5,99 €
Willst du Beßre besitzen, So laß dir sie schnitzen. Ich bin nun, wie ich bin; So nimm mich nur hin! GOETHE In der Reihe "Zum Vergnügen" zeigen Gedichte, Aphorismen, Briefe und Werkausschnitte berühmte Dichter und Denker von einer neuen Seite: das charakteristisch Andere, das nicht Erwartete, aber doch Erahnte, gedankliche Ab-, Um- und Seitenwege, verlockende Heimlichkeiten, kleine Gemeinheiten, hübsche Bonmots.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 133
Goethe zum Vergnügen
Herausgegeben von Volker Ladenthin
Mit 25 Abbildungen
Reclam
1992, 2011 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Umschlagillustration: Nikolaus Heidelbach, Köln
Umschlaggestaltung: Eva Knoll, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen.
Made in Germany 2017
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-960537-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-18794-4
www.reclam.de
Vorwort
I Ich bin nun, wie ich bin
II Wenn ich in deiner Nähe bin
III Trost in Tränen
IV Freibeuter
V Philister
VI An die Obern
VII Fehler der Jugend, Fehler des Alters
VIII Fliehe dieses Land!
IX Dieser Tag dauert mich
X Um Mitternacht
XI Wem zu glauben ist
XII Willst du dir aber das Beste tun
XIII Verschiedene Empfindungen
XIV Dieses ist das Bild der Welt
XV Die Menschen im Ganzen
Zitatnachweise zum Vorwort
Verzeichnis der Texte und Druckvorlagen
Abbildungsverzeichnis
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
Teilen kann ich nicht das Leben,
Nicht das Innen, noch das Außen,
Allen muss das Ganze geben,
Um mit euch und mir zu hausen.
Immer hab ich nur geschrieben,
Wie ichs fühle, wie ichs meine,
Und so spalt ich mich, ihr Lieben,
Und bin immerfort der Eine.
GA 1,670.
»Hoffen wir, dass Goethe nicht wirklich so ausgesehen hat! Diese Eitelkeit und edle Pose, diese mit den verehrten Anwesenden liebäugelnde Würde und unter der männlichen Oberfläche diese Welt von holdester Sentimentalität! Man kann ja gewiß viel gegen ihn haben, auch ich habe oft viel gegen den alten Wichtigtuer, aber ihn so darzustellen, nein, das geht doch zu weit.«1 Die Verärgerung von Hermann Hesses »Steppenwolf« über devoten Umgang mit dem Klassiker, geäußert auf seiner Odyssee durch die Lebensformen des 20. Jahrhunderts, ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen spürt der Steppenwolf hier die Gefangenheit Goethes in eben jenem kulturellen Gehege auf, gegen das sich Goethe (wie der Steppenwolf) zeit seines Lebens gewandt hatte: die Philisterei – wie bilderstürmerische Studenten damals eine klein- oder bildungsbürgerliche Lebensweise nannten. Zum anderen aber wittert der Steppenwolf, dass Goethe an dieser Domestizierung selbst nicht ganz unschuldig war, jener Mann »mit amtlich gefaltetem Mund«, der auf dem Porträt von Gerhard von Kügelgen2 und in Harry Hallers – des Steppenwolfs – Traum »einen dicken Ordensstern auf seiner Klassikerbrust« trägt. Obwohl auch Goethe das ›steppenwölfische‹ gekannt, »sich auch je und je dazu bekannt« habe, habe er mit seinem »ganzen Leben das Gegenteil gepredigt, […] Glauben und Optimismus geäußert«, »Dauer und Sinn« vorgespielt und sich somit »mumifiziert« und »zur Maske« stilisiert. Der Steppenwolf nimmt hier einen Vorwurf der Jungdeutschen auf.3 Christian Dietrich Grabbe zum Beispiel beschrieb Goethe als einen sich zum Weisen stilisierenden eitlen Greis, der »aus seiner Patrizier-Visage […] einen Jupiter zu machen«4 versucht habe.
Das Ziel dieser Auswahl aus dem ausufernden und immer nur in Auswahl zu erfahrenden Gesamtwerk Goethes ist es, dem Goethe unter der Maske ins Gesicht zu schauen, das edle, aber ins Göttergleiche entrückte Bildporträt durch Momentaufnahmen des lustigen und leichten, des umherirrenden und strandenden, des flüchtigen und angriffslustigen, kurz: des wildernden Goethes, eines Klassikers des Unklassischen, zu beleben. (Was natürlich auch wieder nur eine neue Einseitigkeit ist, denn die Selbststilisierung Goethes als des Weltweisen aus Weimar ist eben auch ein Charakterzug – oder ein Schachzug innerhalb der Regeln der Gesellschaft?) Goethe war keinesfalls nur der Repräsentant des sich ja gerade erst auf dem Vormarsch befindenden bürgerlichen Bewusstseins, sondern zugleich Außenseiter in seiner Zeit, Provokateur, Ausgestoßener und Gescheiterter. Der Steppenwolf Harry Haller in seiner Einsamkeit wäre mit diesem Goethe nicht mehr so ganz allein. Goethe war ein Wolf in Bürgerkostüm oder Adelsmaskerade. Fast in dem Sinne, wie es Achim von Arnim anlässlich des Todes Christiane Goethes, geborene Vulpius, schrieb: »So natürlich und doch seltsam ist’s, dass Goethe die Vulpius beweint, dass ich es mir nur aus seinem Vornamen Wolfgang ableiten kann, wie er zu ihr gelangt ist.«5
Oft riss Goethe sich die Klassikermaske, die ihm als Schutz vor der Umwelt diente, ab und zeigte sein wahres Gesicht, so im Gespräch mit Eckermann am 27. Januar 1824: »Man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begünstigten gepriesen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht schelten. Allein im Grunde ist es nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, dass ich in meinen 75 Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Wälzen eines Steines, der immer von neuem gehoben sein wollte. Meine Annalen werden es deutlich machen, was hiermit gesagt ist.«6 Hier spricht nicht Jupiter, sondern Sisyphus: Gemessen an den bürgerlichen Ansprüchen, wie sie später der Steppenwolf an jenem Ort, an dem er das Goethe-Porträt aufstöbert, repräsentiert findet, muss man in der Tat den Lebenslauf Goethes nicht nur als oft vergebliches Steinewälzen, sondern auch als Stolpern von einem Stein des Anstoßes zum nächsten verstehen.
Allein seine »Halbverhältnisse« – um aus den Annalen nur einen Aspekt herauszunehmen – lassen ihn recht unkonventionell erscheinen: Da »ward« – wie er schreibt – »mein früheres Verhältnis zur jungen Frau [Maximiliane Brentano] nach der Heirat fortgesetzt« – »peinigend genug«7; da liegt ein »undurchdringlicher Schleier«8 über der Beziehung Goethes zu Frau von Stein; da zieht im Juli 1788 eine 23-jährige Frau als Hausmädchen ins Haus des 39-Jährigen ein; ein halbes Jahr später wird sie von Goethe schwanger. Genau 16 Jahre später, am 19. Oktober 1806, heiratet Goethe seine Hausgefährtin – übrigens zum Gespött seiner nächsten Umgebung: »Unser Meister ist wieder aus dem Bade[-Urlaub], aber in Jena. Ich sehne mich, ihn zu sehen, um einen Begriff seiner Existenz zu haben, seiner poetischen nämlich, denn die reelle ist gar zu realistisch, und die Kugelform der Frau Geheimrat erinnert zu sehr an das runde Nichts, wie Oken die Kugel nennt, und ist doch ein Nichts von Leerheit und Plattheit. Wenn wir ihn in einer besseren Welt ohne dieses Bündelchen sehen könnten, wollen wir uns auch freuen, nicht wahr?« – meinte jedenfalls Charlotte Schiller.9
Da sind seine zahlreichen und langwierigen Bade- und Kurreisen, auf die Frau Schiller anspricht, zumeist mit den Hoffnungen auf ein kleines Liebesabenteuer angereichert, wobei allerdings stets gilt, dass die erotische Dimension bedeutsamer war als die sexuelle. Bei der Affäre mit der Frau des Frankfurter Bankiers von Willemer wurden Briefe in Geheimschrift ausgetauscht – Goethe war 65 Jahre alt. Die ganze Angelegenheit endete mit der »Schwermut« Mariannes. Als alles Werben um Goethe, der sich ihr gegenüber entzieht, nicht hilft, versucht Marianne ihn schließlich mit dem verzweifeltsten aller Argumente zu locken: »Und wie viele schöne Mädchen gibt es nicht hier.«10 Und 1822 – Goethe war nun 73 Jahre alt – hielt er um die Hand der 18-jährigen Ulrike von Levetzow an. Bekanntlich vergeblich – aber nicht umsonst: denn aus der Enttäuschung entstand die Marienbader Elegie.
Dies sei erinnert, um zu zeigen, dass Goethe sich wenig zum Hausfreund bürgerlicher Lebenskreise eignete. Folgerichtig hat seine bürgerliche Umwelt sich auch das Maul über ihn zerrissen: Nicht erst die Jungdeutschen, sondern gerade jene Zeitgenossen, die sich eher im Geist verwandt mit Goethe dünkten.
Er war noch keine 23 Jahre alt, da fand Johann Christian Kestner, Goethe sei »bizarre und hat in seinem Betragen, seinem Äußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm machen könnte«. Und dann heißt es: »Er tut, was ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es anderen gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhasst.«11
Ein solches Urteil über Goethe lässt sich an jeder Station seines Lebensweges nachweisen, so z. B. 1775: »Kurz, er ist ein großes Genie, aber ein furchtbarer Mensch.«12 Am Weimarer Hof habe Goethe – so ein hämischer Beobachter – »eine neue Moral« eingeführt, »nach der die geltenden Regeln nur aus menschlichen Grillen [stammen], und der erste Mann im Staate […] in der Lage [ist,] sie abzuschaffen«13. Als Folge eines solchen Scandalons sieht man in aufgeklärten Kreisen, »wie alle Projekte« Goethes »ärschlings gehen«14. »In Weimar«, schreibt der Homerübersetzer Johann Heinrich Voss, gehe es »erschrecklich zu. Der Herzog läuft mit Goethen wie ein wilder Pursche auf den Dörfern herum; er besäuft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm. […] Klopstock hat desfalls an Goethe geschrieben und ihm seinen Wandel vorgerückt […]. Goethe verbat sich in seinem und des Herzogs Namen solche Anmahnungen, die ihnen das süße Leben verbitterten, und Klopstock schrieb ihm darauf, dass er seiner Freundschaft unwürdig sei.«15 Goethe wirkte auf seine Zeitgenossen als »Unmensch«, befremdend und abstoßend selbst bei seinen engen Freund(inn)en: »Es ist nicht möglich, mit seinen Betragen kömmt er nicht durch die Welt! Wenn unser sanfter Sittenlehrer gekreuz’get wurde, so wird dieser bittere zerhackt!«16
Goethe wusste, dass er – wie der Steppenwolf – außerhalb des sozialen Verstehenshorizontes seiner Zeit stand: »Erst war ich den Menschen unbequem durch meinen Irrtum, dann durch meinen Ernst. Ich mochte mich stellen, wie ich wollte, so war ich allein.«17 Er stimmte zu, wenn man »nicht bloß das düstere, unbefriedigte Streben [des Faust], sondern auch den Hohn und die herbe Ironie des Mephistopheles als Teile meines eigenen Wesens bezeichnet.«18 Dieses Mephistophelische rettete sich bis in die museale Lebensform des Alters, ein Goethe »voll Übermut, Ironie und mephistophelischer Laune«, der zuweilen die »Miene und den Ton seines Mephisto«19annahm. Und schon die ersten Begegnungen hatten den Teufel in ihm geschildert: »Der Herr Goethe hat eine Rolle hier gespielt, die ihn als einen überwitzigen Halbgelehrten und als einen wahnsinnigen Religionsverächter nicht eben nur verdächtig, sondern ziemlich bekannt gemacht. Er muss, wie man fast durchgängig von ihm glaubt, in seinem Obergebäu-de einen Sparren zuviel oder zuwenig haben.«20 Goethe – das ist, wenn er bei sich ist, der Außenseiter und der Ausgestoßene. So war es vergeblich zu hoffen, dass, wie seine Mutter schrieb, Goethe sich »ins künftige wie andre Christenmenschen geberden und auf führen will«.21
Goethe im Urteil seiner Zeitgenossen: Das ist auch eine Sammlung von Ablehnungen, Verurteilungen, Kritiken – und Goethe bat ausdrücklich in einem Aufsatz Für die Misswollenden, den in diesen Urteilen aufbewahrten Teil seines Selbst nicht zu vergessen.22 Zumeist missfiel, dass er sich nicht in jene bürgerliche Ordnungswelt einordnete, die seinen Kritikern als die beste aller Welten schien. Goethe passte ihnen nicht in den bürgerlichen Rahmen – es sei denn, man beschnitt sein Ganzporträt.
In vielen Rückblicken nennt Goethe die Vergeblichkeit als die Grunderfahrung seines Lebens: »Gott weis ich bin ein armer Junge.«23 Und dies zu Recht. Goethe scheiterte nahezu immer. Er scheiterte als Liebhaber, Liebender und Hochzeiter, er scheiterte – in der eigenen Beurteilung – als Tat- und Sinnenmensch, der er doch so gern geworden wäre. Just zu der Zeit, als er sich mit dem jungen Herzog von Weimar zum Leidwesen des Hofestablishments austobte, befindet er, dass er »mehr als jemals am Platz (ist), das durchaus Scheisige dieser zeitlichen Herrlichkeit zu erkennen«.24 Und wie sein privates Leben als Geschichte eines Verlorenen zu lesen ist, ist auch sein öffentliches Leben als Minister und schließlich auch als Schriftsteller als eine Chronik des Verlierens zu lesen. Seine Bemühungen um ein literarisches Theater zum Beispiel, dem Traum des Meisters, sind vergebliche Müh’: Nach 41 Jahren muss er ohnmächtig zusehen, wie eine Schauspielerin und Mätresse seines Jugendfreundes Carl August in seinem Theater ein Stück aufführen lässt, in dem es um die Show eines auf den Mann dressierten Hundes ging: die Schaubühne als circensische Veranstaltung. Auch in diesem Fall bilanziert Goethe, dass er sich bemüht, aber nichts bewegt habe: »Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sei es möglich, ein deutsches Theater zu bilden. Ja ich hatte den Wahn, als könnte ich selber dazu beitragen und als könne ich zu einem solchen Bau einige Grundsteine legen. Ich schrieb meine Iphigenie und meinen Tasso und dachte in kindischer Hoffnung, so würde es gehen. Allein es regte sich nicht und rührte sich nicht und blieb alles wie zuvor. Hätte ich Wirkung gemacht und Beifall gefunden, so würde ich euch ein ganzes Dutzend Stücke wie die Iphigenie und den Tasso geschrieben haben. An Stoff war kein Mangel. Allein, wie gesagt, es fehlten die Schauspieler, um dergleichen mit Geist und Leben darzustellen, und es fehlte das Publikum, dergleichen mit Empfindung zu hören und aufzunehmen.«25 Und die bittere Bilanz des zum Klassiker missratenen Erfolgsschriftstellers aus Weimar ist, »dass es mit dem ganzen Theaterwesen im Grunde nichts als Dreck ist«26.
War Goethes Lebensstil von den Zechtouren des Stürmer und Drängers bis zu den auch amourös motivierten Kuraufenthalten des Greises schon zu verstehen als Verachtung und Abkehr von exakt dem Lebensraum, in dem man ihn, als idealisiertes Porträt »durch eine steife Kartonklappe zum Schrägstehen gezwungen«27 auf das Vertiko der guten Stube gestellt, zu domestizieren versuchte, so sind es seine literarischen Arbeiten ebenso. Sie eignen sich nicht als Devotionalien. Jede einzelne Arbeit muss vielmehr, wie Hans Mayer nachweist, als »Dichtung gegen die Zeit«28 gelesen werden. Die Authentizität der literarischen Werke kann man deshalb im Hass, den Goethe mit dieser kategorisch oppositionellen Haltung provozierte, in den negativen Urteilen und in den Verurteilungen besser dokumentiert finden, als in den wohlmeinenden Besprechungen. Bereits seine erste für die Publikation vorbereitete Arbeit legt es auf Provokation an und spielt mit der Verachtung derjenigen, für die sie doch geschrieben wurde: »Es gibt hier einen Studenten namens Goethe […]. Dieser junge Mensch ist von seinem Wissen aufgeblasen […] und wollte eine These aufstellen, die zum Titel haben sollte ›Jesus autor et judex sacrorum‹. […] Man hat jedoch die Güte gehabt, ihm die Drucklegung seines Meisterwerkes zu verbieten. Danach hat er dann, um seine Verachtung kund zu tun die allersimpelsten Thesen aufgestellt […]. Man hat ihn ausgelacht, und damit war er erledigt.«29
Diesen Preis, nicht gerade zerhackt, aber doch verboten30 und verrissen zu werden, weil er auf seiner Sicht der Welt bestand, wird Goethe zeitlebens für all seine Arbeiten bezahlen – zuweilen wird er ihn gern bezahlen, zuweilen verwundert. Stellte man Goethes Werke als ausgewählte Erfolge eines goldschnittigen Klassikers aufs Bücherbord, dann verstellte man sich den Zugang zu ihm. Will man ihn wirklich, muss man seine Werke immer als Flucht aus literarischen oder sozialen Beschränkungen lesen. Und man muss auch jene Stücke lesen, die scheinbar schwer ins Mosaik des Klassikers einzupassen sind.
Man muss Goethe als Skandal begreifen – übrigens auch seine Klassik. Sie war alles andere als das, wenn man unter Klassik die Anerkennung zeitloser Normen versteht. Die Klassik Goethes war Normbruch, war gegen die Konvention gedichtet und wollte nie maßgebend für neue Versteinerungen oder Mumifizierungen sein. Ausgerechnet auf der Italienischen Reise, jener vielbeschriebenen Flucht in die Klassik, notiert Goethe am 5. Oktober 1786: »Ich komme immer auf mein Altes zurück. Wenn dem Künstler ein echter Gegenstand gegeben ist, so kann er etwas Echtes leisten.« Ein Jahr später: »Man muss schreiben, wie man lebt, erst um sein selbst willen, und dann existiert man auch für verwandte Wesen.«31 Dann aber sind »Regeln« in der Kunst leblos und Leerlauf: »Was will der ganze Plunder gewisser Regeln einer steifen veralteten Zeit […] und was will all der Lärm über klassisch und romantisch! Es kommt darauf an, dass ein Werk durch und durch gut und tüchtig sei, und es wird auch wohl klassisch sein.«32 »Das Alte [ist] nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund«33 ist – mit dieser Definition sind alle hier versammelten Texte im wahrhaft Goetheschen Sinne »klassisch«.
Goethe hatte sich vom affirmativ gewordenen Publikum getrennt, als dieses noch glaubte, Schriftsteller schrieben für ein reales Publikum. Goethe schrieb nur für sich selbst – und notfalls gegen das Publikum. Dass er sein »Hauptgeschäft«, den 2. Teil des Faust, nicht zu Lebzeiten veröffentlicht sehen wollte, belegt, dass er über sein Ende hinaus gegen Brotgelehrte und Bildungsphilister gestürmt und gestoßen hat. Goethe mochte sein Publikum nicht: »›Die gerechtere Nachwelt‹, nahm ich das Wort; aber Goethe, ohne abzuwarten […] entgegnete mir mit ungemeiner Hastigkeit: ›Ich will nichts davon hören, weder von dem Publikum noch von der Nachwelt, noch von der Gerechtigkeit, […] die sie einst meinem Bestreben widerfahren lassen. Ich verwünsche den Tasso bloß deshalb, weil man sagt, dass er auf die Nachwelt kommen wird; ich verwünsche die Iphigenie; mit einem Worte, ich verwünsche alles, was diesem Publikum irgend an mir gefällt. […]