Goldkinder 2 - Tatjana Zanot - E-Book

Goldkinder 2 E-Book

Tatjana Zanot

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Beschreibung

Niemand war sicher vor den Psychopathen dieser Welt. Einige Wochen sind nach den schicksalhaften Ereignissen im Sommer vergangen und die Mädchen versuchen, sich in ihrem Alltag zurechtzufinden. Besonders Emma hat dabei Schwierigkeiten, immerhin gehört sie jetzt zu den Goldkindern. Chef-Zicke Jenna scheint dies mehr als ein Dorn im Auge zu sein. Außerdem muss Emmas Cousine Indra für eine Weile bei den Golds einziehen und sorgt für ziemlich viel Ärger. Und dann ist da auch noch die mysteriöse Agnes Ambrosius, deren Familie für allerhand Merkwürdigkeiten bekannt ist. Die Mädchen müssen sich mehr als einmal die Frage stellen: Sind die Toten ihrer Vergangenheit wirklich tot?

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Seitenzahl: 347

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Emma

Indra

Fabienne

Isabel

Kapitel Zwei

Indra

Isabel

Fabienne

Emma

Kapitel Drei

Fabienne

Isabel

Emma

Indra

Kapitel Vier

Emma

Indra

Fabienne

Isabel

Kapitel Fünf

Fabienne

Emma

Indra

Isabel

Kapitel Sechs

Indra

Fabienne

Isabel

Emma

Kapitel Sieben

Fabienne

Isabel

Emma

Indra

Kapitel Acht

Emma

Fabienne

Indra

Isabel

Kapitel Neun

Fabienne

Indra

Isabel

Emma

Kapitel Zehn

Fabienne

Isabel

Indra

Emma

Epilog

2008

Kapitel Eins

Emma

„Also, so richtig gefallen tut mir das Ganze hier ja nicht“, teilte mir mein Besuch ohne Umschweife mit.

Isabel Schneider saß mit angewinkelten Beinen auf meinem Schreibtischstuhl und beäugte skeptisch das Bett zu ihrer Linken.

Und nein, das war nicht mein Bett.

Genau genommen war es auch nur eine Liege mit frisch bezogenem Bettzeug.

Ich selbst hockte im Schneidersitz auf meinem richtigen Bett und suchte nach Worten, um Isabel ihre Skepsis, und mir mein Unbehagen, zu nehmen.

„Wann soll die nochmal kommen?“, fragte sie weiter und wandte sich mit einer schnellen Bewegung, sodass ihre blonden Locken hüpften, an mich.

„In zwei Tagen“, antwortete ich bemüht, einen unbeschwerten Ton anzustimmen.

„Und warum soll sie hier nochmal wohnen?“

Jetzt seufzte ich doch. Meine Eltern hatten diese ganze Geschichte sehr lange und sehr ausführlich mit mir und meinen Geschwistern durchgekaut. Ich hatte auch Isabel bereits alles erzählt. Das Ganze nochmal zu wiederholen, grenzte schon an Folter.

„Zum Mitschreiben“, sagte ich bissig. „Meine Mutter hat zwei Schwestern. Eine Jüngere – das ist meine Tante Liv, die in Berlin wohnt und als Designerin arbeitet – und eine Ältere, Tante Angelie, wobei ich mich an die nicht mehr erinnern kann. Meine Mutter sagt, die hätten sich vor einigen Jahren ziemlich heftig gestritten und irgendwie ist da wohl der Kontakt abgebrochen. Keine Ahnung. Jedenfalls hat Angelie einen jüdischen Anwalt geheiratet, Johann, und der hat jetzt seinen Job verloren und die Familie hat kein Geld und so weiter. Er sucht jetzt etwas Neues, und bis dahin sollen die beiden Kinder – Indra und ihr jüngerer Bruder Imran – bei uns wohnen. Verstanden?“

Sie sah alles andere als überzeugt aus. „Ist es wichtig für die Geschichte, dass er jüdisch ist?“

Ich blinzelte verwirrt, dann schüttelte ich den Kopf.

„Nein, ist es nicht.“

„Hm“, brummte Isabel und kniff nachdenklich ihre Augen zusammen. Gedankenverloren knickte sie die Ecke eines Blattes immer wieder um, welches auf ihrem Schoß lag. Wir hatten uns eigentlich getroffen, um ihre Halloweenparty zu planen, die sie nur geben wollte, um ihr neues Zuhause zu präsentieren. Vor knapp drei Monaten, nachdem ihr älterer Bruder ermordet und ihre Mutter mit einer posttraumatischen Belastungsstörung in eine Klinik eingewiesen worden war, hatte ihr Vater sich ein neues Haus gekauft. Für ihn, seine neue Freundin und Isabel. Außer mir war von unseren Freunden noch keiner da gewesen. Die Halloweenparty sollte eine ganz große Sache werden.

Demnach war es taktisch sehr unklug, dass sie sich immer wieder von meinen verzwickten Familienverhältnissen ablenken ließ.

„Und Imran muss sich ein Zimmer mit Marie teilen?“, fragte sie vorsichtig.

„Um Gottes Willen, nein!“, rief ich aus, konnte mir bei der Vorstellung ein Kichern allerdings nicht verkneifen. „Meine Mutter will eine gute Gastgeberin sein, und niemanden in die Vorhölle schicken!“

Isabel verzog ihre Mundwinkel zu einem Grinsen.

„Das erklärt, warum du dir lieber mit einer praktisch Fremden das Zimmer teilen willst, als mit deiner eigenen Schwester.“

„Vorpubertät“, konterte ich, als würde dieses eine Wort alles erklären. „Sie war letzte Woche mit einer Freundin shoppen und weißt du, was die sich gekauft haben? Kondome! Mein Vater ist ausgerastet.“

„Deine Schwester ist kein Biest, sondern einfach nur dumm, wenn sie Kondome in einer Einkaufstüte -“

„Sie ist erst 12 und hat noch gar nicht an Sex zu denken!“

„Ja, und die heilige Maria war Jungfrau, als Jesus geboren wurde“, witzelte Isabel und warf einen Blick auf den Zettel in ihrem Schoß. Dann: „Und du möchtest Justus und so echt nicht einladen?“

Ein wohlbekannter Stich durchzuckte meine Brust, so wie jedes Mal, wenn sie das Justus-Thema ansprach.

Es war nicht so, dass wir uns aus dem Weg gingen, aber nach Carmens Tod … Es war einfach merkwürdig zwischen uns geworden. Als wäre da eine unüberbrückbare Leere, die sie zuvor ausgefüllt hatte. Neben meinem jahrelangen, besten Freund zu sitzen und nicht zu wissen, worüber wir reden sollten, tat mehr weh, als ihn aus meinem Leben auszuschließen.

Ich redete mir ein, dass Carmens Ableben der Grund dafür war, und nicht die Tatsache, dass ich nach danach irgendwie ein Teil von Isabels Clique geworden war.

Die Goldkinder. Die Beliebtesten unserer Schule.

Wer zu ihnen gehörte, war Teil der Elite und schwamm ganz oben in der schulischen Hierarchie.

Nie im Leben hätte ich auch nur darüber nachgedacht, mich an ihren Tisch in der Aula zu setzen, mein Pausenbrot mit Isabel zu teilen und mit Dante über Literatur zu fachsimpeln, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ich war da hineingerutscht und Arroganz und Zickereien gehörten inzwischen genauso zu meinem Schulalltag, wie Hausaufgaben und Klassenarbeiten. Selbst Jenna schien mich, die sie letztes Schuljahr noch mit dem fiesen Spitznamen Hexennase betitelt hatte, in ihrer Mitte zu akzeptieren.

Carmens Mutter war kurz nach dem Tod ihrer Tochter nach Spanien ausgewandert, zu ihrer Familie. Ihr Vater, Kommissar Gonzales, hatte sich auf unbestimmte Zeit suspendieren lassen. Ich wusste nicht, was aus ihm geworden war.

„Ingrid will die Getränke für die Party bezahlen“, verkündete Isabel plötzlich, um ein unverfänglicheres Thema anzuschlagen.

Ich machte große Augen. „Wie kommt das denn?“

„Ich weiß nicht“, meinte sie und zuckte mit den Schultern. „Ich wette, es hat irgendetwas mit diesen Prospekten zu tun, die sie mir seit Wochen hinlegt.

Von Selbsthilfegruppen und so was.“

„Selbsthilfegruppen?“

„Ja, sie ist der festen Überzeugung, ich solle mal mit jemandem darüber reden.“

Dieses unbestimmte darüber war der Mord an ihrem älteren Bruder. Die beiden hatten sich nahegestanden und sein Tod hatte sie ziemlich schwer getroffen. Erst drei Wochen nach seiner Beerdigung hatte sie aufgehört, den schwarzen Pullover von ihm zu tragen.

Ich schnappte mir einen Notizblock, schlug ihn auf und griff anschließend nach einem Kugelschreiber.

„Vielleicht hat sie ja Recht und es wäre wirklich mal ganz gut, mit anderen zu sprechen. Ich meine, du bist nicht die Einzige, deren Bruder gestorben ist.“

„Wie viele von denen wohl ein ermordetes Geschwisterkind beerdigen mussten?“, konterte Isabel rhetorisch. „Es geht mir gut. Ich muss mit niemandem über die Tatsache quatschen, dass mein Bruder umgebracht wurde. Es ist passiert, und ändern kann ich es nicht mehr. Was denkst du, brauchen wir alles für Getränke? Mein Vater hat uns Bier erlaubt.“

„Echt jetzt?“

Sie nickte; selbst ganz überrascht. „Er meinte, er vertraut mir. Außerdem ist es ja auch nicht so, dass er uns ganz alleine lässt. Er geht mit Ingrid nur ins Theater und ist spätestens gegen Mitternacht wieder da. Sogar Ingrid findet, dass wir unsere ersten Erfahrungen mit Alkohol lieber unter Freunden in einem sicheren Haus machen sollten, als mit fremden Typen, die drei Jahre älter sind, auf irgendeinem dreckigen Spielplatz. Was hast du? Ich hab dir schon mal gesagt, das du nicht auf deiner Unterlippe kauen sollst!“

Schmatzend ließ ich von meiner Unterlippe ab. „Ich hab mich gerade gefragt, ob ich meine Eltern vorwarnen soll, was den Alkohol angeht, oder es lieber seinlasse.“

„Ach komm, deine Eltern sind doch echt cool drauf.“

Ich konnte mir ein verächtliches Grunzen nicht verkneifen. „Schon, aber nach der Sache mit dem Kondom … Ich meine, keiner von uns glaubt ernsthaft daran, dass Marie irgendwie … sexuell aktiv werden könnte, aber trotzdem. Mein Vater bewacht mich gerade mit Argusaugen. Und seit das mit Carmen und Tommy passiert ist, schwirrt meine Mutter wie ein Adler um mich herum und will immer wissen, wo ich hingehe und mit wem ich unterwegs bin und wann sie mich abholen kann.“

Meine Erzählung beendete ich mit einem tiefen Seufzen.

Isabel nickte zustimmend. „Glaub ja nicht, mein Vater würde mich noch irgendwo alleine hingehen lassen.“ Ihre Stimme klang bitter, beinahe düster.

„Ich hab ihn lieb, aber vor der Scheidung hat er sich auch nicht groß um mich gekümmert, da muss er jetzt nicht damit anfangen.“ Genervt rollte sie mit ihren klaren, blauen Augen.

„Eltern“, brummte ich und beugte mich vor. „Wir sollten weiter planen. Sonst werden wir nie fertig, bevor die Teufelsbrut hier auftaucht.“

„So einen fiesen Spitznamen hätte ich dir gar nicht zugetraut, Hexennase“, kicherte Isabel.

Zur Antwort streckte ich ihr meine Zunge entgegen.

„Das einzig Positive daran ist, dass meine Eltern den Dachboden ausgebaut haben“, dachte ich laut. „Man muss sich schließlich auch mal zurückziehen können.“

„Was würdest du von einem Partnerkostüm halten?“, fragte Isabel so unvermittelt, dass ich erst einmal nachdenken musste, ehe ich die Bedeutung ihrer Worte realisierte. In meinem Kopf war ich schon die alkoholfreien Getränke durchgegangen.

„Es gibt so ein megacooles Kostüm vom Hutmacher“, plapperte Isabel weiter, „und wenn du als Alice gehen würdest, wäre das noch viel, viel besser! Wir wären definitiv der Hingucker des Abends.“

„Ich dachte, es gäbe da ein ungeschriebenes Gesetz, niemand dürfe besser aussehen als Jenna“, entgegnete ich ironisch. Das Erste, was ich bei den Goldkindern gelernt hatte, war, dass Isabel auf alles, worauf Fabienne penibel genau achtete, keinen Wert legte.

Wie zum Beispiel eben jene Maxime. Während sich jedes Mädchen aus der Clique daran hielt, zog Isabel jeden Tag ihr Ding durch – In Form von angesagten Outfits, stylischen Frisuren und den passenden Accessoires. Sie legte zwar nicht so viel Wert darauf wie Jenna, die Schönste von uns allen zu sein, aber ich kannte sie inzwischen gut genug um zu wissen, dass es ihr eine wahre Herzensfreude war, Jenna zu übertrumpfen.

Lächelnd, weil ich sie durchschaut hatte, stimmte ich einem Partnerkostüm zu. „Alice im Wunderland war mein Lieblingsbuch in der Grundschule“, erzählte ich ihr glückselig.

Sie machte große Augen. „Wie, davon gibt es ein Buch?“

Unwillkürlich musste ich kichern. Isabel Schneider besaß das größte Mundwerk, welchem ich je begegnet war, und schaffte es gleichzeitig, unheimlich riesige Bildungslücken zu haben.

Ihre Mundwinkel zogen sich zu einem vorsichtigen Grinsen hoch. „Woran denkst du, Emmy?“

Kichernd schüttelte ich kaum merklich meinen Kopf.

„Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, wie gern ich dich hab.“

Indra

Die tiefe, traurige Stimme von Frontmann Kurt Cobain drang durch meine Kopfhörer, während wir eine von Buchen umsäumte Allee entlangfuhren.

Viel von der Fahrt hatte ich nicht mitgekriegt. Ich wusste nur, dass wir einen Umweg hatten fahren müssen, weil in der Stadt alles abgesperrt war. Und dass mein Vater sich fürchterlich darüber aufregte, während meine Mutter große Mühe dabei hatte, ihn wieder zu beruhigen. Mein kleiner Bruder Imran spielte seinerseits mit einem Gameboy und versuchte genauso wie ich, die unausweichlichen Tatsachen zu ignorieren.

Irgendwann bog mein Vater zwischen hohen Bäumen links ab und fuhr auf eine große, schattige Einfahrt. Erst, als das Auto anhielt, nahm ich meine Kopfhörer heraus.

„- sind da!“, hörte ich meine Mutter noch sagen, sichtlich um einen fröhlichen Ton bemüht.

„Weißt du, wenn du uns wirklich lieben würdest, würdest du dich nicht freuen, uns bei Fremden zu lassen“, knurrte ich und stieg mit aufsteigender Wut aus dem geliehenen Wagen. Ich schlug die Autotür fest zu, sodass man es noch zwei Häuser weiter hörte, und blieb mit vor der Brust verschränkten Armen stehen.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich das große Haus an, vor dem ich nun stand. Diesen modernen Kasten, der im Erdgeschoss zu meiner Seite nur aus Glas zu bestehen schien. Wenn ich diese ganze Aktion nicht schon aus Prinzip hassen würde, hätte es mir vielleicht sogar gefallen.

„Hübsch hier“, bemerkte meine Mutter, die inzwischen ebenfalls ausgestiegen war und sich zu Imran gesellt hatte. „Schau mal, die Wiese hier ist groß genug, um mit deinen neuen Freunden Fußball zu spielen!“

„Ich hätte aber lieber meine alten Freunde“, hörte ich Imran mit seiner kindlichen Stimme erwidern und konnte mir ein gehässiges Grinsen nicht verkneifen.

Nur weil alle so taten, es wäre die beste Idee überhaupt, musste das nicht bedeuten, dass wir es genauso sahen. Und mit wir meinte ich Imran und mich, die ihre Freunde zurücklassen mussten, nur um bei irgendwelchen Verwandten unterzukommen, die wir seit Jahren nicht gesehen hatten. Ich meine, ich hatte zwar von Tante Svea gewusst, aber an ihr Gesicht konnte ich mich zum Beispiel nicht mehr erinnern.

Also nein, in meinen Augen war es keine gute Idee, zu den Golds zu ziehen. Auch wenn es nur vorübergehend war, bis mein Vater eine neue Stelle gefunden hatte. Ich sah ja ein, dass wir sparen und uns eine kleinere Wohnung besorgen mussten, aber lieber teilte ich mir ein Schlafzimmer mit meiner kompletten Familie, als zu Menschen zu gehen, die ich nicht kannte.

Plötzlich legte meine Mutter einen Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. „Nun sei nicht so ein Schmollmops! Es wird sicher ganz toll werden!“

Ich grunzte verächtlich. Mit einem schnellen Schritt trat ich zur Seite und ließ meine Mutter stehen.

„Vielleicht gefällt es mir ja so gut, dass ich gar nicht mehr weg will“, brummte ich verdrossen.

Ich wusste, dass ich meine Mutter mit meinem Verhalten verletzte, aber es war mir egal. Sie hatte mich auch verletzt, als sie verkündet hatte, wir müssten von Berlin nach Neustadt-Hausen ziehen.

Ihretwegen verlor ich all meine Freunde. Wie viele Freundschaften konnten eine solche Entfernung standhalten? Man versprach sich zwar hoch und heilig, sich niemals zu vergessen, aber im Endeffekt geht doch jeder seinen eigenen Weg. An irgendeinem Punkt hatte man sich gekannt, aber das war solange her, dass einem die Erinnerung wie ein alter schwarz-weiß Film vorkam.

Auf einmal hörte ich Stimmen. Fremde Stimmen.

Ich blieb wie angewurzelt stehen.

Und dann kamen sie. Die Haustür war also auf der Rückseite des Hauses. Wie unsinnig.

Als wären sie die perfekte Familie bogen sie um die Ecke; 5 Menschen, die eine Mauer bildeten. Da war meine Tante Svea, die ich an ihrem blonden Haar erkannte; dem meiner Mutter so ähnlich. Sie wurde flankiert von zwei Mädchen. Eine jüngere Ausgabe meiner Tante und die andere, mit den braunen Locken, musste Emma sein. Neben ihr trottete ein älterer, schlaksiger Junge. Das war vermutlich Jan.

Mein Cousin. Meine Mutter hatte mir ein Foto von ihm gezeigt, auf dem er etwas jünger als Imran heute gewesen sein musste und noch eine Brille trug.

Irgendwie überraschte es mich, diesen jungen Mann zu sehen. In meinem Kopf war er so viel kleiner gewesen.

Ganz außen, neben Mini-Svea, lief mein Onkel. Ich konnte mich nicht mehr an seinen Namen erinnern, irgendetwas altmodisches, aber ich wusste, dass meine Mutter ihn nicht ausstehen konnte. Er hatte braune Locken, wie Emma, und wirkte trotz der Tatsache, für einen Mann relativ klein zu sein, ziemlich respekteinflößend.

Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich wollte nicht hierbleiben. Hier, bei dieser Familie, die so perfekt wirkte. Kein Mensch konnte perfekt sein.

Erst recht keine Familien, so viel wusste ich.

Meine Eltern kamen zu mir, und als meine Mutter nach meiner Hand griff, ließ ich es zu.

Und dann standen sie plötzlich vor uns, diese perfekte Familie, und begrüßten uns.

„Mensch, du bist groß geworden!“, stellte meine Tante fest und musterte mich von oben bis unten. Ihr Blick blieb einen Moment zu lange auf dem Emblem meines Shirts hängen. Und da wusste ich es: Sie hasste Nirvana. Bei einer Frau, die meine Lieblingsband verabscheute, konnte ich unmöglich bleiben.

„Sie isst keine Karotten“, plapperte meine Mutter völlig teilnahmslos dazwischen. „Und ist allergisch gegen Nüsse. Auch gegen Erdbeeren; man glaubt es zwar nicht, aber diese süßen Früchte zählen zu den Nüssen. Und Imran hat gerade einen Wachstumsschub, er stopft also alles in sich hinein, nur bitte aufpassen mit Schokolade.“

„Oh, ich bin übrigens Vegetarierin“, warf ich ein.

Meine Mutter blickte verwirrt zu mir, während mein Vater ein „Seit wann das denn?“, murmelte.

Seit zwei Sekunden, dachte ich, sagte es aber nicht.

Stattdessen schaute ich meiner Tante in ihre blauen Augen und hoffte, sie so aus der Reserve zu locken, doch sie lächelte einfach weiter, als wäre nichts gewesen. „Das kriegen wir schon hin“, meinte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. Behutsam legte sie eine Hand auf die Schulter ihres Mini-Ichs. „Ich hab hier noch so ein ziemlich wählerisches Exemplar.“

„Kinder“, sinnierte meine Mutter.

„Wollen wir vielleicht reingehen und uns drinnen unterhalten?“, schlug mein Onkel vor. „Emma und ihre Freundin haben Muffins gebacken.“

„Also, genau genommen hab ich gebacken, und Isabel saß daneben und hat -“

„Das interessiert hier irgendwie gerade keinen“, unterbrach ich das Mädchen mit den braunen Locken.

Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. Mit so etwas hatte sie ganz offensichtlich nicht gerechnet.

Es war mir auch mehr als egal, dass sie sich direkt geschlagen gab und lieber mit ihrer Familie ins Haus zurück ging.

Als ich mich ebenfalls in Bewegung setzen wollte, spürte ich, wie sich eine Hand um meinen Unterarm legte und mich zurückzog. Während mein Vater mit Imran den Golds folgte, hielt meine Mutter mich fest und zischte: „Was, um alles in der Welt, soll das?!“

Wütend riss ich mich los. „Ich will hier nicht bleiben!“, schrie ich sie an. „Ich wollte auch nicht umziehen und meine Freunde verlieren oder die Schule wechseln! Aber ich werde ja nicht gefragt!“

„Dein Vater wollte auch nicht seinen Job verlieren!“, entgegnete meine Mutter säuerlich. Wie immer, wenn sie wütend war, wurden ihre Wangen ganz rot und ihr kurzes, blondes Haar bildete einen viel zu starken Kontrast. „Und ganz sicher gefällt es mir genauso wenig wie dir, dich und deinen Bruder hierzulassen!“

„Warum tust du es dann?“ Augenblicklich füllten sich meine Augen mit Tränen. In mir drin baute sich ein Druck auf, den ich nicht mehr aushalten konnte; ich wollte schreien, doch ich wusste ganz genau, kein Laut würde in diesem Moment über meine Lippen kommen.

Ich wandte mich von meiner Mutter ab und wollte wegrennen. Wollte fliehen. Wohin, wusste ich nicht, aber irgendetwas würde ich schon finden.

„Indra Katharina Rosenberg!“, hörte ich meine Mutter kreischen und ehe ich mich versah, hielt sie mich wieder am Arm zurück. Ihre Finger gruben sich so tief in meine Haut, dass ich leise aufschrie. „Du wirst nicht abhauen! Wir stehen das gemeinsam als Familie durch. Und ich verlange von dir, dass du nett zu den Golds bist. Es war wirklich sehr großzügig von Svea euch aufzunehmen, nach allem -“

An dieser Stelle brach sie ab. Wie immer.

„Ja, was denn?“, wollte ich wissen und riss mich los.

Ich kam mir vor, als wäre ich eine Schlange. Mehr noch, als wäre ich eine gefräßige Bestie. Meine Mutter schwieg. „Siehst du? Du kannst noch nicht einmal ehrlich zu mir sein! Warum sollte ich dir noch einen Gefallen tun?“

„Es ist nicht für mich“, sagte sie leise, aber mit Nachdruck. „Wir müssen Geld sparen. Das weißt du.

Johanns Mutter hat uns zwar angeboten, bei ihr unterzukommen, aber ihre Wohnung ist für uns alle einfach viel zu klein. Euch wird es hier gutgehen.

Oma wohnt ja auch in der Nähe. Wir werden euch doch nicht einfach abschieben.“

Und damit sprach sie meine Befürchtungen aus.

Mit einem Mal verpuffte meine Wut und ich fühlte mich wie ein schwaches, erbärmliches, kleines Ding.

Mit hängenden Schultern stand ich da, schaffte es nicht mehr, meine Mutter anzusehen, und atmete hörbar aus.

„Oh Schätzchen“, seufzte sie, kam zu mir und schlang ihre Arme beschützend um mich. „Wir verlassen euch nicht. Und wenn was ist, wenn du dich unwohl fühlst oder wie in diesem einen Märchen die ganze Hausarbeit machen musst, holen wir dich und deinen Bruder sofort wieder zu uns. Aber dann wird es ziemlich eng.“

Sie hielt mich auf Armeslänge von sich weg und schaute mich aufmunternd an. „Du musst mir versprechen, es zumindest zu versuchen, okay?“

Ich schniefte laut. Nach einem kurzen Moment nickte ich schließlich. „Okay“, versprach ich, doch in meinem Inneren ging irgendetwas klirrend zu Bruch.

Lächelnd trat meine Mutter zurück, griff nach meiner Hand und führte mich zum Haus.

Ich ließ es zu. Ich setzte mich zu den anderen an einen großen Esstisch und aß einen Muffin. Ich versicherte dieser Emma sogar, er wäre ganz lecker, obwohl sie viel zu viel Schokolade verwendet hatte.

Ich würde mir mit ihr ein Zimmer teilen. Als sie mir mein Bett zeigte und ihre Mutter sich für die Klappliege entschuldigte, sagte ich bloß, es wäre nicht weiter schlimm. Wie eine gute Tochter half ich anschließend beim Tragen unserer Sachen.

Als sich unsere Eltern abends von mir und Imran verabschiedeten, nahm ich meinen kleinen Bruder an die Hand, holte meine Gitarre und setzte mich mit ihm zusammen auf den Steg hinterm Haus. Oder war es vor dem Haus? Wir konnten die Haustür erkennen, aber das Haus stand ja auch mit der Rückseite zur Einfahrt und – Ich unterbrach meinen wirren Gedankengang.

Eine Weile saßen wir schweigend einfach nur da und ich spielte auf meiner Gitarre. Imran hörte mir aufmerksam zu. Sein schwarzes Haar war kurzgeschnitten, seine dunklen Augen wirkten traurig. Ich hoffte, meine Melodie würde ihn aufheitern, stellte aber fest, dass es die ersten Akkorde von All Apologies waren.

Ich hörte auf.

Imran sah mich mit seinen kindlichen Augen an. „Ist es unsere Schuld?“, fragte er leise.

Es traf mich mitten ins Herz. Unsere Eltern hatten stundenlange Gespräche mit uns geführt, um genau das zu vermeiden.

Mitleid stieg in mir auf. Wie hatten sie nur denken können, Imran würde es mit seinen 9 Jahren verstehen?

Was er verstand, war, dass unsere Eltern fort waren und uns bei Menschen gelassen hatten, die wir nicht kannten.

Ich ließ einen letzten Akkord ertönen, dann legte ich eine Hand auf die Saiten und nahm meiner Gitarre ihre Stimme. „Nein, es ist nicht unsere Schuld“, versicherte ich ihm, stand auf und streckte meinen Arm nach ihm aus. „Komm, lass uns reingehen. Es riecht nach Essen. Hast du Hunger?“

Wortlos zuckte er bloß mit seinen Schultern.

Und da nahm ich mir vor, stark zu sein und es wirklich mit den Golds zu versuchen. Nicht meinetwegen. Und ganz sicher nicht, weil meine Mutter mich darum gebeten hatte.

Imran verdiente zumindest einen Fels in der Brandung.

Fabienne

In Neustadt-Hausen war das Herbstfest eine Tradition. Jedes Jahr wurde es von der Grafenfamilie am Wochenende vor Halloween veranstaltet. Jeder, den ich kannte, ging hin, abgesehen von Emma, die an diesem Tag Besuch von irgendeiner Cousine bekam. Jenna hatte sich sogar extra für diesen Anlass einen Pullover mit gestickten, bunten Blättern gekauft.

Die Einzige, die in ihrem Zimmer hockte und durch ihr offenes Fenster der entfernten Musik lauschte, war ich.

Meine Eltern hassten alles, was mit der Grafenfamilie zu tun hatte. Ich war mir nicht sicher, woher ihre Abneigung rührte; seit wir in dieser Kleinstadt lebten, gehörte es schlicht zu meinem Alltag. Und ich hatte es nicht hinterfragt. Der Graf war ein Hinterwälder, seine Frau wurde von meiner Mutter stets als conne bezeichnet und ihre Kinder … Sagen wir einfach, meine Eltern malten ihnen keine schöne Zukunft aus.

Und ich hatte mich ihrem Hass immer gebeugt.

Ohne Widerworte war ich an jedem Herbstfest der letzten Jahre daheim geblieben. Jeden Ball, den die Grafenfamilie veranstaltet hatte und zu dem meine Freundinnen mit ihren Familien grundsätzlich eingeladen wurden, ließ ich an mir vorbeiziehen, ohne eine Träne zu verdrücken.

Während jeder in Neustadt-Hausen ihre Grafenfamilie so verehrte, wie die Engländer ihre Queen, hatte ich brav so getan, als existierten sie gar nicht.

In den vergangenen 9 Jahren, die meine Familie nun schon hier lebte, hatte das auch ziemlich gut funktioniert.

Bis ich mich ausgerechnet Hals über Kopf in den Sohn des Grafen verknallt hatte.

Es war letzten Sommer passiert. Wir waren uns auf der Spuckbrücke begegnet und wenn er die Situation damals nicht völlig falsch verstanden hätte, wären wir niemals ins Gespräch gekommen.

Percival von Neustadt-Hausen … Schon bei dem Gedanken an ihn zogen sich meine Mundwinkel zu einem unwillkürlichen Lächeln hoch. Es war nicht so, dass ich mein Leben mit ihm lebenswerter fand.

Ich war noch immer ich.

Aber mit ihm erschien mir alles irgendwie leichter.

Solange Percy mich liebte, wusste ich, würde ich alles schaffen.

Ich stand am Fenster meines Zimmers und schaute nach draußen. Von hier konnte ich in unseren unendlich großen Garten – wie Emma es sagte – schauen. Ich konnte den angelegten Pool mit seinen runden Ecken sehen und die Rosenhecken, die meine Mutter so liebte, und die Eiche, unter der mein Vater einmal ein Picknick mit mir gemacht hatte, als wir nur zu Zweit gewesen waren.

Durch das offene Fenster drang die Geräuschkulisse des Herbstfestes zu mir. Leise, nur wenn ich ganz konzentriert lauschte, konnte ich das Wimmern der Bässe auf der Tribüne hören. Ich stellte mir unendlich viele Leute vor, die sich in unserer Innenstadt aneinanderdrängten und miteinander feiern wollten.

Und an Percy, der dort an einem übergroßen Kürbis auf mich warten wollte.

Meine Eltern wussten nichts von unserer Beziehung, und selbst wenn, wäre es zwecklos sie um Erlaubnis zu bitten. Wenn es nach ihnen ginge, würden sie mich mit dem Sohn eines französischen Geschäftspartner meines Vaters verheiraten.

Es war mein Glück, das Zwangsehen in Deutschland nicht erlaubt waren.

Percy und ich wollten uns um 16:30 Uhr treffen.

Dann wäre sein Pflichtteil erst mal erledigt.

Traditionell gab es jedes Jahr eine Herbstparade, bei der er mit seiner Familie auf einem geschmückten Wagen sitzen und seinem Volk zuwinken musste.

Anschließend hielt sein Vater eine Rede, während Percy hinter ihm sitzen und gut aussehen musste, wie er es sagte. Dann hatte er für ein paar Stunden Ruhe, musste heute Abend allerdings an einem Festessen teilnehmen. So lange könnte ich allerdings auch nicht wegbleiben, ohne dass es auffiel.

Ich wandte mich vom Fenster ab und ging zu meinem Nachttisch, auf dem abgesehen von einer Lampe zwei Dinge lagen: Mein Handy und der grüne Kieselstein, den Percy mir geschenkt hatte. Wenn man ihn ins richtige Licht hielt, glitzerte er wie ein Stein, der noch ein Smaragd werden wollte, es aber nie geschafft hatte.

Manchmal dachte ich, der Stein war wie ich.

Unfertig.

Ich griff nach meinem Handy und schaute auf die Uhr. 14:30 Uhr. Ich legte es wieder zurück, stand auf und ging in meinen begehbaren Kleiderschrank.

Links von meinem Zimmer aus stand, zwischen einem Schuhregal auf der einen und einem Regal für Accessoires samt Hüten auf der anderen Seite, ein zwei Meter hoher Spiegel, in dem ich mich nun betrachtete.

Ich trug einen rostbraunen Faltenrock, dazu ein weißes Top und darüber einen eng anliegenden Bolero in derselben Farbe des Rocks. Das ganze Outfit hatte ich mit einer goldenen Kette mit Blätter-Anhängern und goldenen Ohrsteckern in Blattformat abgerundet. Mein glattes Haar fiel wie flüssige Schokolade über meine Schultern und rahmte mein rundes Gesicht ein.

Es war ein besonderer Tag. Zum ersten Mal würde ich mich aus dem Haus schleichen und das Herbstfest besuchen, von dem alle meine Freunde immer so geschwärmt hatten. Endlich würde ich ein Teil einer großen Masse sein; ein kleines Molekül am Rande, unwichtig für das große Ganze.

Und zwischen ihnen würde dieser eine Mensch auf mich warten, der nur mich ansehen würde. Für den ich nicht nur ein kleines Molekül war.

Für diesen einen Menschen war ich nicht einfach nur ein Mädchen auf diesem großen, blauen Planeten.

Ich war ein Teil seiner Welt.

Als es Zeit war zu gehen, schlich ich mich auf Zehenspitzen die marmorne Treppe herunter, die in einem Halbbogen nach unten in die Eingangshalle führte. Mein Vater war dieses Wochenende nicht zu Hause. Er war wieder einmal auf irgendeiner Geschäftsreise.

Wie ein Schatten schlich ich die Flure entlang zum Fernsehzimmer, in dem ich meine Mutter fand. Sie saß mit dem Rücken zu mir auf dem weißen Sofa und blätterte durch eine Zeitschrift.

Ich atmete tief ein und aus. Stellte mich gerade hin.

Straffte meine Schultern.

Noch nie war es mir leicht gefallen, gegen die Regeln zu verstoßen. Seit ich denken konnte, hatte ich das Gefühl, meine Eltern könnten mich nur dann wirklich liebhaben, wenn ich ein gutes, braves Mädchen war. Etwas zu tun, was sie mir verboten hatten, fühlte sich für mich nicht wie der rebellische Akt einer Pubertierenden an.

Es zerriss mich innerlich. Ich hatte immer alles getan, was sie von mir verlangten, und mich ihren Entscheidungen gebeugt, weil es zu mir passte. Ich kannte nur diese glitzernde Welt, in der man in großen Häusern wohnte, von Köchen bekocht, von Dienern bedient wurde und lernte, was eine Dessertgabel war, noch bevor man das Wort aussprechen konnte. Ich kannte nur meinen goldenen Käfig.

Und so unwohl ich mich auch manchmal in meiner Haut fühlen mochte, ich würde kein anderes Leben haben wollen.

All das hier gehörte genauso zu mir und meiner Welt, wie der draufgängerische Percy mit seinen zerrissenen Jeans und der schwarzen Lederjacke.

Es war nicht mein erstes, heimliches Treffen mit ihm. Ich hatte irgendwie geglaubt, mit der Zeit würde es leichter werden, aber das stimmte nicht.

Ich fand es noch genauso schlimm, wie beim ersten Mal, meine Mutter anlügen zu müssen.

Und dennoch … Das, was ich mit Percy hatte, würde ich für nichts in der Welt aufgeben.

Ich nahm all meinen Mut zusammen. „Ich muss mit Jenna etwas für unsere französische Schulgruppe vorbereiten und gehe jetzt“, verkündete ich und hoffte, ihr würde das Zittern in meiner Stimme nicht auffallen.

Wie erwartet, schaute sie nicht einmal von ihrer Zeitschrift auf. „Dire en francais, mon biquet“, hörte ich sie sagen.

Sag es auf französisch.

Ich unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mich niemals meine Herkunft vergessen zu lassen. Eine echte Roux gehörte ihrer Meinung nach in die Heimat und wenn es nur nach meiner Mutter gehen würde, wäre sie längst mit mir zurück nach Albi gezogen.

Ich wiederholte meine Aussage in meiner Muttersprache. Dieses Mal drehte sich meine Mutter sogar ganz leicht zu mir und nickte. „Ne sois pas en retard“, mahnte sie mich, und ich machte einen schnellen Knicks, so wie sie es mir beigebracht hatte.

„Ich komme nicht zu spät“, versicherte ich ihr, dann wandte ich mich so schnell ich konnte von ihr ab, griff nach meiner Handtasche und eilte hinaus.

Länger hätte ich es nicht mehr ausgehalten. Auf meinen Schultern lastete das heiße und unbequeme Gefühl der Schuld.

Doch sobald ich von unserem Grundstück gegangen war und nicht in die Richtung bog, in der Jennas Haus lag, streifte ich meine Schuldgefühle ab und plötzlich war da nur noch eine unglaubliche Leichtigkeit, die mich jedes Mal erfüllte, wenn ich mich mit Percy traf.

Obwohl die Innenstadt hauptsächlich aus Fußgängerzonen bestand, waren einige der umliegenden Straßen gesperrt. Die Busse fuhren sogar extra andere Strecken. Ich war ein wenig überfordert mit der Situation und stieg eine Haltestelle zu früh aus, als ich gemusst hätte, und folgte dann dem Klang der Musik. Vermutlich waren die Straßen wegen der Parade gesperrt worden. Der Festumzug war nicht nur das Highlight des Herbstfestes, sondern des ganzen Jahres. Jeder Verein, der etwas von sich hielt, bastelte schon Monate im Voraus an seinem Umzugswagen. Sogar unsere Schule nahm jedes Jahr an der Parade teil.

Es war ganz großes Kino. Kein Wunder also, das ich auf meinem Weg zum Stadtkern in mehrere begeisterte Gesichter blickte.

Sobald ich näher ans Fest kam, waren diese mir allerdings egal. Ich hatte nur noch Augen für die vielen Attraktionen und Fressbuden mit kandierten Äpfeln und Schoko-Früchten, und die bunten Verkaufsstände. Ich fühlte mich wie Rapunzel, als sie vom Prinzen aus ihrem Turm befreit wurde.

Dennoch verfolgte ich gewissenhaft meinen Weg.

Percy hatte mir eine Karte gemalt, wie ich zum Kürbis kommen würde. In den letzten Stunden hatte ich sie mir so oft angeschaut, dass ich sie bereits auswendig kannte. Bei keinem der Stände hielt ich inne und schaute mich um. Dafür wäre später noch genug Zeit. Mein Herz drängte mich dazu, Percy zu sehen.

Und dann war er plötzlich da, der übergroße Kürbis.

Er stand hinter dem Rathaus und ich konnte seine grüne Spitze schon von Weitem aufragen sehen.

Mein Herz bekam Flügel und schon bei der bloßen Vorstellung, wer dort auf mich wartete, musste ich bis zu den Ohren lächeln. Voller Vorfreude beschleunigte ich meinen Schritt und bahnte mir meinen Weg durch die Menge.

Plötzlich war der große Moment gekommen. Er lehnte mit dem Rücken lässig gegen den Kürbis. Sein Blick ging suchend durch die Menge und blieb an mir haften, als er mich zwischen den Menschen entdeckte. Sein braunes Haar stand in alle Richtungen ab, ansonsten sah er wie eine andere Version seiner selbst aus. Er trug eine dunkelblaue, gebügelte Jeans ohne Löcher, ein weißes Hemd und darüber ein schwarzes, seinen Schultern angepasstes Sakko.

Erst, als er mich auf seine gewohnt schelmische Art angrinste, löste ich mich aus meiner Starre. Wie dumm ich mich doch verhielt … Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich stehengeblieben war.

Leichten Schrittes wollte ich zu ihm gehen. Es fühlte sich an, als würde ich schweben. Als nur noch ein paar Meter uns voneinander trennten, stieß sich Percy vom Kürbis ab und nahm seine Hände aus der Jeanstasche.

Und da passierte es.

„Fabienne!“, hörte ich Jenna de Mâr kreischen und blieb erschrocken stehen. Mit einem lauten Aufprall landete ich auf dem Boden der Tatsachen; in einer Realität, in der niemand etwas von mir und Percy wusste. Nicht einmal meine Freunde.

Wie von der Tarantel gestochen, drehte ich mich in die Richtung, aus der ihre Stimme gekommen war.

Nur den Bruchteil einer Sekunde später tauchte Jenna in meinem Blickfeld auf, ihre beste Freundin Gina Gittner und ihr wortkarges Anhängsel Cho Yang im Schlepptau.

Ich spürte, wie mein Herz kurz aussetzte. Das durfte nicht wahr sein. Ich kam mir unendlich dumm vor.

Die Tatsache, dass hier so viele Leute umherschwirrten, die ich kannte und die meine Eltern kannten, hatte ich völlig außer Acht gelassen.

Wie hatte ich nur so unvorsichtig sein können?

„Jenna!“, keuchte ich und spielte nervös mit meinen Händen herum. „Was machst du denn hier?“

„Das wollte ich dich gerade fragen“, entgegnete Jenna und zwinkerte mir auf eine Art zu, die mich schlucken ließ. „Wer von uns Beiden hat wohl seine Eltern angelogen, um hierher zu kommen?“ Obwohl sie mich angrinste, konnte ich einen unterschwellig bösen Unterton heraushören.

Ich suchte nach einer Möglichkeit, sie und die anderen Beiden schnell wieder loszuwerden.

Allerdings hatte ich noch nie zu den Schlagfertigen gehört. Das war immer Isabels Aufgabe. Sie konnte jeden aus den unterschiedlichsten Situationen heraushauen.

Nur dass sie natürlich nicht in der Nähe war.

Was mich auf eine Idee brachte.

„Wo ist eigentlich Isabel?“, fragte ich und runzelte meine Stirn.

Jennas Grinsen bekam einen Knicks. „Weiß ich nicht“, antwortete sie auf eine Art, die so klang, als wüsste sie es ganz genau.

Ich setzte ein Lächeln auf. Darin war ich besonders gut. „Ach, dann ist sie sicher mit Emma unterwegs“, trällerte ich unbeschwert.

Einen Moment lang sagte keine von uns ein Wort.

Überraschenderweise war es Gina, die unser Schweigen schließlich brach. „Na kommt, ich will jetzt endlich zu diesem Tower, der einen hochwirft und wieder fallen lässt.“

Jenna nickte. „Also dann, Fabienne. Wir sehen uns bei der Halloweenparty. Genieße deine Ferien bis dahin!“

„Bis dann!“, rief ich und winkte ihnen noch hinterher. Als sie von der Menschenmenge verschluckt worden waren, ließ ich mein Lächeln fallen und seufzte erleichtert aus.

Jenna de Mâr war die ungekrönte Königin unserer Schule. Absolut jeder richtete sich nach ihr. Ihr Wort war Gesetz. Sie führte die Goldkinder durch unsere Schule, als wären wir wirklich wichtig. Als wären wir so viel besser als der ganze Rest.

Letztes Jahr hatte sie noch Tommy gehabt, der mit ihr zusammen ganz oben in der schulischen Hierarchie stand. Sie waren die Anführer von uns allen gewesen, wenn man es so ausdrücken wollte.

Seit seinem Tod war sie auf sich allein gestellt. Und so gut sie ihre wahren Gefühle unter ihrem puppengleichen Gesicht auch verbergen konnte, hin und wieder bröckelte die Fassade und ihre Unsicherheit kam zum Vorschein. Sie war auch erst 15 Jahre alt, das durfte man nicht vergessen. Und auf ihren Schultern lastete eine ganze Schule.

Dass Isabel über ihren Kopf hinweg Emma in unsere Gruppe geholt hatte, belastete sie – Auch, oder gerade weil, Isabel sie wegen dem unscheinbaren, tollpatschigen Mädchen schon mehr als einmal versetzt hatte.

Wer nicht dazugehörte glaubte immer, dass die Beliebten ein einfaches Leben hätten. Sie glaubten, wir wären arrogant und würden uns für Menschen einer besseren Klasse halten, weil einige von uns den weniger Beliebten ihren Stand immer wieder klarmachten.

Dass Jenna eine Hausaufgabenhilfe für die Schüler eingerichtet hatte, die erst vor kurzer Zeit nach Deutschland gekommen waren und unsere Sprache daher noch nicht so richtig beherrschten, wusste kaum jemand. Oder dass Dante van Holland und Henrik Benecke eine zweite Basketballmannschaft gegründet hatten, um ihre verstorbenen Freunde zu ehren und Schülern aus den unteren Jahrgängen bereits die Möglichkeit zu geben, in einer Mannschaft zu spielen. Oder dass Ginas Vater im Elternbeirat saß und wenn Ausflüge in Klassen anstanden, in denen viele Kinder aus geldtechnisch weniger bereicherten Familien saßen, großzügig spendete, damit alle mitfahren konnten.

Es gab einige, die uns hassten, weil wir beliebt waren und sie nicht. Was sie dabei grundsätzlich vergaßen, waren die Dinge, die wir für unsere Schule auch taten.

„Was war das denn?“

Ich zuckte erschrocken zusammen und wandte mich an Percy. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich seine Anwesenheit gar nicht bemerkt hatte.

Sein Grinsen war verschwunden. In seinen sturmblauen Augen konnte ich einen leisen Vorwurf sehen.

„Das war Jenna“, murmelte ich und deutete halbherzig in die Richtung, in der sie verschwunden war.

„Ich weiß“, sagte er. „Was ich nicht verstehe, ist, warum du auf einmal ausgesehen hast wie ein verschrecktes Kaninchen.“

Mein Mund öffnete sich, um eine Ausrede zu nuscheln, mir fiel allerdings nichts ein.

Percy griff nach meiner Hand und drückte sie leicht.

„Wie lange müssen wir dieses Versteckspiel noch spielen?“, fragte er leise.

Hinter mir lachte ein Kind laut auf.

Ich hob meinen Blick und schaute ihm in seine Augen. „Gib mir noch ein bisschen Zeit“, murmelte ich.

Einen Moment lang sahen wir einander nur an. Ich wusste nicht, wie lange er diese Art von Beziehung noch aushalten könnte. So oft hatte er mich schon gebeten, seine Eltern kennenzulernen, doch jedes Mal hatte ich eine neue Ausrede parat.

Und dann, als ich schon dachte er würde mich loslassen und gehen, lächelte er, beugte sich zu mir herunter und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

„Ich schätze, ein bisschen Zeit hab ich noch.“

Isabel

„Hübsch hier“, bemerkte Jenna mit einem schweifenden Blick durchs Kaminzimmer.

Überall an den Wänden hingen schwarz-orange Girlanden und auf dem Kaminsims stand ein Kürbis, den Emma zusammen mit ihrer Schwester – ich hatte ihren Namen vergessen – ausgehöhlt und zu einer Fratze geschnitten hatte.

„Emma hat mir bei der Vorbereitung geholfen“, sagte ich, als wäre es eine Nebensächlichkeit, obwohl ich ganz genau wusste, dass es für Jenna das genaue Gegenteil bedeutete.

Sie hasste es zu wissen, dass ich Emma grundsätzlich ihr vorziehen würde. Vermutlich duldete sie Emma auch nur in unserer Mitte, weil sie es sich nicht leisten konnte, die böse Königin zu sein, die einem trauernden Mädchen die Freundschaft verwehrte.

Außerdem musste sogar ich zugeben, wie nahtlos sie sich bei uns eingefügt hatte. Wer nicht wusste, das Emma Gold vor ein paar Monaten noch zum untersten Drittel gehört hatte, hätte sie nicht wiedererkannt. Es fiel ihr noch immer schwer die richtigen Kleider zu tragen, aber sie gab sich Mühe.

Ich schätze, auch ohne es zu erwähnen hatte sie begriffen, dass von uns etwas mehr als ausgewaschene Schlaghosen und alte Shirts mit Aufdruck erwartet wurde.

Und jeder, der auch nur 5 Minuten mit diesem tollpatschigen Lockenkopf verbrachte, musste einsehen, dass sie einfach perfekt zu uns passte. Ihre herzliche, offene Art konnte selbst einen harten Stein erweichen, da war ich mir sicher. Erst kurz vor den Herbstferien hatte sie sich zu einem weinenden Mädchen aus der 5. Klasse gesetzt und sie getröstet.

Sogar Jenna musste zugeben, einen Menschen wie Emma Gold nicht einfach ausgrenzen zu können.

Dennoch rümpfte sie ihre perfekte Nase und wandte sich von dem Kürbis ab, als würde er für all das stehen, was sie ertragen und gegen ihren Willen dulden musste.

Ich unterdrückte den Drang, ihr ins Gesicht zu spucken, indem ich Dante van Holland ansprach.

„Sag mal, seit wann sind Clowns wieder cool?“

Mit einer umschweifenden Handbewegung deutete er auf sein Kostüm. „Das ist ja wohl eindeutig der unheimlichste Clown, den du je gesehen hast!“

„Er hat auch eine Maske“, fügte Henrik hinzu, der als Zombie aufgetaucht war.

„Ein fieses Grinsen und ein bisschen Blut auf einem violetten Overall machen noch lange keinen unheimlichen Clown aus“, witzelte ich abschätzig, wobei mir sein Kostüm einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Ich hasste Clowns.

„Ich finde den Clown ziemlich gruselig“, kommentierte Jenna, die es offensichtlich nicht leiden konnte, nicht im Mittelpunkt zu stehen.

„Deine Teufelin sieht auch ziemlich gut aus“, murmelte Henrik und trotz des dämmrigen Lichts konnte ich sehen, wie er rot anlief. Der Arme hatte sich doch nicht etwa in Jenna verguckt?

Ein Teil von mir wollte ihn unwillkürlich in den Arm nehmen, ihm aufmunternd die Schultern klopfen und sagen, dass andere Mütter auch schöne Töchter hatten.

Der andere, ausgeprägtere Teil von mir lehnte sich innerlich zurück, kramte Popcorn und Cola heraus und wartete gespannt auf den Beginn der Show.

Es klingelte. Fabienne, die bis eben noch zusammen mit Gina und einem Freund von Dante, der ebenfalls in der Basketballmannschaft war, gesessen hatte, stand auf und verkündete im Vorbeigehen, sie würde die Tür öffnen.