale, angefüllt mit allerlei Früchten. Welch ein Vogelgezwitscher auf dunklem Grund in belaubtem Geäst! Hier eine Taube auf dem Rand einer weißen Brunnenschale, dort schweben völlig schwerelos zierliche Frauengestalten, umweht von ihren luftigen Gewändern; gegenüber rankt sich ein Strauch mit halb versteckten Früchten vor einem nächtlichen Blau empor; in einem anderen Raum strenge Architekturmalerei, kannelierte Säulen, die wie aufgereiht zu einem Marsch bereit stehen. Vis à vis ein nackter Krieger mit Lendenschurz im Ausfallschritt. Als Kontrast dazu eine Schar nackter geflügelter Amoretten. Und immer wieder Frauengestalten, einander zugeneigt im Gespräch oder auf einem Triclinium gelagert, einsam in sich versunken. Mythologische Szenen, die sich bei diesem Überfluß nicht so schnell entschlüsseln lassen. Thomas ist längst eingetaucht in die Welt und Zeit Ciceros. Das ist es! Dies ist der Ort! Ein Urort der Seele! Her mit dem Mietvertrag!

„Moment, Sie haben ja noch gar nicht den Garten besichtigt!“ wendet lachend und in einem radebrechenden Deutsch der Verwalter ein, der Thomas auf Schritt und Tritt begleitet. Im Zentrum des Gartens ein Irrgarten, gestaltet aus mannshohen, kunstvoll beschnittenen Eibenhecken.

„Haben Sie Lust hineinzugehen?“

„Um in die Irre geführt zu werden? Nein, nein ich möchte schon gern die Übersicht bewahren.“

Der Verwalter stellt ihm den mit dem Beschneiden der Hecke beschäftigten Hausmeister und Gärtner vor: „Leo arbeitet hier mit seiner Frau Lisetta, die Hauswirtschafterin, die auch für die Küche sorgt, wenn die Villa als Ferienhaus vermietet wird. Die beiden sprechen übrigens viel besser Deutsch als ich, da sie viele Jahre eine italienische Eisdiele in Deutschland bewirtschaftet haben; sie stammen eigentlich aus Agrigent, sind also Sizilianer, haben es aber dennoch vorgezogen, hier ihren Lebensabend zu verbringen.“ Leo hält zur Begrüßung kurz inne mit dem peniblen Feinschnitt der Hecke, die er oben zu Zinnen zurecht gestutzt hat, so dass der Eindruck von einer mit Grün berankten Festungsmauer entstanden ist. Am Ende des Gartens, hinter einer Wand aus dicht nebeneinander aufragenden Zypressen verborgen, steht das flache Wirtschaftsgebäude, in dem sich neben der Gerätschaft für die Gartenarbeit ein alter, aus Ziegelsteinen gemauerter Backofen befindet.

Zurück in die Villa. Thomas hat neben seiner Bewunderung für die künstlerische Gestaltung der Wände schon registriert, ob und inwiefern das Haus sich eigne als Sitz und Schauplatz seiner Akademie, die er hier zu gründen beabsichtigt. Ansprechend möblierte Schlafzimmer mit jeweils eigenem, anspruchsvoll renoviertem Bad gibt es zur Genüge; da ließen sich leicht bis zu zehn Kursteilnehmer unterbringen. Was Thomas aber am meisten überzeugt, das ist der große Salon, dessen Wandbemalung schon beschrieben ist. Ein Prachtsaal! Weiße Sitzgruppen, deren Herkunft aus einem Mailänder Designstudio offensichtlich ist. Die Kristalllüster schweben selbstbewußt über den Stehlampen, jede ein eigenwilliges Original. Alte Handwerkskunst und moderne Gestaltung in einem wirkungsvollen Spannungsverhältnis, was Thomas besonders reizvoll findet. Dies ist der ideale Seminarraum, hier würde er dazu anregen, die alte Kunst der Rede für Gedanken und Themen der Gegenwart einzusetzen! Und so ist die Sache beschlossen und vertraglich unter Dach und Fach gebracht. Frohgemut und geradezu aufgekratzt macht Thomas sich auf die Rückfahrt. Viel Arbeitet wartet auf ihn, all seine Ideen zu realisieren und die ganz trivialen Notwendigkeiten zu organisieren; das wird wohl ein gutes Jahr in Anspruch nehmen.

2 Die Kursteilnehmer

Nach seiner Rückkehr aus Italien macht sich Thomas umgehend an die Gestaltung der Hochglanzbroschüre, die er mit zahlreichen Fotos der Villa und ihrer Umgebung zu illustrieren gedenkt. Und schon schwirren durch seinen Kopf die Locksprüche, mit denen er die erhoffte Klientel zu verführen trachtet:

Atmen Sie die Luft des Monte Tusculo und spüren Sie, wie Ciceros Geist Sie umweht!

Nach Tusculum wußten schon der alte Cato, der große Caesar und der Genießer Lucullus vor der Hitze Roms zu fliehen

Residieren Sie in einer Tusculanischen Renaissance-Villa für eine Woche so fürstlich wie einst der päpstliche Adel!

Hier finden Sie den idealen Rückzugsort zur Besinnung und geistigen Vervollkommnung, so wie ihn schon Cicero erlebt hat!

Erleben Sie die Erweiterung Ihres Bewußtseins und die Stärkung Ihres Selbstbewußtseins

Tusculanae disputationes - aktuell im Hier und Heute!

Tusculum – ein Urort der Seele!

Was aus dieser Broschüre nicht zu ersehen ist, das ist seine fortdauernde Lust, die ganz handwerklichen Fragen der Kunst der Rhetorik aufzumotzen mit Psychokram und metaphysischer Überhöhung. Er hatte nun einmal die Erfahrung gemacht, dass die theatralischen Elemente seiner Auftritte phänomenale Wirkung hatten - ein Massenphänomen. Als nüchterner Beobachter dieser Szenen konnte man die Theatralik von Thomas’ Auftritten und die völlig irrationalen, geradezu hysterischen Reaktionen seines Publikums nur fassungslos registrieren. Aber es funktionierte, und plötzlich war man höchst unangenehm erinnert an faschistische Ästhetik. Selbst im nüchternen Rahmen eines unternehmensinternen Seminars spürte Thomas die heimliche Lust der doch an ganz pragmatischen Lösungen interessierten Teilnehmer, die Lust auf theatralische Zugaben, über die er als ehemaliger Schauspieleleve doch verfügen müsse. Das Theatralische ist der Rhetorik einfach immanent. Man lese Ciceros Regieanweisungen für den Auftritt vor großem Publikum: „Wer in der Redekunst den höchsten Rang erstrebt, wird jedenfalls den Willen haben, mit erhobener Stimme furchterregend und mit gesenkter sanft zu sprechen, mit tiefer Stimme eindrucksvoll zu wirken und mit zitternder mitleiderregend. - In seiner Haltung wird ein führender Redner hoch aufgerichtet sein; er wird nur selten und nicht sehr weit ausschreiten; vortreten soll er nur in Maßen und gelegentlich; ein schlaffes Neigen des Nackens darf es nicht geben, auch kein geziertes Spiel der Finger und kein Taktschlagen mit dem Knöchel; er wird sich ausdrücken durch eine männlich wirkende Art der Bewegung, durch das Ausstrecken des Armes bei leidenschaftlicher Erregung und durch das Sinkenlassen bei ruhiger Gelassenheit. - Was aber den Gesichtsausdruck betrifft, wie groß ist bald die Würde, bald die Anmut, die er mit sich bringt! Die Miene ist ein Abbild der Geisteshaltung.“

Thomas hatte, animiert von Ciceros Anregungen zum Auftritt auf der politischen Bühne ein Buch verfaßt: „Staatstheater. Die Körpersprache unserer Politiker.“ Hierzu ein Beispiel, das damals geradezu Furore machte: „Wenn man die Arbeitszeitverkürzungen den Konservativen überläßt, dann resultieren daraus schlecht bezahlte Arbeitsplätze für Frauen ohne Sozialversicherungspflicht. Das ist eine Arbeitszeitverteilung, die wir niemals wollen dürfen.“ Nur solche Aussagen, Kleines Einmaleins seiner Partei, reihte der Redner auf dem Bundesparteitag aneinander. Das war inhaltlich und sprachlich nichts sonderlich Spannendes. Und doch gelang es ihm, den Vorsitzenden seiner Partei damit handstreichartig zu entmachten und aus dem Amt zu jagen. Belohnt wurde er mit seiner Wahl zum neuen Parteivorsitzenden – für die Partei ein einmaliger Vorgang. Was machte diese Rede so einzigartig, ja, legendär? Wie konnte sie in den Medien als eine charismatische, flammende Rede bezeichnet werden? Inwiefern folgte der Redner einer Strategie der Emotionalisierung? Ganz eindeutig nicht mittels seiner Argumente und ihrer sprachlichen Ausschmückung. Es waren allein die Begleitsignale, die die beschriebene Wirkung hervorriefen, des Redners Sprechweise und Körpersprache. Noch einmal Cicero: „Von einem Redner muß man die Gebärdensprache fast der besten unter den Schauspielern verlangen… Die Gebärdensprache soll die Gedanken mit energischer, männlicher Körperhaltung zum Ausdruck bringen. Doch vom Gesicht hängt alles ab.“ Film- und Tondokumente vergegenwärtigen das historische Geschehen, so dass sich nachprüfen läßt, ob und inwieweit der erfolgreiche Putschist Ciceros Vorstellungen entsprach: Alle seine körpersprachlichen Details sind durch einen hohen Spannungsgrad gekennzeichnet: nach oben angewinkelte Arme, die Fäuste geballt, der Oberkörper mit steifen Schultern nach vorn geschoben, bedrohlich gesenkte Stirn, verengte Augen, verspannte Lippen - ein Kraftakt auf vollen Touren. Dauerpower. Permanenter Überdruck, der des Redners Gesicht anschwellen und mehr und mehr rot anlaufen läßt; ein Pressen, das auf seine Stimme schlägt, die sich in immer neuen Steigerungen förmlich überschlägt. Überrumpelung vom Rednerpult bis zur letzten Sitzreihe. Ein damals berühmter Theaterkritiker konstatierte: „Der Redner hat seinen Rivalen weggebellt.“ Wer so outriert, ist ein Schmierenkomödiant. Ja, es war Schmierentheater, politisches Drama der primitivsten Sorte. Erschreckende Verführungskunst. Es war reinster Anti-Cicero!

Der Erfolg seiner Verführungskünste verführte Thomas mehr und mehr, auf sich selbst hereinzufallen. Wer weiß, wohin das noch führen mag, wozu ihn das noch verführt... Jedenfalls kreisten seine Gedanken bedenklich um den Rausch alla Romana, wie auch Cicero ihn erlebt haben dürfte: Schon lange vor Geburt des göttlichen Heilsbringers wurde in Rom bei den Initiationsfeiern der Dionysien Cannabis verabreicht; genossen wurden zudem hallu-zinogene Fische und Opiumgetränke, gemischt mit Vipernblut. Ganz zu schweigen von den Saufgelagen bis zur Bewußtlosigkeit zu Ehren des Gottes Bacchus. Thomas, fasziniert von diesen antiken Bräuchen , hatte es besonders beeindruckt, dass Cannabis in Form kleiner Kuchen als Naschwerk serviert wurde, um die Lust am Trinken zu erhöhen. „Erleben Sie die Erweiterung Ihres Bewußtseins“- sind dafür nicht gewisse Hilfsmittel geradezu verlockend, gar unerläßlich? Thomas könnte hinweisen auf Künstler und Geistesgrößen - Wagner, Schopenhauer, Nietzsche: „Die Form geistiger Übung fortsetzen mit dem Zusatz eines gelegentlichen Krümels indischen Hanfs, wann immer die Prüfungen der Welt unerträglich sind“ (Schopenhauer). „Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nöthig“ (Nietzsche) - Anregungen und Empfehlungen an den Freund Wagner, denen dieser gerne folgte: „Er hatte sich angewöhnt, dass er eigentlich nur noch komponieren konnte, wenn der indische Hanf seine schönen dicken Wolken machte“ (Wagners Dienstmädchen). Dubiose Anregungen, aber vielleicht…Es ist ganz sicher eine Grappa-Idee, die Thomas heimlich mit sich herum trägt. Zweitausendachthundert Euro für einen knapp einwöchigen Rhetorikkurs! - da wird man den Teilnehmern schon etwas Außergewöhnliches bieten müssen, ein ganz besonderes Event...

Günter und Dorothea. Günter, von Geburt an blind, hatte an einem ganz normalen staatlichen Gymnasium sein Abitur gemacht, dann auch sein Studium unter den allgemein gültigen Bedingungen absolviert und mit Auszeichnung abgeschlossen; darauf folgten Referendarzeit und Zweites Staatsexamen. Auch die Blindheit des Gerichtsassessor wurde quasi übersehen. Bis dahin eine Karriere ohne Hindernisse. Dann aber das schockierende Urteil: „Da Sie blind sind, werden Sie nie vorsitzender Richter werden können.“ So entschied er sich, aus dem Staatsdienst auszuscheiden und in der Privatwirtschaft eine lukrative Stelle zu suchen. Und es gelang ihm, in die Rechtsabteilung eines Großkonzerns einzusteigen und zuletzt ihr fürstlich bezahlter Leiter zu werden. Er war zuständig für die Vertragsabschlüsse seines Unternehmens, vor allem wenn es um Kooperationen ging. Dann saß er bei den Geschäftsessen, in deren Rahmen die Eckpunkte der Verträge diskutiert wurden, ganz unscheinbar mit am Tisch, wurde von der Gegenseite weder angeschaut noch angesprochen; er galt dem Gegenüber als ein irrelevantes Anhängsel, das, aus welchen Gründen auch immer - vielleicht der Inklusion wegen, die zur Unternehmenskultur, zur Corporte Identity gehörte - mitgenommen worden war. Günters phänomenales Gedächtnis, das zu seinen besonders ausgeprägten Fähigkeiten zählt, die sein Blindsein gewissermaßen kompensieren, speicherte jedes relevante Detail des Gesprächs, und später würde seine Expertise darüber entscheiden, ob und wie die Verträge ausgestaltet würden. Der Gegenseite war nicht bewußt, dass sie den eigentlichen Entscheider über Zusage oder Ablehnung, sträflich ignorierte. Leider ist Ähnliches auch in jeder privaten Gesprächsrunde zu konstatieren: Immer fliegen die Worte kreuz und quer über seinen Kopf hinweg, da ist nie das Wort direkt an ihn gerichtet, und so sitzt er als ein lächelnder oder schmunzelnder Schweiger in dem immer lauter werdenden Sprechgetümmel, das er sehr wohl registriert und bedenkt, aber in das er sich nie teilnehmend hinein begibt; dabei wären seine Kommentare ganz sicher klug und bedenkenswert. Die Runde selbst ist blind für den Blinden, den sie einfach übersieht. So unterschätzten selbst die Freunde und Bekannten diesen schweigenden, blinden Teiresias, der hellsichtig ist und vieles richtig erkennt und voraus erschaut. Auch das ganz Profane erkennt er, ohne zu sehen: Den Klappdeckel der Taschenuhr geöffnet, die Zeigerstellung und die Orientierungspunkte mit einem sanften Streichen des Mittelfingers ertastet, und schon hat er sekundenschnell die Zeit minutengenau erfaßt und benannt. Ganz sicher sind Tasten, Riechen, Schmecken und Hören bei ihm in ganz besonderer Weise ausgebildet, so dass sie sein Blindsein zumindest teilweise zu kompensieren vermögen. Manchmal aber verblüfft er mit Kommentaren, die sogar einen sechsten Sinn bei ihm vermuten lassen. Seit seinen Studientagen des Römischen Rechts verbindet Günter eine große Liebe zu allem Lateinischen. Und nun flattert ihm die Einladung zu diesem Seminar ins Haus, als dessen heimlicher Schirmherr Cicero, quasi als ein deus absconditus, deklariert wird. Cicero, virtuoser Anwalt und Kläger, hatte es dem Juristen Günter schon immer ganz besonders angetan. Wie oft hat er sich an Ciceros Reden gegen Verres, den korrupten römischen Statthalter in Sizilien, ergötzt! Actio prima und actio seconda, veröffentlicht in fünf Büchern nach Ciceros glorreich gewonnenem Prozeß. Wieviel Ironie, wieviel Empörung neben aller Sachlichkeit - ein rhetorisches Meisterwerk! Cicero, der Beherrscher aller Stilmittel - sich damit im Rahmen eines Seminars noch einmal auseinanderzusetzen, das hätte doch seinen Reiz. Und das in einer römisch anmutenden Villa an dem Ort, wo sein Idol einst residierte! Da gibt es kein langes Überlegen und kein Zaudern, Anmeldung und Anzahlung sind umgehend erledigt, nur Günters Frau Dorothea hat einige Bedenken, mit denen sie aber die Vorfreude ihres Mannes nicht trüben mag. Natürlich würde sie ihn begleiten und wie ihr ganzes gemeinsames, gut katholisches Leben lang sein wachsames Auge und seine achtsame Führerin sein.

Ursula. Ach, Ursula! Was hatte Thomas ihretwegen gelitten! Sie hatten im gleichen Jahr ihr Abitur bestanden und sich zum Studium der Sprechwissenschaften an der heimischen Universität eingeschrieben. Sie lebten beide außerhalb des Studienortes, benutzten für die Fahrt zur Uni die gleiche Busverbindung zur gleichen Fahrzeit, um die gleichen Vorlesungen und Seminare zu besuchen, wo sie ganz selbstverständlich stets nebeneinander saßen. Man mußte sie für ein Paar halten. Die hübsche junge Frau war ganz zweifellos bereits vergeben, glücklich der Kerl neben ihr, der sie eigentlich gar nicht verdiente. Dabei gab es keinerlei intime Zeichen, die eine solche Vermutung begründet hätten. Sie hatten sich an einem Wochenende gemeinsam den Film „Letztes Jahr in Marienbad“ von Alain Resnais angesehen. Sie hatten nebeneinander gesessen, die merkwürdige Handlung gemeinsam verfolgt, ohne dass diese Gemeinsamkeit sie zu einer körperlichen Annäherung verführt hätte. Das alte Muster: Gemeinsames Erleben ohne echtes Miteinander, immer nur Geist ohne Fleisch! War schon die undurchsichtige Filmhandlung ziemlich nervig, so empfand Thomas das undurchsichtige Miteinander mit Ursula in dieser Situation besonders nervig. Sie hatten nach dem Kino sofort die Heimfahrt angetreten, verabschiedeten sich mit dem Wunsch für einen schönen Sonntag und verabredeten sich für die Veranstaltungen der kommenden Woche. Schon am Montag fuhren sie wieder zusammen zur Uni. Thomas hatte Ursulas verändertes Aussehen verwirrt: Eine neue Frisur? Aber ja, er erinnere sich doch an die Hauptdarstellerin in dem Film vor zwei Tagen; die Figur, die sie spielte, war namenlos, hieß einfach „die Frau“.

„Ja und?“

„Erinnerst du dich nicht an ihre Frisur?“

„Ah ja, sie trug ihr schwarzes Haar streng zur Seite gekämmt vom linken Ohr über die Stirn bis zum rechten Ohr; das Haar verdeckte wie eine sanfte Welle die obere Stirnhälfte.“

„Stimmt genau. Und gefällt es dir an mir?“

Mein Gott, das wäre doch nun wirklich die Gelegenheit für eine persönliche Bemerkung, für ein nettes Kompliment! Sie scheint ihm doch gefallen zu wollen! Wie blöd ist er, dies nicht zu merken! Thomas spielte durchaus mit dem Gedanken, Ursula könnte seinetwegen die Frisur geändert haben. Ach nein, sie hat das doch ganz allein für sich selbst getan, um wer weiß wem zu gefallen, doch nicht ihm! Wieder einmal genoß Thomas seinen Minderwertigkeitskomplex und seine Tiefstapelei als ein demütiges Sichfügen, darin bestand doch seine eigentliche geistige Überlegenheit, mit der die körperlichen Defizite allemal zu kompensieren seien! Ein Blick in den Spiegel hatte es ihm gezeigt: Schon jetzt, mit Anfang Zwanzig, weist ihn die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen aus als einen skeptischen Denker, der um die Banalitäten unserer Sehnsüchte weiß, zu denen die List der Natur uns verführt, dem er aber mannhaft zu begegnen und zu entsagen weiß. Mag man ihn als einen spätpubertären Verzichtsgenießer diffamieren, er weiß um die Gründe klugen Verzichts. Mann, bist du blöd! Was soll Ursula noch tun, um dir unmißverständlich zu signalisieren, dass du ihr keineswegs nur Kommilitone, d.h. Mitstreiter auf geistigem Gebiet bist, sondern dass sie sich allzu gern auch fleischlich mit dir auseinandersetzen würde?! Aber wie löst du das Problem für dich? Ja, wie der inneren Zerrissenheit begegnen, wie Heilung finden? Ursula hatte sich mit Thomas zu