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Es gab eine feine Linie zwischen dem Normalen und dem Andersartigen, und Emma befand sich genau dazwischen. Gibt es etwas Schlimmeres als zu erfahren, dass einen die eigenen Eltern angelogen haben? Seit Miriams plötzlichem Auftauchen, ist für Emma nichts mehr so, wie es einmal war. Der überraschende Schulabgang von Jenna interessiert sie dabei herzlich wenig. Auch die Probleme ihrer Freundinnen kommen ihr viel zu unwichtig vor. Ohne mit jemandem darüber zu sprechen, trifft sie sich mit ihrer leiblichen Mutter. Bis sie eines Tages angegriffen und entführt wird. Eine Vergangenheit holt sie ein, die sie besser wieder schnell vergisst.
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Seitenzahl: 368
Für Linda
Weil du so viel mehr bist,
als du vielleicht glaubst.
Immer.
Kapitel Eins
Emma
Fabienne
Timon
Isabel
Indra
Kapitel Zwei
Isabel
Indra
Timon
Emma
Kapitel Drei
Emma
Isabel
Fabienne
Timon
Indra
Kapitel Vier
Emma
Timon
Fabienne
Isabel
Indra
Kapitel Fünf
Isabel
Indra
Emma
Fabienne
Timon
Kapitel Sechs
Emma
Isabel
Fabienne
Indra
Timon
Kapitel Sieben
Fabienne
Indra
Isabel
Emma
Timon
Kapitel Acht
Emma
Fabienne
Timon
Indra
Isabel
Kapitel Neun
Emma
Fabienne
Timon
Emma
Isabel
Indra
Emma
Kapitel Zehn
Isabel
Fabienne
Indra
Emma
Timon
Epilog
Geheimnisse waren schrecklich. Ich dachte immer, ich wäre gut darin, Dinge für mich zu behalten, aber in Wahrheit zerriss es mich.
Es zerriss mich von innen heraus.
Jeden Abend, wenn ich zusammen mit meiner Familie am Tisch saß und Brot aß, dachte ich daran, wie Miriam ganz alleine in ihrem Hotelzimmer hockte. Ich wünschte, ich hätte Svea und Viktor fragen können, ob wir sie nicht einmal zu uns einladen könnten, aber Miriam hatte mich gebeten, niemandem etwas von ihrer Anwesenheit in Neustadt-Hausen zu erzählen.
Und dann war da auch noch diese Wut in mir.
Jedes Mal, wenn Svea zu mir ins Zimmer kam und mit mir redete, wie eine Mutter eben mit ihrer Tochter redete, wollte ich aufspringen und ihr ins Gesicht schreien, dass ich die Wahrheit kannte.
Dass ich wusste, dass sie mich mein ganzes Leben lang angelogen hatte und sie gar nicht meine leibliche Mutter war.
Aber ich sagte nichts. Ich hatte es Miriam versprochen.
Seit meiner Begegnung mit ihr schwirrten mir tausend Dinge durch den Kopf.
Konnte Marie mich vielleicht deswegen nicht leiden? Weil sie immer gespürt hatte, dass wir nicht die füreinander waren, zu denen man uns gemacht hatte? Und wie konnte es sein, dass Jan nie etwas gesagt hatte? Er war sechs Jahre älter als ich … Er musste sich doch an irgendetwas erinnern.
Auch ihm durfte ich nichts erzählen. Miriam glaubte, er würde es vielleicht nicht verkraften. Sie wusste nicht, was Svea und Viktor ihm für Lügen erzählten hatten. Möglicherweise hielt er sie ja für tot?
Ein Teil von mir konnte nicht glauben, dass sie so etwas tun würden. Ich kannte doch meine Eltern … Zumindest hatte ich das immer gedacht. Die Tatsache, dass sie mich in dieser einen, existentiellen Sache angelogen hatten, gab mir zu denken. Unter diesen Umständen war es durchaus möglich, dass sie auch Jan irgendwelche drastischen Lügen erzählt hatten. Und wenn sie in diesem Punkt schon nicht die Wahrheit gesagt hatten, in welchen anderen vielleicht auch nicht?
Ich wusste nur eins mit Sicherheit: Meine Familie war nicht komplett. Die Menschen, die ich als meine Eltern bezeichnete, hatten mir jahrelang meine leibliche Mutter verschwiegen.
Wer wusste schon, was sie mir noch vorenthielten.
Ich traf mich heimlich mit Miriam. Meistens schickte sie mir eine SMS und fragte, ob ich dann und dann an dem und dem Ort sein konnte. Meistens richtete ich es ein. Nach der Dankesfeier im Heim sprach ich mit Henrietta und beendete meinen Aushilfsjob. Es gab wichtigere Dinge.
Meinen Freundinnen konnte ich auch nichts erzählen. Du darfst niemandem von mir erzählen. Nach all den Jahren, in denen sie nach mir gesucht hatte, wollte ich sie nicht enttäuschen. Ihre Anwesenheit – mein Wissen über ihre Existenz – zu verschweigen, war das Mindeste, was ich für sie tun konnte.
Meine Eltern hatten etwas verbockt und ich stand dafür gerade. So sollte es ganz bestimmt nicht sein.
Am letzten Ferienwochenende traf ich mich mit meinen Freundinnen. Sie kamen zu mir, um auf dem Dachboden zu übernachten. Wir spielten Brettspiele und Indra erzählte uns von einem Kerl, den sie zufällig kennengelernt hatte, was mich unweigerlich an Dante erinnerte, der am Montag aus dem Urlaub kommen würde.
Bis zum Schulbeginn traf ich mich nicht mit ihm. Wir telefonierten, aber als er mich fragte, ob wir uns nicht sehen könnten, redete ich mich mit der Vorbereitung aufs neue Schuljahr heraus.
Ich war mir nicht sicher, wie lange ich die Sache mit Miriam vor ihm geheim halten konnte.
Als dann der erste Schultag kam, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Es kam mir vor, als wäre ich ein ganz anderer Mensch, als am letzten Schultag vor den Ferien.
Jenna hatte da diese Tradition. Am ersten Schultag mussten wir Mädchen alle Kleider tragen. Vor ein paar Tagen war Miriam mit mir nach Hannover zum shoppen gefahren und hatte mir ein auffälliges, rotes Kleid und passende Schuhe gekauft.
Vor Svea hatte ich behauptet, ich hätte es mir selbst von meinem Taschengeld besorgt.
Als ich an diesem Morgen vor dem Spiegel stand und ein letztes Mal meine haselnussbraunen Locken in Form brachte, war ich mir nicht ganz sicher, wen ich da vor mir sah.
Ich hatte mich verändert. Das passierte allen, schätzte ich. Aber es kam mir so vor, als würde ich neuerdings grundsätzlich mit zusammengezogenen Augenbrauen herumlaufen. Das konnte nicht einmal dieses Kleid kaschieren.
Die Tür zum Badezimmer wurde aufgerissen und Marie stapfte herein. Ohne auf mich zu achten, stellte sie sich neben mich, öffnete den Spiegelschrank und kramte aus ihrem Kosmetikkorb einen glänzenden Lipgloss. Nachdem sie den Schrank wieder geschlossen hatte, trug sie ihn auf.
„Was glotzt du so?“, blaffte sie mich an, als sie meinen Blick bemerkte.
Sie trug eine zerrissene, schwarze Jeans und ein weißes Top auf dem mit schwarzen Lettern „Du kannst mich mal da, wo ich schön bin“ stand.
Je älter sie wurde, desto rebellischer schien sie zu werden. Sogar ihre Augen hatte sie mit schwarzem Lidschatten ummalt. Nicht auf die gute Weise, wie Isabel es mir einmal gezeigt hatte. Smokey Eyes.
Marie sah eher wie ein Panda aus.
„Ich glaube nicht, dass Timon auf Gruftis steht“, sagte ich schlicht.
Ihr besserwisserisches Grinsen versetze mir einen Stich. „Ich glaube, dass solltest du Timon selbst entscheiden lassen.“ Noch war sie zwar kleiner als ich, bewegte sich aber fließender, graziöser, und unwillkürlich fragte ich mich, ob ich meine Tollpatschigkeit vielleicht von Miriam geerbt hatte.
„Beeil dich, wir müssen gleich los“, sagte sie noch, ehe sie aus dem Bad verschwand.
Ich schaute ihr hinterher. Sie ließ die Tür offenstehen; eine stille Aufforderung, ihr zu folgen, und verschwand aus meinem Blickfeld.
Meine früheste Erinnerung ist der Tag, an dem Svea mit Marie im Arm nach Hause kam. Ich war damals drei Jahre alt, an mehr aus meiner frühsten Kindheit konnte ich mich nicht erinnern, aber sah ihr rosiges Gesicht noch direkt vor mir.
Die Lüge überschattete selbst jene erste Erinnerung; jenen Tag, an dem ich wirklich begriff, eine kleine Schwester zu haben.
Im Bus traf ich Isabel. Sie trug ein sonnengelbes Kleid mit weißen Punkten und hatte ihr Haar mit einer gelben Schleife zu einem hohen Pferdeschwanz hochgebunden. Als sich Marie zu uns setzte, warf Isabel ihr einen überraschten Blick zu, sagte aber nichts weiter dazu.
„Hübsches Kleid“, begrüßte sie mich schließlich.
„Danke. Deines ist auch nicht schlecht.“
„Hat etwas 50er Jahre mäßiges“, schaltete sich Marie ein, kramte aus ihrer Schultasche ein Kaugummi und warf es sich in den Mund.
Isabel warf mir einen ist-deine-Schwester-krank-Blick zu, doch ich zuckte bloß mit den Schultern.
„Danke“, murmelte Isabel abwartend.
„Das war kein Kompliment“, gab Marie zurück und zeigte so ihr wahres Gesicht. Immerhin. „Die 50er Jahre sind vorbei. Warum an etwas Vergangenem festhalten?“
„Wow, wenn ich nicht wüsste, dass du eigentlich dumm bist, hätte ich fast angenommen, du hättest den Spruch aus einem Buch für intelligente Menschen geklaut.“
„Isi“, brummte ich warnend.
Isabel verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust, während sich Marie grinsend zurücklehnte.
„Außerdem“, setzte sie in ihrer ganz typischen Isabel-Art hinterher, „war Grunge in den 90er Jahren in.“
Der verwirrte Gesichtsausdruck meiner Schwester, die offenbar nicht wusste, was Grunge ist, brachte uns zum Kichern, bis ich etwas zu lange über darüber nachdachte, und das Wort Schwester automatisch in Halbschwester korrigierte.
Als wir an der Schule ankamen und ausstiegen, Marie zu Mona und einem Jungen namens René rannte, hakte sich meine beste Freundin bei mir unter und flüsterte: „Sie ist nur so eine große Zicke, weil sie weiß, dass du sie aus allem heraushaust.“
„Sie ist meine Schwester“, gab ich zurück. Da war er wieder, dieser bittere Beigeschmack.
Halbschwester.
„Deswegen weiß ich auch, wovon ich spreche“, sagte Isabel. „Mein Bruder hat mich auch ständig beschützt. Ich meine, er hat mich meinen eigenen Weg gehenlassen und so, aber wenn es hart auf hart kam, ist er immer in die Bresche gesprungen. Marie weiß, dass du sie im Notfall beschützen würdest, deshalb ist sie, wie sie ist.“
„Du meinst, ich bin Schuld daran, dass sie so ein Biest ist?“
„Ein Monster wird immer von einem anderen Monster erschaffen“, kicherte sie. „Aber mal was anderes. Direktor Bär hat mir eine eMail geschickt und fragt, ob wir eine AG für die neuen Schüler machen können.“
„Und mit wir meinst du, er hat nur dir eine eMail geschickt und du willst die AG nicht alleine führen?“
„Ach, dir liegt Organisatorisches einfach mehr als mir“, lachte Isabel und ich musste unwillkürlich grinsen.
„Was soll das denn für eine AG sein?“, fragte ich.
„Eine Art Anlaufstelle für die neuen Schüler. Damit meine ich nicht die neuen Fünftklässler, sondern die, die in einen der höheren Jahrgänge kommen. Quasi für Leute wie Indra, nur eben schon ab nach den Sommerferien.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob dein Satz grammatikalisch richtig war, aber ich denke, ich werde dir trotzdem helfen.“
Wir liefen über den Lehrerparkplatz und nahmen einen der Seiteneingänge, die wir eigentlich nicht benutzen sollten. Regeln waren bekanntlich zum Brechen da.
Aus der Ferne konnte ich bereits Indra neben dem Vertretungsplan stehen sehen.
„Oh – sie hat echt ein Kleid an!“, rief Isabel aus und haute mir ihren Ellbogen in die Seite. „Sieht gar nicht schlecht aus.“
Da hatte sie allerdings Recht. Meine Cousine trug ein anthrazitfarbenes Wickelkleid und hatte ihr rotblondes Haar wie immer kunstvoll geflochten.
Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich hielt inne, starrte zu Indra, und hatte kurzzeitig das Gefühl, alles um mich herum würde sich drehen.
Svea hatte zwei Schwestern – Angelie und Liv. Nur Erstere hatte Kinder, Indra und ihren Bruder Imran.
Wenn ich nicht mit Svea verwandt war, dann auch nicht mit Angelie oder Liv, und ganz sicher nicht mit Indra.
Sie war nicht meine Cousine.
Ich schnappte nach Luft.
„Emmarella!“, trällerte Isabel den verhassten Spitznamen, die mir andere Schüler verpasst hatten, nachdem ich ganz offiziell mit Dante zusammengekommen war. „Alles okay?“, fragte sie besorgt, aber da entdeckte Indra uns bereits, hob ihre Hand und winkte. Sie sah irgendwie verstört aus.
Den Bruchteil einer Sekunde später schaute Fabienne um die Ecke, bemerkte uns ebenfalls und lief hastig auf uns zu. Sie trug ein hellblaues Seidenkleid mit dunkelblauem Rand am Saum, Ärmeln und um die Taille herum.
„Es ist etwas Schreckliches passiert!“, rief sie uns entgegen. Ein paar Schüler, die um uns herum liefen, warfen uns neugierige Blicke zu. Manch einer wagte es sogar stehenzubleiben, um herauszufinden, was den berühmt-berüchtigten Goldkindern nun schon wieder widerfahren war.
Meine Nackenhaare stellten sich unwillkürlich zu Berge. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich, seit Miriam aufgetaucht war, kaum noch an Fabienne und den Stress mit ihrer Mutter gedacht hatte. Ob sie wieder vollkommen alkoholisiert in einem Park herumgelaufen war? Oder was war, wenn ihrem Vater etwas passiert war?
Indra beeilte sich, ihr hinterher zu laufen.
Als Fabienne bei uns ankam, waren ihre Augen weit aufgerissen und ihre Wangen gerötet. „Sie ist weg!
Sie hat echt die Schule gewechselt! Einfach so!“
Sie klang hysterisch.
Nun kam auch Indra bei uns an. Bei näherer Betrachtung konnte ich sehen, dass auf ihrem Kleid glitzernde Spinnen abgebildet waren.
„Komm mal runter“, meinte Isabel leichthin. „Cho hat doch gesagt, dass sie die Schule wechselt.“
Fabienne zog ihre Stirn kraus. „Ich rede doch nicht von Cho!“
„Nicht?“
„Es ist Jenna!“, klärte sie uns endlich auf. Ihre Stimme ging mehr als einige Oktaven zu hoch. „Sie ist sang und klanglos auf die Hugo gewechselt!“
Mir klappte der Unterkiefer herunter.
Allerdings nicht wegen der Tatsache, dass die Königin der Schule ihr Schloss verlassen hatte, sondern weil ich tatsächlich kurzzeitig ein schlechtes Gewissen und mir Sorgen um Fabiennes Eltern gemacht hatte.
„Das ist dein einziges Problem?“, fauchte ich und schüttelte fassungslos meinen Kopf. Statt noch etwas zu sagen oder gar auf eine Antwort zu warten, marschierte ich einfach an meinen Freundinnen vorbei und ließ sie zurück.
Ich würde mich später um diesen Kindergarten kümmern.
Ich starrte Emma fassungslos hinterher. Das hat sie nicht wirklich gerade gesagt, dachte ich, aber Isabels und Indras nicht minder schockierten Gesichtsausdrücken nach zu urteilen, hatte sie es tatsächlich gesagt.
Wie konnte sie nur? Sie wusste doch ganz genau, was gerade bei mir zu Hause los war. Sie wusste, dass meine Mutter ihren Chardonnay inzwischen mehr liebte, als ihren guten Ruf – von dem ich eigentlich immer angenommen hatte, dass er das Wichtigste an nicht-materiellen Dingen war, die sie besaß. Vor ein paar Tagen, als sie erfahren hatte, dass mein Vater zurück aus Albi war und sich eine Wohnung in Neustadt-Hausen suchte, war sie betrunken und nur in einem champagnerfarbenen Seidenkleid – welch Ironie – durch unsere Straße gewankt.
Percy hatte sie aufgelesen, als er mich besuchen kam. Wenn man etwas Positives aus dieser Misere ziehen wollte, dann war es die Tatsache, dass sie durch den ganzen Alkohol ihren Argwohn gegen die Grafenfamilie vergessen und mittlerweile kein Problem mehr damit hatte, dass er zu uns kam.
„Okay, darum kümmern wir uns später“, brach Isabel blinzelnd das Schweigen und meinte damit Emma. „Wieso sollte Jenna die Schule gewechselt haben?“
„Keine Ahnung!“, heulte ich wie eine Hyäne auf. „Ich hab ihr schon ein halbes Dutzend SMS geschickt, aber sie antwortet mir nicht!“
„Das stimmt“, bestätigte Indra in einem Grabeston. „Sie hat wirklich so viele Nachrichten geschrieben. In den letzten acht Minuten.“
„Ah ja“, machte Isabel und kratzte sich an der Schläfe. „Wo sind Dante und Henrik? Und Gina? Gina muss doch etwas gewusst haben.“
„Die Jungs haben heute erst zur Dritten weil sie in die elfte Klasse gehen und Kurse haben! Und Gina ist noch nicht da.“ Mir kam ein schrecklicher Gedanke. „Oh nein, vielleicht hat sie ja auch die Schule gewechselt!“
„Wäre jetzt keine Katastrophe“, brummte Indra und als sie meinen bitterbösen Blick bemerkte, fügte sie hinzu: „Mach dir keine Sorgen. Für die Hugo muss man einen echt schwierigen Eignungstest bestehen und glaub mir, den würde Gina nicht bestehen. Sie erfüllt leider jedes Klischee einer Blondine.“ Sie warf Isabel einen entschuldigen Blick zu.
„Schon gut“, entgegnete Isabel und machte eine wegwerfende Handbewegung. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, dass sie es gewesen war, die das letzte Schuljahr beinahe hätte wiederholen müssen.
Indra wirkte erleichtert. „Kann mir dann vielleicht jemand erklären, warum Jennas Abgang so schlimm ist?“
Ich öffnete bereits meinen Mund, als Isabel warnend ihren Zeigefinger hob. „Können wir das auf dem Weg zu den Schließfächern besprechen? Ich weiß, dass Emma ihre Schulbücher alle dabei hat und die in ihr Fach tun wird, und ehrlich gesagt, ist mir nicht ganz wohl dabei, sie alleine zu lassen. Sie ist schon seit einer Weile komisch.“
„Was meinst du?“, fragte Indra.
„Leute!“, quakte ich dazwischen. Die anderen setzten sich in Bewegung und ich drängelte mich erfolgreich in ihre Mitte. „So gern ich Emma hab, aber es gibt gerade Wichtigeres! Die totale Anarchie wird ausbrechen!“
Isabel seufzte, während Indra fragte: „Sie hat gerade nicht wirklich das Wort Anarchie im Zusammenhang mit Jennas Schulwechsel verwendet, oder?“
„Doch, das hat sie“, gab unser blonder Engel zurück.
Ich stöhnte verärgert. Wir erreichten den Vertretungsplan. Ich machte eine umfassende Handbewegung durch die Aula, in der sich um diese Uhrzeit ein Großteil der Schüler tummelten.
Das Schuljahr hatte noch nicht einmal richtig begonnen und schon bildeten sich Grüppchen. Betraten einzelne Schüler das Gebäude, konnte man in den ersten drei Sekunden erkennen, ob sie neu waren oder nicht.
Jeder von ihnen kam mit einem Blick, der an ein verschrecktes Reh erinnerte, weil jeder inzwischen begriffen hatte, dass sich innerhalb von sechs Wochen ganze Freundschaften verändern konnten. Es war nie wirklich sicher, dass die Leute, mit denen man vor den Sommerferien zusammengestanden hatte, noch immer die waren, zu denen man hinging.
Die Neuen würden diesen Blick beibehalten, während die, die schon letztes Jahr diese Schule besucht hatten, nach einer hoffentlich erfolgreichen Suche erleichtert wirkten, sobald sie ihre Leute gefunden hatten.
Und während so viele Psychologen und Lehrer über die Cliquenbildung schimpften, wusste ich es besser: Teil einer Gruppe zu sein gab einem Sicherheit. Während alles andere sich veränderte, konnte man in den meisten Fällen davon ausgehen, dass man immer ein Mitglied in diesem einen Kreis blieb. Man wusste, wo man hingehörte. Und da war es ganz egal ob man zu den Beliebten gehörte, zu den Sportlern, den Strebern oder zu denen, die ganz unten in der schulischen Hierarchie standen.
Solange man irgendwohin gehörte, war man nicht alleine, und dann konnte einem fast nichts mehr passieren.
„Schaut euch um. Eine Schule ist wie ein Bienenvolk“, sagte ich zu meinen Freundinnen, als wir weiterliefen. „Jeder hat eine Aufgabe, einen Grund, warum er hier ist. Die meiste Zeit verbringen wir mit diesen Menschen, in diesem Gebäude. Natürlich gibt es von Klasse zu Klasse eine andere Dynamik, aber ich spreche hier von dem großen Ganzen. Nicht von den einzelnen Waben, sondern vom Bienenstock. Und damit alles seine Ordnung hat, braucht man jemanden, der dafür sorgt, dass alle Bienen wissen, wo sie hingehören. Jeder Schwarm braucht eine Königin. Und das war Jenna!“
Indra grunzte verächtlich. „Dir ist doch hoffentlich klar, dass du gerade echte Menschen mit Insekten vergleichst. Du bist -“
„Sie hat nicht Unrecht“, unterbrach Isabel sie seufzend, als wir durch eine Glastür den Gang zu den Trakten A bis C betraten. „Mir gefällt es zwar auch nicht, dass Jenna eine solche Macht hat, aber es stimmt. In jeder menschlichen Gruppe gibt es Alphatierchen. Und Jenna war quasi das Super-Alphatier.“
„Trotzdem!“, schnaubte Indra. „Deswegen gleich von Anarchie zu sprechen ist total übertreiben!“
„Ist es nicht!“, wehrte ich mich. „Du wirst schon noch sehen.“
Hinten bei den Schließfächern konnten wir Emma in ihrem roten Kleid sehen. Ihre kleine Schwester kam gerade flankiert von Mona Müller und einem Typen, den ich nicht kennen wollte, aus derselben Richtung. Einen Augenblick lang war ich abgelenkt. Ich beobachtete die kleine Marie, wie sie selbstsicher an uns vorbei stolzierte und ihr Haar im Takt ihres Schrittes wippte. Gleichzeitig fiel mir etwas anderes auf. Emma wusste es vermutlich selbst nicht, aber beide hatten denselben Gang. Sie tanzten über die Fliesen, ohne zu wissen, dass sie Tänzerinnen waren.
Okay, bei Marie war mir nicht sicher, ob sie es vielleicht doch wusste.
„Die Dreizehnjährigen sehen heute auch schon aus wie Fünfzehn“, rutschte es Indra heraus. Glücklicherweise konnte ich das als Aufhänger benutzen. „Siehst du? Wäre Jenna jetzt hier, hätte sie einen gehässigen Kommentar abgelassen und Marie wäre morgen schon wieder mit einer bunten Kringelstrumpfhose und geflochtenen Zöpfchen zur Schule gekommen.“
„Das glaube ich weniger“, gab sie zurück.
„Lasst uns doch erst mal gucken, was in den nächsten Tagen so passiert“, schlug Isabel vor.
„Das Bienenvolk braucht eine Königin!“, sagte ich mit Nachdruck und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme quietschte.
Wir erreichten die Schließfächer. Als Emma uns entdeckte, warf sie uns einen grimmigen Blick zu, schlug die Tür lautstark zu und stolzierte erhobenen Hauptes – nicht ganz so elegant wie Marie, aber dennoch irgendwie schwebend – an uns vorbei.
„Aber in jedem guten Königshaus wurde die nächste Königin nicht sofort gekrönt“, murmelte Isabel gedankenverloren und entfernte sich ein Stück von uns.
Wenn das so weiterging, würden wir dieses Schuljahr nicht nur eine Königin verlieren.
Bei jedem Schritt wallte sich der untere Teil ihres Kleids. Ich glaubte, man sagte Rock dazu, aber das fand ich irgendwie komisch, schließlich gab es doch einen ziemlich auffälligen Unterschied zwischen Kleidern und Röcken. Oder?
Ach, war ja auch nicht weiter wichtig.
Ich stand an meinem Schließfach und schaute Emma hinterher, nachdem sie unsere Unterhaltung so mir nichts dir nichts unterbrochen hatte, und fragte mich, ob ich der Einzige war, dem ihre Augenringe aufgefallen waren. Meiner Frage, ob wirklich alles okay war, war sie gekonnt aus dem Weg gegangen.
„Dir ist klar, dass man einem Mädchen nicht hinterher starren sollte, oder?“
Ich versuchte, das unangenehme Gefühl, bei etwas Illegalem ertappt worden zu sein, zu überspielen, in dem ich mein Mathebuch ins Schließfach stellte.
„Weißt du, sie mag dich“, fuhr Isabel fort und lehnte sich selbstsicher gegen die Fächer neben meinem.
„Du könntest sie einfach fragen, ob sie sich mit dir treffen möchte. Sie würde sicher Ja sagen.“
„Was willst du?“, seufzte ich und wünschte mir sofort, nichts gesagt zu haben. Es war Isabel Schneider. Laut meinem Bruder konnte man ihr nicht trauen.
Allerdings war sie Emmas beste Freundin und unter Umständen, über die ich nicht weiter nachdenken wollte, hatte sie vielleicht ein bisschen den Nagel auf den Kopf getroffen.
Und als ich ihr Grinsen bemerkte, wusste ich, dass sie das ganz genau wusste.
Aus dem Augenwinkel heraus nahm ich einen anderen Menschen wahr, der auf unserer Höhe stehenblieb.
„Emma und ich leiten dieses Jahr eine AG für neue Schüler“, sagte Isabel. „Wir könnten noch Unterstützung gebrauchen.“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Nur für den Fall, dass du es gar nicht erst darauf ankommen lassen willst, sie nach einem Treffen zu fragen.“
Jetzt bemerkte auch Isabel den Schatten und wandte ihren Blick von mir ab. Ihr Grinsen wich augenblicklich einer hochgezogenen Augenbraue.
„Belauscht du fremde Leute, oder was?“
Erst da warf ich einen Blick über die Schulter.
Und musste ein genervtes Stöhnen unterdrücken. Ich hatte ganz vergessen, dass sie auf meine Schule gewechselt war.
„Bist du stumm, oder was?“, blaffte Isabel.
Das Mädchen zuckte zusammen. Nervös spielte sie mit ihren langen Fingern. Ihre Lider flatterten hoch und sie sagte beinahe krampfhaft: „Ich muss an mein Schließfach.“
„Dann geh doch?“, gab Isabel zurück, als könnte ihr Gegenüber nicht bis Drei zählen.
„Du stehst im Weg“, seufzte ich, griff todesmutig nach Isabels Oberarm und zog sie zur Seite. „Und das da“ - dabei zeigte ich auf das Mädchen - „ist Jule. Sie ist neu an unserer Schule.“
Zunächst sah Isabel aus, als wollte sie mir eine Backpfeife geben, dann wurden ihre Augen groß.
„Oh! Eine Neue!“
Jule hob ihre Schultern und schlich lautlos zu ihrem Schließfach. Jede ihrer Bewegungen schien angespannt und wohlbedacht, als würde sie nur ein falscher Schritt vom Abgrund trennen.
Ich wünschte, ich hätte meiner Mutter nicht versprochen, mich um sie zu kümmern.
Da kam mir Isabels Einladung gerade recht. Wenn ich da mitmachte, konnte ich mich vielleicht davor drücken, auch in den Pausen mit Jule rumzuhängen.
„Na schön, ich mach bei eurer AG mit“, brummte ich verdrossen.
Isabels Mundwinkel zogen sich zu einem wissenden Lächeln hoch. „Ich sag gleich E-“
„Nicht wegen Emma!“, fiel ich ihr protestierend ins Wort. „Sondern deinetwegen. Irgendwer muss dir einen Nachhilfekurs im nett-sein geben.“
Ihr Grinsen ebbte nicht ab. Sie nickte und machte ein „Ja ja“, aus dem sehr deutlich hervorging, dass sie mir nicht glaubte. Zum Abschied hob sie eine Hand.
„Bis dann, Kätzchen!“
Ich ließ mich genervt mit dem Rücken gegen die Schließfächer fallen. Was hatte ich mir da nur eingebrockt?!
„Ich wusste gar nicht, dass du einer von denen bist.“ Ihre Stimme war so leise, dass mein Hirn unglaublich lange brauchte, um ihre Ansprache überhaupt zu verarbeiten.
„Hä?“, gab ich zurück und drehte mich etwas zu ruppig zu ihr um; sie zuckte zusammen und hätte beinahe ihr Mathebuch fallengelassen, wenn ich nicht rechtzeitig meinen Arm ausgestreckt und es aufgefangen hätte.
Ich reichte es ihr, und Jule lief prompt rot an. Sie traute sich nicht einmal, mir in die Augen zu sehen.
Das Sinnbild eines Rehs wäre noch untertrieben gewesen. Dieses Mädchen war sozial höchst zurückgeblieben.
Dann sei erst recht nett zu ihr.
Merkwürdigerweise klang die Stimme meines Gewissens wie Emma.
„Bist du soweit?“, fragte ich vorsichtig.
Sie stellte noch ihr neues Englischbuch hinein, dann schloss sie ihr Fach und folgte mir.
Während ich sie zurück zum A-Trakt führte, den sich die Achtklässler mit den neuen Fünftklässlern teilen sollten, entstand ein unangenehmes Schweigen. „Es ist gar nicht so schlimm hier“, versuchte ich, ein Gespräch anzufangen. „Die meisten hier sind ganz nett.“
Ich fragte mich, wann ich zuletzt mit Jule gesprochen hatte. Vor heute, natürlich. Auf meiner alten Schule war sie in meine Parallelklasse gegangen, in der Grundschule hatten wir sogar die gleiche Klasse besucht. Vage konnte ich mich noch daran erinnern, dass ich eine Weile neben ihr gesessen hatte, aber damals war sie um einiges dicker gewesen … Ich warf ihr einen verstohlenen Blick zu.
Die dicke Jule. So hatten wir sie damals genannt, auch noch auf dem Gymnasium in Regenhain. Von der dicken Jule war aber nicht mehr viel übrig. Die dünne Jule würde besser passen.
„Warum wolltest du eigentlich die Schule wechseln?“, fragte ich neugierig.
Sie blinzelte. Sie schaute auf ihre Füße, als würde sie dort die Antwort finden.
In diesem Augenblick grölte jemand laut auf. Ich schaute in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und sah, wie Abdul mit einer offenen Wasserflasche hinter Mona herrannte. Er packte sie am Kragen, und sie quiekte und lachte, und er drohte damit, ihr Wasser in den Nacken fließen zu lassen. René und Marie, die am Fenster standen und die Szene beobachteten, lachten.
Unwillkürlich musste ich grinsen.
Abdul ließ von dem Mädchen ab, und Mona bedankte sich bei ihm mit einem wagemutigen Tritt in den Hintern. „Du Arsch!“, beleidigte sie ihn, wobei alle Beteiligten grinsten.
Selbstsicher trottete ich zu meinen Freunden. Marie kam auf mich zu und schlang ihre dünnen Arme um mich, und als sie wieder von mir abließ, streifte ihre Wange ganz unauffällig meine.
Erst da bemerkte ich, das Jule ein paar Meter von uns entfernt stehengeblieben war.
„Komm her“, sagte ich und winkte sie zu uns heran.
„Ist das die Neue?“, fragte Mona und begutachtete Jule neugierig. Ungeniert ging sie auf sie zu, lief einmal um sie herum, und ich musste kein Einstein sein, um zu erkennen, wie unterschiedlich sie waren. Mona und Marie waren extrem. Auf ihre Art und Weise. Sie waren zu laut, zu hibbelig, zu unkonzentriert. Sie waren ständig am kichern, oder am lästern, oder beides. Aber sie gehörten zu uns, und ich konnte sie ganz gut leiden, aber neben der ruhigen, vorsichtigen Jule wirkten sie wie gefräßige Löwinnen.
„Hi, ich bin Abdul“, stellte sich einer meiner besten Freunde vor und reichte Jule freundlich die Hand.
Sie nahm sie schüchtern entgegen.
„Und ich bin René!“, rief der Dritte im Bunde, und der Größte von uns Fünfen.
„Schön schön schön“, plapperte Mona und hakte sich bei Jule unter. Die beiden waren ungefähr gleichgroß. „Abdul, nimm mal bitte meine Tasche. Ich muss unser Lämmchen hier mal aufklären, wie das so läuft.“
Jule bekam ganz große Augen; ob es an Monas Offenheit lag oder an der Tatsache, dass Abdul, der ihr eben noch Wasser in den Nacken hatte kippen wollen, tatsächlich ihre Tasche trug, wusste ich nicht.
„Also“, fing Mona geschwätzig an, während wir anderen ihr hinterher liefen. Dabei zog sie den ersten Vokal unnötig in die Länge. „Ich bin Mona, und die andere Schönheit hinter mir - ist Marie.“
„Ich liebe dich auch!“, rief Marie von hinten, schloss eilig zu uns auf und reichte mir ein Kaugummi. Ich nahm es ihr ab. Sie schenkte mir ein Lächeln, und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ihre Augen dabei nicht so funkelten wie Emmas.
„Marie und Timon sind quasi ein Paar, sie wissen es nur noch nicht, und Abdul ist heimlich in mich verknallt, allerdings lasse ich ihn immer abblitzen.“ Allgemeines Gelächter. Nur Jule wirkte irgendwie steif. „Und wenn du hier so fünf Mädchen in schicken Kleidern siehst die so tun, als würde ihnen die Welt gehören – beachte sie nicht weiter. Die ignorieren dich auch. Und glaub mir, so toll sind die gar nicht, wie sie es gerne wären.“
„Hast du schon gehört?“, warf René an dieser Stelle ein. „Dante wird wohl neuer Kapitän der Basketballmannschaft.“
„Er ist auch ziemlich heiß“, merkte Marie an, woraufhin ein lauter Pfiff zu hören war, der garantiert von Mona kam.
„Davon mal abgesehen – Er kann auch echt gut spielen“, sagte Abdul.
„Oh, ich hab die Idee!“, rief Mona, als wir die Treppe zu unserem Klassenraum erreichten. Aufregt schlug sie Jule gegen die Schulter, die alles andere als glücklich wirkte, eher überfordert. „Wir verkuppeln unsere unscheinbare Neue mit Dante!“
„Er ist mit Emma zusammen“, erinnerte ich sie, und konnte nichts gegen das mulmige Gefühl in meiner Magengegend tun, welches sich bei diesem Gedanken immer in mir ausbreitete.
„Das ist ein Grund, aber kein Hindernis“, erinnerte Marie mich, und Mona fügte hinzu: „Deswegen ja! So kriegen wir den König auf unsere Seite und können eine von uns in den Hofstaat bringen.“
Ich rollte mit den Augen. „Du klingst total albern.“
„Weißt du es noch nicht?“, meinte Abdul. „Jenna de Mâr hat die Schule gewechselt.“
„Und unsere Camargue-Queen läuft herum, wie ein verschreckter Hase“, kicherte Mona gehässig. „Das ist jetzt unsere Chance, diesen Biestern zu zeigen, dass sie mit uns nicht alles machen können! Und Jule sieht doch ganz nett aus. Ein bisschen Make-Up und etwas Hübscheres zum Anziehen – sag mal, in welcher Größe ist diese Strickjacke eigentlich? Die sieht an dir wie ein Kartoffelsack aus.“
Mein Blick traf den von Jule. Sie sah höchst unglücklich aus. „XL“, piepste sie.
„Ziemlich krasser Fehlkauf“, stellte Marie fest. „Du bist höchstens eine M.“
Irgendwann im letzten Schuljahr hatten es sich Mona und Marie zur Aufgabe gemacht, andere Mädchen auf ihre Kleidergrößen zu reduzieren. Wenn man mit ihnen durch die Stadt lief, passierte es nicht selten, dass sie auf einmal anfingen mit „Schau mal, vor uns läuft eine fette L“, woraufhin die andere sagte „Findest du? Ich würde eher XXL sagen“.
Man gewöhnte sich daran. Inzwischen kannte ich sogar die Kleidergrößen der Goldkinder auswendig, weil Mona und Marie ständig darüber diskutierten. Indra ist eine M, die sieht nur dünner aus, weil sie ständig schwarz trägt. Isabel steht das M, weil ihre großen Titten Platz brauchen. Bei Gina ist es schwierig, weil sie zwischen S und M pendelt. Fabienne ist eine S, wobei sie zu breiten Oberschenkeln neigt und Emma ist eine XS, dafür aber wohlproportioniert, was total unfair ist, weil sie dadurch praktisch alles tragen kann. Henrik ist eher der S-Träger, kauft seine Hemden aber immer zu groß, und Dante sollte gar keine Kleidergröße haben, der sieht nackt am besten aus.
Ich musste nur daran denken und bekam Brechreiz.
„Ich hab viel abgenommen“, murmelte Jule mehr zu sich selbst, aber noch nicht leise genug, dass Mona sie überhören konnte. Mona hörte alles. Sie schaffte es, immer am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein. Einmal, als sie während des Unterrichts aufs Klo gegangen war, hatte sie gehört, wie sich zwei Mädchen darüber unterhalten hatten, dass Oscar Krasnigi, ein Typ aus der Basketballmannschaft, eine Geschlechtskrankheit hatte.
Am nächsten Tag wusste das dank ihr praktisch jeder.
Als endlich unsere Klassenlehrerin in den Trakt bog, atmete ich automatisch erleichtert aus.
Ich mochte meine Freunde, natürlich, aber dieses Gerede ging sogar mir auf die Nerven. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Emma – oder ihre Freunde, ob man sie nun mochte oder nicht – Menschen auf ihre Kleidergrößen reduzierten.
Letztes Jahr gab es am ersten Tag nach den Sommerferien vor unserer Schule eine Massenkarambolage, weil zu viele Eltern und Schüler durch die Straßen fuhren, ungünstig parkten, oder beim Überqueren der Straße einfach nicht auf die restlichen Verkehrsteilnehmer achteten.
Aus diesem Grund hatte sich unser Direktor etwas Neues einfallen lassen: Die geraden Jahrgangsstufen sollten zur ersten Stunde kommen, die Ungeraden zur Zweiten, die Oberstufe zur Dritten und die Fünftklässler erst am Montag.
In der zweiten Schulstunde sollten Emma und ich mit Flyern durch die Klassen gehen und für unsere neue AG Werbung machen. Da wir Hannah Fischer, der Kommissarin, allerdings etwas versprochen hatten, mussten wir vor der zweiten Stunde erst einmal zum Haupteingang.
Während wir durch den Schulflur eilten, die Fleyer in unseren Armen, warf ich Emma einen vorsichtigen Blick zu. „Willst du darüber reden?“, fragte ich.
„Nein“, antwortete sie knapp, ohne mich anzusehen. Sie beschleunigte ihren Schritt, öffnete die Glastür zur Aula und hielt sie gerade lange genug offen, damit ich durch einen immer kleiner werdenden Spalt schlüpfen konnte.
Hannah wartete mit ihren beiden Schützlingen vor dem Vertretungsplan. Eins musste ich ihr lassen: Sie wusste, wie sie ihr Übergewicht kaschieren konnte. Heute trug sie eine Schlaghose und eine sonnengelbe Tunika und eine Sonnenbrille hielt ihr Haar davon ab, ins Gesicht zu fallen.
Vor ein paar Wochen hatte sie die Beiden Kinder zu sich genommen. Efgenia, von allen nur Elfie genannt, wurde seit Jahren von ihrem Vater missbraucht. Aus Angst, ihr kleiner Bruder könnte darunter leiden, hatte sie nie etwas gesagt.
Bis Michael, Hannahs älterer Bruder, aufgetaucht war und ihr ein besseres Leben versprochen hatte. Er selbst war bei diesem Versuch zwar gestorben, aber Hannah hatte alles in Bewegung gesetzt, damit er nicht umsonst sein Leben gelassen hatte. Sie hatte die beiden Kinder in Pflege genommen und uns das Versprechen abgenommen, uns in der Schule um sie zu kümmern.
Elfie lächelte uns schüchtern entgegen, während Hannah gestresst ausatmete. „Von euch kam also das Ding mit dem Kleid“, seufzte sie, nahm ihre Sonnenbrille ab und platzierte sie erneut auf ihrem Kopf.
Das zwölfjährige Mädchen trug ein weißes Kleid und eine passende Schleife in ihrem honigblondem Haar. Ihr jüngerer Bruder sah neben ihr beinahe schäbig aus in seiner normalen Jeans und einem ausgewaschenen T-Shirt mit Spider-Man Aufdruck.
Ich konnte mich noch gut an unsere erste Begegnung erinnern. In meiner Vorstellung sahen missbrauchte Kinder allesamt wie Indra aus. Ich meine, nicht direkt wie Indra, aber sie trugen schwarze Klamotten, hörten diese düstere Musik und zogen sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück.
Elfie nicht. Elfie strahlte von innen heraus, als hätte sie das, was ihr widerfahren war, in etwas verwandelt, was uns allen von Zeit zu Zeit fehlte: Stärke.
„Vertrau uns einfach“, sagte ich an Hannah gewandt, während Emma fragte: „Eugen wird am Samstag in die 5. eingeschult, richtig?“
Hannah nickte. Sie streckte ihre Arme aus und schaffte so eine Art Brücke zu ihren Schützlingen. „Ihr bringt Elfie zu ihrer neuen Klasse?“
Ich nickte. „Allerdings erst später. Wir haben vor, ihr den bestmöglichen Schulstart zu gewährleisten, den sie hier haben kann.“
Hannah stöhnte auf. „Schwänzen am ersten Tag ist kein guter Start!“
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Emma auf ihre gewohnte Emma-Art, mit diesem sanften Sing-Sang, der auch die härtesten Steine erweichen konnte. „Wir passen auf sie auf.“
Als sie das sagte, trat Elfie unwillkürlich auf Emma zu, drehte sich ein letztes Mal um und sagte: „Wir sehen uns nachher, Tante Hannah.“
„Na schön“, brummte Hannah verdrossen. „Wir holen dich nachher genau hier wieder ab. Und zu euch“ - dabei fixierte sie Emma und mich mit ihrem Polizistenblick - „wenn ihr etwas passiert, dann bringe ich euch um.“
Sie meinte es zwar nicht ernst, aber mir lief dennoch ein eiskalter Schauder über den Rücken.
Nachdem sie mit Eugen das Gebäude wieder verlassen hatte, nahm ich etwas umständlich ein silbernes Armband hervor, welches ich vorher in meiner Faust unter den Flyern versteckt hatte.
„Schau mal, Elfie. Wir haben hier etwas für dich.“
Das Mädchen nahm das Armband entgegen und begutachtete die einzelnen Buchstaben. „Wofür stehen die?“, fragte sie.
„Für uns“, antwortete Emma und zeigte dem Mädchen ihr eigenes Armband. Vor ein paar Tagen, als wir Elfies Armband besorgten, hatten wir auch direkt für unsere einen weiteren E-Anhänger gekauft. Unwillkürlich fragte ich mich, ob Cho und Jenna ihre jemals bekommen würden. „Jedes Mädchen aus unserer Clique trägt ein solches Armband. Es bedeutet, dass du immer zu uns kommen kannst, wenn etwas passiert; wenn dich jemand hänselt oder beleidigt oder sonst etwas. Es bedeutet, dass du nicht mehr alleine bist. Versprochen.“
Elfie starrte das Armband an, dann streckte sie ihren Arm aus und fragte: „Kannst du mir helfen, es umzumachen?“
„Klar.“ Und Emma half ihr. Natürlich. Sie würde niemals jemanden Hilfe verwehren.
Es klingelte zur zweiten Stunde. „Gut, dann werden wir mal!“, sagte ich mit einem abenteuerlustigen Unterton.
„Was genau habt ihr eigentlich vor?“, fragte Elfie nun doch etwas verunsichert.
„Emma und ich führen eine AG für neue Schüler und stellen die jetzt in den Klassen vor. Wir brauchen schließlich einen Überblick, wie viele potentielle Kinder wir zu bespaßen haben. Ach so, Emmy? Ich hab Timon gefragt, ob er uns hilft. Er macht mit.“
Ich wartete ihre Reaktion gespannt ab, aber sie zuckte bloß mit ihren Schultern.
Mit Elfie zwischen uns setzten wir uns in Bewegung.
Wir wollten bei den Sechstklässlern anfangen und uns dann vorarbeiten. „Und was mach ich dann? Ich bin dann sozusagen euer niedliches Maskottchen“, schlussfolgerte Elfie.
„Korrekt!“, lachte ich und streckte Emma meine Faust entgegen, die sie etwas verhalten mit einer Faust erwiderte.
Irgendetwas war mit ihr los, aber darum musste ich mich später kümmern. Irgendwann, wenn wir alleine waren, und mir eine Möglichkeit eingefallen war, wie ich sie aus der Reserve locken konnte.
Mein Hausarrest war offiziell vorbei. Noch nie zuvor hatte ich mich so sehr auf das Ende meiner Ferien gefreut. Endlich war ich wieder frei.
Und statt diese Freiheit in Ehren zu halten und nicht direkt etwas Dummes zu tun, traf ich mich nach der Schule mit Piet. Dem Punk aus der Innenstadt Neustadt-Hausens, der einen giftgrünen Irokesen hatte und sein Geld mit Betteln verdiente.
Er wohnte zusammen mit der Blondine – Pippa – und einer jungen Frau namens Ronnie, die sich um Jugendliche auf der Straße kümmerte, in einer kleinen, aber bequemen Wohnung am Rande des Tierviertels. Ich fuhr extra einen großen Bogen, um nicht versehentlich meiner Mutter zu begegnen – sicher ist sicher.
Die Wohnung war in einem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus an einer Straßenecke. Ein blauer Penis zierte die Hauswand und irgendwer hatte ihm mit schwarzer Farbe Augen und ein Grinsen gemalt. Ich war mir sicher, Piet wäre der Übeltäter, aber als ich ihn gefragt hatte, hatte er verneint, dabei allerdings so schelmisch gegrinst, dass ich ihm nicht ganz glaubte.
Ich schloss mein Fahrrad an einem Zaun an, hüpfte zur Eingangstür und klingelte. Vorfreude packte mich. Bei dem Gedanken an ihn kribbelte es in meiner Magengegend. Arthur schien meilenweit entfernt.
Der Summer ertönte, ich drückte die Tür mit der Schulter auf und musste mich zusammenreißen, die Treppe nicht hoch zu hüpfen.
Oben stand Pippa, ihr wasserstoffblondes Haar mit dem schwarzgefärbtem Unterhaar wie immer glatt, ihr Gesicht allerdings ungeschminkt, was praktisch nie vorkam.
„Hübsches Kleid“, merkte sie an und trat zur Seite, um mich einzulassen.
„Danke.“ Sie war kleiner als ich und hatte Emmas Statur, dennoch wirkte sie schmaler und eingefallener, als meine Cousine. Ich war neugierig, weshalb sie bei Ronnie lebte, traute mich aber nie, sie zu fragen.
„Er ist in seinem Zimmer“, beantwortete sie mir meine ungestellte Frage. Ich bedankte mich mit einem Lächeln, ließ meine Schultasche und meine Schuhe im Flur stehen und schlich zur Abstellkammer.
Piet wohnte eigentlich nicht hier. Ich hatte keine Ahnung, wo sich sein eigentliches Zuhause befand, ob er überhaupt eins hatte, aber Ronnie hatte ihm irgendwann in die Abstellkammer ein Bett hingestellt. Es passte nicht ganz rein, an einer Seite erreichten die Füße nicht einmal den Boden, aber Piet beteuerte, es würde ihm ausreichen. Ich klopfte an die Tür, öffnete sie aber schon, bevor er reagieren konnte.
Nur mit einer Jeans bekleidet lag er auf seiner Liege, einen Bleistift in der einen Hand, die andere in seinem Nacken. Sein Irokese hing zu einer Seite, aber seine braunen Augen leuchteten kurz auf, als ich hinter mir die Tür wieder schloss und zu ihm auf die Liege kletterte. Ich kuschelte mich in seine Armbeuge, während er unbedarft weiter eine Comicfigur an die Wand kritzelte.
„Na, Hexe?“
„Ich glaube nicht, dass Ronnie deine Schmierereien gutheißt“, gab ich zurück und zog mit meinem Zeigefinger Kreise auf seiner nackten Brust.
Gekonnt drehte er den Bleistift in seiner Hand halb herum, sodass das Ende empor zeigte. Mit dem kleinen Radiergummi tippte er gegen meinen Handrücken. „Ich bin für alles vorbereitet, Hexe.“ Er drückte mich mit seinem anderen Arm enger an sich. Ich seufzte selig.
„Wie war dein erster Schultag?“, fragte er und feilte weiter an seiner Zeichnung.
„Jenna de Mâr hat die Schule gewechselt und Fabienne dreht deshalb durch. Echt, ich glaube, sie wird wahnsinnig.“ Ich schmiegte meine Nase an seine Haut und atmete seinen Geruch ein. „Wundern würde es mich nicht. Mädchen wie sie müssen verrückt sein, anders ist ihr Verhalten nicht zu erklären.“
Er grunzte. „Was genau meinst du?“
„Sie ist so … Ich weiß nicht. Manchmal denke ich, Fabienne ist wirklich intelligent, und dann fällt sie auf einmal aus allen Wolken, wenn sie hört, dass man sein Geschirr selbst in die Küche bringen muss. Sie schreibt gute Noten, aber hat keine Ahnung vom Leben.“
Ich schluckte. Auf einmal hatte ich ein schlechtes Gewissen, so über Fabienne zu reden. Ich hob meinen linken Arm und ließ das silberne Armband baumeln. Sie war so etwas wie meine Freundin und mit ihrer Mutter hatte sie es gerade alles andere als einfach. Es war nicht fair, schlecht hinter ihrem Rücken zu sprechen.
„Sonst geht es deinen Mädels aber gut?“, erkundigte er sich beiläufig.
„Klar, alles super. Gina ist nicht begeistert von Jennas Abgang, aber da muss sie durch, schätze ich.“
„Hm.“
„Was hast du heute so gemacht?“
Er drehte den Bleistift noch einmal um und fing an, die Füße seiner Figur weg zu radieren. „Das Übliche, reicht das als Antwort?“
Sein plötzlich abweisender Tonfall ließ mich aufhorchen. „Das war nicht böse gemeint“, ruderte ich zurück. „Hätte ja sein können, dass du dich mit einem Freund getroffen hast.“
„Weil alle meine Freunde irgendwelche Penner sind, die auf der Straße leben?“
Er spannte sich neben mir an. Ich richtete mich auf, meine Hand noch immer auf seiner Brust liegend, und schaute ihn überrascht an. „Nein“, sagte ich ehrlich verwundert, weil er dachte, dass ich das dachte. „Aber du erzählst kaum etwas, und da muss ich doch praktisch alles erwarten.“
„Was willst du denn wissen?“, brummte er, zog seinen Arm von mir weg, richtete sich auf seiner Liege auf und radierte den Körper der Figur mit viel mehr Druck als nötig war.
„Alles“, antwortete ich, als läge das auf der Hand. Als er mich verständnislos ansah, wünschte ich mir, die letzten dreißig Sekunden rückgängig zu machen. „Ich meine, ich mag dich und interessiere mich natürlich für dein Leben, und deine Freunde sind ein Teil davon. Ich will wissen was du den Tag so über machst, weil es mich ehrlich interessiert und -“
„Ehrlich, Indra, auf diese Kontrollnummer hab ich keinen Bock“, unterbrach er mich energisch.
Einen Moment lang saß ich einfach nur da und starrte ihn an. „Kontrollnummer?“, wiederholte ich vorsichtig. „Ich will dich doch nicht – Ich hab doch nur gefragt, was du so gemacht hast!“
„Aber du weißt doch, dass ich meistens lange schlafe und danach meistens zum Brunnen wandere, wo ich bis abends sitze und bettle.“ Seine Stimme wurde nur minimal lauter, dafür aber rauer, ruppiger. Wie ein Wolf, der einem leise knurrend zu verstehen gab, unerwünscht zu sein.
„Es hätte doch aber sein können, dass du heute zu einem anderen Brunnen gegangen bist, um zu betteln“, konterte ich und verschränkte meine Arme vor der Brust.
„Machst du dich etwa über mich lustig?“
„Nein“, seufzte ich und kapitulierte. „Ich möchte nicht, dass wir uns streiten.“
„Zu spät.“ Er lehnte sich wieder zurück und starrte angestrengt auf den Fleck, wo eben noch seine Comicfigur gewesen war.
Eine Weile sagte keiner von uns Beiden ein Wort. Mir wurde auf einmal kalt und ich bekam eine Gänsehaut, aber Piet weigerte sich, von seiner Decke zu rutschen und sie mir anzubieten. Und ich war zu stolz, um danach zu fragen.