Goldkinder 1 - Tatjana Zanot - E-Book

Goldkinder 1 E-Book

Tatjana Zanot

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Beschreibung

Ich brauchte Luft. Ganz dringend Luft. Doch obwohl ich atmete, wurde ich das Gefühl nicht los, allmählich zu ersticken. Isabel Schneider und ihre Freunde werden von allen an der Schule bloß Goldkinder genannt. Sie haben scheinbar alles: Vermögende Eltern, Beliebtheit, alle Türen stehen ihnen offen. Als sich Isabels Bruder Tommy das Leben nimmt, gerät ihre glitzernde Scheinwelt ins Wanken. Plötzlich steht niemand mehr hinter ihr, ihre Freunde wenden sich von ihr ab. Zusammen mit Emma will sie die Wahrheit über Tommys Tod herausfinden. Denn von einer Sache ist sie überzeugt: Er hätte sich niemals umgebracht und sie dadurch alleine gelassen.

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In Erinnerung an meinen Vater

Erwin Zanot

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Emma

Fabienne

Carmen

Isabel

Kapitel Zwei

Fabienne

Carmen

Isabel

Emma

Kapitel Drei

Carmen

Isabel

Fabienne

Emma

Kapitel Vier

Isabel

Carmen

Emma

Fabienne

Kapitel Fünf

Carmen

Isabel

Fabienne

Emma

Kapitel Sechs

Isabel

Carmen

Fabienne

Emma

Kapitel Sieben

Emma

Fabienne

Isabel

Carmen

Kapitel Acht

Fabienne

Carmen

Emma

Isabel

Kapitel Neun

Emma

Fabienne

Emma

Isabel

Emma

Kapitel Zehn

Fabienne

Isabel

Emma

Epilog

2008

Kapitel Eins

Emma

Es gab Zuckerwatte. Überall an den Bäumen hing rosa Zuckerwatte wie kleine Wölkchen – an den Bäumen, an Straßenlaternen, sogar ein Hund wurde von einer Leine aus rosa Zuckerwatte gehalten. Und ich musste bloß meine Hände danach ausstrecken und mir ein bisschen abreißen.

Es war, als würde ich schweben. Ich schwebte durch mein eigenes, perfektes Zuckerwatte-Land, als der Hund plötzlich zu bellen begann.

Nein, er bellte nicht … Er schrillte. Wie ein Alarm. Unerträglich laut …

Moment – ein schrillender Hund?

Ruckartig saß ich kerzengerade im Bett und war mit einem Mal hellwach. Meine Hand angelte nach meinem Handy auf meinem Nachttisch und stellte den Alarm aus. Das Sonnenlicht fiel bereits hell durch mein halb heruntergelassenes Rollo. Das war kein gutes Zeichen.

Nach einem vergewissernden Blick auf meine Handyuhr – 7:06 Uhr – bestätigte sich meine ungute Vorahnung.

Ich hatte verschlafen. An meinem ersten Schultag in der 9. Klasse würde ich haushoch zu spät kommen. Das schaffte auch nur ich!

Mit einem Satz sprang ich aus meinem Bett, verlor allerdings sogleich mein Gewicht, stolperte und prallte gegen meinen menschengroßen Teddybären, der auf einem gelben Korbsessel gegenüber von meinem Bett thronte, federte ab und landete mit einem dumpfen Aufprall auf meinem Hintern.

Just in diesem Augenblick wurde meine Zimmertür geöffnet und als sie gnadenlos den Lichtschalter betätigte, konnte ich auch meine Mutter Svea im Türrahmen erkennen. Unter ihrem linken Arm hielt sie einen vollen Wäschekorb, ansonsten sah sie aus wie immer. Dunkle Jeans, weiße Bluse, ihr blondes Haar hochgesteckt. Ihre Lesebrille saß noch auf ihrer zierlichen Stupsnase – die sie leider nicht an mich vererbt hatte – was bedeutete, dass sie erst vor ein paar Minuten den Frühstückstisch mit ihrer Morgenzeitung verlassen haben musste.

Ihr Blick ging zu meinem Bett, blinzelte verwirrt als sie mich nicht entdeckte, ließ ihn dann weiter gleiten und blieb schließlich verwundert an mir hängen. „Warum sitzt du denn auf dem Boden, Schätzchen?“

„Weil es hier so bequem ist!“

„Ach“, machte sie bloß, als hätte sie die Ironie nicht gehört. „Du musst dich ein bisschen beeilen, wenn du noch pünktlich kommen willst.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, sprang auf und durchquerte mit zwei Schritten mein Zimmer, um zu meinem Kleiderschrank neben meinem Bett zu gelangen. Dutzende Pferde auf Postern blickten mir entgegen, als ich vor ihm stand. „Du hättest mich ja auch mal eher wecken können!“, brummte ich verdrossen und öffnete knarzend meinen Schrank.

Meine Mutter grunzte verächtlich. „Erinnerst du dich noch an das letzte Mal, als ich es versucht hab? Du hast mich mit Mr. Speck abgeworfen und mir meine Brille verbogen. Ich musste mir eine Neue kaufen!“

Ich griff nach einer Schlaghose und einem sonnengelben Top, welches in Höhe des Brustanfangs eine Art Bordüre in Form eines geflochtenen Zopfes aufwies, Unterwäsche und einen grauen Cardigan. „Ist mir ega-hal!“, trällerte ich, während ich mit meinem Hintern die Schranktür wieder zuwarf. „Diese Geschichte gehört der Vergangenheit an und ich habe beschlossen, in der Zukunft zu leben. Das ist besser für mein Karma!“

„Ich glaube nicht, dass Karma etwas damit zu tun hat, mein Schatz!“, sagte meine Mutter noch, während ich mich an ihr vorbei zwängte, über den Flur lief und prompt mit der Schulter zuerst gegen die geschlossene Badezimmertür prallte. „Aua!“, schrie ich auf und ließ meine Klamotten fallen. Dann realisierte ich erst die Tatsache: Wenn das Bad verschlossen war – und das war es um diese Zeit normalerweise nicht – konnte ich mich nicht fertig machen und würde die Chance, zumindest halbwegs pünktlich zu sein, vollends vertun.

„Ich könnte ja in euer Bad gehen“, murmelte ich gedankenverloren, doch meine Mutter schnalzte mit der Zunge. „Geht nicht, dein Vater macht sich gerade für die Arbeit fertig.“

Wütend schlug ich mit der geballten Faust gegen die Tür. „Mach die Tür auf, Jan! Ich muss da rein!“

„Jan schläft noch“, warf meine Mutter ein, die noch immer in meinem Türrahmen stand. Und war das etwa ein amüsiertes Grinsen, was da über ihre geschminkten Lippen huschte?!

„Und wer blockiert dann das Bad?“, fragte ich genau in dem Moment, als es mir dämmerte. Wenn mein sechs Jahre älterer Bruder noch im Bett lag, vermischt mit der Tatsache, dass mein Vater im Elternbadezimmer auf der anderen Seite des Flurs duschte, blieb nur noch eine Person übrig.

„Marie!“, schrie ich gegen die Tür an. „Du kleine Giftziege! Mach verdammt nochmal die Tür auf! Ich muss mich auch -“

Als ich das Drehen des Schlosses hörte, verstummte ich überrascht. Kurz darauf öffnete meine jüngere Schwester die Tür und kam zum Vorschein.

Ich kniff meine Augen zusammen und musterte sie von oben bis unten. Sie trug ihre Lieblingsjeans, eine mit weißem Pferdeaufdruck, dazu einen rosafarbenen Pullover mit glitzernden, orientalischen Verzierungen. Ihr blondes, glattes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Das war alles wie immer.

Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

„Hast du dich etwa geschminkt?“

Sofort stand Svea mitsamt Wäschekorb neben mir und musterte ihre Tochter. „Wie siehst du denn aus?“ Ihre braunen Augen wurden groß. „Wieso?“, hakte Marie nervös nach und machte eine halbe Drehung, um sich noch mal im Spiegel zu betrachten.

Ich konnte mir ein abfälliges Grinsen nicht verkneifen. „Mal unter uns gesagt, mit dem pinken Lidschatten siehst du aus wie eine Kindernutte.“

„Ach Emma!“, tadelte meine Mutter mich, drückte mir den Wäschekorb in die Hand und huschte zu Marie, deren Augen sich prompt mit Tränen füllten. Sie ging vor ihr in die Knie, nahm sich umständlich ein Abschminktuch aus einer Packung am Rand des Waschbeckens heraus und fing an, über Maries Augen herum zu tupfen.

„Äh, ich wollte mich eigentlich fertig machen? Für die Schule und so?“

„Geh runter ins Gästebad, Schätzchen“, brummte meine Mutter zur Antwort.

„Boah, ernsthaft jetzt?!“, raunzte ich noch, warf den verdammten Wäschekorb ins Badezimmer, sammelte meine heruntergefallenen Klamotten auf und stapfte anschließend die breite Holztreppe nach unten.

Das war so verdammt unfair!

Ich warf einen letzten Blick auf die Uhr. Inzwischen war es 7:17 Uhr. Ich würde fliegen müssen, wenn ich es noch pünktlich schaffen wollte.

Wunder geschahen immer wieder. Sogar in einer kleinen Stadt wie Neustadt-Hausen. Und ich zählte es definitiv zu einem Wunder, als ich um 7:54 Uhr mein Fahrrad vor dem Schulgebäude des städtischen Gymnasiums anschloss. Marie ließ sich immer von unserem Vater mit dem Auto mitnehmen, weshalb sie vermutlich längst vor ihrem Klassenraum hockte. Ich für meinen Teil hasste es, mit dem Bus nach Hause zu fahren, und blieb deshalb lieber bei meinem Drahtesel. Außerdem fuhren meine besten Freunde Justus und Carmen auch jeden Tag mit dem Rad.

Ich schloss mein Fahrrad an und eilte in die Schule. Wenn man durch den Haupteingang ging kam man direkt zur Aula, in der auch der Vertretungsplan hing. So spät wie ich dran war, rechnete ich allerdings nicht mehr mit anderen Schülern – In der Regel hielt man sich nur in den Pausen in der Aula auf. Vor dem Unterrichtsbeginn gingen die Meisten direkt zu ihren Klassenräumen.

Nur deshalb achtete ich nicht mehr auf den Weg vor mir. Ich lief einfach voraus, in der Hoffnung vor meinem Klassenlehrer Herr Maßlab anzukommen.

Und prompt prallte ich zum Zweiten mal an diesem Morgen gegen Etwas – wobei dieses Etwas in diesem Fall menschlich war, männlich, einen Kopf größer als ich und langes, schwarzes Haar hatte, welches ganz dringend mal wieder geschnitten werden musste.

Mit einem leisen „Umpf!“ taumelte ich ein-zwei Schritte zurück. Plötzlich war da ein Arm, der mich festhielt, damit ich nicht weiter stolperte, doch er konnte unmöglich zu dem schwarzhaarigen Typen gehören, der mich schräg angrinste. Ich ließ meinen Blick den Arm entlang wandern und sah einen zweiten Jungen, etwa so groß wie der andere, allerdings hatten seine Gesichtszüge etwas älteres, waren nicht mehr ganz so weich, und sein honigblondes Haar war kurzgeschnitten. „Wir wollen doch an unserem ersten Tag keinen Unfall verursachen“, meinte dieser mit einem kecken Grinsen auf den Lippen.

„Hast du etwa keine Augen im Kopf?“, meldete sich auf einmal ein dritter Junge zu Wort. Er stand halb hinter dem Schwarzhaarigen, weshalb ich ihn erst jetzt bemerkte. Sein blondes Haar stand ab, als wäre er gerade erst aufgestanden, seine Augen hatte er so zusammengekniffenen, dass ich ihre Farbe nur hätte erraten können, und seine kindlichen Gesichtszüge verrieten, dass er einige Jahre jünger als die beiden anderen sein musste. Grob geschätzt hielt ich ihn für Maries Altersklasse.

Und konnte ihn deswegen aus Prinzip schon nicht leiden.

„So was wie dich hab ich auch zu Hause“, sagte ich ihm und schnalzte genervt mit der Zunge. „Bloß in weiblich und ein bisschen kleiner, aber genauso nervtötend.“

Während der kleine Junge Anstalten machte sich zu beschweren, musste der Schwarzhaarige laut lachen. „Hast du irgendeine Gabe oder so? Das war die zutreffendste Beschreibung auf meinen Bruder, die ich je gehört hab!“ Er reichte mir seine Hand. „Ich bin Till.“

„Und ich heiße Tobias“, stellte sich der Älteste von ihnen vor. „Wir sind in den Sommerferien nach Neustadt-Hausen gezogen. Der Zwerg dahinten“ - an dieser Stelle war ein beschwerendes „Ey!“ zu hören - „ist der Jüngste im Reichelt-Trio und heißt Timon.“

Ich gluckste, als ich seinen Namen hörte. „Wo hat er denn Pumbaa vergessen?“

„Der Witz ist schon so alt, dass er gar nicht mehr lustig ist!“, brummte Timon und verschränkte seine Arme vor der Brust.

In diesem Augenblick klingelte es zur ersten Stunde. „Verdammt!“, rief ich aus und plötzlich waren mir die Neuankömmlinge egal. Ich schaffte es noch, ihnen ein „Man sieht sich bestimmt!“ zuzurufen, ehe ich sprichwörtlich meine Beine in die Hand nahm und gefühlt um mein Leben rannte.

Fabienne

Eine Millisekunde vor dem Klingeln, welches die erste Schulstunde einläutete, schlug mein Klassenlehrer Herr Maßlab bereits das Klassenbuch auf und griff nach einem Kugelschreiber. Die vier neuen Mitschüler, die er mitgebracht hatte, saßen bereits wortlos auf den noch freien Plätzen – ganz vorne – und wirkten allesamt wie in sich zusammengesackte Kartoffelsäcke. Unter ihnen war nur ein Mädchen. Sie sah allerdings nicht aus wie jemand, mit dem ich mich abgab. Schwarze Haare, schwarze Kleidung, ihre Augen so stark schwarz umrandet, dass ich beim ersten Hingucken dachte, sie hätte diesen schwarzen Zensur-Balken im Gesicht kleben, und überall, wo es gerade passte, silbrige Nieten.

Die neuen Jungs interessierten mich ebenso wenig. Ein schlaksiger Brillenträger, ein Typ der aussah, als würde er schon morgen die Schule schwänzen, und der Letzte hatte ein ganz deutliches Problem mit Akne.

Sie alle gehörten zu dem unansehnlichen Teil.

Den Teil, dem Leute wie ich lieber aus dem Weg gingen.

Im Gegensatz zu ihnen hatte ich den perfekten Platz. Letzte Reihe in der Mitte. Von hier aus hatte ich alles im Blick. Zu meiner Linken saß meine langjährige und beste Freundin Isabel Schneider, die gerade auf dem Ende ihres pinken Bleistifts herumkaute, und rechts von mir Cho Yang, eine äußerst talentierte und wortkarge Asiatin.

Wir saßen immer ganz hinten. Hier saßen die Beliebten. Die Coolen. Und ohne arrogant klingen zu wollen – aber genau das waren wir.

Zumindest ein Teil davon. Ein kleiner Teil der beliebtesten Clique unserer Schule. Von den weniger Glücklichen wurden wir Goldkinder genannt.

Isabel tat zwar immer so, als wäre ihr dieses ganze Beliebtheits-Ding nicht so wichtig, aber ich wusste es besser.

Jeder definierte sich doch über seine Freunde.

„So, wer ist denn heute pünktlich und verdient sich einen Pluspunkt“, sagte Herr Maßlab mehr zu sich selbst, als die Tür aufgerissen wurde und ein Mädchen mit haselnussbraunen Locken herein stolperte.

Ich seufzte schon tief, noch ehe sie angefangen hatte zu sprechen.

Emma Gold. Das nervigste Mädchen, welches mir je begegnet war. Obwohl jeder inzwischen im 21. Jahrhundert angekommen war, trug sie noch immer Schlaghosen und ihr Haar wirkte immer irgendwie ungekämmt - und dann war sie auch noch so unverschämt dünn! Praktisch in jeder Pause sah ich sie etwas essen und trotzdem war sie dünner als ich, obwohl ich penibel genau auf die Aufnahme meiner Kalorien achtete.

Dennoch konnte ich nie aufhören, darüber nachzudenken, wie viel hübscher sie sein könnte, wenn sie nur etwas aus sich machen würde.

„'Tschuldigung!“, stammelte sie und schaute sich suchend im Klassenraum um. Als sie ihre beste Freundin Carmen Gonzales an der Seite des Klassenraums entdeckte, an dem sich keine Fenster befanden, huschte ein erleichtertes Lächeln über ihre Lippen und sie setzte sich eilig zu ihr.

„Heute lasse ich dir das noch einmal durchgehen“, sagte Herr Maßlab mit einem strengen Unterton. „Aber ich sag es euch gleich: Ab diesem Jahr wird es bitterer Ernst werden. Denkt bloß nicht, die 9. Klasse wird ein Zuckerschlecken! Nächstes Jahr seid ihr schon in der Oberstufe und ihr solltet euch langsam mit der Frage auseinandersetzen, was ihr mit eurem Leben noch anfangen wollt!“

Ein leises Tuscheln ging durch die Reihen. Ich nutzte diesen Augenblick und zog ein Notizbuch aus meiner Schultasche, schlug es in der Mitte auf und fand die Tabelle. Fein säuberlich hatte ich die Seite in waagerechte und senkrechte Linien aufgeteilt – Ganz links standen die Fächer, die in diesem Halbjahr auf den Stundenplan gehörten, daneben eine Spalte für die unterrichtenden Lehrer, eine für die Noten, die ich im Laufe des Halbjahres erhalten würde, und rechts gab es natürlich noch Platz für meinen Durchschnitt.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

Ich zuckte zusammen, als ich Isabels Gesicht so nah neben meinem spürte, dass ich ihr Kokosshampoo riechen konnte. Argwöhnisch und amüsiert zugleich betrachtete sie meine Tabelle. „Ich war ja schon froh mir gemerkt zu haben, wann die Schule wieder beginnt, und du hast schon eine Tabelle für deine Noten?“

„Ehrlich gesagt geht es mir vor allem darum, meinen Durchschnitt überprüfen zu können, um meine Leistungen eben im Auge zu behalten.“ Ich spürte, wie ich leicht rot anlief.

Isabel legte ihre Stirn in Falten, schüttelte kaum merklich ihren Kopf. „Ich weiß nicht, ob das schon als Manie gilt oder einfach nur krank ist.“

Blinzelnd wandte ich mich an sie. „Gäbe es denn da einen Unterschied?“

„Nun … Auch das weiß ich nicht.“

Ich musste kichern. Das war Isabel – mein blonder Engel mit den perfekten Locken und ihren strahlend, tiefblauen Augen, die sich über alles eine Meinung bilden konnte, aber über die wenigsten Dinge wirklich bescheid wusste.

„Fabienne?“, hörte ich nun Herr Maßlabs dröhnende Stimme und schaute auf. Ich wusste, was jetzt kam. Wir hatten es am letzten Schultag besprochen. Noch bevor er mich aufforderte, stand ich auf, nahm mein Notizbuch und ging nach vorne.

Ich warf meinem Klassenlehrer einen Blick zu, doch er beschäftigte sich bereits mit irgendwelchen Krikeleien ins Klassenbuch, also stellte ich mich direkt vor den Pult, mein Notizbuch in den Händen, und lächelte meine Mitschüler an.

„Hi Leute!“, begrüßte ich sie. „Für die Neuen stelle ich mich einmal ganz kurz vor: Mein Name ist Fabienne Roux, ich bin 14 Jahre alt und ich war letztes Schuljahr die Klassensprecherin, deswegen hat Herr Maßlab mich gebeten vor allem euch einen kleinen Willkommens-Gruß zu halten. Also – Herzlich Willkommen in der 9a!“ Ich schaute zuerst zu dem Mädchen mit den schwarzen Haaren, dann ließ ich meinen Blick über die anderen neuen hinweggleiten. Ich spielte meine Rolle perfekt: Auf sie wirkte ich nett und einfühlsam, wie jemand, der ihnen eine gute Freundin sein könnte. „In den letzten Jahren hat sich unsere Klasse vor allem durch eine gute Gemeinschaft ausgezeichnet und ich denke, ich spreche für alle wenn ich euch bitte, sich in dieser Gemeinschaft einzugliedern. Eine Gruppe ist immer nur so stark, wie ihr schwächstes Glied – Und zusammen können wir viel stärker sein, als alleine. Nichtsdestotrotz freue ich mich auf das kommende Schuljahr mit euch! Ich bin mir sicher, dass wir wieder einige, spannende Dinge gemeinsam erleben werden!“

Als ich fertig war, machte ich einen kleinen Knicks, so wie meine Mutter es mir beigebracht hatte. Der Großteil meiner Mitschüler applaudierte, doch ich konnte deutlich die Neider sehen, die mich mit ihren argwöhnischen Blick zurück zu meinem Platz verfolgten; sie gönnten mir den Ruhm nicht. Die Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass ich mich in der nächsten Pause zu den Coolen setzen würde, während sie in ihren langweiligen Hofecken verrotteten.

In dem Moment, als ich mein Notizbuch auf den Tisch ablegen wollte, fiel es mir aus der Hand und prallte auf die glatte Fläche. Dadurch rutschten verschiedenfarbige Bögen Papier heraus, die Isabel entdeckte und schon danach gegriffen hatte, als ich erst realisierte, was überhaupt geschehen war.

„Wozu braucht man so was?“, fragte sie und deutete auf die Farbmuster – pink, flieder, lindgrün, beige, hellblau.

Hastig nahm ich sie ihr weg und steckte sie zurück zwischen die Seiten meines Notizbuches. „Die sind für Jenna.“

„Ich glaube nicht, dass Jenna sich kein Papier mehr leisten kann.“

„Für ihren Geburtstag.“ Ich konnte sehen, wie Isabel die Stirn runzelte. Sie würde es früher oder später ja doch erfahren. Ich seufzte und murmelte: „Ich helfe ihr bei der Planung.“

Ihre Oberlippe zuckte; so wie immer, wenn sie sich ein Kichern verkneifen musste.

Augenrollend schlug ich mein Notizbuch zu und schob es an die äußere Ecke meines Tisches. „Ich will deine Meinung dazu nicht hören!“, stellte ich klar, und Isabel wandte sich mit einem wortlosen Achselzucken von mir ab.

Ich wusste, was sie dachte. Sie hielt nicht viel von Jennas Art, sich bei anderen einzuschleimen und ihre Arbeiten verrichten zu lassen. Sie verstand nicht, dass ich Jenna gerne half.

Unsere Familien waren schon seit Jahren eng befreundet. Ich kannte sie seit dem Tag meiner Geburt.

Außerdem war sie die Königin. Sie war diejenige, die die Fäden in der Hand hielt. In unserer schulischen Hierarchie stand sie ganz oben.

Sie führte die Goldkinder an, und jeder, der dazugehörte, wurde vom Fußvolk, wenn man es so nennen wollte, in Ruhe gelassen. Niemand legte sich mit uns an. Ich war ein Teil dieser Clique. Ich gehörte nicht zu den Anderen, sondern zum großen Universum; ich war einer der Planeten, die sich um Jenna kreisten.

Und wie jeder von uns wusste lag es an Jenna, wer ein Teil ihres Universums blieb – oder auf die Erde zurückfallen musste.

Isabel war da besser dran als ich. Ihr älterer Bruder Tommy ging seit ein paar Wochen mit Jenna aus. Und wenn Jenna die Königin war, dann war Tommy ihr schillernder König, ihr Held, ihr Ritter in glänzender Rüstung. Und das schon seit er einen Fuß in diese Schule gesetzt hatte. Er war der Anführer.

Isabel hatte einen Freibrief. Dank Tommy würde sie immer dazugehören. Für mich sah es nicht ganz so rosig aus. Ich hatte keine Geschwister, auf die ich zurückgreifen konnte.

Es gab keine andere Wahl. Wenn Jenna mich darum bat, ihren Geburtstag zu planen, musste ich es tun.

Carmen

In der 9. Klasse musste man noch in den Pausen den Klassenraum verlassen. Es würde noch genau ein Schuljahr dauern, bis wir nicht mehr wie Hühner aus dem Raum gescheucht wurden und man uns für verantwortungsbewusst genug hielt, 20 Minuten in einem 30qm2 großen Raum auszuharren.

Da wir heute nur Unterricht im Klassenverband hatten, ließen Emma und ich unsere Schulsachen zurück, nahmen bloß unsere Wasserflaschen und sie dazu noch ihre Brotbox und gingen gerade auf den Flur in Trakt B, als Jenna und Tommy auftauchten.

Keiner von beiden beachtete uns, doch ich konnte nicht anders; ich musste ihm ein Lächeln zu werfen. Als würde das irgendetwas für ihn bedeuten.

Kaum merklich schüttelte ich meinen Kopf. Jenna de Mâr ging in die 9c und in ihrem weißen Sommerkleid und mit ihrer kastanienbraunen Haarpracht, in dem eine weiße Schleife steckte, sah sie aus wie eine Prinzessin. Dabei hielt sie Tommys Hand, als wäre es selbstverständlich, und obwohl ich wusste, wie dumm es war; obwohl ich wusste, mich völlig irrational zu verhalten, spürte ich den schmerzenden Stich der Eifersucht durch mein Herz zucken und wünschte mir einen winzig kleinen Augenblick lang, ich wäre sie.

Es war nicht das Aussehen. Dank meiner spanischen Wurzeln bezeichnete mich Emma immer als exotische Schönheit, und – ganz objektiv betrachtet – vielleicht hatte sie damit auch Recht.

Aber ich war dennoch nicht sie. Nicht diejenige, die Tommys Hand halten durfte, ihm im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange hauchte, zärtlich seinen Namen flüsterte, wenn sie morgens neben ihm aufwachte … - Moment, was?

An so etwas wollte ich gar nicht erst denken!

Es war schon schlimm genug, sie zusammen zu sehen … Daran zu denken, was sie vermutlich alles taten, wenn sie alleine waren, brachte mich beinahe um den Verstand.

Während Emma von ihrem stressigen Morgen berichtete und sich lautstark über Marie beschwerte, folgte ich ihr auf den Pausenhof mit den Basketballkörben. Ein leichtes Schmunzeln huschte mir über die Lippen, als ich durch die gläsernen Doppeltüren in die Sonne trat und mich neben sie auf eine Bank setzte. Es gab keinen Ort, wo ich lieber meine Pause verbrachte.

Wortlos reichte sie mir eine Scheibe Brot und biss in ihre eigene hinein, kaute und sagte gleichzeitig: „Da kommen schon wieder diese Idioten!“

Auch ohne hinzusehen wusste ich, wen sie meinte – Moritz Stegner und Tommy, der sich endlich von Jenna hatte loseisen können. Ersterer hatte einen Basketball dabei.

Während ich die beiden Jungs betrachtete, murmelte ich halbherzig: „Sag nicht immer Idioten zu ihnen.“

Moritz hatte den Ball. Tommy ging vor ihm in die Hocke und sprang leichtfüßig von links nach rechts, wodurch seine honigblonden Locken auf und ab wippten. Als Moritz an ihm vorbei dribbeln wollte, fing Tommy ihn ab und klaute ihm den Ball.

„Meinetwegen, aber wer mit Jenna de Mâr zusammen ist, leidet zumindest an Geschmacksverirrung“, entgegnete Emma und betonte vor allem ihren Namen besonders abfällig.

Ich kicherte.

Emma hatte ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge, die offensichtlich waren. Während es die Beliebten gab, die in der Aula am besten Tisch saßen, waren wir die Außenseiter. Ich konnte all die abfälligen Spitznamen, die sie uns schon gegeben hatten, gar nicht mehr zählen. Doch Emma sah stets darüber hinweg. Ich hatte sie noch nie weinen gesehen, wenn Fabienne lautstark über ihre (wirklich nur ganz leicht) schiefe Nase lästerte. Oder dass sie mit der Wimper zuckte, wenn Jenna abfällig mit der Zunge schnalzte, sobald sie an ihr vorbeiging – vorausgesetzt Jenna beachtete sie. Und wenn Emma über ihre eigenen Füße stolperte, war sie stets diejenige, die am lautesten über sich lachte.

Sie fand es nicht schlimm, am Rand zu stehen. Immer die Letzte zu sein, die in Sportmannschaften gewählt wurde. Zu den Menschen zu gehören, die in den Schulgängen herumgeschubst wurden.

Wobei ich an dieser Stelle auch erwähnen muss, dass Emma von uns allen am Wenigsten abbekam. Mal von den Goldkindern abgesehen, wurde sie überall gemocht. Sie war einer dieser empathischen Menschen, die bloß lächeln brauchten und schon neue Freunde hatten.

Ich nicht. Ich tat mich schwer mit Fremden. Allerdings tat ich mich so ziemlich mit allem schwer, was mit anderen Menschen zu tun hatte. Ich war nicht dafür geboren worden, um Sympathie auszustrahlen.

Anders als Emma wollte ich nur um jeden Preis Teil dieser glitzernden Scheinwelt sein, die Jenna mir Tag für Tag vorlebte. Ich wollte zumindest eine echte Chance bekommen, glücklich zu sein.

„Hey, du Sausack!“, rief Emma plötzlich und ich zuckte erschrocken zusammen. Erst jetzt bemerkte ich die drei Jungen, die gerade durch die gläserne Tür getreten waren und zu uns trotteten. Allerdings kannte ich nur 2/3 des Trios.

Justus, ein leicht übergewichtiger Junge mit dunkelbraunen Haaren und einer ausgeprägten Vorliebe für die amerikanische Band Linkin Park, der selbst im Hochsommer noch einen Parka trug, grinste breit. Als er bei uns ankam, griff er wie selbstverständlich nach Emmas Wasserflasche und nahm einen kräftigen Schluck.

Viele waren der Meinung, die beiden wären ein Paar, doch das stimmte nicht. Sie waren bloß verdammt gute Freunde.

Neben ihm stand Joshua, der wie Justus in die 10. Klasse ging, und immer T-Shirts mit Comic-Aufdrucken trug. Heute war es eins mit Iron Man – Nicht, dass ich mich sonderlich dafür interessierte, aber wenn man mit ihm befreundet war, lernte man so einiges. Sein braunes Haar war kurz geschoren und in seiner Hand hielt er ein geschlossenes Marmeladenglas mit dreckigem Wasser. Als er sich neben mich setzt, rümpfte ich angewidert meine Nase.

„Das sind Pantoffeltierchen“, klärte er mich auf und klang dabei, als würde er mit einer Dreiährigen sprechen. „Ich züchte die und verkaufe die an die Siebtklässler. Todsichere Geldanlage!“

„Andere suchen sich ja einen Nebenjob“, kommentierte ich und wandte mich an den Fremden. Er war groß, hatte fettiges, schwarzes Haar und nickte Emma zur Begrüßung zu. Als er sie mit den Worten „Da ist ja das namenlose Mädchen!“ ansprach, war ich vollends verwirrt.

„Oh, verdammt!“, fluchte Emma lachend. „Ich bin Emma. Sorry, heute Morgen war echt nicht mein … Morgen!“ Sie neigte ihren Kopf, um hinter ihn schauen zu können. „Wo hast du deine Brüder vergessen?“

„Liebevoll abgestellt“, entgegnete der Neue. Und erst jetzt schien er mich zu bemerken. „Oh! Hi, ich bin Till.“ Höflich reichte er mir seine Hand.

Genau in dem Augenblick, als ich einschlagen wollte, flog ein Basketball dazwischen und prallte schmerzlich gegen mein rechtes Handgelenk. „Aua!“, kreischte ich auf und duckte mich automatisch vor weiteren Angriffen.

„Alter, was soll der Scheiß?!“, wetterte Justus drauf los.

Tommy und Moritz kamen zu uns gelaufen. Obwohl sie nicht lange gespielt hatten, zeichneten sich deutliche Schweißflecken unter Moritz' Achseln und sein braunes Haar kam mir eine Nuance dunkler vor als sonst.

„Ja, sorry“, hörte ich, wie sich Tommy halbherzig entschuldigte – es waren die ersten Worte, die ich überhaupt seit Wochen von ihm hörte.

Ich schaute zu ihm auf, hielt mir noch immer die schmerzende Stelle am Handgelenk. Unsere Blicke trafen sich.

Für den Bruchteil einer Sekunde waren wir nicht mehr hier, nicht mehr Tommy und Carmen; wir waren in einer stickigen Kneipe, lauschten den rockigen Klängen der Band, wippten im Takt der Musik …

Er war es, der zuerst wegschaute. An Justus gewandt sagte er noch einmal, wie sehr es ihm leid tat.

Die Tatsache, dass er den Blickkontakt unterbrochen hatte, schmerzte mehr, als meine Hand.

War es nicht absurd, wie sehr ein Herz wehtun konnte, ohne sichtlich verletzt zu sein?

Ich dachte, das Thema wäre durch.

Ich dachte, die Jungs würden einfach ihren Basketball nehmen und wieder abhauen; schnellstmöglich so tun, als hätte es diese Kollision unserer Welten nie gegeben.

Doch in dem Moment, als Tommy den Ball nahm und sich wegdrehte, riss Justus seine Arme hoch und schubste ihn.

Emma neben mir schnappte nach Luft. Joshua sprang auf die Beine und eilte zu seinem Kumpel, während Till mit großen Augen beobachtete. Und ich?

Ich saß einfach nur da, stocksteif und mit offenem Mund.

„Das muss ein für alle mal ein Ende haben!“, schrie Justus und sein Gesicht wurde ganz rot vor Zorn. „Ich habe keine Lust mehr, mich von euch herumschubsen zu lassen!“

Tommy fing sich wieder. Durch den plötzlichen Schwung hatte er den Ball wieder fallengelassen. Ich sah ihm dabei zu, wie er ins Gebüsch rollte.

Es gab nicht vieles, was Tommy in Rage versetzen konnte. Im Grunde genommen war er der gelassenste Mensch, dem ich je begegnet war. Als ihm einmal ein Fremder ein Bier über sein T-Shirt verschüttet hatte, hatte er noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

Doch hier, in aller Öffentlichkeit, von Justus Jäger geschubst worden zu sein, versetzte ihn nicht nur in Rage – es machte ihn fuchsteufelswild.

Seine honigblonden Locken flogen durch die Luft, als er sich mit einem Hechtsprung auf Justus stürzte und ihn zu Boden riss.

Inzwischen hatte die Rangelei ihr erstes Publikum angezogen. Noch immer konnte ich nichts sagen oder tun.

„Hört auf!“, schrie Emma neben mir, doch keiner machte Anstalten, auf sie zu hören. Die beiden Jungen kämpften miteinander. Ich konnte die dumpfen Aufschläge von Fäusten hören, Stöhnen, wüste Beschimpfungen.

Innerhalb kurzer Zeit hatte sich um uns eine Menschentraube gesammelt. Die meisten feuerten Tommy an. Natürlich.

Niemand stand hinter Justus, abgesehen von uns, wobei ich mir nicht sicher war, ob ich tatsächlich ein Teil dieses „uns“ war.

Der Kampf fand ein jähes Ende, als die Aufsichtslehrerin Frau Petit dazustieß. „Das darf doch niescht wahr sein!“, bellte sie mit ihrem französischen Akzent. „An unserer Schule wierd ein solches Veralten niescht geduldet! Sofort auseinander!“

Es brauchte noch weitere Überredungsarbeit, ehe die Jungs endlich voneinander abließen. Justus war mit einem blauen Auge und einer aufgeplatzten Lippe davon gekommen, doch Tommy blutete stark aus der Nase. Unwillkürlich zog ich ein frisches Taschentuch aus meiner Hosentasche und ging zu ihm, als wäre es selbstverständlich. Er saß noch auf dem Boden, also ging ich neben ihm in die Hocke. „Hier“, murmelte ich und reichte ihm das Taschentuch.

Er schaute auf. Es war, als richteten sich seine klaren, blauen Augen direkt auf meine Seele. Und da konnte ich es erkennen; für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich dieses Etwas sehen, was meine Hoffnungen wieder steigen ließ.

„Danke“, sagte er und klang dabei, als hätte er einen Schnupfen. Als er nach dem Taschentuch griff, berührten sich unsere Fingerspitzen, und es war, als würden tausend Blitze durch meine Glieder jagen.

„Tommy!“, hörte ich plötzlich eine mir sehr vertraute Mädchenstimme schreien. Noch ehe Jenna bei uns ankam, stand ich wieder auf und entfernte mich eilig ein paar Schritte von ihm. Als Jenna kurz darauf auftauchte und mit den Knien zuerst neben ihm auf den Boden fiel, wandte ich mich der Bank zu, auf der ich meine Freunde vermutete.

Doch sie waren weg.

Ich ließ meinen Blick über die Schaulustigen hinweg gleiten, und konnte gerade noch Emma sehen, die Till dabei half, Justus durch die Tür zu bugsieren. Als hätte es ein Stichwort gegeben, warf sie genau in diesem Moment einen Blick zurück – und schaffte es, alleine mit ihren Augen zu sagen, wie sehr sie mich in diesem winzig kurzen Augenblick verabscheute.

Und sie hatte Recht damit.

Ich war zum Feind gegangen, als ein Freund mich gebraucht hätte.

Isabel

„Schaut euch bloß mal meine Knie an!“, jammerte Jenna, während wir alle zusammen aus der Schule marschierten, Richtung Bushaltestelle. Der erste Schultag nach den Ferien hatte endlich ein Ende genommen. „Die sind ganz aufgeschürft!“

„Du hast dich ja auch echt rührend um Tommy gekümmert!“, bestätigte Gina, die so was wie Jennas beste Freundin war. Vorausgesetzt man kann von bester Freundin sprechen, wenn sie einem nur das sagte, was man hören wollte.

„Übertreib nicht so“, meinte Moritz stattdessen. „Du hättest dich ja nicht so auf den Boden fallenlassen müssen.“

„So etwas tut man aber, wenn man jemanden liebt!“, zischte Jenna zur Antwort. „Man gibt Opfer!“

Als sie stehenblieb, nutzte ich die Gelegenheit und überholte sie, betrachtete im Vorbeigehen ihre Knie und kommentierte: „Keine Sorge, Jen, war kein großes Opfer. Es werden nicht einmal Narben übrig bleiben!“

Hinter ihr konnte ich Dante van Holland und Henrik Benecke laut über meinen Witz lachen hören. Mein Bruder, der zwischen seinen Freunden schlenderte, verzog zumindest seine Lippen zu einem schiefen Grinsen.

„Du solltest dich freuen, dass ich für deinen Bruder da war“, entgegnete Jenna auf ihre gewohnt überhebliche Art.

Ich rollte mit den Augen. „Mal ehrlich, selbst wenn nicht, wäre er schon nicht verblutet. Er hätte sich auch einfach nicht mit dem Honk anlegen müssen.“

„Willst du etwa damit sagen, Tommy ist selbst Schuld?“

Ihre Stimme hatte einen bedrohlichen Unterton. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie die selbst ernannte Königin unserer Schule war, hätte ich sie glatt für eine böse Hexe gehalten.

Andererseits … In Schneewittchen wird die böse Hexe doch auch Königin, oder?

„Ich glaube, was Isabel meint, ist, dass ihr Bruder sich nicht gleich hätte prügeln müssen“, kam mir Fabienne zu Hilfe. „Der Klügere gibt nach und so.“

Jenna setzte sich wieder in Bewegung und mit ihr auch die anderen. Genau in diesem Augenblick traten Emma, Carmen und Justus aus dem Gebäude und lachten so laut, dass die Jungs sie natürlich bemerken mussten.

Und wieder blieben wir stehen.

„Schaut mal, wer da ist!“, rief Henrik und trat einen Schritt vor, als Justus vorbei gehen wollte. „Unser kleiner Held!“ Er spuckte sein Kaugummi genau vor Justus' Füße.

Dieser hielt einen Moment inne, starrte zuerst das Kaugummi an, dann Henrik. Was in ihm vorging, vermochte ich nicht zu sagen. „Komm weiter“, hörte ich Emma sagen, doch es war kein Flehen, nicht einmal eine Bitte; es hörte sich an wie eine Warnung. Ich warf Tommy einen Blick zu, doch er beachtete mich nicht. Ich konnte ganz genau sehen wie er Carmen beobachtete, die mit gesenktem Kopf an uns vorbeihuschte, als könnte sie sich unsichtbar machen.

„Genau, verzieht euch!“, schrie Moritz dem Trio hinterher. „Euch will man hier echt nicht mehr sehen! Keinen von euch!“

Der Rest des Heimweges verlief unkompliziert. Wir stiegen gemeinsam in den 323er Bus Richtung Hafenstadt (Ost) und beschlagnahmten die hinteren Sitzreihen. Der Bus fuhr vom städtischen Gymnasium zum Rathaus, durch die Innenstadt zum Fliederpark, wo Gina bereits ausstieg um sich mit ihrem Vater zu treffen, und weiter durch die Gegend. Hier waren die Häuser nobel, zumeist freistehend, die Gärten gepflegt und groß. Auf den meisten Grundstücken gab es eine Garage, vereinzelt sogar zwei. Hier, in der Nähe der Victor-Hugo-Privatschule, verabschiedeten Tommy und ich uns von dem Rest und stiegen aus.

Sie würden weiter in die sogenannte Hafenstadt fahren; dem Teil von Neustadt-Hausen, der nur den wirklich verdammt Reichen zustand. Mein Vater hatte früher oft gewitzelt, die Hafenstadt wäre Deutschlands L.A.

Früher, als er noch mit meiner Mutter verheiratet gewesen war.

Während der Scheidung war Tommy mein Fels in der Brandung. Es war ein regelrechter Rosenkrieg zwischen unseren Eltern entbrannt und wir waren immer wieder zwischen die Fronten geraten. Als unser Vater dann direkt nach der durchgezogenen Trennung seine neue Freundin vorstellte, war ich ausgerastet – Und Tommy hatte mich wieder beruhigt. Er war der einzige Mensch auf diesem verfluchten Planeten, der es schaffte, eine verdammt wütende 14-Jährige wieder zu beruhigen.

Mit diesen Voraussetzungen könnte er auch bei einem Stierkampf gewinnen.

Wir hatten uns immer schon gut verstanden, aber seitdem waren wir nicht nur Geschwister, sondern auch Verbündete.

Und ihn so schweigend wie jetzt zu erleben, kam wirklich nicht oft vor.

Er war ein Redner. Ein Macher. Und eigentlich hatte ich bis heute auch gedacht, er wäre keiner, der sich einfach prügelt.

„Schaut euch bloß meine Knie an!“, äffte ich Jenna nach, um die Stille zu durchbrechen. „Meine Knie sind ganz aufgeschürft!“

Jetzt, wo sie nicht mehr in Reichweite war, gluckste er leise.

Die einen würden die Tatsache, dass er über seine Freundin lachte, abscheulich finden, aber ich kannte ihn; alleine weil er mit Jenna de Mâr zusammen war, zweifelte ich an seinem Verstand.

Im Gehen stupste ich ihn sanft mit der Schulter an. „Erklärst du mir jetzt, was heute los was?“

„Da war nichts los“, entgegnete er mit einer wegwerfenden Handbewegung.

„Du hast dich geschlagen“, erinnerte ich ihn nicht gewillt, dieses Thema so schnell wieder fallen zu lassen. Wären wir Polizisten, dann wäre er der gute Cop und ich der Böse. „Und auch wenn ich der Ratte Justus – oder hieß er Julius? - die aufgeplatzte Lippe gönne, glaube ich dir nicht, wenn du sagst, dass es seine Schuld war. Zumal Carmen -“

„Wir reden nicht über sie“, unterbrach er mich knurrend. Augenblicklich verdüsterte sich seine Miene und er beschleunigte seinen Schritt, um von mir weg zu kommen.

So einfach machte ich es ihm natürlich nicht.

In den Wochen vor den Sommerferien war mir aufgefallen, wie Carmen ihn ansah. Und wie er manchmal den Bruchteil einer Sekunde zu lange im Türrahmen stand, wenn er mich beim Klassenraum abholte, und einen Blick hinein warf.

Irgendetwas war zwischen den Beiden, dass konnte ich fühlen; ich hatte nur nie aus ihm herausgekriegt, was.

Und dann, am letzten Schultag vor den Sommerferien, die große Überraschung: Mein Bruder war offiziell mit Jenna zusammen.

Ich hatte geglaubt, was auch immer zwischen ihm und Carmen war, wäre vorbei, aber wenn er sich vor ihr auf dem Pausenhof prügelte, hatte ich mich vielleicht geirrt. Man konnte nur mitkriegen, dass etwas vorbei war, wenn man wusste, dass es überhaupt einmal begonnen hatte, nicht wahr?

„Warum nicht?“, hakte ich nach und schloss mühelos zu ihm auf. Wir waren beide athletisch gebaut und sportlich veranlagt – er spielte Basketball in der Schulmannschaft, ich Volleyball. „Vor den Ferien hab ich sie dabei erwischt, wie sie eure Initialen in ihren Block kritzelte und ein Herz darum malte.“ Das war eine Lüge, aber der Zweck heiligte bekanntlich die Mittel. „Warum auch immer verknallte Mädchen Herzchen malen müssen. Das Ding sieht aus wie ein Arsch mit spitzer Nase! Aber darum geht es hier nicht. Hast du dich ihretwegen geprügelt?“

Ruckartig blieb er stehen, griff dabei nach meinem Oberarm und zog mich schmerzvoll zurück. „Aua!“, schrie ich auf und riss mich wieder los, blieb aber stehen.

Er sah mich auf eine Art an, die ich noch nie an meinem Bruder bemerkt hatte; irgendwie unheilvoll und wütend, vielleicht sogar voller Hass … Ich konnte es nicht benennen, aber es jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.

„Halte Carmen da raus, verstanden?“

In seiner Stimme lag etwas Bedrohliches. Mechanisch nickte ich bloß.

„Gut. Und jetzt geh nach Hause. Ich muss noch wohin.“

Wenn ich zu den neugierigen Schwestern gehören würde, hätte ich nachgehakt. Ich hätte ihn solange genervt, bis er mir verraten hätte, wo er noch hin wollte.

Aber ich war noch nie eine von diesen Schwestern gewesen. Außerdem war nichts daran seltsam. Tommy war beliebt; er ging öfters nach der Schule noch zu seinen Kumpels.

Also hörte ich mich bloß „Okay“ sagen, nickte ihm zum Abschied zu und ging dann alleine nach Hause.

Der Tag verlief wie immer. Ich kam nach Hause und fand das Telefon neben einer Lieferkarte vor, daneben genug Kleingeld. Heute würde es also Pizza geben. Ich bestellte und machte es mir dann im Wohnzimmer gemütlich, wo alles in warmen, erdigen Tönen gehalten war, und schaute irgendeine Gerichtssendung. Nach dem Essen trottete ich hoch in mein Zimmer, legte mich auf mein Doppelbett und las einen Krimi weiter. Obwohl mein Bruder und ich eine Etage für uns hatten, liefen wir uns überraschend selten über den Weg, weshalb ich ihn nicht einmal vermisste. Noch nicht einmal an ihn dachte.