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Sie würde nicht verstehen, dass selbst die Goldkinder normale Menschen waren, mit normalen Leben, in denen Unglück nun einmal genauso passierte wie Glück. Jedes der Mädchen ist auf sich alleine gestellt. Fabienne und Indra müssen an ihren neuen Schulen feststellen, dass Neuanfänge nicht immer einfach sind. Emma versucht, die Erlebnisse in Jungingen zu verarbeiten und herauszufinden, was ihr Herz ihr sagt. Und Isabel versteht nicht, wie sich ihre Freunde ausnahmslos an das Kontaktverbot ihrer Eltern halten können. Die scheinbare Märchenwelt der Goldkinder löst sich allmählich in Luft auf. Doch sehr bald müssen die Mädchen feststellen, dass ihre Freundschaft nie das Problem war.
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Seitenzahl: 436
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Für dich, Trüffeldino.
Irgendwann reichen meine Worte
vielleicht wieder aus.
I.
Akt
Kapitel Eins
Emma
Fabienne
Isabel
Indra
Kapitel Zwei
Emma
Indra
Isabel
Fabienne
II.
Akt
Kapitel Drei
Isabel
Emma
Fabienne
Indra
Kapitel Vier
Fabienne
Indra
Isabel
Emma
Kapitel Fünf
Indra
Isabel
Emma
Fabienne
Kapitel Sechs
Isabel
Indra
Fabienne
Emma
Kapitel Sieben
Fabienne
Emma
Isabel
Indra
Kapitel Acht
Isabel
Fabienne
Emma
Indra
Kapitel Neun
Emma
Fabienne
Indra
Isabel
Kapitel Zehn
Indra
Fabienne
Emma
Isabel
III.
Akt
Kapitel Elf
Emma
Isabel
Fabienne
Indra
Kapitel Zwölf
Isabel
Fabienne
Indra
Emma
IV.
Akt
Kapitel Dreizehn
Indra
Fabienne
Emma
Isabel
Kapitel Vierzehn
Emma
Isabel
Indra
Fabienne
Kapitel Fünfzehn
Indra
Isabel
Emma
Fabienne
Kapitel Sechzehn
Isabel
Emma
Fabienne
Indra
Kapitel Siebzehn
Fabienne
Indra
Isabel
Emma
V.
Akt
Kapitel Achtzehn
Fabienne
Indra
Emma
Isabel
Epilog
2009
Ich fuhr nicht gerne im Auto. Meistens wurde mir während der Fahrt speiübel, morgens eher als am Nachmittag. Mein Magen schien eine gewisse Zeit zu brauchen, um sich an den Alltag zu gewöhnen. Um wach zu werden, oder so etwas. Aber heute hatten meine Eltern darauf bestanden, mich an diesem Montagmorgen Anfang Oktober zur Schule zu bringen.
Ein Teil von mir hatte ihnen widersprechen, einfach in den Schuppen gehen und mein Fahrrad nehmen, wollen. Ein bisschen Normalität nach dem, was in Jungingen geschehen war. Es war schon zwei Wochen her. Oder erst? Ich war mir nicht sicher, wie ich mich fühlen sollte.
Als ich in ihre Augen geblickt hatte, war ich nicht in der Lage gewesen, zu rebellieren.
Eltern, die ein Kind beinahe und ein anderes tatsächlich verloren hatten, hatten einen ganz besonderen Blick. Eine merkwürdige Mischung aus Trauer, Sorge, einer schattenhaften Leere und die Angst, alles andere auch noch zu verlieren.
Außerdem verstand ich auch, dass sie mir meinen ersten Schultag nach den Geschehnissen so leicht wie möglich machen wollten. Nach den Geschehnissen … Wie seltsam sich das anhörte, selbst in meinen Gedanken. Als wäre das, was in Süddeutschland passiert war, etwas, über das man hinwegkommen könnte.
Leicht funktionierte nicht mehr, nicht für mich.
Ich schaute aus dem Autofenster, spürte das wohlbekannte, unangenehme Grummeln im Magen, als mein Vater in die Straße einbog, in der sich meine Schule befand. Dutzende Schüler warteten an den Ampeln darauf, endlich losgehen zu dürfen – überwiegend Jüngere, denn die Älteren achteten lediglich darauf, nicht überfahren zu werden. Ich glaubte, Timon zwischen einem Pulk Jugendlicher zu sehen, aber er interessierte sich nicht für das schwarze Auto, in dem ich saß. Ich konnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, dass es sich bei dem blondhaarigen Jungen wirklich um ihn gehandelt hatte. Es war eine angenehme Vorstellung zu wissen, dass er in der Nähe war.
„Sag mal -“, setzte Marie an, doch ich unterbrach sie instinktiv. Ich hatte keine Lust auf ihre spitzen Bemerkungen, nicht an diesem Morgen. „Lass gut sein, okay?“
Ich warf ihr einen warnenden Blick zu, der überraschenderweise wirkte. Sie schluckte ihre Gehässigkeit herunter, wandte sich ihrem Fenster zu und schaute nach draußen.
Unser Vater parkte verbotenerweise auf dem Lehrerparkplatz, was keiner von uns kommentierte. Früher hätte ich ihn darauf hingewiesen, dass unser Direktor Dr. Behr ihm dafür eine Abmahnung geben könnte. Aber früher war inzwischen zusammen mit leicht auf dem Friedhof der Vergangenheit gelandet, direkt hinter den Träumen, die man begraben hatte.
Marie schnappte sich ihre Tasche, stieg aus und wartete nicht auf mich. Sie lief nicht direkt auf den Seiteneingang der Schule zu, sondern bog kaum merklich in die entgegengesetzte Richtung ab. Kurz darauf tauchte Mona Müller in meinem Sichtfeld auf, ihre beste Freundin. Von Timon fehlte jede Spur. Ich hatte mich wohl verguckt.
Warum war ich jetzt enttäuscht? Um mich davon abzulenken, legte ich meine Hand auf den Türgriff und wollte aussteigen.
„Du musst noch nicht zur Schule gehen, wenn du noch nicht bereit bist“, ertönte die tiefe Stimme meines Vaters.
Ich hielt inne, unsere Blicke trafen sich im Rückspiegel. Eine unausgesprochene Frage hing zwischen uns in der Luft: Konnte ich je bereit dafür sein?
Unwillkürlich dachte ich an Isabel und wie verwundert alle gewesen waren, nachdem sie wieder zur Schule gekommen war. Es wird ja nicht besser, hatte sie damals gesagt. Tommy bleibt tot, ob ich mich vor der Welt verstecke oder nicht.
Erst jetzt verstand ich sie.
Ich wollte aber auch nicht an Isabel denken, also setzte ich ein Lächeln auf, dass keine Besorgnis zuließ. Darin war ich gut geworden – so zu tun, als wäre alles in Ordnung; als fühlte ich mich nicht wie ein Wrack, bei dem es leider keinen Schatz zu finden gab.
„Wir sehen uns nachher“, versicherte ich ihm, stieg endlich aus dem Wagen und schloss die Tür eine Spur zu kräftig.
Für den Bruchteil einer Sekunde wusste ich nicht, was ich tun sollte. Wie würde es weitergehen? Schritt für Schritt, dachte ich und setzte mich langsam in Bewegung. Ich hatte das Gefühl, dass mich alle anstarrten, obwohl die nächsten Schüler gut hunder Meter von mir entfernt waren. Ich wünschte, Isabel wäre hier und könnte mich abschirmen. Bei diesem Gedanken schüttelte ich kaum merklich meinen Kopf. Wir hatten seit Tagen nicht mehr miteinander gesprochen und das war gut so. Seit wir befreundet waren, hatte mein Leben eine ziemlich rasante Kehrtwende gemacht – In die falsche Richtung.
Mit gesenktem Kopf lief ich zum Eingang, den wir Schüler offiziell nicht nehmen sollten, aber kein Lehrer interessierte sich für die Einhaltung dieser Regel. Direktor Dr. Behr hätte die Tür ja auch einfach abschließen können.
„Hey!“
Ich lief einfach weiter, wohl wissend, dass ich keine Freunde mehr hatte, die auf mich warten würden. Indra war mit ihren Eltern nach Hannover gezogen, Fabienne hatte die Schule gewechselt und Isabel … Zugegeben, ich konnte nicht genau sagen, was mit ihr war. Ich biss mir auf die Unterlippe, ehe das schlechte Gewissen mich überkam.
Es ist gut so, wie es ist.
„Emma!“, lachte jemand und hielt mich an der Schulter zurück. Es war Dante. „Hast du mich nicht gehört?“ Doch statt auf eine Antwort zu warten, legte er einen Arm um meine Schulter, küsste mich auf die Stirn und führte mich weiter Richtung Aula.
Mein Herz klopfte schneller. Auch bei Dante hatte ich mich kaum gemeldet, nur einsilbige Antworten gegeben. Dass ich heute wieder zur Schule gehen würde, musste er von meiner Mutter erfahren haben. Mit ihr hatte er regelmäßig telefoniert, was hauptsächlich daran lag, dass sie seine Anrufe auch entgegengenommen hatte.
„Ich wollte dich eigentlich abholen, aber dein Vater hat mir unmissverständlich klargemacht, dass er das übernehmen wollte“, berichtete er sichtlich um einen unbekümmerten Tonfall bemüht. „Wie geht es dir?“
„Ich bin müde“, antwortete ich, was nicht einmal gelogen war. Es war nur im Grunde genommen keine Antwort auf die Frage. In den letzten Tagen hatte ich gelernt, dass sie ausreichte, um den Menschen in meiner Umgebung ein besseres Gefühl zu geben. Ihnen vorzugaukeln, dass es mir schon gut ging, wenn es mir nicht schlecht ging.
In der Aula tummelten sich alle Schüler, warteten darauf, dass der Gong zur ersten Stunde ertönte. Erst dann durften wir zu den Klassenräumen gehen. Instinktiv bog ich nach links, um zum Vertretungsplan zu kommen, wo ich prompt mit Gina Gittner zusammenstieß, Jennas ehemalige beste Freundin und rechte Hand der Königin – Wenn man es mit Fabiennes Worten beschreiben wollte.
Neben ihr stand ein kleines, schmächtiges Mädchen mit blonden Strähnchen im sonst braunen Haar und einem Zahnspangenlächeln. Sie sah mit ihrem trendigen Oberteil und ihrer Röhrenjeans ein wenig aus wie eine Kopie der Goldkinder, konnte aber nicht älter als zwölf Jahre sein.
Wir hatten so vieles falsch gemacht.
„Da bist du ja!“, rief Gina, schubste Dante ungeniert zur Seite und hakte sich bei mir unter. „Das Unwichtige zuerst: Dein Englischlehrer fällt aus und du hast Vertretung durch Frau Gensheimer.“
Ich wollte einen Blick auf den Vertretungsplan werfen, doch Gina führte mich von ihm weg. Das fremde Mädchen lief an meiner anderen Seite, streckte ihre dünnen Ärmchen nach mir aus und zog meine Schultasche von der Schulter, nur um sie selbst zu tragen.
Plötzlich vermisste ich Dante und seinen Arm, der mich beinahe besitzergreifend umschlungen hatte.
„Jetzt zum Wichtigen: Du musst die Schule zusammenhalten! Du bist jetzt quasi Kapitän Smith auf der sinkenden Titanic. Lange Ausfallzeiten kannst du dir nicht mehr erlauben. Okay? Gut. Außerdem musst du die alten AGs von Jenna übernehmen. Eigentlich wollte sich Fabienne um den Deutschunterricht für Schüler mit Migrationshintergrund und die Sport-AG für die, die sich nicht auf eine Sportart festlegen wollen kümmern, aber -“
„Lass sie doch erst einmal ankommen!“, unterbrach Dante sie, überholte uns und baute sich mit in die Hüften gestemmten Händen auf. Er sah richtig wütend aus, als hätte Gina ihm ein persönliches Leid zugefügt.
In diesem Moment spürte ich eine starke Zuneigung zu ihm aufflammen. Es war keine Liebe, aber vielleicht konnte es ausreichen. In jedem Fall war ich ihm dafür dankbar, dass er sich mit Gina anlegte. Ich hatte keine Kraft dazu.
„Ich will sie doch nur vorbereiten!“, erwiderte Gina mit hochrotem Kopf.
Dante trat näher, schob sie zur Seite und nahm beschützend meine Hand. „Du setzt sie doch nur unter Druck!“
Ich hatte mich daran gewöhnt, dass die Leute über mich sprachen, als wäre ich gar nicht da. Zuhause war es genauso. Während Dante und Gina ganz ungoldkinderhaft vor dem Rest der Schülerschaft stritten, wandte ich mich an das Mädchen mit der Zahnspange. „Wie heißt du?“
Ihre Augen wurden groß, als hätte sie nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. „Meine Freunde nennen mich Vika!“, piepste sie.
Ich nickte. „Okay, Vika. Gib mir meine Tasche zurück.“ Als sie tat, worum ich sie gebeten hatte, fügte ich lächelnd hinzu: „Und komm nie wieder auf die Idee, meine Tasche zu tragen, ja? Nur wer seine Tasche selbst trägt, hat sein Leben im Griff.“
Ganz bestimmt.
Film und Fernsehen suggerierten einem gerne, dass von Privatschulen ein gewisser Zauber ausging. Eine Magie, die die Victor Hugo Privatschule nicht aufrechterhalten konnte.
Ganz im Gegenteil sogar: Es war schrecklich. Früher hatte ich mir immer Schuluniformen gewünscht, doch jetzt, wo ich jeden verdammten Tag eine tragen musste, fühlte ich mich zwischen den anderen schwarz-marineblau-dunkelgrün gekleideten Menschen wie ein Nichts.
Hier war ich ein Niemand. Ich konnte mich in den Pausen nicht einmal zu Percy setzen, weil seine Freunde unmissverständlich klargemacht hatten, wie wenig sie von mir hielten. Zugegeben, eigentlich war es nur Chiara gewesen, die mich mit ihren bösen Blicken verwünscht hatte. Percy war zwar der Meinung, dass ich mir ihren Argwohn nur einbildete, aber seit einem missglückten Versuch an meinem ersten Schultag zog ich es vor, mein Mittagessen in der Bibliothek einzunehmen.
Was für ein trauriges Klischee. Ausgerechnet ich, die alles gehabt hatte, musste mich nun in einer Schulbibliothek verstecken! Indra hätte darüber sicherlich gelacht.
Dabei hätte ich gar nicht alleine bleiben müssen. Tarik, der Sohn der besten Freundin meiner Mutter, die mein Vater aus Frankreich hat einfliegen lassen, um ihr aus ihrer Alkoholsucht zu helfen, hatte tatsächlich angeboten, mich zu seinen Freunden zu setzen. Sein Angebot beinhaltete allerdings zwei Probleme: Erstens fühlte ich mich noch schlechter, weil er schon neue Freunde gefunden hatte, während ich mich mit neuen Leuten absolut schwertat, und zweitens seine Freunde waren … scheiße.
Ein besseres Wort fiel mir nicht ein und ich hatte während meiner einsamen Essenszeiten intensiv danach gesucht. Eigentlich hatte ich angenommen, an der Hugo würden sich nur nette, höfliche Jugendliche aufhalten, aber es lag wohl an der Natur unseres Alters, dass es überall Rebellen gab. Und Tariks Freunde waren nicht einfach nur Rebellen. Sie kifften, wurden ständig verwarnt und seit Tarik und ich die Hugo besuchten, wurde einer von denen bereits dem Gelände verwiesen.
Nicht die Art von Menschen, mit denen ich mich gerne zeigte. So tief war ich noch nicht gesunken. Da versteckte ich mich lieber in den Pausen in der Bibliothek.
Heute war es allerdings anders. Statt zur Bibliothek ging ich in dieser Pause zur Direktorin. Sie hatte um ein Treffen gebeten, ich wusste allerdings nicht, weshalb. Früher hätte mich diese Unwissenheit unfassbar nervös gemacht; heute war ich dankbar, mich nicht in die Bibliothek schleichen zu müssen. Während ich die steinernen Treppen des alten, aber überraschend gut erhaltenen Schulgebäudes emporstieg, holte ich mein Handy aus der Tasche meines Rocks. Das war der einzige Vorteil dieser sexistischen Schuluniform: Immerhin hatten selbst die Röcke echte Taschen. Ich warf einen Blick auf das Display. Keine neuen Nachrichten. Von wem auch? Meine Eltern hatten mir zum Neuanfang ein neues Handy mit einer anderen SIM-Karte geschenkt. Das Alte hatten sie mir weggenommen, ehe ich irgendwelche Nummern hätte übertragen können. Es war gut möglich, dass Isabel, Emma oder Indra versucht hatten, mich zu erreichen. Ganz bestimmt hatten sie das sogar. Vermutlich heckten sie bereits einen Plan aus, wie sie mich aus meinem goldenen Käfig befreien konnten.
Tatsächlich war das Einzige, was mich einen normalen Schultag überstehen ließ, die Vorstellung, dass meine Freunde am Ende vor den Toren auf mich warteten. Ich vermisste sogar Indra mit all ihren nervigen Eigenarten.
Gleichzeitig wusste ich mit einer niederschmetternden Gewissheit, dass meine Vorstellung niemals wahr werden würde. Hätten sie wirklich versucht, mich zu kontaktieren, hätten sie irgendwann einfach an meiner Haustür geklingelt. Es war ja nicht so, als wäre ich ans andere Ende der Welt gezogen.
Mit einem tiefen Seufzen schob ich mein Telefon zurück und setzte meinen Weg fort. Es war Ironie des Schicksals, dass mir ausgerechnet jetzt Jenna mit ihren zwei neuen, besten Freundinnen entgegenkam. Während ich an meinem ersten Tag vor einer Woche noch gehofft hatte, wenigstens auf sie zählen zu können, wusste ich inzwischen, dass sie mich geflissentlich ignorierte. Hocherhobenen Hauptes stolzierte sie an mir vorbei und würdigte mich keines Blickes. Kaum zu glauben, wie leicht aus Freunden Feinde wurden. Sie hatte sich nicht einmal anstrengenden müssen.
Ich tapste weiter die Treppe hoch, versuchte, meine Einsamkeit herunterzuschlucken. Es gelang mir nicht.
Die Hugo war eine überraschend große Schule. Es gab ein Hauptgebäude, welches 1890 errichtet worden war. Während des Zweiter Weltkrieges wurden die Seitenflügel zerstört. 1950 hat man links und rechts vom Hauptgebäude neue Seitenflügel angebaut und ein Krankenhaus daraus gemacht, allerdings konnte es sich nicht lange halten. 1965 wurden die Innenräume modernisiert und zu Klassenräumen umgebaut, zwei Jahre später wurde der Schulbetrieb aufgenommen. Nach der Wende wurden beide Seitenflügel durch die Mensa und Aufenthaltsräume für die Schüler hinter dem Haupthaus miteinander verbunden, wodurch in der Mitte ein Hof entstand, den man speziell für die Fünft- und Sechstklässler nutzte. Es gab auch zwei Tischtennisplatten und einen Kicker für draußen.
Zur Jahrtausendwende wurde auf einem Feld etwa 1km von der Schule entfernt ein Wohnhaus für Internatsschüler errichtet. In diesem Zuge baute die Schule auch ein hochmodernes Sportzentrum mit einem Fußballplatz, einem Schwimmbad und Räumlichkeiten für Leichtathletik, Bodenturnen und Kampfsport.
Ich würde gerne behaupten, dass ich das alles wusste, weil es mich ehrlich interessiert hätte, aber tatsächlich hingen in der Bibliothek große Plakate über die Entstehungsgeschichte der Privatschule. Ich hatte sie alle so oft gelesen, dass ich sie auswendig kannte.
Im Hauptgebäude gab es keine Klassenräume. Unten befanden sich das Sekretariat und die Bibliothek, oben das Lehrerzimmer, unterschiedliche Büros und administrative Bereiche.
Oben angekommen bog ich nach links und ging den breiten Gang entlang bis zum Ende. Da sah ich sie schon. Meine Nackenhaare stellten sich auf, meine Hände wurden feucht.
Chiara saß auf einem der Stühle im Wartebereich vor dem Büro der Direktorin, wobei sitzen vermutlich das falsche Verb war. Sie hing mehr darin, ihre Beine auf einem anderen Stuhl abgelegt, und inspizierte ihre Fingernägel. Die Krawatte mit dem Schullogo hing ihr wie eine Schärpe über der Brust, unter ihrem Rock trug sie eine Netzstrumpfhose, die in schweren, schwarzen Boots verschwand. Dass ihr himmelblaues Haar eigentlich blond war, wusste ich nur, weil ihre Zwillingsschwester Constance genauso auf ein gutes, unverfängliches Auftreten achtete wie alle anderen Schüler der Hugo auch. Nur Chiara fiel aus dem Raster. Warum man ihr das durchgehen ließ, verstand ich nicht. Vielleicht lag es an ihrer Freundschaft zu Percy? Immerhin galt die Grafenfamilie als wichtige Anlaufstelle, wenn es um Spenden ging.
Plötzlich hatte ich es doch nicht mehr so eilig, zur Direktorin zu kommen. Die Aussicht, ausgerechnet mit Chiara hier warten zu müssen, nahm mir all meine Freude.
Aber es half nichts, als ich bei den Stühlen ankam, setzte ich mich vorsichtig an die Kante von dem, der am weitesten von Chiara entfernt war, und wandte meinen Blick von ihr ab. Wenn ich sie nicht sah, sah sie mich vielleicht auch nicht.
„Oh! Unsere Lieblingsfranzösin ist auch hier!“, säuselte sie.
Schade.
Ich unterdrückte ein gequältes Seufzen, ehe ich sie ansah und ein Lächeln aufsetzte. Vielleicht war sie netter, wenn sie nicht von ihren Freunden umgeben war.
Andererseits … Percy war einer ihrer engsten Freunde. Und wenn sie mich nicht einmal ihm zuliebe akzeptierte, war sie vermutlich einfach grundsätzlich scheiße. Ihr Verhalten würde mich weniger stören, wenn Percy zu mir halten würde. Tatsächlich hatte er an meinem ersten Tag über ihre Witze gelacht und sie in Schutz genommen, als ich ihn darauf angesprochen hatte.
Die Erinnerung daran schmerzte und ich musste den Impuls unterdrücken, nach Luft zu schnappen.
Chiara nahm ihre Füße vom Stuhl und setzte sich gerade hin, als hätte ihr jemand ein steifes Brett in die Bluse geschoben. „Ist das nicht unbequem?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn und ließ sich wie ein Sack zurückfallen. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie Kaugummi kaute – Etwas, dass an der Hugo strengstens verboten war.
Sie musterte mich ungeniert, während sie laut schmatzte. „Du bist spät dran“, merkte sie an.
Was?! Hatte ich meinen Termin mit der Direktorin etwa verpasst? Aufgeregt schob ich den Ärmel meines dunkelblauen Blazer zur Seite und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. 9:40Uhr. In fünf Minuten hatte ich den Termin. Oder war er um 8:45Uhr gewesen? Nervosität kroch meine Wirbelsäule empor und verbreitete sich über meine Adern wie Gift.
Chiara lachte auf. „Ich rede nicht von dem traditionellen Gespräch mit meiner Mutter über die Irrungen und Wirrungen deiner ersten Woche“, stellte sie mit einem gehässigen Unterton klar. „Heute ist doch Percys Familiengespräch mit Dr. Wegener. Ich hatte angenommen, du würdest mitgehen. Immerhin bist du seine Freundin.“
Die Abscheu, mit der sie das letzte Wort aussprach, brannte in meinen Ohren. Ich wünschte, Isabel wäre hier und könnte ihr die Meinung geigen. Oder besser noch: Ich wäre so schlagfertig wie sie und könnte Chiara selbst in die Schranken weisen.
„Wer ist Dr. Wegener?“, fragte ich, um mich abzulenken.
Zu spät merkte ich, dass meine Frage ein gefundenes Fressen für sie war. „Du weißt nicht, wie der Therapeut deines Freundes heißt?“, hakte sie nach. Sie tat überrascht, aber ich konnte heraushören, dass sie sich insgeheim freute.
Sie freute sich noch mehr, als sie mein versteinertes Gesicht musterte und verstand, ehe ich mich zusammenreißen konnte.
Ich wusste bis eben nicht einmal, dass Percy noch zu einem Therapeuten ging.
Die Tür des Büros wurde geöffnet und Direktorin Frau von Nabol unterbrach unsere kleine Unterhaltung. „Fabienne? Da bist du ja schon“, begrüßte sie mich und setzte ein Lächeln auf. Sie trat zur Seite und bedeutete mir, einzutreten; eine Aufforderung, der ich nur allzu gern nachkam. Es war beinahe so, als würde ich nach einem Rettungsring greifen.
Erst nachdem Frau von Nabol die Tür hinter mir geschlossen und ich mich gesetzt hatte, verarbeitete ich Chiaras Worte. Ich rede nicht von dem traditionellen Gespräch mit meiner Mutter über die Irrungen und Wirrungen deiner ersten Woche.
Direktorin Frau von Nabol war Chiaras Mutter? Plötzlich sah ich die Frau, die einen adretten, dunklen Hosenanzug trug, mit anderen Augen. Wenn sie Chiaras Mutter war, konnte ich meine Probleme mit ihr nicht einmal ansprechen. Frau von Nabol würde mich wohl kaum vor den Schikanen ihrer Tochter retten. Sie schaffte es ja nicht einmal, sie zu einem vernünftigen Auftreten in der Schule zu bringen.
In diesem Moment wurde mir klar: Ich war verloren. Als meine Eltern mich an der Hugo angemeldet hatten, hatten sie gleichzeitig mein Todesurteil unterschrieben.
Ich hatte verschlafen. Gestern Abend hatte ich mit der schwangeren Ingrid eine Dokumentation über Wassergeburten geschaut und irgendwie war dann eines zum anderen gekommen. Während sie vermutlich schon lange eingeschlafen war, lag ich noch in meinem Bett und googelte über die Vor- und Nachteile diverser Entbindungsarten. Keine Ahnung, wann ich eingeschlafen war, aber als ich gegen 9Uhr aufwachte, fühlte es sich nicht nach einem langen Schlaf an.
Als ich in der Schule ankam, strömten die Mädchen und Jungen durch die Trakte und genossen ihre erste große Pause.
Ich wusste, dass es Emmas erster Schultag war, noch bevor ich sie sah. Es war das Gesprächsthema Nummer Eins. Das fing bei nett gemeinten Vermutungen wie: „Es ist so mutig von ihr, wieder zur Schule zu kommen!“ an und endete bei weniger netten Kommentaren wie: „Ich glaube ja, dass jeder bekommt, was er verdient. Sie hat bestimmt etwas Schlimmes getan.“ Dem Mädchen, welches das gesagt hatte, rammte ich im Vorbeigehen versehentlich meinen Ellbogen in die Seite.
„He!“, echauffierte sie sich lautstark.
Ich warf einen Blick über die Schulter. „Ups, sorry“, rief ich, ohne es ernst zu meinen. „Aber keine Sorge: Du hast es bestimmt verdient.“
Ich wartete ihre Reaktion nicht ab, machte auf dem Absatz kehrt und bahnte mir meinen Weg durch die Körper.
Im hinteren Teil der Aula standen einige Sitzgruppen. Ein Tisch am Fenster, der beste Tisch, gehörte seit Jahren uns. Genau dort entdeckte ich sie, direkt neben Dante, der in der Mitte der Bank saß, während sie so nah am Rand hockte, als wollte sie im Grunde genommen gar nicht dabei sein.
Ihnen gegenüber saßen Gina, Dantes bester Freund Henrik und ein junges Mädchen, welches ich nicht kannte.
Aus den Goldkindern war ein armseliger Haufen geworden, doch Emma schaffte es, unserer kleinen Gruppe einen ganz neuen Glanz zu geben. Und das, obwohl sie fast von der Bank fiel. Hatte ich ihr jemals gesagt, was sie für eine Wirkung auf ihr Umfeld hatte? Sie saß mit dem Rücken zu mir gewandt, hatte mich noch nicht bemerkt, doch ich konnte mir ihr herzliches Lächeln so gut vorstellen, dass es mir direkt ein Gefühl von Sicherheit gab.
Emma war wieder da. Jetzt wurde alles gut.
Ich beschleunigte meinen Schritt. Als ich mir sicher war, dass sie mich hören würde, rief ich überschwänglich: „Herzlich Willkommen zurück!“ und schlang meine Arme von hinten um sie.
Doch es ertönte kein Kichern, kein gelachtes „Ach, Isi!“,
stattdessen spürte ich, wie sie unter meiner Berührung steif wurde und versuchte, sich wegzuducken.
Erschrocken ließ ich sie los und taumelte einen Schritt zurück. Hatte ich mich geirrt? War das vielleicht gar nicht Emma?
Langsam drehte sich das Mädchen zu mir um. Doch, das war Emma, ganz sicher. Zumindest sah sie aus wie sie. Ihre sonst strahlenden Augen waren allerdings von einem traurigen Schatten belegt, ihre Lippen schafften es nicht einmal zu zucken.
Ohne, dass sie etwas sagte, stand Dante auf. Er kam zu mir, stellte sich zwischen uns, legte mir jedoch freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. „Hey Isabel. Ich denke, es wäre besser, wenn du gehst.“
„Ich soll gehen?“, wiederholte ich verwirrt. Ich hörte zwar, was er sagte, verstand ihn aber nicht. „Ich sitze doch immer bei euch!“
Er nickte, atmete geräuschvoll aus. „Nur für den Anfang, weißt du? Bis sich alles beruhigt hat.“
„Bis sich was beruhigt hat?“
Doch das konnte – oder wollte – er nicht beantworten. In diesem Augenblick begriff ich drei Sachen: Die Goldkinder existierten nicht mehr, Freunde hatte ich auch keine und meine Emma war nur noch eine schlechte Kopie ihrer selbst. Fiel nur mir das auf? Bemerkte nur ich ihre Augenringe oder das aufgesetzte Lächeln?
Ich schaute Dante in die Augen, hielt seinem Blick stand. „Bis sich alles beruhigt hat“, wiederholte ich und fragte mich, ob er wirklich so dämlich war. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht“, sagte ich noch, ehe ich eine Kehrtwende einlegte und davonrannte. So verloren wie jetzt hatte ich mich schon lange nicht gefühlt. Damals war Emma für mich da gewesen. Jetzt ließ sogar sie mich im Stich.
Während ich rannte, fiel ich.
Ich fiel nicht wirklich; aber ich spürte, wie sich unter mir ein Graben auftat und drohte, mich für immer zu verschlucken. Wenn ich nicht einmal mehr meine Freunde hatte, auf wen konnte ich mich dann verlassen?
Ich rettete mich auf den einzigen Hof, der um diese Uhrzeit kaum Schüler beherbergte – Der Raucherhof. Meistens war er sowieso leer, weil Dr. Behr keine rauchenden Schüler duldete, den Volljährigen konnte er es allerdings nicht verbieten.
Ich setzte mich auf eine Bank, vergrub mein Gesicht in den Händen und ließ meinen Tränen freien Lauf. Was für ein beschissener Montag!
Dass Emma meine Nachrichten ignoriert hatte, hatte ich mir noch irgendwie erklären können. Fabienne antwortete mir auch nicht. Nach allem, was ihre Familie durchmachen musste, wollte Emma nur eine gute Tochter sein, zumindest hatte ich das angenommen. Dass sie nicht einmal in der Schule mit mir reden wollte, bedeutete, dass es ihre Entscheidung war, mir nicht zu schreiben. Es bedeutete, dass alles, was wir gemeinsam erlebt hatten, keinen Wert mehr hatte.
Ich war alleine, auf mich gestellt. Wieder einmal.
Es fühlte sich an, als hätte sie mich verraten. Und das war beinahe viel schlimmer als alles, was ich bisher durchgemacht hatte.
„Willst du eine?“
Erschrocken zuckte ich zusammen. Langsam ließ ich meine Hände nach unten sinken und musste meine Tränen wegblinzeln, um überhaupt etwas erkennen zu können.
Vor mir stand ein Mädchen mit üppigen Brüsten, die sie gekonnt zur Schau stellte. Sie war stark geschminkt und sah viel älter aus als ich. Vage erinnerte ich mich daran, wie Jenna sie letztes Jahr gehänselt hatte. Sie war älter als wir, war 1992 geboren, doch erst mit zehn oder elf nach Deutschland gekommen, weshalb sie einen Jahrgang unter uns war. Ich wusste noch, dass sie einen merkwürdigen Namen hatte. Nicht weil er ausländisch war, sondern weil er mir unpassend für ein Mädchen vorgekommen war.
Und ausgerechnet dieses Mädchen stand mit einem vorsichtigen Lächeln vor mir und bot mir eine Zigarette an.
Ich war so überrascht von ihrer Freundlichkeit, dass mir nichts Besser einfiel als die Zigarette anzunehmen.
„Danke“, murmelte ich, griff auch nach dem Feuerzeug, welches sie mir mit der anderen Hand hinhielt, und zündete die Zigarette eher umständlich an.
Sie lachte, doch nicht auf eine abwertende Art. „Ich zeig dir mal, wie das geht“, verkündete sie und machte vor, wie man eine Zigarette anzündete, ohne sich zu verschlucken.
Nun traten auch zwei weitere Gestalten in mein Sichtfeld, die ich ebenfalls erkannte. Einer von ihnen war der ältere Bruder von Timon. Sein Name fing mit T an, das wusste ich noch, doch mehr wollte mir nicht einfallen. Neben ihm stand die ehemalige beste Freundin von Agnes. Die ging noch auf unsere Schule? Nach Agnes' Gruselshow hatte ich angenommen, auch sie hätte die Schule gewechselt.
Ich hatte mich offensichtlich geirrt. Und ich fühlte mich schlecht, weil ich mich nicht mehr an ihren Namen erinnern konnte. Das hatte sonst Emma für mich übernommen. Sie war mein Gedächtnis.
„Ich bin Justyna“, stellte sich das Mädchen mit den großen Brüsten vor und reichte mir eine Hand.
Zaghaft schlug ich ein. „Isabel.“
„Alles klar, Isabel“, sagte Justyna und machte eine Handbewegung, die den ganzen Hof einschließen sollte. „Mi casa es tu casa. Willkommen in unserem Königreich!“ Sie lachte, als hätte sie einen brüllenden Witz gemacht, und ich wollte mitlachen, doch es blieb mir im Hals stecken. Zu meinem Glück dachte Justyna, es läge an der Zigarette.
„Keine Sorge“, meinte sie leichthin, „man gewöhnt sich daran.“
Und ich hoffte, dass sie Recht hatte; auch über das Rauchen hinaus.
Man gewöhnte sich überraschend schnell daran, alleine zu sein, wenn man etwas zurückließ, dass man im Grunde genommen gar nicht gemocht hatte. Je mehr Zeit verstrich, desto glücklicher war ich, nicht mehr in Neustadt-Hausen zu sein. In Hannover war nicht alles gleich besser. Unsere Vier-Zimmer-Wohnung war chaotisch, unsere Küche würde erst nächstes Wochenende eingebaut werden und es fiel mir schwer, in meiner neuen Klasse Anschluss zu finden. Letzteres lag aber mehr an mir als an meiner Klasse. Überraschenderweise fand ich mich mittlerweile damit ab, kein Rudeltier zu sein. Ich genoss die Einsamkeit sogar.
Keine Freunde zu haben bedeutete auch, dass es niemanden gab, der mich herumkommandierte. Ich konnte die Filme schauen, die Musik hören, die Sachen gut finden, die ich wollte, ohne Angst zu haben, nicht cool genug zu sein. Ich musste nirgends mehr reinpassen und das Beste daran war: Ich wollte es auch gar nicht.
Meine Eltern hatten meinen kleinen Bruder Imran und mich auf einer Ganztagsschule in Hannover angemeldet. Es war ein großer Gebäudekomplex und bisher waren wir uns nur einmal zufällig über den Weg gelaufen. Das war heute Morgen. Im Gegensatz zu mir hatte mein Bruder schon neue Freunde gefunden und vor ihnen so getan, als kannte er mich nicht.
Als ich mich daran erinnerte, wie er hastig weggeschaut hatte, zuckte ein schmerzvoller Stich durch meine Brust.
Okay, vielleicht gefiel mir meine Einsamkeit doch nicht so gut. Vielleicht war auch nicht alles an den Goldkindern schlecht gewesen. Immerhin waren sie für mich da gewesen, hatten mich nicht alleine gelassen. Egal was war, ich wusste, dass es da immer diesen einen Tisch in der Aula gegeben hatte, an den ich mich setzen konnte.
Ich hatte es gehasst, aber in diesem Moment, in dem ich alleine an einem Tisch in der übervollen Mensa der Gesamtschule saß, vermisste ich es.
Ich schaute runter auf meine trockenen Nudeln. Sauce gab es nur für die Fleischesser. Ehrlich gesagt sahen die Fussili auch nicht gerade appetitlich aus. Es handelte sich mehr um eine Pampe, als um einzelne Nudeln.
Ich sah mich schon nach einem Eimer für die Essensreste um, als plötzlich ein Mädchen aus meiner Klasse auf die Bank mir gegenüber rutschte. „Hi!“, trällerte sie zur Begrüßung.
Ich starrte sie an, als wäre sie eine Fata Morgana. Jessica saß im Klassenraum immer in der letzten Reihe. Sie trug ständig schwarze Kleidung, hatte ihre Nägel schwarz lackiert und ihre braunen Augen schwarz umrandet. An meinem ersten Tag hatte ich geglaubt, wir könnten vielleicht Freunde werden, aber nachdem ich versucht hatte, ein Gespräch anzufangen, hatte sie einfach ihren Rucksack genommen und war gegangen.
Ich verstand nicht, warum sie auf einmal mit mir redete.
Mit ihrem lackierten Zeigefinger deutete sie auf mich. „Indra, richtig?“ Wortlos nickte ich, wartete lieber ab. „Du hast mich letzte Woche auf dem falschen Fuß erwischt, sorry! Aber gut für dich, dass ich weiß, wie ich es wieder gutmachen kann!“
Jetzt hob ich fragend eine Augenbraue. Statt es mir einfach zu sagen, stand sie wieder auf und winkte mich hinter sich her. „Komm mit! Die Nudeln kannst du wegwerfen, ich teile mein Käsebrötchen mit dir.“
Als ich sagte, mir gefiele die Einsamkeit, hatte ich gelogen. Jessica reichte mir einen metaphorischen Strohhalm und ich war mehr als dankbar, nach ihm greifen zu können. Eilig warf ich meine Nudeln weg und stellte das Tablett mit meinem Teller in die Geschirrrückgabe, ehe ich Jessica aus der Mensa folgte. Es war mir egal, wohin sie mich brachte. Selbst wenn sie mich verarschte und nur einen gemeinen Scherz machte, war ich glücklich über die Abwechslung. Alles war besser als ständig alleine zu sein.
„Du bist mir direkt aufgefallen“, erzählte Jessica, während sie mich durch die Gänge der Schule führte. „Ich mag dein Iron Maiden Shirt.“
Unwillkürlich schaute ich an mir herunter, bis mir wieder einfiel, dass ich das besagte Shirt an meinem ersten Schultag getragen hatte.
„Mein Dad liebt die Oldies“, fuhr Jessica fort. „Er war selbst Gitarrist, weißt du? Aber dann ist meine Mum gestorben und er musste seinen elterlichen Pflichten nachkommen.“ Sie lachte, obwohl ihre Geschichte ziemlich traurig klang. Ob sie verrückt war?
Ich warf ihr einen abschätzenden Blick von der Seite zu. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, wodurch man den Helix in ihrem Ohr sehen konnte. Sie sah aus wie jemand, den ich mögen könnte, aber meiner Erfahrung nach war meine Menschenkenntnis nicht gerade herausragend. Emma war darin besser. Sie konnte mit einem Blick sagen, ob vor ihr ein guter Mensch stand. Und Isabel sorgte dafür, dass man sich von den schlechten fernhielt. Die Zwei ergänzten sich perfekt. Ob sie sich an das Kontaktverbot hielten? Vermutlich nicht, dachte ich eifersüchtig und ballte meine Hände zu Fäusten, bis sich meine Fingernägel schmerzlich in mein Fleisch drückten.
„Wie auch immer“, sagte Jessica und holte mich zurück ins Hier und Jetzt. „Hier ist übrigens der Hörsaal, der wird aber eigentlich erst in der Oberstufe für dich wichtig“, teilte sie mir mit und deutete auf eine Doppeltür. Dahinter führte ein Gang zu einem Treppenhaus. Als wäre es nichts, plapperte sie weiter: „Hier geht es zum Selbstmörderturm.“
„Wie bitte?“, entgegnete ich schockiert. Ob es an der Sache an sich lag oder an ihrer flapsigen Aussprache, wusste ich nicht.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, es ist weniger schlimm, als es klingt. In den 80ern ist mal ein Mädchen vom Turm gesprungen und gestorben. Der Name hat sich irgendwie eingeprägt und die Generationen überdauert.“ Mit einem Mal verzog sie nachdenklich das Gesicht. „Wow, ich könnte dir jetzt nicht sagen, wie das Mädchen hieß.“ Allerdings wischte ihr Grinsen diese traurige Tatsache schnell beiseite. „Meine Beobachtungen haben ergeben, dass du würdig bist.“
„Würdig?“, wiederholte ich und hätte mir am liebsten eine Backpfeife gegeben. Wie dämlich klang das denn? Da sprach endlich jemand mit mir und das erste, was ich zur Unterhaltung beitrug, war bloß die Wiederholung eines Wortes?
Ganz offensichtlich lag es an mir, dass niemand mit mir befreundet sein wollte.
„Ja, würdig!“, lachte Jessica und blieb vor einer metallenen Tür stehen, deren blaue Lackierung größtenteils abgeblättert war. „Herzlich Willkommen im Club der Verramschten, liebe Indra!“, verkündete sie feierlich, öffnete die schwere Tür und hielt sie mir auf, damit ich eintreten konnte. Es war bloß ein uralter Chemieraum, in dem eingestaubte Exponate standen. Und doch kam es mir in diesem Moment wie reine Magie vor, das Zimmer zu betreten, was nicht zuletzt an Jessica und ihrer Stimme lag. Es war eine Mischung aus allem: Aus der Tatsache, dass sie mich aus der Mensa abgeholt hatte, um das hier mit mir zu teilen, aus den drei Jungs, die gespannt auf uns warteten und der Verrücktheit des Raumes an sich.
Jessica schloss die Tür hinter sich, warf ihren Rucksack auf einen der Tische und setzte sich ungeniert im Schneidersitz daneben, direkt auf den mit Kugelschreiber vollgeschmierten Tisch. „Darf ich dir die anderen Mitglieder unseres überschaubaren Clubs vorstellen?“, fragte sie, wartete eine Antwort jedoch nicht ab. Sie zeigte auf einen dicken Jungen mit Pickeln. „Das ist Fat Jones aus der Neunten. Der Junge neben ihm ist Sam und geht in die elfte Klasse. Und der dahinten am Fenster ist Joker. Gewöhn dich besser an seinen grimmigen Blick, er ist nämlich der Miesepeter unserer Gruppe.“
Als wäre das sein Stichwort gewesen, grunzte er verächtlich und drehte sich vom Fenster weg, um mich ansehen zu können. Er sah tatsächlich unglücklich aus. Sein schwarzes Haar reichte ihm bis zu den Schulterblättern und war so gepflegt, dass einige der Goldkinder neidisch geworden wären.
Halt! Ich wollte nicht mehr an die Goldkinder denken!
Um mich abzulenken, betrachtete ich die Gruppe eingehender. Obwohl sie alle in unterschiedliche Klassen gingen, hatten sie eine auffällige Gemeinsamkeit: Sie trugen nur schwarze Kleidung. Joker war ein waschechter Goth mit seiner schwarzen Mähne und einem knöchellangen Ledermantel. Fat Jones trug ein Shirt der Band Leprous, die ich nicht kannte. Der Letzte, Sam, trug eine enge Jeans, einen Hoodie und hatte eine Emo-Frisur. Als sich unsere Blicke trafen, fuhr er sich durch seine Haare und winkte. „Hey!“
Schüchtern winkte ich zurück. „Hi!“
„Das ist Indra“, stellte Jessica mich vor. „Sie geht in meine Klasse und braucht Verbündete.“
Insgeheim war ich ihr dankbar, dass sie nicht das Wort Freunde verwendete. So klang es nicht ganz so armselig.
Und irgendwie fühlte es sich seltsam vertraut an, hier zu sein. Ich kannte diese Jugendlichen nicht, war noch nie in diesem Raum gewesen, und überhaupt: Hannover war nicht meine Heimat. Aber der Club der Verramschten hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit den Goldkindern, zumindest wenn man die Sache mit der Kleidung ignorierte. Sie nahmen mich auf, bevor ich endgültig verloren ging, und das war etwas Gutes.
Am Ende des Schultages wartete Timon vor meinem Klassenraum auf mich, als wäre es selbstverständlich, dass er unten an einer Säule stand, während ich die Treppe nach herunterkam. Mein Herz fühlte sich mit einem Mal ganz anders an. Irgendwie leichter und doch tausend Mal schwerer.
Sobald Timon mich entdeckte, kam er auf mich zu.
„Bereit?“, fragte er grinsend.
Ich zuckte mit den Schultern. „Wie schwer kann es schon sein, eine AG zu führen?“ Vorsichtig warf ich einen Blick zurück, um mich über Isabels Verbleib zu vergewissern. Sie hatte noch ihre Tasche gepackt, als ich raus gegangen war. Mit keiner Silbe hatte sie die AG für die neuen Schüler erwähnt, die wir eigentlich zu zweit leiten sollten. Bei der Erinnerung an die Pause überkam mich ein schlechtes Gefühl.
Ein Teil von mir hatte ihre Umarmung erwidern wollen, hatte genau da anknüpfen wollen, wo wir aufgehört hatten. Freundschaften hörten nicht einfach auf, selbst wenn es unsere Eltern so wollten. Aber dann waren mir all die Dinge in den Sinn gekommen, die ich nur ihretwegen erlebt hatte. Carmens Tod. Agnes und ihr Grusel-Anwesen. Nicht zu vergessen all die Geheimnisse, die ich nur durch Isabel herausgefunden hatte.
Wäre ich damals doch bloß mit meinem Putenbrötchen an ihr vorbeigelaufen. Diesen Gedanken hatte ich in den letzten Tagen oft und in dem Moment, als sie mich heute umarmt hatte, hatte er in meinem Hirn wie Feuer gebrannt.
Objektiv betrachtet wusste ich natürlich, dass Isabel keine Schuld an Carmens Ermordung traf. Auch nicht daran, dass Elias in mein Leben getreten war. Aber wäre ich damals an ihr vorbeigelaufen, wären so viele Dinge ganz anders passiert. Und vielleicht würde Carmen doch noch leben. Dieses klitzekleine vielleicht raubte mir schier den Atem.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte Timon auf einmal: „Dr. Behr hat schon mit ihr gesprochen. Sie war damit einverstanden, die AG herzugeben.“
Ich stolperte über sein letztes Wort. Herzugeben … Als wäre eine AG etwas, das man wie eine Jacke hin und herreichen konnte.
Bevor sie doch noch den Klassenraum verließ, setzte ich mich in Bewegung. Timon lief lässig neben mir, seine Hände in die Hosentaschen gesteckt.
Ich hab dich den ganzen Tag nicht gesehen. Wo warst du?, dachte ich, doch ich sprach es nicht laut aus. Warum sollte ich auch? Es gab keinen Grund, ihn sehen zu wollen.
Aber wenn er bei mir war, war der Sturm in mir ruhig. Mit ihm ging es mir nicht besser, aber es war erträglicher. Vielleicht lag es daran, dass er mich nicht mit diesem mitleidigen Ausdruck ansah, den die anderen auflegten, sobald ich in der Nähe war. In seiner Gegenwart konnte ich mich dumpf an die frühere Emma erinnern, bevor Miriam in mein Leben getreten war.
„Ich bin etwas überrascht, dass dich dein Schoßhündchen alleine lässt“, sagte Timon. Er versuchte, es wie einen Scherz klingen zu lassen, dennoch überraschte mich seine Wortwahl. Normalerweise zeigte er nicht, was er von Dante hielt – Was man umgekehrt nicht behaupten konnte. Dante nutzte jede Gelegenheit, um etwas Schlechtes über Timon zu sagen.
„Er macht sich nur Sorgen“, versuchte ich ihn zu entschuldigen. Das musste ich tun, oder? Ich war seine Freundin. Wenn ich nicht hinter ihm stand, wer dann?
„Man kann sich um jemanden sorgen, ohne ihn zu bevormunden“, entgegnete Timon, öffnete die gläserne Doppeltür, die meinen Trakt vom Rest des Schulgebäudes trennte, und hielt sie mir auf. Während ich durchtrat, drehte ich mich um, sodass ich ein paar Schritte rückwärts ging, und meinte: „Ist es nicht auch bevormundend, einem Mädchen die Tür aufzuhalten?“
In seinen blauen Augen leuchtete der Schalk auf.
„Nicht, wenn der Junge auch hindurchgeht.“
„So funktioniert das nicht, schätze ich.“
Er grinste schief und ich grinste zurück. So einfach konnte es gehen.
Warum auch immer, aber Dr. Behr hatte unserer AG das Forum mit einer Bühne zugeordnet, obwohl wir uns auch in einem normalen Klassenzimmer hätten treffen können. Der – für unsere Gruppe viel zu große – Raum befand sich vom Haupteingang der Schule aus gesehen ganz hinten. In dem Trakt gab es auch zwei Hörsäle, die nur für Prüfungen genutzt wurden, und einen Kiosk, den eine Schüler-AG betrieb. Da er nichts Essbares verkaufte, war ich nie da gewesen, aber Joshua hatte dort einige seiner gezüchteten Pantoffeltierchen vertrieben.
Mit einem Mal fiel mir auf, dass ich Joshua schon lange nicht mehr gesehen hatte. War er wie Justus einfach verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben?
Ich sollte das herausfinden.
„Da wären wir“, verkündete Timon und steuerte auf das Forum zu. Wie selbstverständlich öffnete er die Tür, trat ein und rief ein „Hallöchen!“ in den hallenden Raum.
Ich zögerte, atmete tief ein und aus. Noch könnte ich umdrehen und nach Hause fahren. Niemand würde es mir übel nehmen, wenn ich sagte, dass es doch zu viel war. Aber das würde nichts besser machen. Zuhause warteten nur meine Eltern, die mich mehrfach fragen würden, ob wirklich alles okay war, was ich denn noch bräuchte und sie würden keine Ruhe finden, sobald ich in der Nähe war, als müssten sie in meiner Gegenwart in einer Habacht-Stellung verharren. Marie würde mich anzicken und ich würde einen unnötigen Streit vom Zaun brechen, bloß weil sich wenigstens das vertraut anfühlte. Und dann war da auch noch Jans Zimmer, welches keiner von uns seitdem betreten hatte. Die Tür war geschlossen und jeder huschte daran vorbei, als könnten wir seine Abwesenheit ignorieren. Als könnten wir so tun, dass er bloß wieder in seiner Drogenhöhle versunken wäre, solange wir seine Tür nicht öffneten.
Nein, das Forum mit all den fremden Schülern war die bessere Alternative.
Ich folgte Timon in den Raum und staunte über seine Leichtigkeit, mit der er die anderen begrüßte. Er scherzte mit den überwiegend weiblichen AG-Teilnehmern, formte mit allen zur Begrüßung eine Faust und fragte Dinge, die er nur fragen konnte, weil er ein Teil ihrer Leben geworden war.
Als ich nähertrat, machte er eine ausschweifende Handbewegung und deutete auf mich. „Und das – Trommelwirbel bitte – ist Emma! Ich habe euch ja erzählt, dass sie die AG leitet, und jetzt ist sie da.“
Die Gruppe winkte mir zu, während ich in ihren Kreis trat. Manche von ihnen begrüßten mich mit einem fröhlichen „Hallo Emma!“
Es waren zwölf Schüler, zählte ich, ausgenommen Timon und mich. Acht Mädchen, vier Jungs. Ich erkannte Elfie und ihren Bruder Eugen unter ihnen und war dankbar über bekannte Gesichter, bis mir wieder in den Sinn kam, weshalb sie überhaupt auf unserer Schule waren. Die Erinnerung an ihren Missbrauch vermischte sich mit dem, was mir passiert war, und plötzlich hatte ich Schwierigkeiten zu atmen. Der Boden unter mir wackelte, nein, es waren meine Beine, die mich nicht mehr tragen wollten.
„Wie cool, eine Bühne!“, rief ich, legte eine Kehrtwende ein und lief zur Bühne, nur um mich an den Rand zu setzen. Meine Tasche ließ ich auf den Boden fallen und ich lächelte zu dem Rest der Gruppe zurück. Hoffentlich sah mir keiner an, wie krampfhaft es sich anfühlte.
Ein Mädchen mit minimalem Übergewicht und einem Gesicht, dass mich an ein Erdmännchen erinnerte, musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Du siehst eine Bühne und dir fällt nichts Besseres ein, als dich an den Rand zu setzen?“
Ich klopfte neben mich. „Was würdest du denn tun?“
„Nun … Vielleicht könnten wir ja ein Theaterstück proben!“
„Lahm!“, kommentierte ein Junge von hinten, ging an ihr vorbei und sprang lässig auf die Bühne.
„Luftgitarre!“, rief er und vollführte eine interessante Darbietung.
Damit brachte er uns zum Lachen, selbst mich.
Dieses Mal fühlte es sich ehrlicher an.
Der Junge tat so, als würde er seine Gitarre zur Seite stellen, und reichte mir anschließend seine Hand. Als ich einschlug, hielt er mich fest und zog mich so schwungvoll hoch, dass ich beinahe mein Gleichgewicht verloren hätte.
„Ich bin Björn“, stellte er sich vor und half mir, mein Gleichgewicht zu finden, ehe er meine Hand los ließ. Dann deutete er direkt auf mich. „Bist du nicht mit Dante zusammen?“
Ich runzelte die Stirn. „Tut das denn irgendetwas zur Sache?“
„Nein!“, rief das Mädchen mit dem Erdmännchen-Gesicht. „Denn hier sind wir alle Niemande. Das macht uns aus!“
Ihre Erklärung fand regen Zuspruch.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum wandern und entdeckte Timon neben einem Mädchen stehen, die mir entfernt bekannt vorkam. Vermutlich war ich ihr bereits über den Weg gelaufen. Ihre hellbraunes Haar reichte ihr bis zu den Schultern, was hauptsächlich an ihren Locken lag. Es waren nicht so schöne Locken wie Isabels, sie sahen irgendwie verfilzt aus, doch ihr hübsches Gesicht lenkte davon ab. Ich konnte sehen, wie ihre mandelförmigen Augen aufleuchteten, während sie mit Timon sprach. Als er plötzlich auflachte, spürte ich einen fiesen Stich durch meine Brust jagen.
„Also Emma“, sagte das Erdmännchen-Mädchen und ich war dankbar für die Ablenkung. „Hast du ein Lieblings-Theaterstück?“
„Die Antwort ist: Ja, Lisanne ist merkwürdig!“, sagte ein Mädchen mit schwarzem Zopf und blasser Haut. Sie kicherte. „Wir haben uns da schon dran gewöhnt.“
„Ich bin nicht merkwürdiger als du, Anna!“, echauffierte sich Lisanne und warf dem Schneewittchen-Verschnitt einen giftigen Blick zu. Anna war also ihr Name. Wäre ich ein bisschen mehr wie Isabel, würde ich mir Sorgen machen, mir all die neuen Namen nicht merken zu können.
„Unsere Merkwürdigkeiten machen uns aus“, sinnierte ein Mädchen mit glattem, blondem Haar.
Sie war klein und zierlich, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Elfie.
Ein wundersames Gefühl umfing mich und während ich die neuen Schüler kennenlernte, vergaß ich sogar Timon, der noch immer mit dem Mädchen sprach. Es gefiel mir sogar, hier zu sein.
„Unsere Merkwürdigkeiten machen uns aus“, wiederholte ich und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit glaubte ich wirklich daran.
„Hast du Mathe?“, fragte Jessica ein paar Tage später. Sie rutschte mit dem Rücken zur Wand neben mich auf den Boden und setzte ihre Welpen-Miene auf. Sie war eine wahre Meisterin darin, alleine durch ihre Mimik so hilflos auszusehen, dass man beinahe alles für sie tat. Ein Trick, den sie nicht nur bei mir anwendete, wie ich inzwischen wusste.
Ohne etwas zu sagen, holte ich aus meinem Rucksack mein Matheheft heraus und reichte es ihr.
„Super! Danke! Gebe ich dir dann nächste Pause zurück.“
„Willst du die Hausaufgaben in Englisch auch abschreiben?“
„Natürlich!“ Als sie meine hochgezogenen Augenbrauen bemerkte, kicherte sie. „Du bist süß, Indra. Jetzt sag nicht, du hast noch nie abgeschrieben!“
„Klar hab ich das“, murmelte ich leise – vor allem, weil es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Meine zugegebenermaßen etwas übertriebenen Moralvorstellungen waren neben einer Fabienne Roux nur nie aufgefallen.
Sie warf ihren Kopf in den Nacken und lachte so laut, dass sich manche zu ihr umdrehten. Das mochte ich am meisten an Jess. Sie war eine Frohnatur, die nichts auf das Gerede anderer gab. Es schien sie nicht zu interessieren, ob sie irgendwo aneckte, ganz im Gegenteil; es schien ihr sogar zu gefallen, nicht in den Rahmen zu passen.
Ein winziger Teil von mir wünschte, so wie sie zu sein. Genauso fröhlich, offen und selbstbewusst.
„Am Freitag treffen wir uns übrigens alle bei Fat Jones. Seine Eltern machen einen Wellness-Urlaub.“ Sie rollte demonstrativ mit den Augen, um zu unterstreichen, was sie von einer solchen Spießigkeit hielt.
„Viel Spaß euch“, meinte ich, weil ich nicht ganz wusste, was ich sonst sagen sollte.
Jess warf mir einen gelangweilten Blick zu. „In diesem uns bist du mit eingeschlossen.“
Ich wollte nicht, dass es mir so viel bedeutete, aber die Einladung brachte mein Herz zum Flattern. „Cool!“, sagte ich und kam mir dämlich vor. Ich war mir ziemlich sicher, dass man mir an der Nasenspitze ablesen konnte, wie sehr ich mich über die Einladung freute. Und das war ziemlich … uncool.
„Ach Indra“, sinnierte Jess und sah mich auf eine Art an, die meine Befürchtungen bestätigte. „Du musst kein graues Mäuschen sein, das weißt du?“
Ich nickte mechanisch, nicht wissend, was ich darauf erwidern sollte.
„Wie auch immer … Sam bringt Bier mit und wir werden Pizza bestellen. Ist das okay für dich?“
Hatten Isabel oder Fabienne mich jemals gefragt, ob irgendetwas für mich okay war? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Für sie war ich bloß Emmas Cousine gewesen, die nun einmal da und nicht mehr wegzukriegen war.
„Darf ich dich was fragen?“, sagte ich, um mich von meinen Gedanken abzulenken. Was in Neustadt-Hausen passiert war, gehörte der Vergangenheit an.
Jess nickte mir auffordernd zu. „Na los, spann mich nicht so auf die Folter!“
„Warum heißt er Fat Jones? Ist das nicht gemein?“
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie mir tief in die Augen schaute. „Er will so genannt werden“, antwortete sie mit einer bedeutungsschweren Stimme. „Er will das, was die Gesellschaft an ihm scheiße findet, so zu seinem Schild machen. Sein echter Name ist Jonas. Er war schon im Kindergarten übergewichtig und wurde ständig gehänselt. Er dachte, auf dem Gymnasium würde es besser werden, aber es wurde nur schlimmer. Und dann traf er mich.“ Sie deutete mit dem Zeigefinger auf sich. „Ich hab ihn heulend in einer Umkleide gefunden und ihn zu den Verramschten mitgenommen. Cool, was?“
Ich nickte. „Und ziemlich nett.“
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als wäre es eine Nichtigkeit. „Menschen wie wir müssen zusammenhalten, damit Menschen wie die“ - dabei deutete sie auf eine Gruppe ziemlich arrogant wirkender Teenager - „nicht gewinnen. Ihnen steht die Welt zwar offen, aber wir holen sie uns zurück.“
Ob ich ihr sagen sollte, dass Beliebtheit kein Garant für ein einfaches Leben war? Ich könnte ihr von Isabel und ihrem toten Bruder erzählen. Oder von Fabienne, der Scheidung ihrer Eltern und ihrer alkoholkranken Mutter. Nicht zu vergessen von Emma, die als Kind missbraucht worden war.
Doch während ich Jess musterte und darüber nachdachte, wusste ich, dass sie mir nicht glauben würde. Sie würde nicht verstehen, dass selbst die Goldkinder normale Menschen waren, mit normalen Leben, in denen Unglück nun einmal genauso passierte wie Glück.
Ich hatte es ja selbst nicht geglaubt, bis ich zu dieser glitzernden Scheinwelt dazugehört hatte.
Es war schon das vierte Mal, das Justyna und ich nach der Schule zusammen zur Bushaltestelle gingen. Eigentlich hätte ich heute eine Stunde länger als sie gehabt, aber es gefiel mir, dass ich dank ihr nicht alleine gehen musste, also schwänzte ich die letzte Stunde. Es war sowieso nur Geschichte. Das Fach brauchte niemand.
Justyna fragte Gott sei Dank nicht, warum ich so viel Zeit mit ihr verbrachte. In den Pausen war ich immer zu ihr und den anderen auf den Raucherhof gekommen. Selbst Till und Claire – ich wusste mittlerweile ihre Namen - schienen meine Anwesenheit einfach zu akzeptieren.
Vermutlich wussten sie, dass Emma und ich keinen Kontakt haben durften. Es würde mich nicht wundern, wenn Timon seinem Bruder die Lage erklärt hatte. Aber Till erwähnte nichts und dafür hätte ich ihn küssen können.
Justyna tippte etwas auf ihrem Handy. „Claire fragt, ob ich in die Stadt komme“, verkündete sie und steckte es in ihre Jackentasche. „Willst du mitkommen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Danke, aber nein. Ich treffe mich mit meinem Freund.“
„Krass, du hast einen Freund?“
„Warum überrascht dich das so?“, fragte ich lachend.
„Na, weil du dich in der Schule zu den Außenseitern flüchtest.“
Mir blieb das Lachen im Hals stecken. So einfach konnte das heutzutage gehen. In dem einen Moment fühlte man sicher, und dann – Zack – eine falsche Bewegung später lag man strampelnd auf dem Rücken.
„Er geht nicht auf unsere Schule“, sagte ich um einen neutralen Tonfall bemüht. „Er geht auf die Realschule.“
„Ah, okay! Ist ja nicht schlimm.“
„Warum sollte es auch schlimm sein, dass er auf die Realschule geht?“
Sie warf mir einen vorsichtigen, abwartenden Blick zu. „Nimm es mir jetzt nicht übel, aber ich dachte nicht, dass du dich mit Leuten unter deinem Niveau abgibst.“ Darüber dachte sie kurz nach, zuckte auf einmal mit den Schultern und fügte hinzu: „Wobei du dich ja auch mit uns triffst. Zigarette?“