Das kleine und große Liebesglück der Familie Silberstein - Tatjana Zanot - E-Book

Das kleine und große Liebesglück der Familie Silberstein E-Book

Tatjana Zanot

4,8

Beschreibung

Jeder erlebt eine großartige Liebesgeschichte Vielleicht war es meine eigene, naive Hoffnung, die mich in seine Arme trieb; der tiefgehende Wunsch, geliebt zu werden, um über die Liebe schreiben zu können. Vielleicht war es der Krieg; das beständige Wissen, dass er vielleicht nicht überlebte, der ihn in meine Arme lockte. Der Wunsch, nicht vergessen zu werden; denn jeder wusste, dass man nie vergessen wurde, wenn man wirklich und wahrhaftig geliebt worden war. Erlebt mit der Familie Silberstein sieben bittersüße und traurigschöne Liebesgeschichten. Begleitet sie ein Jahrhundert lang auf den Irrungen und Wirrungen ihrer Herzen. Eine Kurzgeschichtensammlung bestehend aus sieben Geschichten, die alle zusammenhängen!

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Für meine Mutter.

Es war nicht immer einfach, aber es war es immer wert.

Für meine Tanten, Irmtraud Paulsen und

Bärbel Lehr, und für Henni.

Um zu einer selbstsicheren und einigermaßen

starken Frau heranzuwachsen, muss ein kleines

Mädchen umgeben sein von selbstsicheren und

starken Frauen.

Inhaltsverzeichnis

Was Träume versprechen

Was du nicht bist

Mit jedem Wiedersehen

Die Wahrheit deines Herzens

Herz aus Glas

Nur ein Moment mit dir

Kleine Kaulquappe

Was Träume versprechen

„Elsa, kannst du bitte Mehl besorgen?“, sagte meine Mutter.

Sie formulierte ihre Befehle immer wie Fragen. Nie hatte ich mich getraut, einmal mit Nein zu antworten; Elisabeth Silberstein war eine gnadenlose und strenge Frau.

Hastig stand ich vom Stuhl auf, legte meine Stricksachen in einen Korb zurück, den ich unter die Bank schob, und wischte meine Hände an dem taubenblauen Stoff meines Kleides ab. „Natürlich, Mutter.“

„Und wenn du wiederkommst, kannst du im Hühnerstall nach Eiern suchen.“

„Ja, Mutter.“

Ich zog mir meine Lederstiefel an, nahm mir einen anderen Korb und verließ die Wirtschaft.

Vor dem Ausbruch des Krieges war das Gasthaus meiner Eltern immer voll gewesen. Ich konnte mich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem keine Gäste durch unsere Flure stapften, unten im Essensraum plauderten oder hinter ihren verschlossenen Türen schnarchten.

Heute verirrte sich kaum noch jemand zu uns.

Mein Vater glaubte, das läge an der misslichen Lage unserer Stadt. Colmar, eine deutsche Stadt, befand sich an der Grenze zu Frankreich. Die weinliebhabenden Franzosen blieben aus Angst vor unseren Soldaten fern, und kaum ein Deutscher wollte einen schönen Urlaub so nah an einer Grenze verbringen.

Dennoch verlangte mein Vater von meiner Mutter und mir, einmal in der Woche die Bettwäsche zu wechseln. Jeden Tag musste ich fegen und wischen, während meine Mutter Essen kochte.

Nur in der Küche sparten wir. Nur hier ließ mein Vater den Gedanken zu, keine Gäste zu beherbergen. Wozu auch? Es reichte kaum für uns Drei.

Während ich mich zum Marktplatz aufmachte, dachte ich an jene Zeit zurück, die ich so sehr vermisste. Ich dachte an die vielen interessanten Gestalten, die in unser Gasthaus hereinschneiten; an die zahlreichen Geschichten, die sie mir vor dem brennenden Kamin erzählt hatten.

Heute blieb der Kamin im großen Essensraum aus. Unsere Küche wurde zu unserem Aufenthaltsraum. Dort spielte sich ein Großteil meiner Freizeit ab.

Ich entdeckte die Frau des Bauern am Rand des Marktplatzes. Mit den Jahren war sie alt geworden; ihre Falten tiefer, ihr Haar grauer. Der Schatten über ihren Augen verriet mir, dass sie schon lange nicht mehr gut sehen konnte.

Dennoch erkannte sie mich jedes Mal.

„Hallo Elsa“, begrüßte sie mich, und wie jedes Mal fragte ich mich, ob es der Klang meiner Schritte war, der mich verriet. Oder ob sie so etwas wie eine Hexe war und vorhersehen konnte.

Vielleicht unterschätzte ich ihr Augenlicht auch einfach.

„Guten Tag, Frau Marchand“, antwortete ich.

„Ach, du liebreizendes Ding“, sinnierte Frau Marchand und ich hatte das Gefühl, der Schleier über ihren Augen würde ein wenig lichter werden. „Pass bloß auf dein strahlendes Lächeln auf.“

Zur Antwort lächelte ich ein wenig mehr.

Sie nickte abwesend. „Braves Kind … Was kann ich für dich tun?“

Erst jetzt wagte ich es, einen Blick auf ihren Tisch zu werfen.

Viel hatte sie nicht mehr.

„Hast du noch ein bisschen Mehl?“, fragte ich mit bangem Blick auf den schlaffen Sack, in dem sie sonst immer das Mehl lagerte. Hoffnungsvoll nahm ich aus meinem Korb einen Behälter und reichte ihn ihr.

Sie nahm ihn entgegen, stellte ihn auf den Tisch ab und füllte ein knappes, halbes Kilo Mehl hinein. Anschließend war ihr Sack leer.

„Mehr habe ich leider nicht, Kindchen. Tut mir Leid.“

„Das braucht es nicht“, entgegnete ich und reichte ihr das Geld. Ich wollte gerade meinen Behälter zurücknehmen, als ich laute Rufe hörte.

Neugierig drehte ich mich zum Ursprung des Lärms.

Es gab eine Kneipe schräg gegenüber von uns, die oft von Einheimischen besucht wurde. Aus deren Tür stapften zwei Männer, die zwischen ihnen einen Dritten hielten.

Ich kannte die Männer. Als wir jünger waren, hatten wir hin und wieder zusammen Verstecken gespielt. Heute waren sie auf Heimaturlaub zurückgekehrt. Ihre Wangen waren ganz rot vom Alkohol.

„Du hältst uns wohl für dumm!“, rief einer von ihnen und sie warfen den Dritten unsanft auf die gepflasterte Straße, mitsamt dem Sack seiner Habseligkeiten, den er über einer Schulter trug.

Der Andere trat ihm in den Bauch, woraufhin sich der Fremde vor Schmerzen krümmte. „Gesindel!“, schimpfte er und spuckte ihm vor die Füße.

Meine Mutter war zwar streng, aber eine Sache hatte sie mich gelehrt: Im Grunde unseres Herzens waren wir Menschen alle gleich.

„Ich bin gleich wieder da“, sagte ich zu Frau Marchand und eilte mit meinem Korb zu den Männern. Den Behälter mit Mehl ließ ich zurück.

Der Zweite, und viel Kräftigere, wie mir beim Näherkommen auffiel, holte zu einem weiteren Tritt aus, als ich ihm meinen Korb entgegenwarf.

Die Ablenkung funktionierte. Verwirrt nahm er ihn entgegen, blickte um sich, und als er mich entdeckte, reichte er ihn mir.

„Ich glaube, Sie haben etwas verloren, Fräulein.“

Es war offensichtlich, dass er mich nicht wiedererkannte.

„Ganz recht“, sagte ich, trat direkt neben den Fremden, der sich seinen schmerzenden Bauch hielt, und holte mir meinen Korb zurück. „Was genau geht hier vor?“

„Das da unten ist ein Verräter!“, lallte der Erste. Ich war ihnen so nah, dass ich den Alkoholgeruch wahrnahm, der von ihnen ausging.

Angewidert blickte ich mit gerümpfter Nase zu dem Fremden hinunter.

Er hatte kurzes, blondes Haar. Er musste ein Soldat sein. Irgendeiner der anderen beiden musste ihm schon ein Veilchen verpasst haben, zumindest zeichneten sich um sein linkes Auge leichte Flecken ab, die in den nächsten Stunden dunkler werden würden.

Er war schön; da lag etwas in seinem Gesicht, verborgen zwischen seinen markanten Wangenknochen, dass mich sofort in seinen Bann zog. Es fühlte sich an, als würde sich die Welt um mich herum drehen und verbiegen, aber solange ich ihn ansehen konnte, hatten meine Füße einen festen Stand.

Er erwiderte meinen Blick. Sein Mund öffnete sich, aber es kam nur ein Keuchen heraus.

„Ihr irrt euch“, sagte ich und wandte mich an die anderen Männer. Ob ich wusste, was ich gerade tat?

Nein. Es war, als hätte mein Verstand ausgesetzt. Einzig und allein mein Herz sprach.

Der Größere von ihnen sah mit hochgezogener Augenbraue zu mir herab. „Was weißt du schon?“, entgegnete er schroff.

Ich kannte Männer wie ihn. Es waren genug von ihnen in unserem Gasthaus gewesen.

Männer, die auf Frauen herunterschauten als wären wir bloß Fleisch. Als wären wir nicht wichtig genug, um eine eigene Meinung zu haben.

Mein Vater höchstselbst hatte mich stets vor solchen Männern gewarnt. Er sagte, es wäre ihm egal, wem ich mein Herz schenkte, solange es jemand war, der mich ehrte. Nicht nur als seine Köchin oder die Mutter seiner Kinder, sondern als seine Frau.

Vielleicht war mein Vater ein Visionär oder gar ein Narr, aber er hatte mir beigebracht, dass ich vor Männern keine Angst zu haben brauchte. Ich war ihnen ebenbürtig.

Also streckte ich trotzig mein Kinn hervor und sagte: „Das ist mein Cousin. Er wohnt nicht hier, wollte uns aber besuchen.“ Ich legte eine Künstlerpause ein und wartete ab, wie die Männer reagierten. Beide runzelten die Stirn, wirkten verunsichert. „Ihr seid Soldaten. Ihr solltet wissen, wie wichtig diese Besuche sind. Vielleicht ist es das letzte Mal.“

Der Kleinere von ihnen knickte ein. „Es tut mir sehr leid“, sagte er und reichte dem Fremden die Hand.

Es hätte so ein schönes Bild sein können; der deutsche Soldat, der einem Fremden die Hand reichte.

Leider wusste er nicht, wie ehrenvoll seine Tat war.

Er half ihm auf die Beine. Der Fremde ächzte, schaffte es aber sein Gleichgewicht auszubalancieren. Noch immer hielt er sich den Bauch, obwohl er versuchte, mit seinen breiten Schultern einen möglichst standhaften Eindruck zu schinden.

„Nun denn“, sagte der Größere abwartend. Er schaute dem Fremden direkt in die Augen, was gar nicht so einfach war, da jenes Linke mit jeder Sekunde mehr anschwoll. „Ich behalte dich im Auge.“

Und mit diesen Worten drehte er sich von uns ab und torkelte mit seinem Kumpanen zurück in die Wirtschaft.

Ich wartete, bis die Tür zufiel. Und noch länger. Plötzlich fühlte ich mich gar nicht mehr so mutig und mir fehlten die Worte.

Als der Fremde die Stille durchbrach, zuckte ich unwillkürlich zusammen. „Danke.“

Oh, diese Stimme! Diese süße, tiefe Stimme, die mich an den Ahornsirup erinnerte, den mir ein Gast vor vielen Jahren einmal geschenkt hatte!

Wir standen voreinander, sahen uns an. Sein heiles Auge hatte die Farbe vom Meer. Nicht von dem stürmischen Meer, von dem mir viele Gäste schon erzählt hatten; sondern die Farbe der ruhigen See. Die Farbe der Sicherheit.

„Mademoiselle Silberstein!“, rief auf einmal Frau Marchand. Obwohl unsere Stadt schon lange zu Deutschland gehörte, weigerte sie sich gänzlich auf die Sprache ihrer Familie zu verzichten.

„Ich muss mein Mehl holen“, sagte ich zu dem Fremden und eilte zu Frau Marchand zurück. Ich nahm meinen Behälter und platzierte ihn in meinen Korb. Als ich mich wieder umdrehte, um zu ihm zurück zu laufen, stellte ich fest, dass er mir gefolgt war.

Er hatte Schwierigkeiten unter dem Gewicht seines Sacks geradezustehen, aber er gab sich viel Mühe, nicht umzufallen.

„Hübscher Mann“, stellte Frau Marchand fest, und ohne recht zu wissen wieso, stieg mir die Schamröte ins Gesicht.

„Das Vergnügen ist ganz meinerseits“, erwiderte der Fremde, wobei er mir einen Blick zuwarf, der meine Wangen noch heißer werden ließ.

Es war der erste, längere Satz, den er zu mir sprach. Vorher war es mir nicht aufgefallen, aber ich konnte einen zarten Akzent heraushören, der ihn in der Kneipe verraten haben musste.

Als könnte er meine Gedanken lesen, streckte er mir seine Hand entgegen. Verhalten schlug ich ein.

Als sich unsere Hände berührten, hatte ich das Gefühl, dass die Welt, die sich eben noch rasend schnell um mich gedreht hatte, mit einem Mal stehenblieb. Mir wurde ganz schwindelig von diesem Wechselbad.

„Ich heiße Jonathan McDonald.“

Meine Augen wurden groß. Obgleich ich wusste, dass ich ihm meine Hand entziehen sollte, tat ich es nicht. „Ein Brite?“

„Oh ihr zwei Hübschen, ihr solltet fortgehen“, warf Frau Marchand mit einem unheilvollen Unterton ein.

Sie hatte Recht. Wenn die Falschen seinen Namen hörten, würde man ihn sofort in Gewahrsam nehmen.

„Meine Eltern haben ein Gasthaus“, hörte ich mich hastig sagen. Wieder war es mein dummes Herz, das da sprach.

Der Fremde – Jonathan McDonald – nickte. „Ich habe Geld zum Bezahlen.“

„Gut. Das wird meinen Vater freuen.“

Mein Vater war nicht ganz so angetan von der Idee, einen britischen Soldaten aufzunehmen, aber nachdem Jonathan ihm eine Tafel Schokolade und genug Münzen gegeben hatte, um vier Köpfe für die nächsten Wochen durchzufüttern, willigte er ein.

„Hallo Neffe“, witzelte er noch, ehe er uns im Essenssaal zurückließ. Mit dem Krieg war er geizig geworden. Sobald er etwas Geld einnahm, verschloss er es oben in seinem Büro.

Jonathan setzte sich an einen Tisch, während ich ihm einen Teller mit Suppe holte. Es war Frühling, weshalb es nicht so bitterkalt in dem Raum war wie im Winter.

Gerade als ich zurück in die Küche verschwinden wollte, um ihn in Ruhe zu lassen, sagte er: „Sie haben mir noch gar nicht Ihren Namen verraten.“

„Elsa“, antwortete ich piepsig. Ich räusperte mich, um den Frosch aus meinem Hals loszuwerden, und wiederholte: „Elsa Elisabeth Silberstein.“

Er sah mich an und lächelte.

Er hatte ein schönes Lächeln, dieser Fremde, der in mein Leben geworfen worden war. Es war schelmisch, irgendwie schief, und obwohl sein krankes Auge inzwischen blau und dunkelviolett angelaufen war, glitzerte jedes Mal sein heiles Auge wie die Sonnenstrahlen auf dem Meereswasser.

„Nun gut, Elsa Elisabeth Silberstein“, sagte er und deutete auf den freien Stuhl vor ihm. „Würden Sie mir beim Abendessen Gesellschaft leisten?“

„Oh!“, gab ich wie ein dümmliches Kleinkind von mir. Es verstrichen quälend lange drei Sekunden, ehe ich mich durchringen konnte, den Stuhl zurückzuschieben.

„Wollen Sie sich nicht vorher auch eine Suppe holen?“, sagte Jonathan sanft, und zum zweiten Mal an diesem Tag im April lief ich in seiner Gegenwart rot an.

Peinlich berührt eilte ich zurück in die Küche, um mir eine Suppe zu holen. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach hier zu bleiben. Sonst aß ich auch immer mit meiner Mutter zusammen in der Küche.

„Möchtest du dich nicht zu unserem Gast setzen?“, fragte meine Mutter und fiel mir so in den Rücken.

Ich ließ mein dunkelbraunes Haar nach vorne fallen und kehrte mit meinem Teller Suppe zu Jonathan zurück.

Allerdings schwieg ich. Ehrlich gesagt, fühlte sich mein Kopf leer an. Jetzt, wo ich ihm gegenüber saß, konzentrierte ich mich ganz besonders darauf, eine gute Figur beim Essen zu machen.

Ich verstand nicht einmal, warum es mir so wichtig war, aber in mir drin brannte dieser sehnsüchtige Wunsch, er möge in mir eine schöne Frau sehen. Eine, die man nicht mehr vergaß.

Die man gar nicht vergessen konnte, selbst wenn man es versuchte.

„Es war sehr mutig von Ihnen mir zu helfen“, brach er schließlich das unangenehme Schweigen zwischen uns.

Ich schaute auf. Unsere Blicke trafen sich. „Erzählen Sie mir, wie ein britischer Soldat in eine deutsche Stadt kommt?“, fragte ich, und biss mir sogleich auf die Zunge. „Entschuldigen Sie bitte, falls diese Frage zu direkt war.“

„Keinesfalls!“, lachte er, und bei diesem Klang bekam ich eine Gänsehaut. „Und ich wünschte, ich könnte Ihnen eine spannendere Geschichte als die Wahrheit erzählen, aber ich bin bloß ein dummer, kleiner Abenteurer, der sich während seines Urlaubs dachte, er müsse sich Colmar anschauen.“

Ich bekam große Augen. „Das ist kein Abenteuer, das ist Selbstmord! Sie hätten gefangen genommen werden können!“

„Ja, das wusste ich.“ Er schlürfte ungeniert von seinem Löffel, ehe er sich entschuldigte: „Verzeihen Sie, ich bin die Gesellschaft einer Dame nicht mehr gewohnt.“ Sein nächster Bissen war manierlicher. „Mir war das Risiko mehr als bewusst. Genau deshalb habe ich es getan. Meine Großmutter stammt aus Deutschland und hat mir als kleiner Junge immer Geschichten erzählt, so lernte ich die Sprache. Die Wahrheit ist doch: Keiner weiß, wie lange dieser Krieg noch andauert, und ich wollte immer die Heimat meiner Großmutter kennenlernen. Gut, ich gebe zu, Colmar ist vermutlich ganz anders als Hannover, aber das war mir dabei nicht so wichtig. Ich wollte bloß ...“ Er suchte nach den richtigen Worten.

„Sie wollten Ihre Wurzeln verstehen“, schlug ich vor.

Er nickte. „Ja, das passt. Überall heißt es die schlimmen Deutschen, aber meine Großmutter war einer der herzlichsten, gütigsten Menschen, denen ich je begegnet war. Ich habe an der Front Menschen sterben sehen. Ich habe den Angehörigen meiner Kameraden Briefe geschickt um ihnen zu sagen, dass ihr Sohn oder Vater oder Ehemann gefallen war. Dies hier könnte mein letzter Urlaub überhaupt sein, meine letzte Möglichkeit herauszufinden, ob Menschen an sich schlecht sind oder die Deutschen. Ich musste das Wagnis eingehen. Ob ich hier in Kriegsgefangenschaft gerate oder an der Front; im Endeffekt würde es auf dasselbe hinauslaufen.“

Ich konnte nichts anderes tun als ihn zu bewundern. Jonathan McDonald sprach von all diesen schrecklichen Dingen mit einer Leichtigkeit, die mich vergessen ließ, dass diese Dinge wirklich schrecklich waren. Ich brauchte ihn nicht mein Leben lang zu kennen um zu wissen, dass sein gesamtes Sein voller Hoffnung und Zuversicht war.

Es gab viel zu wenig Menschen wie ihn. Menschen, die Licht sogar in die dunkelsten Kammern bringen konnten.

Er hob sein Gesicht und sah mich an. „Was ist mit Ihnen, Elsa? Was ist Ihre Geschichte?“

Ich runzelte meine Stirn. „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“

„Oh, gewiss tun Sie das“, erwiderte er keck. „Wovon träumen Sie?“

Unwillkürlich musste ich lächeln. Meine Eltern liebten mich, aber sie fragten nicht nach meinen Träumen. Für sie zählte das Hier und Jetzt. Sie lebten in diesem Augenblick und nicht morgen oder gestern. Der Krieg hatte ihnen dabei einen kleinen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir mussten sparen, gut haushalten. In den Tag hineinleben war nicht mehr möglich.

Aber natürlich hatte ich Träume. Ich war nicht wie meine Eltern. Ich brauchte meine Träume wie die Luft zum Atmen; meine Visionen um morgens aufzustehen.

„Sie sehen sehr schön aus, wenn sie in Ihrer eigenen Welt sind“, sagte Jonathan leise, doch dieses Mal lief ich nicht rot an. Ich spürte, dass dieses Etwas, das zwischen uns heranwuchs, ehrlich und wundervoll war, und vielleicht hatten meine Eltern einen guten Grund, warum sie jeden Tag so nahmen, wie er kam.

Vielleicht konnte ich ein bisschen von allen sein. Von meinen Eltern und von mir selbst.

„Ich träume von Geschichten“, erzählte ich ihm und blickte mich in dem Essensraum um, in dem schon so viele Menschen getanzt, gelacht und gefeiert haben. „Ich möchte Schriftstellerin werden.“

Und damit offenbarte ich ihm, diesem Fremden, mein größtes Geheimnis, meinen allergrößten Traum.

Doch statt mich auszulachen oder mir zu sagen, ich wäre verrückt, legte Jonathan seinen Kopf schräg und sagte: „Ich würde gerne etwas von Ihnen lesen.“

Ich atmete tief ein und aus. Alleine bei der Vorstellung, er könnte etwas von mir lesen, wurde ich ganz nervös. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich meinen Löffel ablegen und zur Tarnung mit meiner Serviette meinen Mund abtupfen musste.

„Oben in meinem Zimmer habe ich eine kleine Sammlung meiner eigenen Texte versteckt“, flüsterte ich ihm zu. „Wenn Sie wirklich etwas von mir lesen wollen, kommen Sie doch zu mir, wenn meine Eltern zu Bett gegangen sind.“

Und das tat er.

Wir verbrachten im unschuldigsten Sinne die Nacht miteinander. Er las meine Geschichten und ich entschuldigte mich mehrfach dafür, dass es im Grunde genommen nicht meine eigenen Geschichten waren; ich hatte bloß das, was man mir erzählt hatte, zu Papier gebracht.

Aber Jonathan sagte, das wäre dasselbe. Und dann, als er jedes einzelne Blatt in seinen Händen gehalten und seine Inhalte gelesen hatte, sagte er: „Du bist großartig, Elsa.“

Ich wehrte mich nicht gegen das Du. Es fühlte sich so richtig an wie mit meiner rechten Hand einen Stift zu halten. Mein Herz wurde ganz warm, als er meinen Namen nannte, und wir sahen einander in die Augen.

„Wir sollten uns um dein Auge kümmern“, sagte ich, als die Sonne ihre ersten Fühler nach dem neuen Tag ausstreckte.

Ohne ganz zu begreifen, was ich tat, hob ich meine Hand und berührte sanft die Schwellung.

Er sah mich an. Wie in Zeitlupe nahm er meine Hand, hielt sie fest. „Wenn mein Auge bis jetzt nicht erblindet ist, wird es das auch nicht in den nächsten Stunden sein“, sagte er, aber seine Stimme war leiser als vorher, beinahe belegt.

Ich schluckte; hielt seinem Blick stand. Mein Herz schlug so schnell, dass ich beinahe fürchtete, einen Schlaganfall zu erleiden.

Und dann berührte seine andere Hand plötzlich die weiche Haut meines Nackens; er zog mich an sich und als sich unsere Lippen trafen glaubte ich, eine Bombe würde mitten in meinem Inneren hochgehen.

Vielleicht war es meine eigene, naive Hoffnung, die mich in seine Arme trieb; der tiefgehende Wunsch, geliebt zu werden, um über die Liebe schreiben zu können.

Vielleicht war es der Krieg; das beständige Wissen, dass er vielleicht nicht überlebte, das ihn in meine Arme lockte. Der Wunsch, nicht vergessen zu werden; denn jeder wusste, dass man nie vergessen wurde, wenn man wirklich und wahrhaftig geliebt worden war.

Ich wusste nicht, ob meine Eltern etwas ahnten. Wenn ja, dann ignorierten sie es taktvoll.

Schon am nächsten Tag kristallisierte sich eine familiäre Leidenschaft zwischen meinem Vater und Jonathan heraus. Mein Vater war zwar kein Träumer, aber er liebte jede Art von Humor, und den Schwarzen aus England ganz besonders. Beim Frühstück ließ er sich von Jonathan diverse Witze erzählen, und ich könnte schwören, ihn noch nie so viel lachen gesehen und gehört zu haben.

Und Jonathan spielte mit. Er erzählte einen Witz nach dem anderen, und das mit so viel Herz und Leidenschaft, dass sogar meine ernste Mutter hin und wieder ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.

Immer wieder schielte ich zu Jonathan herüber. Und jedes Mal, wenn ich meinen Blick von ihm abwenden musste, damit es nicht zu offensichtlich wurde, brach es mir ein wenig das Herz.

Ich hatte nicht gewusst, wie sich Liebe anfühlte, bis sie mich in einem unbeobachteten Moment dort traf, wo sie sich unwiderruflich festkrallen konnte. Mitten in meinem Herzen.

Hin und wieder ertappte ich auch Jonathan dabei, wie er zu mir herüber sah. Wir tauschten diese gestohlenen Blicke, die für alle Anderen nichts weiter waren als das, und zwischen uns eine ganze Welt bedeuteten.

Uns wurden fünf Tage geschenkt.

Fünf Tage, die Jonathan McDonald im Gasthaus meiner Familie verbrachte. Das waren vier Nächte, in denen er sich in mein Zimmer geschlichen und mich zu einer Frau gemacht hatte.

Das waren fünf Tage und vier Nächte, die sich wie ein Traum anfühlten, obgleich sie so real waren wie die Sonne oder der Mond oder dieser grausame Krieg, der uns nun wieder trennen würde.

Er wollte zu Fuß gehen. Er sagte, das wäre sicherer. Bis zur Grenze würde er so laufen, und sich dann irgendwo umziehen, und spätestens dann sollte ich mir keine Sorgen mehr machen. Ich begleitete ihn aus Colmar heraus und noch ein Stückchen weiter; versuchte, den Abschied möglichst lange hinauszuzögern.

Wir sprachen über dies und das, über unverfängliche Themen, bis der Zeitpunkt zum Greifen nahe war, an dem ich umkehren musste.

Wir blieben stehen, sahen einander an.

„Elsa“, sagte er und aus seinem Munde klang mein Name so unendlich weich.

„Glaubst du, man kann sich in so kurzer Zeit in jemanden so stark verlieben?“, platzte es aus mir heraus, und mit diesen Worten fiel eine unendliche Last von meinem Herzen herab.

Er lächelte. Dieses Mal hatte sein Lächeln etwas Trauriges an sich.

Vorsichtig hob er einen Arm und strich mit seinen Fingerspitzen über meine Wangen. „Ich glaubte nicht daran, bis ich dich traf.“

Ich atmete geräuschvoll aus. Plötzlich füllten sich meine Augen mit Tränen. Es war, als würde ich von innen heraus zerreißen; ich wollte schreien, aber es kam kein Laut aus mir heraus.

Jonathan ließ seinen Sack fallen, schlang seine Arme um mich und drückte mich fest an sich; so fest, dass er all die Stücke von mir, die kurz zuvor zerbrechen wollten, wieder zusammendrückte.

Nach einer kleinen Ewigkeit löste er sich von mir und küsste mich ein letztes Mal.

Jener Kuss schmeckte salzig und bitter; nicht so süß wie unsere verborgenen Küsse an unserem ersten Morgen.

„Ich werde dir schreiben“, versprach er. „Ich habe ja jetzt deine Adresse.“

Ich fühlte, wie meine Beine zitterten. Noch schaffte ich es nicht, ihn los zu lassen. „Kriege ich von deinen Kameraden einen Brief, falls du stirbst?“

Meine Stimme war bloß ein Hauch.

Jonathan sah mich ernst an. Dann nickte er vorsichtig. „Wenn du das willst, ja.“ Er atmete aus, küsste mich auf die Stirn. „Aber ich verspreche dir, dass das nicht geschehen wird, Elsa. Und wenn dieser verdammte Krieg vorbei ist, kehre ich zu dir zurück.“

Ich wusste, dass er es ernst meinte. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so sicher gewusst.

Endlich konnte ich ihn loslassen.

Er nahm seinen Sack, und dann drehten wir uns voneinander weg und setzten unsere Wege fort; er zurück an die Front, ich zurück nach Hause.

Wenn ich mich nur ein einziges Mal umgedreht hätte, wäre ich ihm gefolgt, da war ich mir sicher. Ich hätte mich selbst in Gefahr gebracht, nur um noch ein bisschen mehr Zeit mit ihm zu haben.

Als ich zu Hause ankam, warteten meine Eltern auf mich.

Ich wusste nicht, wie lange sie dort gestanden hatten, aber mit all ihrer Sorge blickten sie zu mir. Keiner von ihnen sagte ein Wort, aber sie breiteten ihre Arme nach mir aus, und ich flog zu ihnen zurück wie ein Vogel, der von seinem ersten Flug zurückkehrte.

Und während ich weinte, wogen sie mich sanft hin und her, und ich hörte wie meine Mutter sagte: „Wenn die Liebe nicht so wehtäte, wäre sie fast erträglich.“

Paris, 29. April 1916

Frankreich

Liebste Elsa,

wie du siehst, bin ich gut angekommen. Der Marsch war länger als gedacht und einmal musste ich mich in einem schlecht riechenden Graben verstecken, aber ich kam voran. Sobald ich Frankreich erreichte, suchte ich eine Möglichkeit, meine Uniform anzuziehen, und ich fühlte mich sofort sicherer.

Es ist nahezu absurd, wie viele Privilegien einem diese Uniform bringt. Wenn ich wieder bei dir bin, erzähle ich dir mehr davon.

Ich hoffe, du nimmst es mir nicht Übel, dass ich am Ende einfach gegangen bin. Die ganze Zeit wollte ich mich ein letztes Mal zu dir umdrehen, aber ich wusste, ich würde dann keinen weiteren Schritt mehr gehen. Ich wäre zu einem Deserteur geworden, nur um bei dir bleiben zu können.

Erst später ist mir aufgefallen, dass ich mich nicht bei dir bedankt habe. Es tut mir Leid, dass ich dies nun mit diesem Stück Papier tun muss.

Danke, Elsa. Du hast nicht nur mein Leben gerettet, sondern mir auch einen guten Grund geliefert, diesen Krieg überstehen zu wollen. Nein, den besten Grund.

Diese fünf Tage mit dir waren so viel mehr wert als fünf Wochen mit einer vollkommen Fremden.

Und das ist doch der Witz daran, oder? Im Grunde genommen solltest du eine Fremde sein, aber ich habe das Gefühl dich schon ewig zu kennen.

Ich fürchte, so etwas passiert einem nur ein einziges Mal in seinem Leben.

Du bist mein Wunder, Elsa. Vergiss das niemals.

Dein Jonathan

Colmar, 3. Juni 1916

Deutsches Reich

Jonathan.

Ich habe diesen Brief mindestens zehnmal von vorne beginnen müssen. Meine Mutter ist schon ganz sauer, weil ich so viel Papier verschwendet habe. Ich sagte ihr, jetzt könnten wir es zum Heizen im Winter verwenden, und das hat sie etwas milder gestimmt.

Wie fängt man bloß einen solchen Brief an?

Ich muss gestehen, ich habe noch nicht viele Briefe dieser Art geschrieben und verschickt.

Liebesbriefe, meine ich.

Denn Jonathan?

Ich habe drei Tage nichts gegessen. Und auch jetzt esse ich nur, weil ich muss, und weil sich meine Eltern um mich sorgen, aber Appetit habe ich keinen. Ich vermisse dich. Ich hatte nicht erwartet, dass man einen Menschen so sehr vermissen kann. Es fühlt sich an, als hätte mir jemand die Luft zum Atmen gestohlen, aber diese Metapher ergibt natürlich keinen Sinn. Mir als Schriftstellerin sollte doch wohl etwas Besseres einfallen, oder nicht?

Ich bin froh, dass du gegangen bist. Ich wünschte, du hättest länger bleiben können, aber ich bin es nicht wert, dein Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn du desertiert wärst, wärst du auch nicht der Mann, in den ich mich verliebt den ich kennengelernt habe.

Umso mehr freue ich mich auf den Moment, wenn der Krieg vorbei ist und du zu mir zurückkommen kannst.

Entschuldige die Schmiererei, meine Mutter weigert sich, meinen Perfektionismus mit noch einem weiteren Bogen Papier zu unterstützen. Von meinen Eltern soll ich dir die besten Wünsche ausrichten. Mein Vater lässt dich wissen, dass jederzeit ein Bett für dich in seinem Gasthaus frei ist.

Bis bald,

deine Elsa

P.S. Ich weiß, was du meinst. Seit du fort bist fühle ich mich nur noch halb da. Du hast die andere Hälfte meines Herzens mitgenommen, passe bitte gut darauf auf.

Frankreich 15. Juni 1916

Liebste Elsa,

ich wurde an die Front bestellt und musste einige Leute bestechen, dir diesen Brief zukommen zu lassen. Ich will ehrlich zu dir sein: Ich weiß nicht, wie oft ich dir schreiben kann. Für meine Kameraden hier bist du der Feind. Schick deine Briefe einfach an die untenstehende Adresse.

Meine Briefe werden zensiert, ich versuche aber schon im Voraus dafür zu sorgen, dass so wenig Lücken wie möglich entstehen.

Ich liebe dich auch, Elsa. Es zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen zu wissen, dass eine so großartige Schriftstellerin wie du es nicht schafft, über ihre Gefühle zu sprechen.

Wenn der Krieg vorbei ist, holen wir das nach. Ich kann es kaum erwarten, wieder bei dir zu sein, deinen Duft zu atmen und deinen Geschichten zu lauschen.

In Liebe,

Jonathan

P.S. Keine Sorge, bei mir ist die Hälfte deines Herzens gut aufgehoben. Aber versprich mir, dass du gleichwohl auf die Hälfte meines Herzens aufpasst, die ich bei dir gelassen habe.

Colmar, 22. Juni 1916

Deutsches Reich

Mein Jonathan.

Du hast Recht, es fällt mir tatsächlich schwer, über meine Gefühle zu reden.

Ich will auch ehrlich sein: Das, was ich für dich empfinde, habe ich noch nie empfunden. Ich kenne so viele Geschichten über die Liebe – ich dachte, ich würde ihn kennen, diesen ulkigen Amor, aber er hat mich tatsächlich überrascht. Ich bin ein wenig überfordert mit dem Ganzen, aber es ist eine gute Überforderung.

Als du schriebst, dass du mich liebst, bin ich fast in die Luft gesprungen. Plötzlich bin ich wieder drei Jahre alt und habe von einem Wanderer einen geschnitzten Spazierstock bekommen, den er selbst angefertigt hatte. Es ist eine wundervolle Arbeit. Ich zeige ihn dir beim nächsten Mal.

Die alte Frau Marchand ist vor ein paar Tagen gestorben. Ihr Enkel muss jetzt zum Markt und die Ware verkaufen, da hat er es mir erzählt. Ich habe sehr um sie geweint. Ohne sie kommt mir Colmar ein wenig liebloser vor.

Sie nannte mich immer liebreizendes Ding, weil sie mein Lächeln so schön fand. Zwei Tage vor ihrem Tod war sie das letzte Mal auf dem Markt gewesen und ich holte etwas Mehl. Da sah sie mich bedeutungsschwer an und sagte: Nichts ist schöner als eine Frau voller Wunder.

Ich bin ihr unendlich dankbar, dass sie dein Geheimnis für sich behielt.

Ich muss jetzt aufhören, meine Mutter möchte, dass ich ihr in der Küche helfe.

Ich liebe dich,

Elsa

P.S. Ganz egal wie weit du von mir entfernt bist, dein Herz bleibt sicher bei mir. Versprochen.

Frankreich, 30. Juni 1916

Liebste Elsa,

ich wünschte, ich könnte bei dir sein. Ich wünschte, ich wäre nie gegangen.

Die Lage hier spitzt sich zu. Ich kann dir leider nicht mehr verraten.

Dieser Krieg erscheint mir so unwichtig seit ich dich kenne … Wir Menschen sind schrecklich.

Pass auf dich auf, solange ich es nicht kann. Gleichwohl verspreche ich, auf mich aufzupassen.

Wir werden uns wiedersehen.

Dein Jonathan

Colmar, 10. Juli 1916

Deutsches Reich

Oh Jonathan!

Ich habe in der Zeitung von der Schlacht an der Somme gehört. Bitte sag mir, dass du an eine andere Front gerufen wurdest! Ich mag gar nicht daran denken, dass du an diesem Blutbad beteiligt warst.

Bitte schreibe mir, sobald du die Zeit findest. Oder schicke mir ein Telegramm. Ich sterbe beinahe vor Sorge!

Deine Elsa

Colmar, 28. Juli 2016

Deutsches Reich

Geliebter Jonathan.

Ich hoffe, meine Briefe kommen bei dir an. Ich weiß nicht, warum du mir nicht schreibst. Vielleicht will der liebe Gott da oben auch bloß ein wenig Salz in unsere süße Liebe streuen, wer weiß das schon.

Ich warte hier jeden Tag auf eine Nachricht von dir. Meine Mutter sagt schon, ich würde mich wie ein Schatten verhalten.

Du hast noch mein Herz, Jonathan. Vergiss das nicht. Ich brauche es doch noch.

Ach, was rede ich da eigentlich. Im Krieg sollte man nicht so viel Zeit mit nichtssagenden Wörtern verschwenden.

Ich brauche dich, Jonathan.

Ich brauche dich, um ich sein zu können. Um davon träumen zu können, eine großartige Schriftstellerin zu sein.

In tiefer Sorge,

Elsa

Colmar, 01. September 1916

Geliebter Jonathan.

Du hast mich zu einer Frau gemacht. Vor dir war ich noch nie einem Menschen so nahe gewesen. Ich bitte dich nur um ein Lebenszeichen. Es muss kein langer, ausführlicher Brief sein. So albern es klingt, aber eine Taube würde mir schon reichen.

Ich versuche auf dein Herz bei mir zu horchen, aber ich bin mir nicht sicher ob es noch schlägt oder ob mir mein bloßes Wunschdenken Streiche spielt.

Offensichtlich ist es mein eigener Verstand, der verrückt geworden ist.

Siehst du, was ohne dich aus mir wird?

Komm zurück, Jonathan. So wie du es mir versprochen hast.

Deine Elsa

Colmar, 30. Oktober 1916

Deutsches Reich

Geliebter Jonathan.

Meine Mutter hat mich darum gebeten, mit diesen Briefen aufzuhören.

Eine Sache musst du über meine Mutter wissen: Ihre Bitten sind bloß verkleidete Befehle. In Wahrheit war es also keine Bitte, sondern ein Befehl.

Und eine Sache musst du über mich wissen: Ich befolge die Befehle meiner Mutter. Ich habe immer getan, was sie von mir verlangt.

Nur dieses eine Mal kann ich es nicht tun. Ich halte mich an diesen Briefe fest, als wären sie mein Lebenselixier. Ich muss hoffen, dass du noch am Leben bist. Die Stimme der Zuversicht flüstert, dass deine Briefe an mich bloß nicht mehr verschickt werden.

Ach, dieser dumme Krieg! Wozu müssen wir Menschen uns überhaupt bekriegen? Reichen uns denn unsere eigenen, persönlichen Tragödien nicht aus?

Verzeih mir meine pessimistische Stimmung. Die Gaststätte läuft nicht gut. Du warst unser letzter Besucher. Ohne Gast haben wir keine Einkünfte und unser Erspartes neigt sich allmählich dem Ende. Mein Vater hat sich vor ein paar Tagen selbst freiwillig gemeldet. Er sagte, so kann er wenigstens etwas Geld für seine Familie erwirtschaften.

Erwirtschaften … Was für ein dämliches Wort, wenn es darum geht, sein Leben zu opfern!

Meine Mutter ist außer sich gewesen. Ich habe sie noch nie so erlebt wie in den letzten Tagen.

In zwei Wochen muss mein Vater losziehen. Wir verbringen viel Zeit zusammen, als könnten wir im Voraus ein ganzes, restliches Leben leben.

Ich sehe mich schon am Fenster unserer Wirtschaft sitzen und von morgens bis abends hinausschauen. Ich werde wie all die anderen Frauen in der Stadt sein, die darauf warten, dass jemand nach Hause kommt.

Ich werde hier immer auf dich warten, Jonathan.

Deine Elsa

P.S. Eine Frau die träumt, hat auch unendlich viele Geheimnisse. Weißt du noch wie ich schrieb, die alte Frau Marchand hätte mir vor ihrem Tod gesagt, nichts wäre schöner als eine Frau voller Wunder?

Ich dachte, sie meinte meine Träume, aber das stimmte nicht.

Ich bin schwanger, Jonathan.

Du hast also gar keine andere Wahl, als nach Hause zu kommen. Zurück zu deiner Familie.

Paris, 29. November 1916

Frankreich

Sehr geehrte Miss Silberstein,

Ihre Briefe sind angekommen, allerdings muss ich mit großem Bedauern mitteilen, dass es niemanden mehr gab, der sie hätte lesen können. Ich habe sie gefunden und mir erlaubt, sie zu öffnen, um mehr als nur ein paar Zeilen antworten zu können.