Wiedervereinigung - Reutler Bernd - E-Book

Wiedervereinigung E-Book

Bernd Reutler

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Beschreibung

"Die Ereignisse verheißen Wiedervereinigung. Hier kämen Weltpolitisches und Privates zusammen; ein Stoff, aus dem sich eine sentimentale Geschichte mit höherer Bedeutung machen ließe. Seine unbedeutende private Geschichte würde, verbunden mit diesen noch kaum zu fassenden politischen Ereignissen, die höheren Weihen empfangen. der entscheidende Impuls war da, und Andreas Puls schlug schneller" Dies ist ein Liebesroman, der zugleich Gesellschaftsroman und historischer Roman ist: Von den Studentenunruhen 1968 bis zu den Ereignissen 1989/90 spannt sich die Geschichte eines jungen Paares, das sich verliert und nach zwanzig Jahren wieder findet.

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Auf dem Umschlag:

Deutsche Botschaft, Prag, 30. September 1989

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1. Kapitel

Anna war, als sie Andreas begegnete, eine zwanzigjährige Jungfrau ; damals, vor den Jahren der "sexuellen Revolution", noch keineswegs Anzeichen einer mauerblümchenhaften Verklemmung. Auch ihre Existenz als Pfarrerstochter sollte nicht zu einem schnellen Vorurteil bezüglich ihrer Essenz, ihrer "Wesenheit" verleiten. Sie war in der Tat ein ganz entzückendes Wesen. Ihr schwarzes Haar trug sie zwar etwas streng in der Mitte gescheitelt, aber doch so, daß rechts und links zwei üppige Wellen wogten, deren Ausläufer auf den weißen Schläfen und der hellen Stirn strandeten, was der strengen Pfarrhausästhetik einen Schuß sinnenfroher Freiluftmalerei beimischte. Unter dem schattigen Dach leuchteten ihre blauen Augen wie zwei einladende Fenster, zu denen man gleich hinauf- und hineinzuklettern wünschte. Andreas sah bei ihrer ersten Begegnung allein diese Augen, dachte nur ans Hinaufklettern hinter diese geistige Stirn. Sinnlicheren Wünschen standen zudem Stimme und Sprache Annas entgegen, deren beruhigende Mittellage und wohl durchartikulierte Pfarrhausdiktion Hormonschüben keinerlei Vorschub leisteten, sondern eher eine gewisse Distanz diktierten.

Anna und Andreas saßen in einem Sommer jenes Jahrzehnts, dessen Ende einmal den Namen für eine ganze Generation abgeben sollte, im gleichen Seminar - "Tristan und Isot" des Gottfried von Straßburg. Daran kommt kein Germanistikstudent vorbei: "ein man, ein wip/ ein wip, ein man! Tristan, Isot, Isot, Tristan. " Ach ja, die Minnegrotte! Das waren gute Voraussetzungen, da sich im Wald, der die Universität umgibt, weswegen sie eigentlich weniger eine Campus-Universität und vielmehr eine Silva-Universität ist, auch eine Grotte, eine frühkeltische Kultstätte, befindet, warum nicht irgendwann der Ort für die weniger reinen Gedanken und Gelüste auch einer Pfarrerstochter? Schon bei ihrer zweiten Begegnung nahm Andreas weniger die einladenden Fenster wahr, sondern begann, sich stattdessen für den gesamten Baukörper zu interessieren: Brüste mit ansehnlichem Volumen, ein ausladendes Becken, gestützt auf formal und statisch tadellose Säulen, die sich in Minoischer Manier zierlich nach unten verjüngten. Das Dreiecksverhältnis Marke - Isot - Tristan hatte Andreas bis ins Mark mächtig stimuliert. Wenn Isot mit zwei Männern - warum sollte er dann nicht mit zwei Frauen…?

Anna war im Pfarrhaus wohnen geblieben, obwohl die tägliche Fahrt von dem noch dörflichen Vorort zu der Universität ziemlich zeitraubend war, aber eine andere Lösung gab der väterliche Klingelbeutel nicht her. "Sie werden verstehen, Andreas, daß ich Sie nicht mit nach Hause nehmen kann, das könnte zu Mißverständnissen führen, zumal Sie Familienvater sind." Ja, sie siezten sich, das ganze Semester lang; das war durchaus so üblich, bevor dieses proletarischsolidarische Duzen der Gesinnungsgenossen als Zeichen der "alltäglichen unio mystica aller irgendwie Gutwilligen" um sich griff, dem selbst angegraute Professoren sich nicht mehr zu verweigern wagten. "Ich würde aber gerne Ihre Familie kennenlernen. Kann ich nicht einfach einmal den Gottesdienst besuchen, wenn Ihr Vater predigt? Sie müssen wissen, seine Kirche ist auch meine Kirche, in der ich getauft und konfirmiert wurde. Ich setze mich ganz artig und unauffällig auf die hinterste Bank." "Ganz und gar ausgeschlossen. Wie sollte ich reagieren? Sie ignorieren? Ich müßte Sie doch vorstellen. Geheimnistuerei in der Kirche, das geht nun wirklich nicht." "Aber haben wir denn ein Geheimnis? Wir sind Stu dienfreunde, was ist daran so anrüchig?" "Sind wir wirklich nur ganz harmlose Studienfreunde? Warum sollten Sie dann meine Eltern interessieren?" "Es ist das Thema unseres Seminars: Die zur Religion erhobene Liebe, die unio mystica von Mann und Frau. Das hat die Kirche damals empört. Ich wüßte gern, wie ein Gottesmann heute darüber denkt. Das wäre wichtig für mein Referat." "Dann wollen Sie also doch meinen Vater persönlich kennenlernen und nicht nur als Hinterbänkler unsichtbar bleiben? Nein, Andreas, es geht nicht, es geht wirklich nicht." "Bin ich Ihnen nicht repräsentabel genug?" "Ich finde Sie sehr interessant, das wissen Sie. Schon viel zu interessant. Mein Vater würde durchdrehen. Und Sie? Haben Sie keinerlei Hemmungen wegen Ihrer Familie?“ "Sie wissen, wie ich da hineingeschlittert bin.“ "Aber es war auch Ihre Entscheidung." „Wollen Sie mir vorwerfen, daß ich mich anständig verhalten habe? Eine faule Frucht am Stammbaum, das reicht!" "Faule Frucht - was reden Sie da!" "Unehelich geboren, da ist doch immer etwas faul. So sieht es jedenfalls die Gesellschaft. Ist es dieser Makel, den Sie Ihrer Kirche nicht zumuten wollen?" "Andreas Waise! Sie sind längst kein Waisenknabe mehr. Was nehmen Sie das immer noch so wichtig?"

Sie standen auf der Plattform des Aussichtsturms, von wo aus Anna die rundum weithin sichtbaren Ortschaften benannt hatte. „Das Laub ist schon spinatgrün. Zu Semesterbeginn war alles noch so hoffnungsgrün. Schade, daß die schönsten Dinge immer so schnell verwelken." "Worauf hatten Sie gehofft?" "Ach, lassen wir das. Jetzt beginnen die Ferien, und ich fahre zum Festival nach Avignon. Darauf freue ich mich schon. Wiedersehen mit Béjart und seiner Truppe." "Und ich hocke hier mit meiner Truppe, Weib und Kind." "Sie haben es so gewollt. " "Wäre ich unanständig gewesen, könnte ich jetzt mit nach Avignon, nicht wahr?" "Vielleicht." "Wir sehen uns doch vorher noch einmal?" "Kaum. Ich schwänze die letzte Vorlesung. Ich bin in den Schwarzwald auf eine Hütte eingeladen. Lauter nette Leute, die ich noch aus meiner Schulzeit kenne." "Vor denen Sie sich hüten sollten!" "Eifersüchtig? Was machen Sie sich Sorgen um mich, Sie sind doch versorgt! Kommen Sie, es ist Zeit, wieder hinab zu steigen." Für Andreas war es ein fürchterlicher Abstieg. Vorhang. Ende. Aus. Für Anna war es, die Wendeltreppe hinab, der tänzelnde Abgang zum südfranzösischen Festival.

Anna war äußerst enthusiasmiert aus der Provence zurückgekehrt. Vor allem die Freien Gruppen mit ihren unkonventionellen Projekten hatten es ihr angetan. Längst hatte sie sich mit Ideen beschäftigt, mit denen sich die Gottesdienstordnung aus ihrer Erstarrung lösen ließe, jetzt war sie voller Anregungen, wie die Verkrustungen aufzubrechen wären, ins Pfarrhaus zurückgekehrt, Aber noch wagte sie nicht, ihrem strengen Vater mit solch lockeren Vorstellungen zu kommen. Vielleicht ließen sich aber über Andreas und das von ihm geleitete Studententheater solch subversive Elemente in die Kirche einschmuggeln? Andreas war von dieser Idee natürlich begeistert: Endlich könnte er Anna ganz offen die Hauptrolle zukommen lassen, die sie in seinem Kopf längst schon spielte. Er hatte auch sofort ein Projekt parat: Einübungen ins Sterben - weiß Gott kein Krippenspiel, aber bis Weihnachten sollte dieser merkwürdige Beitrag zum Fest der Geburt Christi auf die Beine zu stellen sein. Anna war sofort einverstanden und akzeptierte nun auch, daß Andreas bei ihrem Vater vorstellig würde, um ihn für die Realisierung dieses Projektes in seiner Kirche zu gewinnen. "Sie möchten also in meiner Kirche ein Theaterstück aufführen. Das finde ich im Prinzip sehr schön. Wissen Sie, daß ich selbst einmal Schauspieler werden wollte? Na, in gewisser Weise bin ich es ja auch geworden. Nur leider auf der falschen Bühne. Und im falschen Kostüm: Schwarzer Talar mit weißen Leinwandstreifen. Beffchen! Wie das schon klingt! Nach Schwank im Komödienstadel! Immerzu diese zwei gestutzen Lappen, die wie ein geteilter Ziegenbart trostlos von Kinn und Hals herunter hängen. Ganz gleich, welches Stück wir auch spielen, immer dieses triste schwarze Einheitskostüm, zu Weihnachten und Ostern und Pfingsten und zum Reformationsfest. Fest! Einsam im schwarzen Talar, und das Fest ist fern! Nein, das war keine innovative Theaterreform, keine kreative Entrümpelung der Szene. Das war die Vorwegnahme der berüchtigten Endspiele: Exerzitien der Trostlosigkeit in völlig kahlem Raum, Antitheater!" "Warum wechseln Sie dann nicht das Ensemble?" "Konvertit? Renegat? Sind Sie verrückt? Ich habe im Krieg in einer Stadt gelebt, in der ein Dutzend katholischer Kirchen standen und nur eine evangelische. Nach einer Bombennacht lag das papistische Dutzend in Schutt und Asche, und allein das Wahrzeichen der Reformation ragte in den flammenden Himmel als Zeigefinger Gottes, wo der rechte Glaube lebt. So hat es Gott gefallen, und so gefällt es mir." "Und keine brennende Synagoge in jener Stadt?" "Die zu vernichten bedurfte es keines Krieges. Da hatten wir Lutheraner ('Von den Jüden und ihre Lügen', Doktor Martinus Luther. Von daher rühren übrigens Bachs großartige Juden-Turbae, perfidia iudaica!), da sage ich also, hatten wir Lutheraner schon früher für ein Exemplum gesorgt." Ein gut Lutherischer Antisemit, dachte Andreas, um dann seinen für ihn so sinnig ausgewählten Konfirmationsspruch zu zitieren: "Ich bin dem Hause Juda wie ein Löwe. Ich zerreiße sie, und gehe davon; und niemand kann sie retten. Hosea fünf, Vers vierzehn." "Genau. Studieren Sie nebenbei auch Theologie? Davon hat mir Anna noch gar nichts erzählt." "Nein, aber Kunstgeschichte. Dieses Semester eine Vorlesung über Paramentik. Deshalb interessiert mich Ihr so kritisches Verhältnis zu Talar und Beffchen sehr. Ich habe von einem Pater gehört, der an die hundert Gewänder besitzt, alte katholische, vom Krieg verschonte immerhin, und moderne. Der denkt in den Fragen der Paramentik wohl ganz wie Sie.“ "Nein, nein, das evangelische Wort ist mir immer noch wichtiger als die ganze katholische Inszenierung. Aber daß der Sinn für das Geheimnis des Gewandes und seiner Farben so ganz und gar in meiner Kirche verloren gegangen ist, das schmerzt mich schon." "Wie würden Sie sich denn gerne kostümieren?" "Kleiden, mein Freund, nicht kostümieren. So, als würde ich mir eine zweite Haut anziehen, um einzutauchen in ein anderes Ego, das sich anschickt, den Himmel zu öffnen. Geschieht dies am Morgen bedarf es eines anderen Gewandes als am Abend. Es ist eine Frage auch des Lichtes, wann ich mich wie kleiden würde. Der Raum, das Licht, die Farben des Gewandes und meine Handlungen - ein Gesamtkunstwerk! Ich bin gespannt auf Ihre Inszenierung. Hoffentlich kein Beckett! In diesem 'Endspiel' können sich die Alten nicht einmal mehr selbständig ordentlich anziehen, schrecklich!" "Würden Sie sich bei einer aufwendigeren Gewandung denn helfen lassen?" "Nein, um Himmelswillen, nein! Beim Einkleiden geht es doch ganz stark um das Ego, und selbstverständlich geht es dabei um eine sehr starke natürliche Aufgeregtheit und innere Spannung wie vor einem Auftritt. Ein solches Gewand wäre mir Casula, innerer Raum, Häuschen, das mir Unterschlupf gewährt. Da möchte ich schon selbst hinein schlüpfen, ganz allein für mich allein." "Ist solche Abschirmung vor der Gemeinde nicht auch Eitelkeit?" "Eitelkeit? Ich würde sagen: gestärkte Ich-Wahrnehmung. Das Gewandauch Korsett, dem eigenen Selbstbewußtsein eine Stütze aufzubauen. Ach ja, die Gemeinde! Verläßt du die Sakristei, dann trittst du vor so viel unglaubliche Belanglosigkeit, vor so viel Nonsens, Hohlsein, vor eine Front der Vergeblichkeit. Meine Rolle verlangt ständiges Agieren am Abgrund, alles, was ich tue, ist höchst fragwürdig. Ja, in Gottes Namen, ich bin ein eitler Pfarrer: Auch immer ganz für mich selbst da, unvermischt mit anderem. Sonst wäre es nicht auszuhalten. Und glauben Sie mir, ich besitze dabei genügend Ironie und Zynismus, mich meiner Schwächen selbst zu überführen." "Ein solches Gewand, wie Sie es für sich wünschten, hätte also viel zu tun mit Darstellen, Verführen und Selbstbetrug, nicht wahr? Wissen Sie eigentlich, daß Ihre Gemeinde Sie nicht liebt?“ "Das hat mir noch niemand zu sagen gewagt! Hören Sie, meine offenherzige Selbstkritik, mit der ich durchaus zu kokettieren beliebe, sollte Sie nicht zu dreisten Urteilen verleiten, sonst bleibt Ihnen mein Kirchenportal als Bühnenportal verschlossen. Was wollen Sie mir dort überhaupt hineinschmuggeln? Eine Kampfansage an die Talare, wie es jetzt an einigen - ach so progressiven! - Universitäten Mode zu sein scheint? Die Kirche ist kein Ort für Politik!" "Wir haben nicht vor, dort zu zündeln..." "Lassen Sie das. Sie haben ja keine Ahnung! Also, was ist das für ein Projekt?" "Wir haben ihm den Arbeitstitel 'Einübungen ins Sterben' gegeben." "Darüber muß ich mehr wissen. Ist theologisch haltbar, was Sie und Ihre Kommilitonen da aushecken? Private Mythologien gehören nicht in den Altarraum, das sage ich Ihnen gleich. Aber ich bin Ihnen gerne behilflich, die rechte Botschaft einzuarbeiten - als Ihr Produktionsdramaturg gewissermaßen. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, bin ich auch Krankenhausseelsorger. Ich habe einige Broschüren verfaßt, die Sie einmal lesen sollten. Da muß man eben durch. Stoßseufzer aus dem Krankenbett, respektvoll und andächtig aufgenommen, sehr lesenswert. Ich habe das Heftchen gerade zur Hand, in dem ich Luther zitiere: Aber der enge Gang des Todes macht, daß uns dieses Leben weit und jenes eng dünkt. Darum muß man von der leiblichen Geburt eines Kindes lernen, wie Christus sagt: Eine Frau, wenn sie gebiert, so leidet sie Angst, wenn sie aber genesen ist, so denkt sie nicht mehr an die Angst, weil sie einen Menschen in die Welt geboren hat. - Also muß man sich im Sterben auch der Angst bewußt sein und wissen, daß danach ein großer Raum und Freude sein wird. Das wäre ein christliches Motto für Ihr Projekt. Mit einem solchen Motto fänden Ihre Bühnenbretter Einlaß und Platz zwischen den Fürstengräbern. Eine großartige Kulisse übrigens! Kein Pappmaché, sondern Renaissance in Stein. Eine Szene ähnlich der in Palladios Teatro Olimpico. Das können Sie haben, das stelle ich Ihnen zur Verfügung, vorausgesetzt, Sie stellen das Sterben dar als den wichtigsten und erhabensten Augenblick unseres Lebens, als einen lichten, erleuchtenden, erlösenden Vorgang, als Hingabe in die liebenden Hände Gottes, die uns in ein Neues tragen. Sind Sie dazu bereit?" "Mir hat an dem Luther-Zitat gut gefallen, daß es Gebären und Sterben so nah zusammenrückt. Vor dem Gebären liegt die Zeugung, und nach dem Sterben ist neue Freude. Eros und Thanatos." "Nein, nein, nichts Dionysisches! Da haben Sie Luther falsch verstanden. Versprechen Sie mir, daß es keine Mätzchen geben wird, wie das heute so beliebte Clo auf der Bühne. Der Chorraum ist heiliger Ort und kein Abort! Haben wir uns da verstanden?" Das sah nicht gut aus. Aber er ist doch ein eitler Komödiant. "Und wenn Sie selbst mitspielten?" "Darüber ließe sich reden. Ich müßte dann allerdings auch an der Gesamtkonzeption und den Texten beteiligt und natürlich bei allen Proben dabei sein." Peng. Der Vater ist immer dabei. Nichts mit den Einzelproben für Anna. Kein ungestörtes Ausprobieren der Sterbebettszene, wobei es möglicherweise endlich zum ersten "kleinen Tod" kommen sollte. "Da müßte ich aber erst die Zustimmung unserer Theatergruppe einholen." Gottseidank sagte er unvermittelt, mit dieser autoritären Sprunghaftigkeit, die immer die Initiative behalten möchte, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, was dem anderen gerade wichtig ist: "Kommen Sie, wir gehen 'rüber in die Kirche; dann zeigen Sie mir, was Sie sich vorstellen." Das aber war Andreas jetzt nur recht. „Demonstrieren Sie mir im Chorraum, warum Sie dieses Gemeinschaftsprojekt unbedingt dort realisieren wollen." Oh Gott! Aber Andreas war nicht ganz unvorbereitet. Bei einer solch konkreten Frage holt man am besten ganz weit aus, wenn man die Antwort möglichst verschwommen zu halten gedenkt. "Natürlich sind die alten Griechen irgendwie unser Vorbild." ("Irgendwie" ist fürs Philosophieren immer gut). "Religiöser Kult– Dionysos. Tod und Auferstehung. Sie kennen besser als ich die theologischen Bezüge zur christlichen Religion. Chor - Liturgie - dann ein Einzelner, der heraustritt, ein Frager, der Rechenschaft fordert von den Göttern und dem Schicksal: Die Geburt des religiösen Dramas. Der Dialog über unauflösbare Gegensätze. Leben und sterben. Und das ungelöste Warum." "Sehr schön, sehr schön. Sie gefallen mir." Dieses Gönnerhafte hätte Andreas beinahe zu einer Sottise verleitet, aber er zog es dann doch vor, die gute Stimmung auszunutzen und den Pfarrer gewissermaßen besoffen zu quasseln: "Vernunft und Ekstase, Rausch und Verstand - sind sie nicht das Paar, das Religion und Theater miteinander verbindet seit alters her?" "Nun, nun..." "Aber Sterben und Euphorie, verzagen und hoffen, verschwinden und wiederkehren, niederfahren und auferstehen - das sind dramatische Gegensatzpaare, deren Auftritt hierher gehört, in diesen Chor, und Ihre Gemeinde ist das eigentliche Theatron, das Publikum!" "Sicher - gewiß..." Ein gewagtes Apercu: "Wir haben Erlebnisse, aber keine Ersterbnisse. " "Erlebnisse und keine Ersterbnisse...hm,hm... wohl wahr." "Wir treten als Frager vor Ihre Gemeinde, und sie wird uns antworten, als stum mer Chor zwar, aber mit innerer Bewegung." "Das möchte ich dann doch gerne etwas genauer..." Teufel auch, warum mußte er diese Vokabeln gebrauchen, die den Text ins Spiel brachten! "Wenn ich 'Frager' sagte, dann meinte ich nicht Frager im eigentlichen Sinn, es werden mehr Aktionen sein, die gewissermaßen Fragen stellen, aber das wird sich in den Proben entwickeln müssen..." "Es gibt also kein Textbuch, das ich einsehen könnte?" "Es wird sicher irgendwann eine schriftliche Fixierung geben..." "Die ich dann gerne einsehen würde. Bei diesem Unternehmen bin ich ja gewissermaßen der Intendant." Andreas stimmte etwas gequält in das kokette Lachen des Pfarrers ein. "Aber doch sicher ohne inquisitorische Ambitionen!" "Ich bin zwar durchaus Fundamentalist, aber kein mittelalterlicher!" "Das hat mir Anna schon ungefähr so gesagt." "Ach ja? Sie sprechen über mich? Dann sind Sie wohl ziemlich gut miteinander befreundet?" Der Mann war ein wachsamerer Zuhörer, als Andreas ihm zugetraut hatte. Mit seiner unkontrollierten Bemerkung hatte er jetzt zwar das Verhör zum Thema "Einübungen ins Sterben" vom Hals, sich aber gleichzeitig wahrscheinlich ein Verhör zum Thema "Was üben Sie denn so im Leben meiner Tochter?" aufgehalst. "Sie sind doch verheiratet und ein ziemlich junger Vater? Bitte mißverstehen Sie meine Frage nicht. Aber in gewissen Fragen habe ich unumstößliche Grundsätze; da stehe ich auf einem festen Sockel. Nein, nein, ich bin kein Komtur, kein steinernes Denkmal. Auch wenn meine Tochter Anna heißt, wäre ich nie ein Vater, der einen Don Juan heimsucht und mit eisiger Hand in die Hölle reißt." "Sie sind kein Komtur, und ich bin kein Don Juan." "Also naht kein Strafgericht." Wieder dieses selbstgefällige Lachen. "Zurück zum Thema. Glauben Sie, daß uns ein Strafgericht erwartet? Und denken Sie daran, wenn Sie ans Sterben denken?" Auch das noch, die Gretchenfrage! Dieses Examen sparte kein Thema aus. "Mit welchem Recht sollte Gott uns strafen?" "Wir sind alle Sünder." Mein Gott, bisher war doch alles ganz gut gelaufen! Mußte sich Andreas jetzt wirklich so um Kopf und Kragen reden? "Für mich ist das Weltall so etwas wie ein rasend expandierendes Unternehmen, in dem der für uns zuständige Bereichsleiter eine Niete ist. Und dazu bösartig. Was er mit den Menschen treibt, ist reinstes Mobbing! Fortdauernde Vertreibung aus dem Paradies - so dieses Unternehmen je ein Paradies war." "Eine merkwürdige Terminologie für theologische Fragen. Na ja, Sie sind ein Kind unserer Wirtschaftswunderzeit. Aber sprechen Sie ruhig weiter." Von wegen ruhig, Andreas war viel zu sehr in Fahrt. Der Alte würde sich noch wundern: "Ein einziger strafender oder auch gnädiger Gott - Monotheismus! Diese idiotischen Allmachtsphantasien! Und unsere Arroganz zu glauben, der Konzernchef kümmere sich um jede Filiale in der hintersten und dunkelsten Provinz! Wahrscheinlich dauert es Lichtjahre, bis er einen Schimmer davon bekommt, daß sein Substitut für unser Sonnensystem eine trübe Funzel ist. Wäre ich der Konzernchef, ich hätte schon längst diesen Regionalleiter, diese Niete in Nadelstreifen, gefeuert. Erdbeben, Flutwellen, Hungersnöte - all diese Katastrophen sind nichts anderes als die Folgen des Mißmanagements dieses unfähigen Betriebsleiters! Und was für Folgen! Tausende, Millionen, Milliarden von Opfern in der traurigen Geschichte dieses Unternehmens. Wenn der Betriebsleiter den Unternehmensgrundsatz 'Du sollst nicht töten' nicht vorlebt, warum sollte das Fußvolk sich danach richten? Die Menschen, diese Ebenbilder, treten in die Fußstapfen des Vorbildes, des Sonnensystem-Versagers, und helfen tüchtig mit, die Szene zu verdunkeln. Ich fürchte diesen Versager. Er wird sich an allen rächen, die ihn durchschaut haben. Das Strafgericht ist für die, die den Versager 'Versager' nennen. Ja, ich glaube an dieses Strafgericht und weiß, daß ich es zu fürchten habe." "War das der Text zu Ihrer Einübung? Dann würde ich doch dringend ein paar Striche empfehlen. Mein Freund, Sie sind ein Hitzkopf. Aber es bleibt dabei, Sie gefallen mir. Lassen Sie uns die Sache weiter bereden. Nicht jetzt. Die Katechumenen warten auf mich. Aber Ihr Projekt hat mich sehr zu interessieren begonnen. Wirklich. Wir bleiben in Verbindung. Anna wird es Ihnen sagen, wenn ich Zeit für Sie habe." Schon wieder diese verfluchte herablassende Gönnerhaftigkeit! "Ich, wir alle sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet." "Keine Ursache. Ich bin immer dafür, junge Menschen zu unterstützen, die dem zunehmenden Materialismus unserer Zeit Ideen und Ideale entgegensetzen." Als Andreas dem Pfarrer zum Abschied die Hand reichte, bildete er sich ein, eine Hand aus Marmor zu halten, worüber er kurz erschrak, aber dann dachte er nur: "Commendatore! O vecchio buffonissimo!" Dies mochte er Annas wegen nicht auf Deutsch denken.

Es war der Samstag vor dem ersten Advent im 1967. Jahr des Herrn. Anna und Andreas hatten sich für den Vormittag zu einer weiteren Einzelprobe verabredet. Der Herr Pfarrer hatte ihnen die Kirchenschlüssel ausgehändigt mit der Bitte, sie sollten sich einschließen, damit kein ungebetener Besucher den ersten Schneematsch ins Kirchenschiff hinein trampele. Zur Ankunft des Herren sollte sein Haus ordentlich aussehen. Und wie Andreas die Kirchentür verrammelte: Den dikken Schlüssel ins Loch, den dicken Balken in den Eisenbeschlag geschoben. Andreas war ein rammelnder Beschließer, der zuschließend vom Gegenteil summte: Macht hoch die Tür...schleuß die Himmel auf...Advent ... es kommt der Herr. Denn er hatte beschlossen: Heute oder nie! Noch einmal würde er sich nicht mit geweitetem Schritt davontrollen. Anna hatte unterdessen das schäbige eiserne Bettgestell mit der arg durchgelegenen Matratze und dem etwas schmuddeligen Leintuch aus der Sakristei mitten in den Chor neben die Grabtumba der Gräfin geschoben, die sich als Übersetzerin französischer Ritterromane einen Namen gemacht hatte. Unter den Drolerien, die die Kanten der Grabplatte umliefen, fand sich auch der Kopf eines Narren. Alles in allem war diese Tumba also durchaus prädestiniert, Zentrum einer szenischen Aventiure ums Sterben zu sein. Gemeinsam umstellten Anna und Andreas Tumba und Sterbebett mit Kandelabern und entzündeten die Kerzen. Anna hatte das Tonbandgerät eingeschaltet: Schubert, Der Tod und das Mädchen, natürlich in der Mahler'schen Orchesterfassung: „Vorüber, ach vorüber, geh' wilder Knochenmann!“ Mit eurythmischen heilenden Gebetsgebärden (so nannte Anna die von ihr erfundene Choreographie, die Andreas ihr auch mit seinen wiederholten Kitschvorwürfen nicht auszureden vermocht hatte) umtanzte Andreas' Objekt der Begierde die Bettstatt, strich an den hohen Wänden der fürstlichen Grabmäler entlang, die seitlich die Szene begrenzten, und warf einen huschenden Schatten auf die steifen Potraitfiguren der verblichenen Damen und Herren, so daß diese grotesk mit zu tanzen schienen. Die Damen schauten unter ihren eng anliegenden Häubchen allesamt ziemlich verdrießlich drein. Die Hände hielten sie verschränkt unter ihren eingeschnürten Brüsten. Stupid senkrechter Faltenfall der Gewänder bis zu den Füßen. Genau betrachtet waren es Damen ohne Leiber, präsent waren allein die Köpfe, die auf der weiten Halskrause wie auf einer weißen Schale ruhten, fertig zum Servieren. Aber wer hatte schon Lust auf solche stocksteife Stockprotestantinnen, bei deren Darstellung die Renaissance alles antikisch Diesseitige schlicht vergessen hatte. Zu Füßen der Damen lagen die schläfrigen Hunde, offensichtlich gelangweilt von der Lust- und Teilnahmslosigkeit ihrer frigiden Herrin nen, die fiir alle Zeit nichts und niemand mehr zum Erglühen bringen würde. In welchem Gegensatz zu dieser Tristesse Annas lebendiger Körper, wie er sich jetzt wiegte und bog, um vor dem imaginären Gerippe aus- und zurückzuweichen: „Und rühre mich nicht an!“ Doch, zugreifen, jetzt, dachte Andreas, sie umschlingen, die Brüste fassen. Anna erstarrte zum Modell ihrer eigenen Grabmalstatue. Jetzt nicht nachlassen. Sie ist kein Marmor, sie läßt sich erweichen. Laß die Edelleute nur gucken, gönne den prüden Langweilern doch das Spektakel, selbst die Hunde beginnen schon erwartungsvoll zu blinseln. Hic iacet. Ja, gleich liegen wir beide. Nicht so brav nebeneinander wie die Figuren des fürstlichen Paares, die man nicht aufgestellt, sondern flach auf die Sarkophage gelegt hatte. Ich leg' dich flach und mich obenauf, der leibhaftige Inkubus! Ein kopulierender Doppelakt, verschlungen wie die Laokoongruppe. Welches Bein zu welchem Körper? Ist das mein Arm oder ihrer? Von wo kommt der Fuß dorthin? Wir bringen die Anatomie so durcheinander, daß jeder Betrachter in unseren Taumel gerät. Schon lösen die Damen ganz aufgeregt die Häubchen und lassen ihre Haare wallen, die Grafen nesteln erregt an ihren Suspensorien, und die Hunde schnuppern aufgeregt, als wüßten sie, was das heißt: Odor di femmina! Nur einer der Herren spielt den Komtur, mimt Donna Annas Vater: Pentiti! Andreas aber schreit: No! Und dann noch einmal "No, no!" hoch zur Kanzel, von der der Herr Pfarrer ihm zu drohen scheint: “Jetzt naht dein Strafgericht!“ Wir leben nicht im Mittelalter, kein Höllenschlund öffnet sich, uns zu verschlingen. Hier verschlingen nur wir uns selbst, gegenseitig, nackt, mit Haut und Haar. Das Glas der Chorfenster verwandelte die einfallenden Sonnenstrahlen in bunte Flecken und Kringel, die auf den Drolerien der Tumba lustig herum hüpften und dem Narren eine bunte Kappe verpaßten. Physik transzendierte zu Metaphysik. Der Chor war zur kristallenen Minnegrotte geworden. Jetzt müßte die neue Orgel, Grand Orgue, französisch-romantisch intoniert, mit allem, was Schwellwerk und Windlade herzugeben vermögen, den wuchtigen Plenumklang aufbrausen lassen. Charles Vidor, Toccata. Ein Sturmlauf. Keine Zeit zum Atemholen. Immer neue Klangschübe, die dir in alle Glieder fahren. Ein akustischer Turmbau, der dein Hirn übersteigt. Du denkst, das ist der Höhepunkt, und dann wird doch noch ein Register gezogen, daß dir die Bässe im Magen zu wummern beginnen, und der Diskant dich Sternchen sehen läßt. "Hosianna! Hosianna!" Da war Annas Jubelschrei, den Andreas Hosea erstmals hörte. Ein Lustschrei, vom Chor bis zur Empore dringend, wo ihn auch kein Orgelbrausen übertönt hätte. Und ein Nachhall, der sich niederließ auf die Blätter der Kapitelle und die Spitzen der Fialen, um von dort in die Ewigkeit zu schweben. Zwischen all den kalten und so schrecklich einsamen Menschenbildern waren Anna und Andreas zu einem Paar geworden, das in diesem Moment nichts als die Wärme des Lebens und der Liebe spürte, die selbst den Kältetod der Erde überdauern würde. Nun, wir wissen, all dies ewige Dauern dauert nicht ewig. Die Kirche war zwar fiir den morgigen Adventssonntag schon vorgeheizt, aber selbst das schönste körperliche Glühen endet irgendwann mit einem „Jetzt wird's mir langsam kalt. Irgendwas ist da feucht unter mir, naßkalt fiihlt sich's an." Anna hebt ihr Becken und dreht sich etwas zur Seite. Eine Blutlache. Nicht die paar Flecken, die man hätte zur Schau stellen können, die gelungene Kopulation und Defloration zu dokumentieren, nein, eine Blutlache, die bis in die Matratze eingesickert war. Andreas dachte im ersten Augenblick nur "Scheiße." "Blutest du noch?" "Nein, ich glaube nicht. Aber du glaubst natürlich, das ius primae noctis hochherrschaftlich genossen zu haben, wie diese breitbeinig daste