Goldkinder 3 - Tatjana Zanot - E-Book

Goldkinder 3 E-Book

Tatjana Zanot

4,9
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Helfen wir ihnen etwa nicht durch unser Schweigen? Nichts wünschen sich Emma, Isabel, Indra und Fabienne sehnlicher, als ein normales Leben. Doch das Schicksal scheint es nicht gut mit ihnen zu meinen. Emma fühlt sich in ihrer neuen Rolle als Goldkind immer zerrissener, Isabel muss damit zurechtkommen, dass ihr Vater trotz Tommys Tod sein Leben weiterlebt, Indra vermisst Arthur trotz der schlimmen Dinge, die er ihr angetan hatte, und Fabienne muss sich um ihre alkoholkranke Mutter kümmern, nachdem sich ihr Vater aus dem Staub gemacht hat. Als immer mehr Kinder aus dem örtlichen Heim verschwunden, wollen sie anfangs nichts damit zu tun haben. Bis die Fremden in die Stadt kommen und sie eine ungeheure Gemeinsamkeit entdecken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 365

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für all die Kinder, die nicht gerettet wurden. Ihr könnt euch selbst gerettet.

Inhaltsverzeichnis

2009

Kapitel Eins

Emma

Isabel

Fabienne

Indra

Kapitel Zwei

Isabel

Emma

Fabienne

Indra

Kapitel Drei

Fabienne

Indra

Emma

Isabel

Kapitel Vier

Fabienne

Isabel

Emma

Indra

Emma

Fabienne

Isabel

Indra

Kapitel Sechs

Fabienne

Indra

Emma

Isabel

Kapitel Sieben

Indra

Isabel

Emma

Fabienne

Kapitel Acht

Isabel

Indra

Emma

Fabienne

Kapitel Neun

Emma

Fabienne

Indra

Isabel

Kapitel Zehn

Fabienne

Emma

Indra

Isabel

Kapitel Elf

Fabienne

Isabel

Indra

Emma

Epilog

2009

Kapitel Eins

Emma

Es gab Tage, da wusste man sofort, dass es ein guter Tag werden würde. Man wachte noch vor dem Weckerklingeln auf, ohne sich gerädert zu fühlen, entschied sich innerhalb weniger Sekunden für ein passendes Outfit und stellte im Badezimmer erfreut fest, dass es kein Bad Hair Day wurde.

Ich war mir auch ziemlich sicher, dass Mädchen wie Fabienne, die praktisch die personifizierte Perfektion darstellten, sehr viele solcher Tage hatten. Absurderweise stellte ich mir immer vor, wie sie wie eine Disney-Prinzessin aufwachte – mit gekämmten Haaren, reiner Haut, selbstverständlich ohne Augenringe und schon geschminkt, als hätte sie kleine Kobolde in ihrem Zimmer versteckt, die sich um ihre perfekte Maske kümmerten, während sie schlief.

Ich gehörte nicht zu diesen Mädchen.

Als ich an einem Morgen Anfang Mai aus einem Traum erwachte, in dem es vage um außerirdische Piraten ging, zog ich beim Aufrichten einen Spuckefaden hinter mir her.

Schnell wischte ich mit dem Zipfel meiner Decke über meinen Mund.

Ich setzte mich auf, kratzte mich am Hinterkopf und gähnte aus tiefster Seele. Ein wenig teilnahmslos hielt ich einen Moment lang inne und ließ meinen Blick durch mein rechteckiges Zimmer wandern, angefangen bei meinem Schreibtisch, der dringend wieder aufgeräumt werden musste, über mein Bücherregal, in dem ich einen alten Joghurtbecher entdeckte, von dem ich nicht sagen konnte, wie lange er da schon stand, bis hin zu meinem Kleiderschrank, an dem ich noch immer Pferdeposter hängen hatte.

Und plötzlich stachen mir all diese Kleinigkeiten negativ ins Auge, wie die Dornen einer Rose.

Die Kiste mit meinen gesammelten Schleich-Tieren, die ich unter mein Bett geschoben hatte, damit keiner meiner neuen Freunde sie zufällig bemerkte. Die Poster. Meine kindische Bettwäsche mit Cartoon-Mäusen, die meine Mutter Svea gestern aufgezogen hatte.

Man fand in Fabiennes Zimmer genau eine Puppe – eine dieser altmodischen Dinger mit Porzellangesicht, die von irgendeiner Madame Huret erschaffen worden war. Angeblich sollte sie ziemlich wertvoll sein.

Isabel hatte kaum etwas aus ihrem alten Zimmer mitgenommen. Ihr Neues im Haus ihres Vaters war frei von vergessenem Spielzeug und bei Indra sah es da nicht anders aus.

Ich war die Einzige, die noch so viel Zeug hier herumfliegen hatte. Es wurde mir schon beinahe peinlich, meine Freundinnen einzuladen, aber dank des ausgebauten Dachbodens mussten wir uns ja nicht zwangsweise in meinem Zimmer aufhalten.

Mein Wecker klingelte. Ich streckte meinen Arm nach ihm aus und entdeckte dabei eine Figur aus einem Ü-Ei, die da schon seit Jahren herumflog. Ich schaltete meinen Wecker aus, nahm die Figur, und während ich mich aus meinem Bett schwang warf ich sie in den Mülleimer unter meinem Schreibtisch.

Anschließend trat ich vor meinen Kleiderschrank und betrachtete die Friesen, Hannoveraner und Isländer. Und ehe ich richtig wusste, was ich tat, hob ich meine Arme und riss die Poster herunter.

Jan warf mir einen abwertenden Blick zu, als ich mich zu ihm und unserem Vater an den Esstisch setzte. „Du gehst zur Schule, nicht auf einen Laufsteg“, bemerkte er schnippisch.

„Für den Laufsteg wäre sie zu klein!“, trällerte prompt meine kleine, biestige Schwester Marie, die vor ein paar Monaten Dreizehn Jahre alt geworden war.

Statt auf irgendeinen von ihnen einzugehen, nahm ich mir die Cornflakes und schüttete mir etwas in meine Schale.

Unser Vater raschelte mit seiner Zeitung und schnalzte gedankenverloren mit seiner Zunge. Vor acht Uhr war er nicht ansprechbar. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, drei Kinder zu überleben. Marie setzte sich neben ihn und riss mir die Packung aus der Hand. „Du bist so eine lahme Ente.“

„Und du scheinst noch nicht ganz wach zu sein, sonst wärst du fieser“, witzelte Jan, wobei mir ein Gedanke kam.

Neugierig wandte ich mich ihm zu und fragte: „Apropos, warum bist du eigentlich schon wach?“

Für gewöhnlich schlief er bis Neun oder Zehn, ehe er sich gemächlich dem Tag widmete.

Plötzlich nicht mehr ganz so vorlaut widmete er sich seiner Scheibe Brot.

Was mich noch mehr verwirrte. „Es ist sieben Uhr morgens und du isst Brot? Wer bist du und was hast du mit meinem Bruder gemacht?“

Unser Vater schaute auf und betrachtete uns über den Rand seiner Zeitung hinweg. Seine Stirn war gerunzelt; ob wegen der Situation oder einem Bericht, den er gelesen hatte, wusste ich nicht.

Jan biss ab und nuschelte: „Ichabnvorstlpräch.“

„Was hat er gesagt?“, fragte Marie, nahm sich etwas frische Milch und schob die Packung dann netterweise in meine Richtung.

„Ich bin mir nicht sicher“, gab ich zu und musterte meinen Sitznachbarn ganz genau. Er hatte sich sogar rasiert und sein dunkelbraunes Haar gekämmt.

Er seufzte, schluckte und sagte: „Ich hab ein Vorstellungsgespräch, verdammt!“

Stille.

Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Mein Bruder, der sein Abi abgebrochen hatte und einige Zeit im Drogensumpf verschwunden war – mein Bruder, von dem alle gedacht hatten, er würde sein Leben wegschmeißen – kriegte es endlich wieder auf die Reihe.

„In einer Kindertagesstätte“, fügte er erklärend hinzu.

Die Stirn meines Vaters glättete sich wieder und er widmete sich seiner Zeitung. Er schien nicht sonderlich überrascht. Vermutlich hatte er es schon vorher gewusst.

Ich schob meine Überraschung zur Seite und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Das ist doch klasse!“

Meine Stimme ging einige Oktaven zu hoch. Sogar in meinen Ohren klang es zu übertrieben, um ehrlich gemeint zu sein, aber ich freute mich wirklich für ihn. Es war nur … so unglaublich.

Ich war mir noch nicht sicher, ob sich Menschen wirklich so grundlegend ändern konnten.

Im Bus traf ich Isabel. Sie saß ganz hinten, pinke Kopfhörer in ihre Ohren gesteckt, und wippte mit dem Fuß zum Takt ihrer Musik. Die Plätze neben ihr waren frei, obwohl es um diese Uhrzeit brechend voll war. Mit Marie im Schlepptau bahnte ich mir einen Weg zwischen den Körpern hindurch und setzte mich neben meine Freundin.

Sobald sie uns entdeckte, zog sie ihre Kopfhörer heraus und wickelte sie um ihren neumodischen iPod. Marie nahm auf der anderen Seite Platz. Sie behauptete zwar immer, dass es ihr egal war, wo sie sich im Bus befand, aber ich vermutete, dass sie von dem Glanz, den Isabels bloße Nähe auf sie abwarf, enorm profitierte.

„Ich mag deine Jeans“, bemerkte Isabel augenzwinkernd und grinste schelmisch.

Sie hatte sie ausgesucht. Ich wollte eigentlich eine schwarze haben, die man zu allem tragen konnte, aber sie riet mir davon ab. Du bist sowieso schon viel zu dünn, hatte sie erklärt, dunkelgrau ist besser.

Obwohl sie zehn Monate jünger war als ich, vertraute ich ihr in Modefragen mehr als irgendwem sonst.

„Hast du die Hausaufgaben in Mathe?“, fragte ich, ohne auf ihr letztes Kommentar einzugehen.

Ihre Augen wurden groß. „Hausaufgaben? Hatten wir was auf?“

Ich nickte. „Ja, in Mathe. Und in Bio sollten wir das Arbeitsblatt beenden, welches wir letzte Woche bekommen hatten.“ „Arbeitsblatt ..?“

„Das mit den Organen.“ Bei der Erinnerung lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Und obwohl es erst ein paar Monate her war, dass Agnes mir Gläser mit eingemachten Organen ins Schließfach gestellt hatte, war es mir überraschend schwergefallen, sie richtig zu benennen.

„Hm“, machte sie und zog ihre Unterlippe nach innen. „Mist. Mathe haben wir jetzt auch in den ersten beiden Stunden, das wird zeitlich echt knapp mit Abschreiben.“

„Was machst du Nachmittags eigentlich immer, dass du ständig deine Hausaufgaben vergisst?“

Sie rollte genervt mit ihren Augen, als wären Hausaufgaben gar nicht weiter wichtig. „Montags und Mittwochs hab ich Volleyballtraining, das weißt du doch.“

„Ja, aber auch nicht den ganzen Tag lang.“

„Irgendwann muss ich ja auch mal schlafen. Das hier“ - dabei machte sie eine ausschweifende Handbewegung die ihren Kopfansatz bis zu ihren Füßen einschließen sollte - „soll doch so lange wie möglich frisch bleiben.“

„Kannst ja mal versuchen, ob es mit Frischhaltefolie klappt.“

„Deswegen liebe ich dich!“ Sie lachte auf, und ich konnte nicht anders als es ihr gleichzutun.

Marie warf uns von ihrem Platz aus lediglich einen ihrer wohl bekannten genervten Blicke zu.

Sobald wir ausstiegen, trennte sich Marie von uns und marschierte zu ihrer Freundin Mona, ein Mädchen mit schwarzem Haar, das unsere Mutter nicht leiden konnte. Und neben ihr stand ein mir nur allzu bekannter Typ, dessen blondes Haar wirr vom Kopf stand, als hätte er ganz vergessen sich zu kämmen. Trotz der knapp fünfzig Meter zwischen uns trafen sich unsere Blicke.

Timon hob zum Gruß die Hand, ich nickte ihm hastig zu, doch das bekam er schon gar nicht mehr mit. Marie schlang gerade überschwänglich ihre Arme um seinen Hals, als würden sie sich immer so begrüßen.

„Aber er hasst doch Umarmungen ...“, murmelte ich zu mir selbst.

„Was hast du gesagt?“, wollte Isabel wissen und stupste mich im Gehen mit der Schulter an.

Ich beschloss, dass es besser war, nicht mehr auf meine Schwester und ihre Freunde zu achten, fragte mich allerdings unwillkürlich, seit wann Timon mit dem Bus zur Schule fuhr. Er und sein älterer Bruder Till bevorzugten normalerweise das Fahrrad, auch im Winter.

Ich hörte Isabel nur mit einem halben Ohr zu, während sie sich über irgendeine Sache ausließ, die Ingrid mal wieder verbockt hatte. Meine Gedanken huschten jedes Mal zurück zu Timon.

Heimlich warf ich einen Blick über meine Schulter zurück, aber ich konnte sie zwischen all den Schülern nicht mehr ausmachen.

Erst in der Schule angekommen wurde Isabel klar, dass ich ihr gar nicht zuhörte. Während sie mir die Tür zum Haupteingang aufhielt, beschwerte sie sich:

„Du bist ja gar nicht bei der Sache!“

Doch statt zu antworten, deutete ich Richtung Toilette. „Ich muss pinkeln.“

Eilig beschleunigte ich meinen Schritt, ließ Isabel in der Aula zurück und betrat die Sanitäranlage. Obwohl ich gar nicht musste, schloss ich mich in die erste Kabine ein.

Kurz darauf hörte ich, wie die Tür ein weiteres Mal geöffnet wurde und zwei tratschende Mädchen eintraten.

„... sah so hammergeil aus!“

„Ja, ich wette, sie würde sogar in einem Kartoffelsack gut aussehen.“

„Bestimmt. Bei ihrer Figur könnte man echt neidisch werden!“

Ich blieb stocksteif stehen und hielt den Atem an. Leise lehnte ich mich gegen die Wand und wartete.

Vor meinem inneren Auge tauchte immer wieder das Bild auf, wie freudig Marie Timon begrüßt hatte, und ich verstand einfach nicht, warum ich überhaupt so daran festhielt. Mein Magen fühlte sich an, wie ein ausgeholter Kürbis aussah.

Oder nein; eher wie ein Kürbis, der gerade ausgeholt wurde.

Die Mädchen öffneten ziemlich rüde ihre Kabinentüren.

„Wobei ihre Titten ja doch eher winzig sind“, sagte eines der Mädchen gerade und ich vernahm, wie sie ihre Tasche auf den Boden schmiss und ihre Hose öffnete.

„Ja, voll. Sie ist echt hübsch und so, aber es ist mir echt schleierhaft, wie Dante auf sie stehen kann. Ich meine, er könnte jede haben!“

„Mich zum Beispiel!“, gackerte ihre Freundin, die kurz darauf lautstark zu pinkeln anfing.

Auf einmal wurde mir ganz heiß. Ich hob meine generell kalten Hände und hielt sie an meine Wangen.

„Emmarella kann sich echt glücklich schätzen“, setzte die Pinkelnde hinterher. „So einen wie Da-“

Und da wurde es mir zu viel. Ich riss meine Tür auf und raste aus der Kabine, an den Waschbecken vorbei, hinaus aus dem stinkenden Raum mit den tratschenden Weibern und stieß prompt mit Isabel zusammen, die mir ganz offensichtlich gefolgt war und mich besorgt musterte.

„Alles okay?“, fragte sie und ihre blauen Augen funkelten wie das offene Meer. Erst jetzt bemerkte ich die silberne Spange, mit der sie ihren Pony zur Seite gesteckt hatte.

Statt zu antworten, lief ich an ihr vorbei. Sie blieb mir auf den Fersen. „He, Emmy, hab ich irgendwas Falsches gesagt? Ich meine, du hast mir ja gar nicht zugehört und -“

„Hast du einen Spitznamen?“, unterbrach ich sie ein wenig zu barsch, verlangsamte meinen Schritt aber nicht. Ich wollte so schnell wie möglich von diesen Mädchen fort. Das Üble sollte kein Gesicht bekommen.

Isabel verstand mich nicht. „Äh, Isi ..?“

„Nein, ich meine einen, den andere dir geben. Mal von Justus und Co abgesehen, die dich als Oberzicke bezeichnen.“

„Ach so.“ Sie überlegte. Dann: „Ich hab mal gehört, wie zwei Fünftklässlerinnen mich Barbie nannten. Und Fabienne wird Prinzesschen genannt. Bei Jenna scheiden sich die Geister. Für die einen ist sie die Königin, manche nennen sie Sissi und für die anderen ist sie Jenna DeVille.“ Wir erreichten den Vertretungsplan, an dem wir schließlich innehielten und einen Blick drauf warfen.

Plötzlich hob Isabel ihre Hände in die Höhe. „Es gibt doch einen Gott! Herr Maßlab ist krank. Das heißt, er wird nie erfahren, dass ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hab!“ Dann schob sie mich vorwärts und fragte: „Warum wolltest du das mit den Spitznamen wissen?“

Sie musterte mich von oben bis unten.

„Ich hab grad zwei Mädchen reden hören“, seufzte ich schließlich. Wir setzten uns wieder in Bewegung und liefen, dieses Mal langsamer, zu unserem Klassenraum in Trakt B. „Sie nennen mich Emmarella.“

„Emmarella?“, wiederholte sie naserümpfend. „Das klingt wie ein Käse.“

Vor der Glastür zu unserem Trakt wartete Dante auf uns. Als er uns entdeckte, erhob er sich schwungvoll von der Heizung, auf der wir eigentlich nicht sitzen durften, und schlenderte in unsere Richtung.

„Bis gleich!“, raunte Isabel mir zu und beschleunigte ihren Schritt, um uns ungestört zu lassen. Als sie an ihm vorbeikam, hoben sie zeitgleich ihre Hände und schlugen einander ein.

Ich blieb stehen und wartete auf ihn.

Während er auf mich zukam, zogen sich seine Mundwinkel wie von selbst nach oben und entblößten seine strahlend weißen Zähne. Seine dunkelbraunen Locken hatte er zu einem Knoten gebunden und statt einer Jeans trug er eine schwarze Sporthose.

„Hallo, meine Schöne“, begrüßte er mich, legte einen Finger sanft unter mein Kinn und küsste mich.

Ich musste an die Worte der beiden Mädchen denken. Ich versuchte zu lächeln, aber als ich in seine tiefbraunen Augen blickte, spürte ich einen Stich durch meine Brust jagen.

Sie hatten Recht.

Ein Junge wie Dante konnte jede haben.

Mir war durchaus bewusst, wie Mädchen ihn ansahen. Sie schwärmten für ihn, diesen gutaussehenden Kerl mit seinem dunklen Teint, der nicht eine einzige arrogante Attitüde an sich hatte. Er hielt anderen die Türen auf, trug hin und wieder meine Tasche und wenn er lächelte, war es, als würde sein ganzer Körper strahlen.

Ich war bloß das Mädchen, die am Anfang dieses Schuljahres noch ganz am Ende unserer schulischen Hierarchie gestanden hatte. Ich war ein Niemand. Nichts Besonderes.

Ich war bloß Emma, ein Mädchen aus Neustadt-Hausen, die ihre beste Freundin verloren hatte.

Dante bemerkte nichts von dem Chaos in mir. Stattdessen griff er nach meiner Hand und drückte sie fest, um allen zu zeigen, zu wem ich gehörte.

Ich hob meinen Blick und entdeckte mein Spiegelbild im Fenster.

Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich mich selbst nicht wieder. Da stand ein Mädchen vor Dante, welches mir sehr ähnlich war. Ich erkannte ihre haselnussbraunen Locken.

Aber sie trug eine stylische Röhrenjeans, ein altrosafarbenes Top mit Rüschen am Ausschnitt und eine dunkelgraue Strickjacke. Sie trug Perlenstecker und ein Perlenarmband mit glitzernden Diamanten, das Jenna ihr mit den Worten als Goldkind brauchst du jetzt echten Schmuck geschenkt hatte.

Dieses Mädchen sah wirklich wunderschön aus. Wie eine von ihnen.

Dieses Mädchen im Fenster passte zu einem Jungen wie Dante.

Ich war mir nur nicht sicher, ob ich dieses Mädchen wirklich sein wollte.

Isabel

Biologie bei Frau von und zu Geldner war kein Unterricht, sondern eine Bestrafung. Diese Frau in ihren Mittvierzigern beherrschte es perfekt, so langsam und monoton zu sprechen, wie ein Schlaflied klingen sollte.

Während sie uns gerade anhand eines Modells die Organe und ihre Funktionen erklärte, kritzelte ich ein Galgenmännchen auf einen Zettel und schob ihn Fabienne zu, die mir daraufhin bloß einen argwöhnischen Blick zuwarf. Ihr Arm schoss in die Höhe und als Frau Geldner sie aufrief, beantwortete sie ihre Frage, von der ich gar nichts mitbekommen hatte.

„Die Lungen sind natürlich zum Atmen da. Wenn wir einatmen, füllen sie sich mit Sauerstoff, und wenn wir ausatmen -“

„Danke, Fabienne“, unterbrach unsere Lehrerin sie. Und da spürte ich plötzlich ihren bohrenden Blick.

Ein wenig gelangweilt schaute ich auf und stellte fest, dass Frau Geldner mich missbilligend musterte.

„Isabel, da du es offensichtlich nicht nötig hast, in meinem Unterricht aufzupassen, kannst du mir sicherlich sagen, welche Aufgabe die Milz hat.“

„Die Milz“, wiederholte ich gedehnt und warf unauffällig einen Emma, die zwischen Fabienne und Cho saß.

„Emma wird dir nicht helfen“, sagte Frau Geldner süffisant.

„Das braucht sie auch gar nicht, Frau Geldner“, entgegnete ich um Zeit zu schinden.

Ich schaute auf das Blatt vor mir herunter, welches ich in der Pause ausgefüllt hatte. Ich hätte es mir vielleicht durchlesen sollen, statt blind von Fabienne abzuschreiben. Wo war die Milz … Ah, da. Dieses kleine Fitzelchen neben dem Magen.

Nur blöd, dass hier nirgends stand, wozu es da war …

„Fabienne, würdest du deiner Freundin bitte erklären, welche Aufgabe die Milz hat?“, untergrub Frau Geldner meinen Versuch, mich aus der Affäre zu ziehen.

Ich sah zu ihr.

Fabiennes Ohren wurden ganz rot und sie blickte auf ihre Hände hinab, als sie leise antwortete: „Das … weiß ich leider nicht.“

Mir klappte der Unterkiefer herunter. Natürlich wusste sie ganz genau, welche Aufgaben die Milz hatte. Es gab nichts, was Fabienne nicht wusste, mal abgesehen von zwischenmenschlichen Dingen.

Frau Geldner schnalzte missbilligend mit der Zunge und bellte durch den gesamten Klassenraum:

„Thomas! Aufgaben der Milz!“

„Keine Ahnung!“, kam es von Thomas zurück.

„Ali!“

„Wenn ich das wüsste, Frau Geldner, hätte ich mich gemeldet.“

Und so ging es eine ganze Weile weiter, bis Frau Geldner uns allesamt wutschnaubend zu einer Stunde Nachsitzen verdonnerte, die meine Mitschüler grummelnd hinnahmen.

Ich für meinen Teil lehnte mich entspannt zurück. Spätestens jetzt musste Frau Geldner begriffen haben, wie der Hase hier lief.

Als das Ende der Doppelstunde eingeläutet wurde, sammelte ich meine Sachen zusammen und verstaute sie in meiner Tasche. Fabienne warf mir einen flehenden Blick zu, den ich allerdings gekonnt ignorierte. Ich wusste, worum sie mich stillschweigend bat.

Sie wollte nicht Nachsitzen. Sie wollte, dass ich zu Frau Geldner ging und in ihren fetten Arsch kroch.

Aber da Fabienne niemals etwas direkt zu mir gesagt hätte, tat ich so, als würde ich sie gar nicht bemerken.

Erhobenen Hauptes wollte ich am Lehrerpult vorbeimarschieren, als Frau Geldner meinen Namen rief.

Genervt drehte ich mich zu ihr um und schlenderte zurück, wobei ich ganz offensichtlich mit den Augen rollte. Sie konnte ruhig wissen, wie wenig ich von ihr hielt …

Emma folgte mir. Das liebte ich am meisten an ihr. Sie würde mich niemals alleine in eine Schlacht ziehen lassen.

„Was denn?“, fragte ich Frau Geldner mit einem argwöhnischen Unterton.

Wir waren ihre erste Klasse nach ihrem Referendariat und obwohl sie höchstens dreißig Jahre alt sein konnte, kleidete sie sich wie eine Bäuerin aus dem 19. Jahrhundert.

Okay, nicht ganz so extrem, sie trug ganz normale Jeans, aber ihre gesamte Aufmachung wirkte so … nichtssagend. Sie war eine jener Frauen, die sich sicherer fühlten, wenn sie in der Masse untergingen.

Ich konnte sie einfach nicht ernst nehmen.

Sie warf mir einen tadelnden Blick zu, dann schaute sie an mir vorbei zu Emma. „Ich möchte bitte mit Isabel alleine sprechen. Geht das?“

Ich tauschte einen Blick mit Emma. Erst als ich nickte, drehte sie sich um und verließ mit den letzten Schülern den Raum.

Frau Geldner setzte sich auf ihren Stuhl und sah mit ernster Miene zu mir hoch. „Du bist nicht dumm, nur faul.“

„Für diese Interpretation muss ich jetzt wirklich wertvolle Minuten meiner Pause vergeuden?“

Frau Geldner seufzte. „Mündlich stehst du auf einer Vier, und das nur, weil dir Fabienne oft genug die richtige Lösung zuflüstert. In der Arbeit, die wir dieses Halbjahr geschrieben hatten, hattest du eine Fünf Minus. Wenn du in der nächsten Arbeit nicht mindestens eine Vier, besser sogar eine Drei schreibst, muss ich dir im Zeugnis eine Fünf geben.“

Unwillkürlich stellte ich mir das Gesicht meines Vaters vor, wenn er die schlechte Note sehen würde. Und Ingrid würde mich wahrscheinlich zum nächsten Therapeuten zerren, weil sie annähme, es läge an allem, was dieses Schuljahr passiert war.

„Ich kann die Fünf ausgleichen“, sagte ich, um mein letztes bisschen Würde zu wahren. „In Sport hab ich eine Zwei.“

„Und wie willst du dann die Fünf in Physik ausgleichen, die du dir im ersten Halbjahr eingefangen hattest? An der Note kannst du nichts mehr ändern. In Biologie müsstest du dich einfach nur hinsetzen und lernen, sonst wirst du die neunte Klasse wiederholen müssen. Und ich weiß nicht, ob dich deine neue Klasse so unterstützen würde, wie deine Mitschüler es heute getan haben.“

Frau Geldner sah mich so eindringlich an, dass ich unwillkürlich schlucken musste. „Ich hab dich nie als gute Schülerin erlebt“, fügte sie hinzu, „aber Herr Maßlab ist von deinem Können und deiner Intelligenz überzeugt. Mir ist durchaus bewusst, dass du viel durchgemacht hast, aber ich halte nichts davon, dich mit deinem Verhalten durchkommen zu lassen. Du beteiligst dich nicht am Unterricht, deine Arbeiten sind schlecht, und ich wette, du machst deine Hausaufgaben auch nicht selbst.“ Als ich mich verteidigen wollte, hob sie warnend einen Zeigefinger. „Ich bin nicht von gestern, Isabel.“

Da scheiden sich die Meinungen, dachte ich.

„Ich kenne Mädchen wie dich. Du denkst, dir liegt die Welt zu Füßen, und dass dir alle Türen in diesem Universum offenstehen, aber du irrst dich. Du bist nur ein ganz kleines Licht auf diesem Planeten und musst deinen Platz erst noch finden.“

Ich konnte nichts dagegen tun, aber auf einmal musste ich an Agnes denken. Frau Geldner war ihr sehr ähnlich, mal von diesen abgedrehten Hexensachen abgesehen. Sie gehörten beide zu dem Typ Mensch, der immer am Rand stand und sich nie mit seinem Schicksal abfinden würde. Zu jenen einsamen Dingern, die zu uns blickten und uns beneideten.

Sie beneideten uns, weil sie nur den hellen Schein um uns bemerkten; nur das Glitzer sahen, welches wir selbst verstreuten.

Und ganz plötzlich konnte ich Frau Geldner nicht mehr als meine Lehrerin ansehen.

„Es ist einfacher, seinen Platz in dieser Welt zu finden, wenn man gute Noten hat“, verkündete sie gerade, und ich konnte ein verächtliches Grunzen nicht unterdrücken.

„Denken Sie das echt?“, fragte ich sie, aber ihr überraschter Gesichtsausdruck war schon Antwort genug. „Fabienne hat auch gute Noten. Denken Sie wirklich, sie ist deswegen glücklicher?“

„I-Ich hab nicht gesagt, dass es glücklicher macht ...“, stammelte Frau Geldner, wohl überrascht von der Tatsache, dass ich ihr widersprochen hatte.

Ich verdrehte meine Augen und atmete hörbar aus. „Okay, anders ausgedrückt: Fabienne hat gute Noten. Sie ist die Klassenbeste. Aber keine Eins dieser Welt würde ihr Leben einfacher machen, denn sie ist ja trotzdem noch sie selbst, mit ihrem Leben, ihren Eltern, ihrer Herkunft und allem anderen, was dazu gehört. Selbst wenn ich lernen würde, und gute Noten schreiben würde, würde das nichts an meinem Leben ändern. Ich wäre noch immer ich. Weil gute Schulleistungen einen Menschen nicht ausmachen. Es sind nicht die Noten, die einen Charakter formen, sondern die Erfahrungen, die man sammelt.“

Frau Geldner starrte mich vollkommen perplex an. Ich setzte mein Pokerface auf, klopfte mir innerlich allerdings metaphorisch auf die Schulter.

Ich hatte mich zu früh gefreut. Frau Geldner fasste sich wieder und sah mich ausdruckslos an. „Im Grunde genommen ist es mir auch egal, ob du wiederholst oder nicht.“

Ich hörte die Drohung, die leise mitschwang, und begriff, dass sie begriffen hatte, an einem viel längeren Hebel zu sitzen. Sie war die Lehrerin. Ich nur ihre Schülerin.

„Kann ich dann jetzt gehen?“, fragte ich mit vorgestrecktem Kinn.

Wir sahen einander lange an. Sie genoss diesen Augenblick sichtlich. Aber wenn sie dachte, ich würde aufgeben, hatte sie sich getäuscht. Ich hielt ihrem Blick so lange stand, bis sie zur Tür nickte.

Ohne ein weiteres Wort wandte ich ihr meinen Rücken zu und verließ den Klassenraum.

Erst als die Tür ins Schloss gefallen war, atmete ich scharf die Luft aus, die ich die letzten Minuten über angehalten hatte.

In den letzten Monaten hatte sich einiges an unserem Stammplatz in der Aula, dem hintersten Tisch am Fenster, geändert. Die Sonnenplätze waren weiterhin für die selbsternannte Königin – Jenna – und den König unserer Schule reserviert. Nur das auf dem Platz, der jahrelang Tommy gehört hatte, nun Dante saß.

Neben Jenna gehörte ihre beste Freundin Gina, und neben ihr saß Fabienne. Wenn sich Jenna mit Gina gestritten hatte, musste sie jedes mal mit Fabienne den Platz tauschen, die sich bereitwillig wie eine Marionette behandeln ließ, seit … Ja, eigentlich schon immer.

Früher, als Tommy noch gelebt hatte, saß ich zwischen ihm und Dante, und zum Schluss Henrik. Jetzt, wo Dante auf seinen Platz gerutscht war, gehörte Emma seine Seite. Für gewöhnlich setzte ich mich zwischen sie und Henrik. Da wir Indra sehr zu Jennas Leidwesen bei uns aufgenommen hatten, bildete die zickige Rothaarige das Schlusslicht auf Jennas Seite.

Ich blieb am Vertretungsplan stehen und betrachtete meine Freunde aus der Ferne.

Ich dachte darüber nach, wie es letztes Jahr um diese Zeit gewesen war. Es musste Anfang Mai gewesen sein, als Tommy mir von einem Mädchen erzählt hatte, in dass er sich total verguckt hätte. Da hatte ich noch nicht gewusst, dass es sich bei jenem Mädchen um Carmen handelte. Und wenn er mir die ganze Wahrheit gesagt hätte, hätte ich ihn vermutlich lauthals ausgelacht.

Ein anderer Gedanke kam mir und stimmte mich überraschend traurig.

Letztes Jahr um diese Zeit war ich noch nicht mit Emma befreundet gewesen. Mein Bruder war noch am Leben. Und meine Mutter verbrachte ihre Tage nicht in einer Psychiatrie, vollgestopft mit Antidepressiva und anderen Medikamenten, die ich nicht aussprechen konnte.

Letztes Jahr um diese Zeit war ich ein ganz anderer Mensch. Es erschien mir völlig absurd, wie sehr man sich in 365 Tagen so sehr verändern konnte.

In dem Augenblick, als ich das dachte, warf Emma ihren Lockenkopf zurück und lachte ihr helles, glockenklares Lachen. Sogar aus der Entfernung konnte ich sehen, wie sich Dantes Blick bei diesem Klang erhellte. Er schien aus all seinen Poren zu strahlen, bloß weil er es war, der seinen Arm um Emma legen konnte.

Ob sie zusammen wären, wenn ich mich nicht mit ihr angefreundet hätte?

Oder ob er sie und ihre alten Freunde weiterhin schikaniert hätte?

Unwillkürlich schweifte mein Blick zu dem Tisch rüber, an dem Justus zusammen mit Till und einem Jungen saß, der, soweit ich mich erinnern konnte, Joshua hieß. Sie unterhielten sich angeregt über irgendetwas, von dem ich mit Sicherheit keine Ahnung hatte.

Joshua hat Anfang des Schuljahres Pantoffeltierchen

verkauft, erinnerte ich mich. Ein Junge wie er könnte mir sicher bei meinem Bio-Problem helfen.

Allerdings konnte ich ihn nicht fragen. Erstens hasste er mich sowieso und zweitens verletzte es Emma schon, wenn man nur den Namen einer ihrer ehemaligen Freunde nannte. Sie würde es vermutlich auch nie zugeben, aber sie vermisste Justus. Manchmal ertappte ich sie dabei, wie sie ihm sehnsüchtig hinterher blickte, als würde sie an Früher denken, so wie ich in diesem Moment.

Aber wenn die Zeit etwas wirklich perfekt beherrschte, dann war es, Dinge zu verändern.

Kopfschüttelnd setzte ich mich wieder in Bewegung und als Emma mich entdeckte, winkte sie mir fröhlich entgegen. Henrik rutschte automatisch zur Seite, damit ich neben meiner besten Freundin Platz nehmen konnte.

„Und?“, wollte Emma sofort wissen. „Was wollte Frau Geldner von dir?“

„Oh je, die Geldner haben wir auch“, warf Jenna ein, die sich grundsätzlich zu Wort meldete, wenn Emma etwas sagte. Sie strich sich übertrieben lässig eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars hinters Ohr, beugte sich prompt vor und vergewisserte sich, dass Dante sie bemerkte – was er nicht tat. Er würde sie zwar niemals bewusst ignorieren, aber in seinem ganz persönlichen Film spielte Emma die Hauptrolle.

Blöd gelaufen, Jenna.

„Schreckschraube“, hustete Indra hinter vorgehaltener Hand, doch sie deutete mit einem vielsagenden Kopfnicken zu Jenna.

Noch immer wusste ich nicht ganz, was ich von Indra halten sollte. Wer so offensichtlich über eine Freundin lästerte, gehörte in meinen Augen nicht zu den Menschen, mit denen ich mich abgeben wollte. Aber sie war Emmas Cousine, und damit ein Teil von uns.

Ich beschloss, mich auf das eigentliche Thema zu konzentrieren, wandte mich an Emma und antwortete: „Ich muss in der nächsten Arbeit mindestens eine Drei schreiben, wenn ich nicht sitzenbleiben will.“

Stille.

Keiner traute sich, etwas zu sagen.

Bis Indra beschloss, dass ein Eimer Salz in eine offene Wunde zu streuen die beste Lösung wäre, Schweigen zu durchbrechen: „Dann solltest du dich wohl mal auf deinen Hintern setzen und etwas für die Schule tun.“

Jenna schnalzte missbilligend mit der Zunge.

Unser Rotschopf nutzte dies als Gelegenheit, sich vorzubeugen und Jenna süffisant an den Kopf zu knallen: „Da du dich doch sowieso für etwas Besseres hältst, kannst du Isabel ja beim Lernen helfen!“

Oh Gott, bitte nicht.

Ich warf Emma einen flehenden Blick zu, aber sie zuckte bloß mit ihren Schultern.

„Komm mal klar in deiner kleinen Welt“, kam Gina ihrer Freundin zu Hilfe.

Fabienne, die zwischen ihnen saß, zog ihre Schultern hoch und lehnte sich kaum merklich zurück, um nicht zu sehr im Schussfeuer zu landen.

Indra öffnete schon ihren Mund, um etwas zu erwidern, als Dante dazwischenging: „Mädels, es geht gerade um Isabel.“

Hau, der Häuptling hat gesprochen. Sofort verstummten Jenna und Indra und ließen ihren Streit in der Luft wie eine schwere Gewitterwolke hängen. Fabienne entspannte sich sichtlich und piepste: „Ich kann dir helfen.“

Vehement schüttelte ich meinen Kopf. „Maus, ich schätze dein Angebot sehr, aber ich würde dir den Kopf abreißen.“ Stattdessen blickte ich zu Henrik, der vor Kurzem auf Kontaktlinsen umgestiegen war. „Was ist mit dir? Du bist doch gut in diesen naturwissenschaftlichen Sachen.“

Mir entging der hastige Blick nicht, den er Jenna zuwarf, ehe er antwortete. „Hm. Wir können es ja mal versuchen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob … Na ja, ob das was bringt.“

Indra kicherte, während Jenna leise fluchte: „Und so was nennt sich Freundin.“

In dieser Hinsicht musste ich ihr allerdings Recht geben. Indra benahm sich nicht wie eine von uns. Wir Goldkinder hielten zusammen. Ich hielt zwar nicht sonderlich viel von Jennas Arroganz, aber ich wusste, dass sie im Falle eines Falles immer hinter mir stehen würde.

Bei Indra war ich mir da nicht so sicher.

Ich hob meine Hand, und Henrik schlug ein. „Dann ist das jetzt abgemacht, Nachhilfelehrer.“

Er zog eine Fratze, die wohl als Lächeln durchgehen konnte, wenn man den abwartenden Blick nicht bedachte, den er Jenna ein weiteres Mal zuwarf, als wollte er wissen, ob es sie interessierte. Als wünschte er sich sehnlichst, es würde sie stören, dass er einem anderen Mädchen Nachhilfe in Bio gab.

Instinktiv wollte ich ihn umarmen, tröstend durch sein braunes Haar streichen und ihm versprechen, dass andere Mütter auch schöne Töchter hatten.

Niemand sollte sich freiwillig in Jenna de Mâr verlieben.

Fabienne

Nach der Schule ging ich zusammen mit meinen Freundinnen zum Bus. Jenna, Gina und Indra mussten Gott sei Dank länger in der Schule bleiben und Cho wurde heute von ihrem Vater mit dem Auto abgeholt, weil sie irgendeinen wichtigen Termin in Hannover hatten.

Isabel harkte sich bei mir und Emma unter und bildete so eine Art menschliche Brücke. Sie warf ihre Locken zurück, wobei ihre Haarspitzen meine Wange streiften und ich mich unwillkürlich fragte, ob sie manchmal absichtlich so ignorant war.

„Und?“, wollte sie auf einmal wissen und lenkte in meine Richtung um deutlich zu machen, wen sie ansprach. „Welche Ausrede hast du deinen Eltern heute aufgetischt?“

Sofort warf ich hektische Blicke nach links und rechts, um sicherzugehen, dass sie keiner gehört hatte.

„Ich fürchte, du wirst langsam ein wenig paranoid“, stellte Emma fest, warf mir aber einen mitfühlenden Blick zu.

Mit gesenkter Stimme sagte ich: „Ich hab unserem Direktor Dr. Behr versprochen, die Bibliothek aufzuräumen. Sollte meine Mutter in der Schule anrufen, wird die Sekretärin ihr sagen, dass heute tatsächlich einige Bibliothek aufräumen.

Und sollte meine Mutter auf die Idee kommen, die Sekretärin zu bitten, nach mir zu schauen, wird dort ein Mädchen aus der Siebten namens Esther sein, die behauptet, ich wäre kurz zur Toilette gegangen. Ich hab extra eine alte Tasche mit Schulbüchern in der Bibliothek deponiert, damit es wirklich so aussieht, als wäre ich nur kurz weg.“

Während ich meinen Freundinnen meinen wasserdichten Plan erläuterte, spürte ich, wie sich der Stolz immer weiter in mir ausbreitete.

Isabel hingegen schüttelte kaum merklich ihren Kopf. „Ich fürchte, Emma hat Unrecht. Du bist bereits paranoid.“

„Wieso?“, entfuhr es mir einige Oktaven zu hoch. Hastig blicke ich um mich, aber niemand schien auf uns aufmerksam geworden zu sein. Leiser fügte ich hinzu: „Meine Mutter bringt mich um, wenn sie erfährt, dass ich mich immer noch mit Percy treffe. Meinem Vater ist es ja egal, aber sie …“ Ich seufzte tief.

„Deine Mutter sollte sich langsam mal daran gewöhnen, dass du dich für das andere Geschlecht interessierst“, entgegnete Isabel, als würde sie das Problem erkennen. „In ein paar Wochen wirst du Fünfzehn. Da wird es so langsam Zeit!“

Sie definierte dieses es nicht weiter, doch ich konnte spüren, wie meine Wangen auf einmal ganz heiß wurden. Ich definierte dieses es ziemlich eindeutig zweideutig und ich war mir noch nicht sicher, ob mir diese Vorstellung gefiel oder nicht.

„Das Problem ist nicht sein Geschlecht“, murmelte ich mehr zu mir selbst, „sondern dass es Percy ist.“

„Weil deine Mutter grundsätzlich etwas gegen Jungs hat, die nicht französisch sind?“, mutmaßte Emma. Ich schüttelte meinen Kopf. „Solange er aus gutem Hause kommt, könnte er ein russischstämmiger Amerikaner aus Saudi-Arabien sein.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob das geht ...“

„Was hat deine Mutter bloß gegen die Grafenfamilie?“, warf Isabel verständnislos ein.

Ich zuckte mit den Schultern und seufzte tief.

Unser blonder Engel stupste mich aufmunternd mit der Schulter an. „Kopf hoch. Du hast für heute ja ein ziemlich gutes Alibi.“

„Sollte ich jemals einen Mord vertuschen wollen, werde ich dich um Hilfe bitten“, versprach Emma.

Ich warf den Beiden ein zaghaftes Lächeln zu.

„Und irgendwann bist du alt genug, um deine eigenen Entscheidungen treffen zu können.“

Das hoffte ich auch.

In Anbetracht der Tatsachen war ich mir allerdings nicht sicher, ob dieser Tag mein 18. Geburtstag wäre oder der Todestag meiner Mutter.

Mit dem Bus fuhr ich zum Anwesen des Grafen. Ich musste mit meinem regulären Bus fahren, weshalb ich mich immer wieder vorsichtig umsah. Als ich an der Haltestelle ankam, an der ich normalerweise aussteigen musste, versuchte ich, mich mit bloßer Willenskraft unsichtbar zu machen.

Es gelang mir zwar nicht wie in den komischen Comics, von denen Emma hin und wieder plapperte, aber ich wurde von niemandem bemerkt.

Seit dem Winterball mussten wir uns nur noch in der Öffentlichkeit verstecken. Er hatte mich seinen Eltern vorgestellt und die fanden mich, wie seine Mutter Christelle zu sagen pflegte, herzallerliebst.

Seitdem trafen wir uns immer bei ihm, was es uns zumindest ermöglichte, eine halbwegs normale Beziehung zu führen.

An dem Tag, als Dante Emma gefragt hatte, ob sie mit ihm zusammen sein wollte – es war an ihrem Geburtstag gewesen – hatte ich Percy einen sehnsüchtigen Blick zugeworfen und mir gewünscht, wir könnten genauso sein. Dieser Wunsch und das Wissen, dass wir niemals so sein würden, hatten mich beinahe um den Verstand gebracht.

Ich war kurz davor gewesen, aufzugeben. Aber nicht mit ihm zusammen zu sein erschien mir viel schlimmer.

Ohne ihn fühlte ich mich nicht mehr vollkommen. Es war seine lässige, coole Art, die mich daran erinnerte, von Zeit zu Zeit meine geliebte Ordnung zur Seite zu schieben. Ich liebte ihn für all das, was ich nicht war.

Und ich hatte Angst vor dem, was aus mir wurde, wenn er mich alleine ließ.

Wenn das Liebe war – die Angst zu verlieren – dann wünschte ich mir, ich hätte sie nie gefunden.

Denn wenn es eines gab, was ich in diesem Schuljahr neben menschlichen Organen und binomischen Formeln gelernt hatte, dann war es, dass es keine Garantie gab. Jeden Tag wurden Menschen verlassen.

Jeden Tag verließen Menschen.

Als mir endlich die vorletzte Haltestelle Rosengarten angezeigt wurde, schnappte ich meine Tasche und eilte zur Tür. Ich wollte so hastig vor meinen eigenen Gedanken fliehen, dass ich praktisch aus dem Bus fiel sobald der Wagen gehalten und seine Türen geöffnet hatte.

Ich stolperte über meine eigenen Füße, blieb wie angewurzelt stehen und schaute wie ein im Zoo verloren geganges Kind auf.

Und da stand er.

Natürlich.

Er würde immer irgendwo stehen und auf mich warten, seine Hände lässig in die Taschen seiner zerrissenen Jeans gesteckt, sein braunes Haar wirr vom Kopf abstehend. Seine sturmblauen Augen waren auf mich gerichtet. Bei meinem Anblick zog sich ein Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen hoch.

Percy würde immer auf mich warten. Da war ich mir sicher.

Endlich löste ich mich aus meiner Starre und ging auf ihn zu. Er schlang seine Arme um mich und drückte mich an sich, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ich atmete seinen Geruch tief ein, als könnte ich ihn aufsaugen und für die Zeit speichern, wenn er nicht mehr da sein würde.

Wie selbstverständlich nahm er meine Hand in seine und führte mich durch den Rosengarten, der zwar zum Anwesen seiner Familie gehörte, zu dieser Jahreszeit allerdings öffentlich zugänglich war. Es gab ein paar Meter weiter ein Orchideenhaus, für das Eintritt genommen wurde.

„Wie war die Schule?“, erkundigte er sich.

„Dante und Henrik haben eine Wette am Laufen, wie lange es noch dauert, bis sich Jenna und Indra gegenseitig umbringen“, berichtete ich. „Dante sagt, sie schaffen es bis zu den Sommerferien auf jeden Fall, aber dass es dann kracht, wenn sie sich wiedersehen. Henrik sagt, sie schaffen es bis zum Schuljahresende. Ein Großteil der Typen aus der Basketballmannschaft geben ihnen noch zwei Wochen. Und Isabel hat Zwanzig Euro darauf gesetzt, dass bis zum Ende dieser Woche die Fetzen fliegen.“

Er lachte auf. „Warum wundert es mich nicht, dass Isabel bei so etwas mitmacht?“

„Ich finde, sie sollte lieber dafür sorgen, dass sich Jenna und Indra vertragen.“

„Das glaubst du doch nicht im Ernst“, grunzte er. „Ich kenne beide und ich kann dir versichern, dass sie viel zu unterschiedlich sind, um sich nicht zu hassen.“

Unwillkürlich drückte ich seine Hand und schaute zu ihm auf. „Wir sind auch ziemlich unterschiedlich.“

„Aber wir stehen aufeinander.“ Er blieb stehen und drehte mich so, dass ich ihm direkt in die Augen sehen musste, seine Hände an meiner Taille.

„Zwischen uns ist Chemie.“

„Wenn du das so sagst, klingt es gar nicht mehr romantisch.“

Er verdrehte seine Augen, hörte aber nicht auf zu lächeln. „Du und ich sind wie Yin und Yang. Wir sind so unterschiedlich, um als Ganzes zusammenzupassen. Jenna und Indra sind beide Minus-Pole.“

„Hm“, machte ich nur, weil ich plötzlich nur noch an seine Lippen denken konnte, die allmählich näherkamen.

„Sie stoßen sich gegenseitig ab“, erklärte er weiter, während er sich wie in Zeitlupe zu mir herunterbeugte.

„Mhm.“

Egal. Küss mich einfach.

Ein paar Zentimeter – und damit viel zu weit – von mir entfernt hielt er inne und grinste.

Aber da war es schon um mich geschehen. Ich griff mit meinen Händen um seinen Nacken, zog ihn endgültig zu mir herunter und küsste ihn. Meine Schultasche rutschte mir von der Schulter, aber das war mir egal. Ich konnte nur noch an seine weichen Lippen auf meinen denken, an die abertausend Schmetterlinge, die in mir drin aufflatterten und jeden Gedanken, in dem dieser Junge nicht auftauchte, auslöschte. Restlos.

Wenn ich in diesem Augenblick eine Arbeit hätte schreiben müssen, hätte ich mit einem seligen Lächeln im Gesicht eine 6 geschrieben.

Ich wusste nicht, wie lange wir umgeben von roten Rosen uns geküsst hatten. Irgendwann ließen wir voneinander ab, ich schulterte meine Tasche auf und wir setzten unseren Weg zum Anwesen händchenhaltend fort.

Ich erkundigte mich nach seinem Schultag, und er erzählte mir von einer Freundin namens Chiara, die heute zum ersten Mal seit dem Selbstmord ihres Bruders wieder in der Schule war.

„Nicht jeder Selbstmord ist gleich ein Suizid“, erinnerte ich ihn, doch Percys Miene verdüsterte sich schlagartig.

„Leider muss ich dir da in diesem Fall widersprechen.“

Er wechselte das Thema und redete von seiner Polo-Mannschaft, und dass sie am Wochenende ein wichtiges Turnier hatten.

Der Rosengarten wurde von einem Zaun vom Privatgrundstück getrennt. Percy öffnete mir das Tor, ohne hinter sich abzuschließen, und auf einmal standen wir auf dem Stallgelände, welches ebenfalls zum Anwesen gehörte. Ich liebte Pferde, aber ich musste jedes Mal aufpassen, mich nicht dreckig zu machen. Mir wollten einfach keine guten Ausreden für Mist auf der Jeans einfallen.

„Fabienne!“, hörte ich da plötzlich eine Frau meinen Namen rufen.

Wir blieben stehen und ich wandte mich mit einem Lächeln Percys Mutter zu, die mit ausgebreiteten Armen auf mich zukam. Zu spät bemerkte ich ihre Reitkleidung.

„Mami, du erdrückst sie“, lachte Percy.

„Oh!“ Christelle ließ mich los und betrachtete mich mit ihrem herzlichen Lächeln.

Jedes Mal, wenn ich dieses Lächeln sah, schnitt etwas Scharfkantiges durch meine Brust. Ich versuchte, nicht daran zu denken, aber ihre offene, warme Art ließen mich bei jeder unserer Begegnungen fragen, warum sich Percy mit einer Mutter wie ihr hatte umbringen wollen.

Ich konnte es einfach nicht verstehen.

Seine Mutter streckte einen Arm aus und zupfte einen getrockneten Grashalm von meiner Schulter. „Ups!“, kicherte sie und strich über den schwarzen Stoff meines Blazers. „Ich bin froh, dich zu sehen. Percy vergisst sicher wieder, dich zu fragen.“ An dieser Stelle warf sie ihrem Sohn einen tadelnden Blick zu. „Ich würde dich und deine Eltern gern zum Essen einladen. Ich finde, es ist nun langsam an der Zeit, dass wir uns alle kennenlernen.“

„Ich – äh – also – ähm“, stammelte ich und drückte mich augenblicklich gegen Percy, als könnte er irgendetwas tun, um mich zu retten.

Christelle zupfte an ihrem geflochtenen Zopf herum. „Übernächsten Samstag scheint mir ein guter Tag zu sein. Das ist der 16. Mai. Sagst du deinen Eltern bitte Bescheid?“

„Äh -“

„Okay, ich freue mich schon!“ Sie fasste mich bei den Schultern, beugte sich zur mir, hauchte mir ein Küsschen links und eins rechts auf die Wange und dann stolzierte sie so schnell und selbstsicher von dannen, dass ich ihr nur vollkommen entgeistert hinterherstarren konnte.

Eine Weile sagte keiner von uns ein Wort. Da war nur das Schnauben der Pferde zu hören, die seine Mutter züchtete.

„Puh!“, unterbrach Percy schließlich unser Schweigen und atmete geräuschvoll aus.

Zur Antwort warf ich ihm bloß einen verzweifelten Blick zu.

Seine Mutter hatte soeben mein Grab geschaufelt.

Indra

Als ich nach Hause kam, zog der Geruch von frischgebackenen Muffins durch unsere Drei-Zimmer-Wohnung.

„Halloho!“, rief ich in den Flur hinein.

In der Küche schepperte etwas, dann tauchten die Köpfe meiner Mutter und meines kleinen Bruders Imran im Türrahmen auf. An seiner Wange klebte noch Mehl.

Lächelnd stapfte ich zu ihnen und wischte mit dem Zeigefinger das Mehl aus Imrans Gesicht.

„Lass das!“, quietschte er und sprang zurück, wobei er unserer Mutter versehentlich einen Ellbogen in den Magen stieß.

„Uff!“, machte sie und hielt sich die schmerzende Stelle.

Wenn man ihr feingliedriges Gesicht in einem ganz bestimmten Winkel sah, wie zum Beispiel wenn sie schmerzvoll das Gesicht verzogen schräg nach links unten blickte, sah sie aus wie ihre jüngere Schwester Svea. Emmas Mutter.

Keiner von uns hatte bisher verstanden, warum sich unsere Mütter vor so vielen zerstritten hatten.