Rückkehr nach Sempera - Tatjana Zanot - E-Book

Rückkehr nach Sempera E-Book

Tatjana Zanot

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Beschreibung

Drei Monate sind vergangen, seitdem Daisy wieder in der Menschenwelt gelandet ist. Drei Monate, in denen sie sich danach sehnt, wieder zurück nach Sempera zu gelangen, auch wenn sie sich über das Wiedersehen mit ihrer Pflegemutter Nadja sehr freut. Um eines der bekanntermaßen launischen Weltentore zu finden, geht sie sogar wieder freiwillig zur Schule. Schließlich weiß sie, dass die Wahrscheinlichkeit eines zu finden, außerhalb ihres Zimmers größer ist. Aber welche Rolle spielt dabei das mysteriöse rothaarige Mädchen? Kennt sie vielleicht eine andereMöglichkeit, in die Parallelwelt zu gelangen? Und ist es wirklich eine gute Idee, nach Sempera zurückzukehren, wenn man nicht weiß, was einen dort erwartet?

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Jessica Strang

Stapenhorststraße 15

33615 Bielefeld

ww.tagträumerverlag.de

E-Mail: [email protected]

Buchsatz: Laura Nickel

Lektorat/Korrektorat: Teja Ciolczyk

Umschlagsgestaltung: Asuka Lionera

www.asuka-lionera.de/wordpress/

Bildmaterial: ©Shutterstock.com

Printed in Germany

ISBN: 978-3-946843-40-5

ISBN:978-3-946843-39-9

Alle Rechte vorbehalten

©Tagträumer Verlag 2018

Tatjana Zanot

Rückkehr nach

Für Michèle

Dank Dir konnte Daisy weiter reisen,

als ich es jemals geglaubt hätte.

1

Alte Heimat

Ich stand mitten in meinem Zimmer. Durch meine Vorhänge konnte ich das silberne Mondlicht schimmern sehen. Draußen vor dem Fenster konnte ich zwei Katzen miteinander kämpfen hören, ihr lautes Miauen schrillte in meinen Ohren. Obwohl ich mich als Lasin in eine Großkatze verwandeln konnte, verstand ich die Tiere hier auf der Erde nicht.

Ich stand stocksteif da und horchte weiter, bis ich Nadjas leises Schnarchen vernahm. Sehr gut, sie schlief tief und fest.

Länger wartete ich nicht – ich beugte mich vor und verwandelte mich, beobachtete meine Hände dabei, wie sie zu Tatzen wurden, konnte spüren, wie sich meine Sinne schärften. Gut, dass mein Zimmer groß genug für solche Aktivitäten war.

Die Katzen vor meinem Fenster hielten inne. Sie sahen mich zwar nicht, aber spürten meine Anwesenheit. Trotz zoologischer Ähnlichkeiten sahen sie mich als Feind. Sie hörten auf, miteinander zu kämpfen und rannten davon.

In jeder Nacht, sobald Nadja schlief, verwandelte ich mich einmal in meine Tiergestalt und wieder zurück – nur um sicher zu gehen, dass ich es noch konnte. Solange ich in dem Spiegel in meinem Zimmer das Antlitz der weißen Tigerin sah, wusste ich, dass ich es mir nicht eingebildet hatte. Sempera existierte wirklich, und ich gehörte dorthin.

Drei Monate.

Seit drei Monaten war ich wieder zurück in meinem alten – na ja, in meinem eigentlichen – Leben. Oder sagen wir, zurück in dem Leben, in dem ich aufgewachsen war.

Ja, das traf es ganz gut.

Ich wandte meinen Blick von dem Kalender an meiner Wand ab und richtete mich in meinem Bett auf. Noch erhellte bloß mein dämmriges Nachtlicht mein Zimmer. Ich müsste nur aufstehen, meine Zehen auf das kühle Laminat setzen, den Raum durchqueren und das große Licht einschalten.

Dann könnte der Tag beginnen.

So normal wie jeder andere Tag auch. Ich würde in die Küche gehen und die Schüssel mit Müsli finden, die Nadja immer vorbereitete. Nur Milch müsste ich noch hinzugeben.

Anschließend würde ich zurück in mein Zimmer schlurfen, frische Kleider aus meinem Schrank suchen und mich im Bad frisch machen.

Ein ganz normaler Morgen eben.

Wäre da nicht die Tatsache, dass es für mich keine normalen Morgen mehr gab.

Mit einem Seufzen schlug ich meine Decke zurück und rutschte an den Rand meines Bettes.

Im Schein des Lichts schimmerten meine nackten Beine beinahe golden.

Fast so golden wie das Fell eines Tigers.

Ich schloss meine Augen, atmete tief ein.

So konnte ich ihn sehen; sein Bildnis so lebendig und real wie der Herzschlag in meiner Brust.

Ich drückte meine Finger in die Matratze hinein, um die aufkeimende Sehnsucht zu unterdrücken.

Sehnsucht war ein Gefühl, dem ich nicht nachgeben durfte. Kam doch mit ihr das Erinnern, dicht gefolgt von der Angst, meine Freunde nie wieder zu sehen.

Tief durchatmen, erinnerte ich mich selbst.

Es musste einen Weg geben, zurück nach Sempera zu kommen. Ich war schon einmal versehentlich dort gelandet, da sollte ein zweites Mal doch kein großes Problem darstellen.

Blöd war nur, dass man diesen verflixten Weltentoren nicht trauen konnte!

Vor ein paar Wochen hatte Nadja einen neuen Job angenommen, weshalb sie morgens meistens schon aus dem Haus war, wenn ich aufstand. Ich glaubte ja, dass sie einfach nur möglichst wenig Zeit mit mir verbringen wollte. Immer wieder ertappte ich sie dabei, wie sie mir verstohlene Blicke zuwarf und jedes Mal, wenn ich zu ihr sah, ganz schnell wegschaute, als hätte sie Angst, sich sonst an einer unheilbaren Krankheit anzustecken.

Sie gab sich noch immer Mühe, so war es nicht. Sie sorgte für einen gefüllten Kühlschrank, für Klamotten, für alles, was ein sechzehnjähriges Mädchen so brauchte.

Dennoch war es seit meiner Rückkehr ein Eiertanz zwischen uns.

Ich konnte mich noch gut an jene Nacht erinnern, als mich das Weltentor auf der Straße vor unserem Haus ausgespuckt hatte, als wäre ich ein benutztes Taschentuch. Ungefähr so musste ich in meinem Hochzeitskleid auch ausgesehen haben.

Kurz hatte ich mit dem Gedanken gespielt, einfach abzuhauen. Aber wo hätte ich schon hingehen sollen? In dieser Welt hatte ich keine Freunde. Kein Schloss.

Hier war ich ein Niemand.

Ich meine, ich hatte schon meinen Namen, aber hier hatte er keinerlei Bedeutung für die Gesamtheit. Ich war bloß ein Mädchen in einem Hochzeitskleid mit ein paar Wunden von meinem letzten Kampf.

Mir war nichts anderes übrig geblieben, als meinen Rock zusammenzuraffen und an der Haustür zu klingeln.

In der Annahme, Nadja aus dem Tiefschlaf wecken zu müssen, hatte sie mir überraschend schnell die Tür geöffnet. Erst im Nachhinein hatte ich erfahren, dass sie in den Monaten meines Verschwindens praktisch gar nicht geschlafen hatte.

Diese Vorstellung stimmte mich nach wie vor traurig.

Während ich eine Welt gerettet hatte, von der sie nichts wusste, hatte sie sich die Nächte um die Ohren geschlagen und nach mir gesucht.

Mein schlechtes Gewissen reichte bis heute ins Unermessliche.

Sie hatte mich angesehen, als wäre ich ein Geist.

„Daisy?“, hatte sie geflüstert. Nie würde ich ihre schwache Stimme, eher ein Hauchen, vergessen. „Bist du es wirklich?“

Ich hatte bloß nicken können.

Zu mehr war ich gar nicht fähig gewesen. Als sie schließlich ihre Arme ausgestreckt und mich an sich gedrückt hatte, war ich in Tränen ausgebrochen.

In Sempera hatte ich meine Heimat gefunden. Den Ort, von dem ich herkam. Den Beginn meiner persönlichen Geschichte.

Aber hier, bei Nadja, war mein Zuhause.

Nach all den Strapazen; nach den stundenlangen Märschen, den neuen Bekanntschaften und den vielen Abschieden war ich dorthin zurückgekehrt, wo ich die ganze Zeit hingewollt hatte.

In jener Nacht hatten Nadja und ich lange im Wohnzimmer gesessen, nachdem ich heiß geduscht und mich umgezogen hatte. In der Zwischenzeit hatte sie Tee gekocht.

„Der Tee hier schmeckt echt schlecht, wenn man den intensiven Geschmack aus Sempera gewohnt ist.“

Das waren meine glorreichen ersten Worte an meine Pflegemutter gewesen.

Sechs Monate war ich fort gewesen.

Und das Erste, was aus meinem Mund rutschte, war ein Vorwurf.

Während sie mir von ihrer intensiven Suche nach mir berichtete, hörte ich Nadja aufmerksam zu. Unterdessen sie von diversen Besuchen auf dem Polizeirevier, privat organisierten Suchaktionen und verteilten Vermisstenanzeigen mit meinem Foto erzählte, fragte ich mich unwillkürlich, wieso sich jemand meinetwegen solche Mühe gab.

Anschließend sollte ich von meiner Reise berichten, wobei ich Nadja gut genug kannte, um zu wissen, dass sie meinem Abenteuer kaum Glauben schenken konnte.

An ihrer Stelle hätte ich mir auch nicht geglaubt.

Doch ich hatte keine andere Wahl. Ich musste ihr die Wahrheit erzählen, so unglaubwürdig sie auch klang.

Seitdem war es für uns überraschend schwierig geworden, miteinander umzugehen. Sie glaubte mir nicht, was ich ihr nicht verübeln konnte, und grübelte gleichzeitig darüber nach, was mir tatsächlich widerfahren sein könnte. Und ich wollte einfach nur wieder zurück, mehr über meine Familie erfahren. Wollte zusammen mit Tajo regieren, auch wenn ich mich nicht als Königin sah. Er war in jeder Hinsicht besser für diesen Posten geeignet.

Ich wollte Félia damit aufziehen, wie lange sie und Fou es nicht hingekriegt hatten zusammenzukommen und Dina nach Overyn begleiten, wo sie die beste Ausbildung erhalten würde, die Sempera zu bieten hatte.

Seufzend holte ich mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Es half ja alles nichts. Kein Weltentor würde einfach so auftauchen. Trübsal blasen und mich in meiner persönlichen Höhle verstecken, war zwar sehr daisyhaft, aber nach all meinen Erlebnissen keine Option mehr.

Ich musste rausgehen, ob ich wollte oder nicht. Wenn ich etwas in Sempera gelernt hatte, dann das: Unter allen Umständen weiterleben.

Davon abgesehen, war es draußen viel wahrscheinlicher, über ein Weltentor zu stolpern.

Es war schwierig, vor die Tür zu treten, nach wie vor. Eine Art Wunderheilung, die bewirkte, dass ich nach meinem Trip durch Sempera gar keine Probleme mehr hätte, wäre schön gewesen, aber nicht realistisch. Jeden Morgen, wenn ich das Haus verlassen wollte, musste ich einen Moment innehalten, tief einatmen und mir sagen, dass ich keine Angst zu haben brauchte.

Mit einem Thermobecher Tee bewaffnet – ich hatte mich irgendwie daran gewöhnt – verließ ich um halb acht das Haus. Heute hatte ich mich für Röhrenjeans und einen schwarzen Mantel entschieden.

Es war Montag, der erste Schultag nach den Weihnachtsferien.

Zuhause war mir die Decke auf den Kopf gefallen. Einerseits fiel es mir zwar überraschend leicht in alte Muster zurückzufallen, aber andererseits hatte ich in Sempera Dinge erlebt, die mir noch immer den Atem raubten. Gute wie auch Schlechte.

Ich war noch immer das Mädchen mit Panikattacken. Das konnte ich nicht leugnen.

Jedoch war ich nicht mehr die Version meiner selbst, die sich verstecken wollte.

Deshalb hatte ich mich kurz nach meiner Rückkehr an einer staatlichen Schule mitten im Herzen Hannovers angemeldet.

Selbst wenn ich keinen Weg zurück nach Sempera finden würde, so konnte ich hier immerhin mein Leben neu regeln.

Die Spielkarten waren neu gemischt und verteilt worden – oder so etwas in der Art. Es war zu früh und zu kalt für einen klar denkenden Kopf.

Es gab Menschen, die meinen Wandel nicht nachvollziehen konnten. Meine alte Therapeutin zum Beispiel, der ich nichts von Sempera erzählt hatte. Sie glaubte, ich wäre von zu Hause abgehauen und zeitweilig bei einer Freundin untergekommen, die ich im Internet kennengelernt hatte.

Sie hielt meinen plötzlichen Wunsch, zu einer normalen Schule zu gehen, nicht für sinnvoll. Es kam ihr zu plötzlich vor – was in Anbetracht der Tatsache, dass ich knapp sechs Monate verschwunden war, irgendwie absurd klang.

Einmal fragte sie mich, wieso ich nach so vielen Jahren der Isolation wieder ein Teil der Gesellschaft sein wollte.

Meine Antwort darauf lautete: „Ich bin immer schon ein Teil dieser Gesellschaft. Nur habe ich erst jetzt begriffen, dass ich keine Angst davor haben muss.“

Was ich natürlich dennoch hatte. Wenn ich wusste, dass ich Mathe hatte, verging kein Morgen ohne Panikattacke. Zudem wäre es eine Lüge, wenn ich behaupten würde, dass ich noch nie einen Tag gefehlt hatte. Ich fehlte häufig.

Aber in Sempera hatte ich Kämpfe ausgefochten, die mit diesem hier nicht vergleichbar waren. Ich hatte gar nicht die Wahl gehabt, aufzustehen oder liegen zu bleiben.

Hatte man keine Wahl, machte man einfach weiter. Irgendwie.

Ich sagte ja schon, es fiel mir viel zu leicht, in alte Muster zurückzufallen. Immerhin schaffte ich es im Durchschnitt an mindestens drei Tagen der Woche in die Schule zu gehen.

Das war schon ein großer Fortschritt.

Die Schnelllebigkeit der Stadt störte mich. Überall hetzten Menschen an mir vorbei, schauten dabei auf ihre Armbanduhren oder Smartphones, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich pünktlich zu ihren Terminen kamen.

In den drei Monaten, die ich nun wieder zurück war, fiel mir auf, dass ich viel seltener auf die Uhr schaute, als zuvor. Meist blickte ich einfach zur Sonne und schätzte die ungefähre Zeit ab.

In dieser Welt war man im Jahr 2017 angekommen. Während wir nach neuen Techniken suchten, neue Autos auf den Markt brachten oder den neuen Terror nicht in den Griff bekamen, fragte ich mich immer wieder, wie es jetzt gerade in Sempera war. Hatten meine Freunde den Jahreswechsel auch gefeiert? Gab es in Sempera so etwas wie Weihnachten?

Wie würde sich Anutandie entwickelt haben, wenn ich endlich ein Weltentor fand?

So in Gedanken versunken, bemerkte ich den Fahrradfahrer hinter mir viel zu spät. Mit einem hastigen Sprung zur Seite entging ich nur haarscharf einem Unfall.

Das hätte mir nur noch gefehlt. Ein Krankenhausaufenthalt, bei dem ich ständiger Beobachtung ausgesetzt war.

„Na, das war ja ziemlich knapp, Gänseblümchen!“, hörte ich eine Stimme hinter mir witzeln.

Gespielt genervt drehte ich mich zu dem Jungen um.

„Morgen“, brummte ich augenrollend, was ihn zum Lachen brachte.

Mit seinem Coffee to go Becher deutete er auf meine Thermobecher. „Wieder Tee?“

Ich hob meine Kanne, als würde ich ihm zuprosten. „Echt starkes Zeug!“

Wir lachten und setzten uns gemeinsam wieder in Bewegung.

Sein Name war Julian und er ging in meine Klasse. Wir trafen uns oft ein paar Meter vor dem Schulgebäude und liefen den Rest gemeinsam.

An meinem ersten Schultag im November war er es gewesen, der mir als Erster einen Platz neben sich angeboten hatte.

Julian war einer dieser offenen Menschen, die man einfach gernhaben musste. Sein Lächeln konnte Steine erweichen, da war ich mir sicher. Oft erinnerte er mich an Fou, was mich meistens tröstete, oft aber auch noch trauriger stimmte, als ich ohnehin schon war.

Dennoch war ich dankbar, ihn zu haben. Er war ein Freund geworden, den ich in dieser Welt ganz dringend brauchte.

„Boah, hast du dieses Buch gelesen?“, erkundigte er sich mit einer Tonlage, die darauf schließen ließ, dass er besagtes Buch selbst nicht gelesen hatte. Vermutlich war es ihm heute Morgen auf dem Hinweg erst wieder eingefallen.

„Du meinst Die Leiden des jungen Werthers? Ja, das hab ich gelesen.“

„Streber.“

Ich grinste. Er wusste nicht, dass ich das Buch schon vor zwei Jahren gelesen hatte, weil mir der Lesestoff kurzzeitig ausgegangen war und ich in Nadjas Bücherregal nichts Besseres gefunden hatte.

Wir erreichten den Haupteingang. Wie immer beschleunigte er seinen Schritt und hielt mir, wie ein Gentleman, die Tür auf.

„Danke.“ Instinktiv machte ich einen leichten Knicks, wie Tiece es mir beigebracht hatte, was Julian wie jeden Morgen zum Schmunzeln brachte und von einigen anderen Schülern mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtet wurde.

Ich schluckte, als ich Lenas missbilligenden Blick bemerkte, die mit ihren gackernden Freundinnen im Gang stand.

Sie hatte mich von Anfang an nicht ausstehen können.

Aus mir unerfindlichen Gründen ertappte ich sie immer wieder dabei, wie sie mir bitterböse Blicke zuwarf, als wäre mit meinem Auftauchen in der Schule ein persönliches Vergehen an ihr begangen worden.

So gut es ging, versuchte ich sie zu ignorieren.

Man sollte meinen, einer prophezeiten Auserwählten sollte es leichter fallen, das, was über sie gedacht werden könnte, auszublenden - aber Fehlanzeige.

Am liebsten hätte ich Lena direkt darauf angesprochen, was genau sie gegen mich hatte, aber dazu fehlte mir ehrlich gesagt der Mut.

Haha. Ich hatte in einem Krieg gekämpft, hatte andere Lasins getötet und töten lassen, und traute mich jetzt nicht einmal, mit einem gleichaltrigen Mädchen aus Hannover Tacheles zu reden.

Wenn das mal keine Ironie war.

„Bis gleich“, verabschiedete sich Julian und lief vor, um seine Bücher aus seinem Schließfach zu holen.

Leider war das Glück bei der Wahl meines Schließfaches nicht auf meiner Seite gewesen. Ich hatte eines der unbeliebten aus der untersten Reihe bekommen. Es stand ziemlich nah am Haupteingang, weshalb das Gedränge ein zusätzlicher Negativ-Faktor war.

Seufzend bewegte ich mich durch die Schülermasse und kniete mich vor mein Schließfach. Als ich es öffnete, warf ich einen Blick auf die Aquarellbilder, die ich an die Innenseite der Tür geklebt hatte.

Sie zeigten – natürlich – Tiere. Einen Tiger, zwei Füchse und einen Dachs. Ich hatte sie in einem Kunstbuch von Nadja gefunden und ausgeschnitten.

Unwillkürlich musste ich lächeln.

Meine Freunde. Meine Familie.

Plötzlich spürte ich einen Tritt in die Seite und ehe ich mich versah, fiel ich um. Unsanft knallte ich mit meinem Ellbogen auf, was mir ein leises „Autsch!“ entfahren ließ.

Irgendwer kicherte.

Stirnrunzelnd rappelte ich mich auf, glaubte im ersten Moment noch an ein Versehen.

Schließlich erkannte ich Lena mit ihrem Gefolge, direkt neben meinem Schließfach.

Schnell sprang ich auf, meinen Rucksack noch zwischen den Beinen. „Was sollte das?“, fragte ich, bemüht um einen neutralen Tonfall, es hätte ja immerhin ein Versehen sein können.

Lenas Augen blitzten. „Was denn?“, flötete sie achselzuckend. „Ich kann doch nichts dafür, wenn du dein Gleichgewicht nicht halten kannst.“

Ein Seufzen unterdrückend, zuckte ich stattdessen kapitulierend mit den Schultern. „Okay“, sagte ich und ging wieder in die Hocke, um meine verdammten Bücher zu holen.

Gerade hatte ich alle in meinen Rucksack gesteckt, als Lena mich schon wieder zur Seite schubste. Dieses Mal konnte ich mich allerdings rechtzeitig abfangen.

„Ups!“, kicherte sie, während sie an mir vorbeiging. „Schon wieder! Das solltest du vielleicht mal von deinem Arzt abklären lassen.“

Wut stieg in mir auf. Ehe ich mich versah, war ich wieder aufgesprungen und rief ihr hinterher: „Was zur Hölle ist eigentlich dein Problem?!“

Während Lena mich gekonnt ignorierte, wurde ich gefühlt von dem ganzen Rest der Schülergemeinschaft angestarrt.

Ich schluckte nervös.

Egal, jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Lena!“, schrie ich, damit sie sich auch wirklich angesprochen fühlte.

Sie hielt inne. Ganz langsam drehte sie sich zu mir um. Ihr Gesicht bekam allmählich eine rötliche Färbung.

Es gefiel ihr nicht, in aller Öffentlichkeit an den Pranger gestellt zu werden.

Ha! Schwachstelle gefunden! Muhaha!

Doch gerade, als sie ihren Mund öffnete, um bestimmt etwas Feindseliges zu erwidern, klingelte es zur ersten Stunde und die Menge löste sich in alle Richtungen auf. Mit einem süffisanten Grinsen und einem Blick, der verriet, dass unser persönlicher Kleinkrieg gerade erst begonnen hatte, wandte sie sich von mir ab. Dicht gefolgt von ihren Freundinnen verschwand sie in der Masse.

Wunderbar. Gleich im Unterricht würde ich ihr wieder begegnen.

Meine einzige Zuversicht galt Julian.

2

Die Projektarbeit

In unserer Schule war es so geregelt, dass ein Fach immer in Doppelstunden unterrichtet wurde. Ich setzte mich in die zweite Reihe von vorne, so nah ans Fenster wie möglich. Sollte sich das altbekannte Kribbeln einer drohenden Panikattacke in meinen Fingerspitzen bemerkbar machen, half es mir manchmal, einfach aus dem Fenster zu schauen und mir vorzustellen, an einem anderen Ort zu sein. Auch sonst genoss ich die wärmenden Sonnenstrahlen in meinem Rücken.

Ächzend ließ sich Julian auf dem Stuhl neben mir nieder.

„Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich auf Chemie in den ersten beiden Stunden freue.“

Ich nippte an meinem Thermobecher. „Wahrscheinlich so sehr wie ich.“

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und unser Chemielehrer kam herein. Ich ließ meinen Blick durch die Klasse streifen, neugierig, ob unsere üblichen Pappenheimer wieder zu spät kamen.

Dabei geriet ich ausgerechnet in Lenas Fänge.

Unsere Blicke trafen sich, wie von selbst hob sich einer ihrer Mundwinkel zu einem süffisanten, schiefen Grinsen.

„Ach, es gibt da übrigens etwas, dass du vielleicht wissen solltest“, raunte Julian mir plötzlich zu.

Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte ich mich ihm zu. „Was denn?“

„Also, ich war doch Silvester auf dieser Party ...“, begann er zu erzählen, einen vorsichtigen Blick auf Herrn Ezer gerichtet.

Unwillkürlich rutschte ich näher zu ihm heran. Das war etwas, was ich am Schülerleben besonders mochte: das Miteinander.

Ich meine, ich konnte Lena nicht ausstehen und verstand nicht, warum man seinen Hass so zeigen musste wie sie, aber auch das gehörte irgendwie dazu.

Jahrelang hatte ich genau davon geträumt. Von den Gerüchten, den heimlich zugesteckten Zettelchen, den Klassenfahrten.

Trotz meiner Neugier bemerkte ich, wie Julian für den Bruchteil einer Sekunde zu Lena rüber sah.

„Also, auf der Party, war Lena auch da.“

„Ich hoffe, ihr habt euch in den Ferien alle erholt“, begrüßte Herr Ezer uns. „Wir machen direkt mit einer simplen Wiederholung weiter.“

„Sie war ziemlich betrunken“, fuhr Julian flüsternd fort. „Okay, ich auch.“

„Schlagt bitte Seite 47 in eurem Lehrbuch auf“, rief Herr Ezer dazwischen. Das Rascheln von Seiten begann.

„Komm auf den Punkt!“, raunte ich meinem Freund zu.

„Mhm“, machte er und beugte sich noch etwas weiter zu mir. „Wir haben uns geküsst. Danach hat sie mir ein paar Mal geschrieben, aber ich hab keine ihrer Nachrichten beantwortet.“

Ohne es zu wollen, musste ich plötzlich an Félia denken, und wie eifersüchtig sie damals auf Hilly gewesen war.

Mit einem Mal glaubte ich Lena zu verstehen.

Scheiße.

Die nächsten Stunden verliefen ohne böse Überraschungen. Lena hörte zwar nicht auf, mir unterschwellig höchstwahrscheinlich die Pest an den Hals zu wünschen, aber ich war für den Rest des Tages bereit, sie geflissentlich zu ignorieren.

In der großen Pause setzte ich mich in der Mensa zu Julian und seinen Kumpels.

Einer von ihnen, ein dunkelhäutiger Typ namens Happy – ja, wirklich, er hieß Happy – begrüßte mich mit einem strahlenden Grinsen. „Daisy!“, rief er laut und klopfte vergnügt auf den Tisch. „Lang nicht mehr gesehen!“

Ich rutschte neben Julian auf die Bank. „Liegt vielleicht an den Ferien.“

Ein anderer Freund begann laut zu lachen. „Da hat sie es dir aber gegeben!“, grölte er.

Zur Antwort warf ich ihm einen missbilligenden Blick zu. „Ich habe es niemandem gegeben.“

Jetzt war es Happy, der lachte.

Julian knuffte mich freundschaftlich in die Seite. „Was gibt es denn heute?“

„Gemüsesuppe oder Fischstäbchen mit Kartoffelbrei.“

„Morgen soll es Rinderbraten geben“, verkündete der Vierte im Bunde, dessen Namen ich vergessen hatte.

Der Unverschämte verzog das Gesicht. „Das schmeckt wieder nicht. Manchmal frage ich mich echt, wo die hier ihr Fleisch einkaufen.“

„Oh, diese Frage stelle ich mir schon gar nicht mehr“, sagte ich und dachte an die vielen Mahlzeiten in Sempera, die ich zu mir genommen hatte, ohne zu wissen, woher das Fleisch kam.

Grinsend deutete Happy mit seinem Zeigefinger auf meinen Hals. „Hast du die von deinem Freund?“

Es dauerte einen Augenblick, ehe ich begriff, dass er den silbernen Anhänger meinte, den Félia mir damals zur Hochzeit geschenkt hatte.

Zu meiner Hochzeit … Wie absurd das in dieser Welt klang.

Sachte berührte ich den kühlen Anhänger und schüttelte den Kopf. „Ich hab ihn von meiner besten Freundin bekommen.“

Nach dem hölzernen halben Herz fragte kaum jemand. Da in seine Mitte ein D geschnitzt war, schienen die Meisten anzunehmen, es stünde für mich selbst.

„Sieht hübsch aus“, lobte Happy. „Sieht wertvoll aus.“

An dieser Stelle zuckte ich bloß mit den Achseln. Der Anhänger war aus seltenem, semperischem Silber hergestellt worden, doch das interessierte mich nicht wirklich. Sein persönlicher Wert war mit keiner Währung aufzuwiegen.

„Ey, Gänseblümchen, was machst du eigentlich am Samstag?“, fragte Julian.

„Ich denke, ich werde-“

„Ist mir egal, du musst mal rauskommen“, unterbrach er mich. „Ich habe mir dein soziales Leben als Neujahrsprojekt vorgenommen.“

„Bitte was?“, hustete ich, als hätte ich mich verschluckt.

Er nickte eifrig. „Du bist total verschlossen. Und das werden wir jetzt ändern. Am Samstag treffen wir uns alle bei Happy und du kommst auch.“

Hilfesuchend schaute ich zu Happy rüber, der mir allerdings zuversichtlich zunickte.

Verräter. Dem würde seine Happyness schon vergehen.

„Habe ich noch eine andere Wahl?“, fragte ich vorsichtig.

Julian schüttelte triumphierend den Kopf. „Du willst doch nicht schuld sein, dass ich mein Neujahrsvorhaben nicht erreiche, oder? So etwas macht man unter Freunden nicht.“

Um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, zwinkerte er mir verschwörerisch zu.

Gerade, als ich glaubte, es könnte ein guter Tag bleiben, vernichtete meine Deutschlehrerin all meine Hoffnung auf das kommende zweite Halbjahr.

Es begann etwa zehn Minuten nach ihrem Eintreffen.

Abgesehen von mir hatte niemand das Buch gelesen. Diese Tatsache machte sie so wütend, dass sie uns vermutlich am liebsten direkt von der Schule geschmissen hätte, da ihr dies aber nicht möglich war, musste sie sich etwas anderes einfallen lassen.

„Ihr werdet in Gruppen eine Projektarbeit verfassen. Ihr habt drei Wochen Zeit. Jede Gruppe erarbeitet das Buch. Und: Ich lose die Gruppen aus!“

Auf kleine Zettelchen schrieb sie einzeln unsere Namen, durchmischte sie dann auf ihrem Pult und zog anschließend die Gruppen, die wir jeweils zu dritt bilden sollten.

„Julian Lange!“, rief sie irgendwann, und er zuckte neben mir unwillkürlich zusammen.

„Daisy Demerath!“

Ich atmete erleichtert aus. Julian stupste mich mit seinem Ellbogen an.

„Und last but not least“, brummte unsere Lehrerin und griff nach einem weiteren Zettel, „Lena Berkele!“

Ich sank ein wenig in mich zusammen.

Das war so klar. Klischee hoch Zehn, oder so. Es war doch echt nicht zu fassen, dass mein neues altes Leben einem dämlichen, amerikanischen Teenie Film glich!

3

Das Mädchen aus dem Schloss

Ein paar Tage später wollten wir uns nachmittags bei Julian zu Hause treffen, um die dämliche Projektarbeit vorzubereiten. Meine Lust, die nächsten Stunden ausgerechnet mit Lena zu verbringen, hielt sich allerdings ziemlich in Grenzen.

Nach der Schule brachte ich zunächst meine Sachen nach Hause und tauschte meinen Rucksack gegen eine kleinere schwarze Tasche mit Totenköpfen, die Nadja mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich nahm nur mit, was ich wirklich brauchte: das Buch, einen Block, einen Kugelschreiber, eine Flasche Wasser und mein Portemonnaie.

Anschließend eilte ich wieder zur Bahn.

Während Nadja und ich ziemlich zentral wohnten, lebte Julian mit seinen Eltern etwas außerhalb von Hannover, im Stadtteil Misburg. Er bezeichnete seine Heimat oft liebevoll als Vorort.

Ich war noch nie in diesem Teil der Stadt gewesen. Umso neugieriger beobachtete ich die Häuser, die an der Straßenbahn vorbeizogen.

Am Endpunkt stieg ich aus. Ich hielt kurz inne, um mir einen Überblick zu verschaffen, und blickte in die Richtung, in die ich laut Julian gehen musste. Links von mir war ein Parkplatz, dahinter ein Wald. Rechts von mir ein kleiner Platz, auf dem vielleicht Feste gefeiert wurden. Dahinter konnte ich einen großen Häuserblock erkennen.

Das also war Misburg. Schön war etwas anderes, schätzte ich. Und doch glomm in meiner Magengegend ein eigenartiges Gefühl auf; eine unbestimmte Erinnerung, als wäre ich schon einmal hier gewesen. Früher, bevor die Straßenbahn nach Misburg gekommen war.

Vor meinem inneren Auge tauchte ein anderes Bild auf: Ein schmaler Gang, dort, wo früher der Platz zu meiner rechten gewesen war. Eine Wiese hier, wo sie den Bahnsteig gebaut hatten. Und Bäume, wo sich heute der Parkplatz befand.

Plötzlich wurde ich unsanft an der Schulter gestoßen.

Das Bild, die Erinnerung, verschwand; zurück blieb das hier und jetzt.

Ich schüttelte meinen Kopf, atmete tief ein und aus und setzte mich wieder in Bewegung. Es war nicht unmöglich, dass ich früher schon einmal in Misburg gewesen war. An meine ersten Lebensjahre konnte ich mich kaum erinnern.

An dem Plexiglas, hinter dem die Fahrpläne hingen, war ein Zettel befestigt. Mein Blick schweifte beiläufig hinüber, als ich die Kopien von Klassenfotos zweier Jungen bemerkte.

Neugierig blieb ich stehen und schaute genauer hin.

Einer von ihnen hieß Romeo, der andere Cedric. Nadja hatte mir mal von den beiden erzählt. Sie waren zu einem ähnlichen Zeitpunkt verschwunden wie ich und die Polizei hatte damals angenommen, dass ein Serientäter dahinterstecken könnte.

Als ich wieder auftauchte, musste ich auch vor der Polizei eine Aussage machen. Sie hatten mich ebenfalls nach den Jungen gefragt, aber ich hatte keinen von ihnen jemals zuvor gesehen.

Es war seltsam, dieses Blatt hier zu sehen. Nach ihnen wurde gesucht; da waren noch immer Menschen, die sie vermissten, obgleich sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder zurückkehren würden. Nicht viele hatten das Glück, einfach in einer Parallelwelt wieder aufzutauchen.

Ich holte mein Handy aus meiner Jackentasche, öffnete unser Nachrichtenfenster und las noch einmal Julians Wegbeschreibung durch.

An die Straße gehen.

Okay.

Am Bäcker vorbei zur Ampel gehen.

Okay.

Über die Ampel gehen.

Sollte ich mich an dieser Stelle verarscht fühlen?

An den Geschäften vorbeigehen. Falls du Bock hast, kannst du dir ein Eis bei der Eisdiele kaufen, die sind ganz nett da.

Nee, dafür war es zu kalt.

An der nächsten Straßenecke links einbiegen. Am Ende der Straße rechts. Und diese Straße gehst du einfach so lange entlang, bis du zur Nummer 45 kommst.

Seine Beschreibung prägte ich mir ein, behielt mein Handy aber vorsichtshalber in der Hand. Ich lief an der Eisdiele vorbei bis zur Straßenecke, an der ich links einbog.

Und da stand sie plötzlich.

Wie von einer Tarantel gebissen blieb ich stehen und starrte das Mädchen an, welches mir entgegenkam. Obwohl sie noch gute hundert Meter von mir entfernt war, konnte ich sie erkennen.

Ihr Gesicht würde ich niemals vergessen.

Sie trug ihr rotes Haar offen, wodurch es mich an eine wilde, unordentliche Löwenmähne erinnerte.

Das war das Mädchen aus Auroras Schloss.

Das Mädchen, welches meinen Plan, die böse Hexe zu töten, so unverschämt vereitelt hatte.

Das einfach auftauchte und verschwand, wie es ihm passte.

Wut flammte in mir auf.

„Hey!“, schrie ich ihr entgegen und setzte mich mit geballten Fäusten wieder in Bewegung. Wenn ich schon Aurora nicht hatte vernichten können, so konnte ich mich wenigstens an dem Mädchen rächen.

Sie zuckte zusammen, blieb stehen, und als sie mich entdeckte, riss sie ihre Augen weit auf. Plötzlich machte sie auf dem Absatz kehrt und lief zurück ans Straßenende, wo sie nach links abbog und nicht mehr zu sehen war.

Das könnte ihr so passen!

Ohne darüber nachzudenken, beschleunigte ich ebenfalls meine Schritte und rannte hinter ihr her. Während ich um die Ecke lief, konnte ich gerade noch sehen, wie sie hinter der nächsten Kurve nach links verschwand.

Ich rannte schneller. Dieses Mal würde sie mir nicht entwischen!

Es wäre einfacher, wenn ich mich in meine Tigergestalt verwandeln würde, aber dann würde ich am Ende des Tages vermutlich in einem Zoo landen. Oder eingeschläfert werden. Oder ein netter Tierpfleger verkaufte mich an einen Zirkus.

Dennoch schaffte ich es, zwischen uns ein bisschen Entfernung wieder gut zu machen. Als ich um die nächste Ecke bog, sah ich die Ampel, die zur Polizei führte, und hinter dem Gebäude konnte ich den Wald ausmachen, den ich vorhin schon von der Haltestelle aus gesehen hatte. Das Mädchen hastete gerade an den Polizeiautos vorbei, die neben dem Gebäude standen.

Ich wartete nicht bis die Ampel grün für mich leuchtete, sondern lief einfach über die Straße.

Dabei wäre ich beinahe vor einen roten Smart gelaufen. Der Autofahrer hupte wild und gestikulierte mit seinen Armen – ich lief nach einer Schrecksekunde einfach weiter.

Das Mädchen durfte nicht entkommen. Zu groß war meine Wut. Zu groß war mein Wunsch nach einer Erklärung.

Ich stellte fest, dass man nicht direkt in den Wald einbiegen konnte. Was ich schon zum Waldgebiet gezählt hatte, gehörte noch zum Gelände eines Kindergartens. So schnell ich konnte, lief ich an dem Zaun entlang, bis ich endlich den Weg fand, der für die Spaziergänger gedacht war.

Stadtpark stand dort in einen Stein gemeißelt.

Einen Moment lang verlangsamte ich meinen Schritt und suchte nach ihr. Da entdeckte ich ihr rotes Haar zwischen den kahlen Bäumen.

Sie war langsamer geworden, fühlte sich sicher.

Ihren Fauxpas konnte ich ausnutzen.

Ohne meiner Wut nachzugeben und ihr hinterherzuschreien, beschleunigte ich abermals meine Schritte. Ich beschloss, querfeldein durch den Stadtpark zu laufen, damit sie mich nicht auf den verschlungenen Wegen entdeckte.

Schon immer war ich trittsicherer gewesen als andere. In der Grundschule hatten wir damals eine Projektwoche mit Zirkus als Oberthema. Ich hatte mich nicht getraut, irgendeinen Bereich selbst zu wählen, am Ende war ich beim Seiltanzen eingeteilt worden – und hatte mich überraschend gut angestellt. Ich war kaum hinunter gefallen, konnte schnell auf dem Seil laufen, ohne immer wieder nach unten zu gucken, und schaffte am Ende der Woche als Einzige sogar ein paar einfache Drehungen und Bückungen.

Erst durch Sempera war mir klar geworden, dass dies weniger ein Talent war, sondern vielmehr zu meinen persönlichen Urinstinkten gehörte.

Zu diesen gehörte es auch, dass mich ein kleines bisschen das Jagdfieber ergriff. Meine allzu menschliche Wut verpuffte, zurück blieb ein tierisches Verlangen, das Mädchen einzufangen.

Durch die Bäume hindurch konnte ich sehen, wie das Mädchen schließlich in einen langsamen, sicheren Gang verfiel.

Ein paar Sekunden gab ich ihr noch, in denen sie sich sicher fühlen konnte, und schlich mich in geduckter Haltung an.

Schließlich sprang ich aus dem Gebüsch, über den kleinen Wassergraben, direkt vor sie.

Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen.

„Warte!“, rief ich mit erhobenen Händen, doch trotz meiner beruhigenden Geste klang meine Stimme tief und grollend.

Das Mädchen schüttelte ihren Kopf. Während ich auf sie zuging, trat sie von mir weg. „Du darfst mich nicht anfassen!“, sagte sie klar und deutlich; in ihren Augen konnte ich eine Angst lesen, die ich nicht verstand.

„Ich will nur wissen, was das sollte!“, entgegnete ich brüsk.

Es war, als würden wir tanzen, nur, dass uns hoffentlich keiner beobachtete. Ich ging auf sie zu, sie von mir weg, aber keine von uns rannte einfach los. Aus der Nähe betrachtet, konnte ich ihre grünen Augen erkennen und die kleinen Sommersprossen, die in ihrem Gesicht schimmerten.

Für den Bruchteil einer Sekunde schweiften meine Gedanken ab. Ich befand mich nicht mehr in einem Wald in Misburg, sondern in einem Wald in Sempera, und vor mir stand nicht dieses merkwürdige, fremde Mädchen, sondern meine Freundin Félia.

Meinen Kopf schüttelnd, versuchte ich die Bilder zu vertreiben.

Das Mädchen schüttelte ebenfalls ihren Kopf. „Bitte, lass mich einfach in Ruhe!“

Ich grunzte verächtlich. „Sorry, aber du hast alles versaut! Deinetwegen konnte eine der wohl schlimmsten Hexen aller Zeiten fliehen!“

Die Stimmung kippte. Noch bevor sie sich der Bewegung hingab, ahnte ich, dass sie sich umdrehen und wegrennen wollte, obgleich sie sich sowieso nicht schnell genug von mir entfernen könnte.

Mein Arm schnellte vor. Mit meiner Hand griff ich nach ihrer Hand, hielt sie so fest, ich konnte zurück.

Ihre Augen wurden so groß wie Untertassen. Sie riss ihren Mund auf, um etwas zu sagen, aber da begann es um uns herum schon zu flimmern. Die Welt fing an, sich zu drehen.

4

Es geschah zu einer anderen Zeit

Hoffnung keimte in mir auf. War es vielleicht möglich, dass sich ein Weltentor an einen Menschen heftete?

Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass das Mädchen kein normaler Mensch sein könnte. Warum sonst war sie urplötzlich im Schloss aufgetaucht und vor unseren Augen wieder verschwunden?

Das Mädchen riss sich los. „Spinnst du?“, schrie sie mich an.

Ich blinzelte, öffnete meine Augen. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich sie reflexartig geschlossen hatte.

Ein sanfter Nieselregen benetzte mein Gesicht. Ich schaute mich um.

„Aber … wir sind gar nicht in Sempera!“

Wir standen noch immer auf dem Weg im Stadtpark. Allerdings war es wärmer und die Sonne schien trotz des Nieselregens. Bald würde ein Regenbogen hoch über uns aufragen.

Ich drehte mich um mich selbst. „Was … was war das?“

„Scht!“, machte das Mädchen, umfasste den Taillengürtel meiner Jacke und zog mich ins nächstbeste Dickicht.

„Was, zur Hölle, soll das?“, zischte ich, während sie sich hinter einem umgefallenen Baumstamm duckte.

„Versteck dich, verdammt!“

Da hörte ich Stimmen. Nein, es waren Schreie.

Sie trat mir ans Schienbein und zwang mich damit in die Hocke.

„Was passiert da?“, flüsterte ich ihr zu, doch statt zu antworten, streckte sie sich leicht, um über den Baumstamm hinweg zu blicken.

Ich folgte ihrem Beispiel.

Da war ein Mädchen mit schwarzen Locken, zusammen mit einem Jungen, der mir entfernt bekannt vorkam. Ich brauchte eine Sekunde, um ihn als einen der vermissten Jungs zu identifizieren. Romeo.

„Aber-“ begann ich, als ich merkte, wie die beiden sich hastig fortbewegten. Sie flohen.

Allerdings sah ich nichts, vor dem sie hätten fliehen können. Keinen anderen Menschen, keine Tiere – nichts.

Ich kniff meine Augen zusammen. Entlang des Weges bogen und krümmten sich Gräser am Graben zur Seite, als würde etwas Großes, Schweres über sie hinweg trampeln. „Was zum-?“

„Ein Höllenhund“, antwortete die Rothaarige mit der Löwenmähne neben mir leise. „Eigentlich darf es diese Wesen hier nicht geben. Komm!“

Ohne zu wissen, warum, folgte ich ihr, während sie hinter den beiden anderen herrannte.

Etwa 20 Meter vor uns entstanden plötzlich drei tiefe Kerben in einem Baum, als hätte ein Wolf oder ein sehr großer Hund seine Krallen in die Rinde geschlagen. Wie aus dem nichts wurde kurz darauf ein Ast auf den Gehweg geschleudert.

Wir folgten der Merkwürdigkeit durch den Stadtpark, überquerten eine Straße und drangen in den Wald ein.

Hier wurde die Kraft des unsichtbaren Höllenhundes noch deutlicher. Kleinere Bäume wurden herausgerissen, Äste flogen herum, und in dickeren Baumstämmen hinterließen seine Pranken offensichtliche Kratzspuren.

Plötzlich wurde Romeo zu Boden gerissen und schrie auf.

„Nein!“, hörte ich es neben mir keuchen.

Während der Höllenhund die beiden anderen offensichtlich eingeholt hatte und ihnen gleich den Garaus machen würde, versteckten wir uns weiter im Dickicht und folgten ihnen.

Das Mädchen mit den schwarzen Locken griff nach Steinen und schmiss sie irgendwohin, wo sie den Höllenhund vermutete.

Ich hielt ihr Unterfangen für wenig aussichtsreich.

Als wir ungefähr ihre Höhe erreichten, konnte ich ihr Gesicht sehen.

Das Blut gefror in meinen Adern.

Es war Aurora, nur etwa in meinem Alter. Ich wusste nicht, wie das möglich war; wie konnte eine etwa sechzehnjährige Version von ihr im Misburger Wald auftauchen?

Allerdings wollte ich nicht länger darüber nachdenken. Aus meiner Kehle drang ein tiefes, unheilvolles Knurren.

Ich konnte sie töten, hier und jetzt.

„Hör auf!“, rief das sie dazwischen. „Das ist nicht Aurora!“

Ich blinzelte, wollte ihre Worte nicht wahrhaben.

„Daisy, du musst ihnen helfen!“, flehte sie weiter. „Die anderen hätten schon längst auftauchen und die Bestie verjagen müssen, aber sie kommen einfach nicht!“

Ich verstand nur die Hälfte von dem, was sie sagte.

„Ich kann das Vieh nicht sehen“, entgegnete ich.

Romeo schrie wieder auf, dieses Mal hatte der Höllenhund seinen Arm erwischt.

„Verwandle dich!“, rief sie.

Im Nachhinein hätte ich nicht mehr sagen können, ob es an den Tränen lag, die in ihren Augen glitzerten, oder an ihrer flehentlich zittrigen Stimme, aber ich tat ihr den Gefallen. Es schien ihr so verdammt wichtig. Während ich mich bückte, verwandelte sich mein menschlicher Körper in meine Tigergestalt.

Etwas an meiner Sichtweise veränderte sich. Der Höllenhund blieb zwar nach wie vor unsichtbar, doch jetzt konnte ich die schemenhaften Umrisse seiner Gestalt erkennen; sie glichen Rauchschwaden. Schwefelgeruch stieg mir in die Nase.

Ungeachtet der drohenden Gefahr fühlte es sich unglaublich gut an, wieder in meiner Tierform zu sein. Meine Knochen bewegten sich geschmeidig unter meiner Haut.

„Versuch seinen Nacken zu treffen“, sagte sie. „Dort ist er am empfindlichsten.“

Ich gab ein tiefes Knurren von mir, als ich aus dem Dickicht trat.

Das Mädchen mit den schwarzen Locken schrie auf. Romeo gab ein klägliches „Ach du Scheiße!“ von sich.

Ich konnte beobachten, wie sich der Höllenhund in meine Richtung drehte und ausmachen, wo sich ungefähr seine Schnauze befand.

Er schnappte nach mir und ich sprang zur Seite.

Er versuchte ein zweites Mal nach mir zu beißen, doch erneut wich ich aus.

Ich verstand nicht viel vom Kämpfen. Dafür war damals nicht genug Zeit gewesen. Jedoch versuchte ich, mir das Gefecht als eine Art Tanz vorzustellen.

Die Schritte verstand ich zwar noch nicht ganz, und mir fehlte Fous Kampfgeist, doch glaubte ich, mich nicht ganz so dumm anzustellen. Zumindest schaffte es der Höllenhund nicht, mich zu verletzen.

Allerdings erreichte ich auch nicht seinen Nacken.

Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie das schwarzhaarige Mädchen Romeo stützte und zur Seite zog, fort von mir und dem Höllenhund.

Da kam mir plötzlich eine Idee.

Ich knurrte, um sicher zu gehen, dass der Höllenhund auf mich konzentriert blieb. Dann sprang ich auf einen tief liegenden Ast hinter ihm, krallte mich im Holz fest, suchte nach seinen nebelartigen Umrissen und ließ mich auf ihn fallen.

Obwohl mir klar war, dass das Wesen tatsächlich existierte, war ich dennoch überrascht, als ich auf seinen unsichtbaren Widerstand traf. Ich landete nicht auf dem Boden, sondern auf dem Rücken des Höllenhundes, und hätte uns in diesem Augenblick jemand gesehen, hätte er gedacht, ein weißer Tiger würde durch die Lüfte schweben.

Ich biss dorthin, wo ich seinen Nacken vermutete.

Ein merkwürdiger Laut war zu vernehmen. Es klang wie das Grollen eines nahenden, in Watte gepackten Gewitters.

Der Höllenhund bäumte sich auf und warf sich mit seinem Rücken gegen einen Baum. Mein Körper wurde zwischen ihm und der Pflanze eingequetscht. Sauerstoff wurde aus meiner Lunge gepresst und ich musste keuchen, ehe ich unsanft auf dem Boden landete. Als ich aufblickte, sah ich, wie sich die Bestie von uns entfernte.

Geschafft, der Höllenhund war fort.

Das rothaarige Mädchen tauchte hinter mir auf. „Schnell!“, rief sie, griff mit ihren Armen unterhalb meines Brustkorbs und zog mich ächzend ins schützende Dickicht.

„Geht es dir gut?“, fragte sie. „Der Höllenhund hat dich gerade ziemlich erwischt.“

Geschwächt verwandelte ich mich zurück und versuchte mich aufzurichten. „Mein Rücken tut weh, aber es geht“, gab ich zu.

Kurz danach nahm ich einen seltsamen Knall wahr und schaute neugierig zu den anderen beiden.

Wie aus dem nichts war ein alter Typ mit Bart aufgetaucht. Er trug ein langes, hellblaues Gewand, welches mithilfe einer Kordel an seinem Bauch geschlossen war. An dem Band hingen Kräuterbüschel, die ich nicht benennen konnte.

Sein Anblick ließ mich vermuten, dass er aus einer anderen Welt stammte.

„Das ist ein Gretzmacher“, erklärte das rothaarige Mädchen. „Er wird Romeo gleich mitnehmen.“

Ich zog meine Augenbrauen zusammen. „Woher willst du das wissen?“

„Warte einfach ab.“

Gesagt, getan.

Der Gretzmacher – was auch immer das sein sollte – trat auf die beiden zu. Das Mädchen stellte sich schützend vor Romeo, was der alte Mann nur mit einem missbilligenden Schnalzen quittierte.

„Romeo Christopherus von Meutanien“, sprach er, und ich konnte ganz deutlich die metaphorischen Fragezeichen über dem Kopf des Jungen sehen.

Er schüttelte den Kopf, rutschte auf dem dreckigen Boden zurück, um mehr Abstand zwischen sich und den fremden Mann zu bringen, was ihm jedoch durch seine Verletzungen nicht wirklich gelang.

„Nun denn“, sprach der Gretzmacher, und trat näher an ihn heran. Das Mädchen wollte dazwischengehen, aber der Fremde schubste sie einfach zur Seite. Er streckte seinen Arm nach Romeo aus.

Das rothaarige Mädchen neben mir blieb überraschend ruhig, obwohl der Höllenhund sie eben noch in helle Aufregung versetzt hatte. Es wirkte beinahe so, als kannte sie die Szene bereits, die wir beobachteten.

Romeo wand sich. Da berührte der Gretzmacher ihn an der Schulter. Ein grelles Licht entstand und blendete uns.

Nachdem ich endlich wieder etwas erkennen konnte, waren der Gretzmacher und Romeo fort, nur das Mädchen mit den schwarzen Locken befand sich noch dort. Sie sprang auf ihre Beine und drehte sich suchend um sich selbst, die Panik war ihr deutlich anzusehen. Ihre Körpersprache machte das deutlich.

„Wir sollten gehen“, sagte das rothaarige Mädchen. Als wäre dies ein Stichwort gewesen, griff sie nach meiner Hand, und die Welt um uns herum begann sich zu drehen.

Kurz danach standen wir wieder im Stadtpark, an jener Stelle, an der ich nach ihrer Hand gegriffen hatte. Es war Winter, der Regen hatte aufgehört.

Wir standen einander wortlos gegenüber, als könnten wir nicht fassen, was wir eben erlebt hatten.

Auf mich traf das jedenfalls zu. Ich verstand es nicht. Zudem musste ich immer wieder an das schwarzhaarige Mädchen denken, welches wie Aurora ausgesehen hatte.

„Das war echt krass“, brach ich das Schweigen.

Sie nickte angespannt. „Ich bin übrigens Annie. Annie Winkens.“

„Daisy Demerath, aber das weißt du ja schon.“ Womit mir ein nächster Gedanke kam: „Woher eigentlich?“

Sie nickte in die Richtung, in der ich die Mitte des Stadtparks vermutete. „Lass uns ein Stückchen gehen, okay?“

Wir folgten gemächlich dem Weg, auf dem wir vorher dem Höllenhund hinterhergehetzt waren. Neugierig schaute ich zu dem Baum, in dem die Bestie die Kerben hinterlassen hatte.

Tatsächlich, sie war noch immer zu sehen; allerdings hatten die Witterungen sie verändert. Das Holz am Rand war nicht mehr splitterig, die Rinde hatte sich den neuen Umständen angepasst. Das Innenleben wirkte nicht mehr frisch, sondern gräulich. Der Baum blutete nicht mehr, würde Nadja sagen.

„Ich … ich kann sozusagen durch Raum und Zeit reisen. Es ist eine Übungssache. Meine Tante hat mir beigebracht, meine Zeitsprünge zu kontrollieren - ich werde immer besser darin. Wenn mich allerdings jemand direkt anfasst, sodass sich unsere nackte Haut berührt, löst das einen unkontrollierten Sprung aus und ich nehme den anderen mit.“

Ich runzelte die Stirn. „Eine Zeitreisende, so so.“

Von allen Dingen, die mir in den letzten Monaten widerfahren waren, stellte dies nur noch eine Kleinigkeit dar. Es hätte mich mehr überraschen sollen, dass Zeitreisen keine Erfindung der Filmindustrie waren. Es hätte mich mehr überraschen sollen, dass normale Menschen in der Zeit reisen konnten.

„Mit dem Griff nach deiner Hand habe ich also den Zeitsprung ausgelöst?“

Sie nickte. „Genau. Allerdings kann ich es dir nicht verübeln. In meinem Zeitstrahl ist es gerade einmal zwei Tage her, dass ich im Schloss dazwischen funkte. Es tut mir so unglaublich leid, ehrlich!“

Ich konnte nicht genau sagen warum, aber ich glaubte ihr. Vielleicht lag es an ihrer Entschuldigung, die ungemein ehrlich klang.

„Für mich ist es schon einige Monate her.“

„Ja, das kann gut möglich sein. Was jetzt gerade passiert, ist unser beider tatsächlicher Zeitstrahl, unsere Ist-Zeit. Ungeachtet dessen kann ich auf meinem Zeitstrahl hin und her reisen, da kann es auch mal passieren, dass sich Zeitstrahlen überschneiden. Oder, dass ich in meiner Zukunft, aber in deiner Vergangenheit auftauchte.“

Sie warf mir einen schiefen Blick zu.

„Moment mal“, warf ich nachdenklich ein. „Eben konntest du mich in meiner Tiergestalt berühren, ohne, dass irgendetwas passiert ist.“

„Ein Zeitsprung kann nur passieren, wenn meine Haut die nackte Haut eines anderen, menschlichen Wesens berührt. Eines Artverwandten sozusagen. Tiere kann ich problemlos streicheln, aber ich gebe zu, bis eben wusste ich nicht, dass ich einen Lasin als Mensch nicht berühren darf, in seiner Tiergestalt aber schon.“

„Das heißt, wir hatten gerade einfach nur Glück?“

Sie wirkte etwas verlegen, als ich ihr einen Seitenblick zuwarf.

Plötzlich fiel mir unsere Begegnung damals im Dschungel wieder ein, als sie mir die Amore-Blüte gegeben hatte, mit der ich später Tajo hatte heilen können. Ob sie schon davon wusste?

Ich war mir nicht sicher. Die Version ihrer selbst, in meiner Erinnerung, kam mir magerer und ausgelaugter vor.

Es war wohl besser, einfach nichts zu sagen. Wenn es für sie noch nicht geschehen war, verriet ich wohl möglich eine sehr schlechte Lebensphase, in die sie hineinkommen musste, um über sich selbst hinauszuwachsen, oder so. Vielleicht durfte man auch nicht in das zukünftige oder vergangene Leben eines anderen eingreifen. Puh, mir rauchte jetzt schon der Kopf davon.

„Das klingt anstrengend“, stellte ich stattdessen fest, in der Hoffnung, das Thema in eine andere Richtung lenken zu können.

Annie zuckte mit den Schultern. „Es ist mein Leben. Ich hab mich daran gewöhnt.“ Ein leises Kichern folgte. „Meine erste Zeitreise hatte ich ungefähr mit drei Jahren. Meine Tante war völlig überfordert mit der Situation. Ich weiß noch, dass ich im Wohnzimmer gespielt habe, und dann plötzlich auf einem weiten Feld mitten in Meutanien stand.“

Da klingelte etwas bei mir. „Moment – Meutanien?“

Wir erreichten die Straße. Wortlos kamen wir überein, sie zu überqueren und durch den Wald zu spazieren.

„Du hast sicher schon einmal davon gehört?“, mutmaßte Annie.

„Eine Hexe hat mir einmal eine Karte eurer Welt gezeigt…“

„Anutandie.“

„Ja, genau. Sie zeigte mir Sempera, natürlich, doch auch Meutanien und … ähm … Tandria.“ Eine Idee flammte in mir auf. „Du kannst nach Anutandie reisen? Auf jeden Fall nach Meutanien? Vielleicht auch nach-“

„Erstens: Tandyria. Und zweitens: So funktioniert das leider nicht, Daisy“, erstickte Annie meine Hoffnung im Keim. „Selbst, wenn ich dich nach Sempera bringen könnte, gibt es auch beim Zeitreisen Regeln.“

„So? Gibt es etwa mehrere mit deiner Begabung?“

„Touché.“ Sie rollte mit ihren Augen. „Nein. Also, schon, ich bin nicht die Einzige. Aber viele sind es nicht. Die meisten Zeitreisenden werden im Kindesalter umgebracht.“

Eine merkwürdige Stimmung machte sich breit. Ich wollte wissen, wie sie überlebt hatte, traute mich aber nicht zu fragen. Ich wollte ihr nicht zu nahe treten.

Wir liefen an der Stelle vorbei, an welcher ich mit dem Höllenhund gekämpft hatte; setzten unseren Weg jedoch dieses Mal fort.

„Wie weit sind wir zurückgereist?“

Annie brauchte nicht lange, um zu überlegen. „Letztes Jahr im April. Der Gretzmacher hat Romeo nach Meutanien gebracht und das Mädchen – ihr Name ist übrigens Katja – wurde vom Hexenorden abgeholt.“

„Hexenorden?“, wiederholte ich ungläubig.

„Es gibt allerhand Dinge in Anutandie, von denen du noch nichts weißt“, sagte sie mit einem belehrenden Unterton.

„Okay, erzähl mir von den Regeln der Kunst des Zeitreisens.“

Immerhin musste sie an dieser Stelle kichern. „Es ist nicht möglich, vor oder nach der eigenen Lebenszeit zu reisen“, erzählte sie. „Das heißt, ich kann nur auf meinem persönlichen Zeitstrahl landen.“

„Das bedeutet, du weißt, wann du stirbst?“

Sie schüttelte ihren Kopf, wirkte dabei allerdings etwas traurig. „Nein. Aber meine Energie verringert sich mit jeder Reise.“

„Was? Dann ist es doch besser, wenn du gar nicht mehr herum reist.“

„Wenn ich nicht reise, werde ich krank. Es ist, als wäre ich auf einem kalten Entzug, oder so etwas. Ich kann mich auch nicht stundenlang an einem Ort vor oder nach meiner Jetzt-Zeit aufhalten, das würde zu viel Energie kosten. Ich muss immer zu meiner Ist-Zeit zurückkehren, damit der natürliche Alterungsprozess gewährleistet sein kann. Zumindest ist das die Theorie meiner Tante. Ich erwähnte ja schon, dass die meisten Zeitreisenden im Kindesalter getötet werden. Viele Erfahrungsberichte gibt demnach nicht.“

„Und deine Eltern? Was sagen die dazu?“

„Ich lebe bei meiner Tante“, entgegnete sie reserviert.

Besser nicht weiter darauf eingehen.

„Das klingt gar nicht so toll, wie es in vielen Büchern geschrieben steht“, rutschte es mir heraus.

Sie grunzte. „Es ist eher ein Gendefekt, als eine Gabe.“ Wir gingen einen lang gezogenen Weg entlang. „Eine weitere Regel ist, dass ich mir selbst nicht begegnen darf - oder einem direkten Familienangehörigen, der in meiner Blutlinie vorkommt.“

„Deinen Eltern?“, hakte ich nach.

„Genau.“

Deswegen lebte sie wohl bei ihrer Tante.

Ich wollte sie gerade fragen, ob sie beim Reisen an den Ort gebunden war, an dem sie sich zuletzt befand, als wir eine Straße erreichten. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir auf eine zugegangen waren.

Mit einem Mal war dieses seltsame Gefühl wieder da, welches ich vorhin an der Endhaltestelle verspürt hatte; dieses Gefühl, als wäre ich schon einmal hier gewesen.

Ich stellte mich auf die Mitte der Straße und drehte mich um mich selbst, beobachtete die Bäume und Wege, suchte inständig nach dem Auslöser dieses Gefühls – und fand ihn doch nicht.

„Wo sind wir?“, fragte ich hilfesuchend.

„Am alten Saupark“, antwortete Annie. „Eine Straße im Misburger Wald. In die Richtung kommst du zur Buchholzer Straße und in der anderen Richtung liegt die alte Peiner Heerstraße. Wieso?“

„Ich habe das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein.“

5

Die Suche nach den Wurzeln

Es war dunkel. Ich saß auf der Rückbank eines Autos. Vage konnte ich die nächtlichen Schatten außerhalb des Wagens sehen. Sie versuchten uns Angst zu machen, uns zu fressen; wollten uns verschlucken und nie wieder ausspucken.

Ein Mann saß am Steuer. Er trug einen flauschigen Bart und schaute mit grimmigem Blick auf die Straße.

Sie finden uns.

Seine Stimme war leise und ruhig, aber ich konnte seine Anspannung spüren.

Wortlos drehte sich eine Frau vom Beifahrersitz zu mir um. Sie hatte langes, weißblondes Haar, welches sie zu einem Zopf geflochten hatte. Es schimmerte im hereinfallenden Mondlicht beinahe silbern.

Hab keine Angst, mein Schneehase. Wir bringen dich in Sicherheit.

Wir bogen in eine Straße im Wald ein. Alles in mir sträubte sich gegen den dunklen Weg, den wir einschlugen. Ich wollte schreien: Nein, kehrt um!

Aber die Frau lächelte mich bloß beruhigend an.

Dann gab der Fahrer einen Schrei von sich. Ein lautes Quietschen ging mir durch Mark und Bein.

Im Scheinwerferlicht des ins Schleudern geratenen Autos, konnte ich die Statur eines stattlichen Löwen erkennen.

Schweißgebadet wachte ich auf.

Es war tatsächlich mitten in der Nacht, ich lag jedoch in meinem eigenen Bett. Immerhin etwas.

Bei dem Versuch meinen Herzschlag wieder zu beruhigen, legte ich eine Hand auf meine Brust und zählte laut das Alphabet rückwärts auf.

„Z … Y … X …“

Immer so weiter, bis ich das Gefühl hatte, wieder richtig atmen zu können. Ich griff nach der Wasserflasche, die ich stets neben meinem Bett deponieren musste, weil mein Nachttisch mit Büchern und anderem Zeug vollgestellt war, und trank zwei Schlucke.

Es war mein altbekannter Albtraum gewesen, mit dem Unterschied, dass ich mich seit meinem Besuch in Sempera an immer mehr Details erinnern konnte. Früher waren es nur verschwommene Umrisse gewesen, das Geräusch des fahrenden Autos und die unheilvolle Vorahnung, dass gleich etwas Schreckliches passieren würde.

Dass ich meine Eltern sehen konnte, war neu. Genauso wie der Löwe.

Damit hatte ich die Gewissheit, dass ein Löwenlasin an dem Tod meiner Eltern schuld war.

Warum?

Noch immer hatte ich keine Erklärung dafür, weshalb Aurora so viele Lasins auf ihre dunkle Seite hatte ziehen können.

Ich schaltete mein kleines Nachtlicht ein, schlug meine Bettdecke zurück, krabbelte aus meinem Bett und setzte mich an meinen Schreibtisch. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es kurz nach 5 war. Spät genug, um wach zu bleiben. Ich bekam zwar nicht mehr so häufig Panikattacken, aber diese dauerten noch immer ein bis zwei Stunden an, ehe ich mich wieder beruhigt hatte.

Ich nahm mir ein Blatt Papier, einen Bleistift und zeichnete zur Ablenkung drauf los. Es war nicht so, als hätte ich ein sonderlich großes Talent zum Zeichnen. Ganz im Gegenteil.

Trotzdem dachte ich immer wieder an den Traum. Ich wünschte, ich hätte mich besser an das Gesicht meiner Mutter erinnern können. Stattdessen blieben mir im Wachzustand nur ein verschwommenes Bild und die Gewissheit, meine Haarfarbe von ihr geerbt zu haben.

Gut, dass ich gerade dabei war, meine schwarze Färbung herauswachsen zu lassen.

In mir brannte der Wunsch, mehr über meine Eltern, meine Herkunft zu erfahren. Wer war ich eigentlich?

Die Meisten konnten diese Frage immerhin mit ihrem Namen beantworten, aber ironischerweise hieß ich in Sempera Dasana, und ob es in Anutandie überhaupt Nachnamen gab, wusste ich gar nicht.

In dieser Welt gab es auch niemanden, den ich fragen könnte.

Halt, das stimmte nicht. Es gab immer noch Nadja. Ihr mussten alle Informationen über mich gegeben worden sein, die existierten.

Wie aufs Stichwort hörte ich, wie Nadja leise ihre Zimmertür öffnete, über den Flur schlich und im Bad verschwand. Ich kannte ihre morgendliche Routine in- und auswendig.

Das war meine Chance.

Wie eine Einbrecherin schlich ich aus meinem Zimmer in die Küche, in der ich ihr ein Brot mit Marmelade schmierte und Kaffee kochte.

Das Heißgetränk war gerade bereit, in eine Tasse gefüllt zu werden, als sie im Türrahmen auftauchte.

„Daisy?“, murmelte sie überrascht und blinzelte, als würde ihre Müdigkeit ihr gerade einen fiesen Streich spielen.

Ich goss Kaffee in die Tasse ein und drehte mich mit einem Lächeln zu ihr um. „Live und in Farbe!“

Mit abwartendem Blick nahm sie die Tasse an sich, nippte daran und verzog ihren Mund. „Viel zu heiß!“

„Ist ja auch frisch gekocht!“

Sie nickte wissend und schlurfte zum Esstisch. Nadja war eindeutig kein Morgenmensch.

Nach ein paar Bissen von ihrem Frühstück fragte sie mich vorsichtig: „Ist alles in Ordnung?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hatte einen Albtraum.“

„Oh“, machte sie.

Meine Träume hatten sich verändert. Wenn ich jetzt mitten in der Nacht schreiend aufwachte, lag es meistens daran, dass ich von einem blutigen Kampf geträumt hatte. Manchmal erinnerte ich mich an Tieces Tod. Andere Male träumte ich davon, wie weiße Tiger Tajo in Stücke rissen, weil sie ihn nicht als König akzeptierten.

Nadja konnte mit dieser Veränderung nicht umgehen. Insgeheim glaubte ich, dass sie sich die Panik schiebende, nie aus dem Haus gehende Version von mir zurückwünschte. Die war einfacher zu handhaben, als eine Verrückte, die von einer Parallelwelt faselte.

„Sag mal ...“, begann ich vorsichtig, und sie kaute instinktiv langsamer, als erwartete sie eine neue Hiobsbotschaft. „Ich habe mich gefragt, ob … Weißt du vielleicht irgendetwas über meine Eltern? Oder sonst etwas in diese Richtung?“

Sie kaute gemächlich fertig und dachte darüber nach. Endlich sagte sie mit einem undeutbaren Unterton: „Irgendwie wusste ich, dass diese Frage noch gefehlt hat.“

Sie stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche, ihr Brot war nur halb aufgegessen.

Verwirrt blickte ich ihr hinterher.

Hatte ich etwas Falsches gesagt?

Fühlte sie sich vielleicht angegriffen – oder schlimmer noch – zurückgewiesen?

Ich hörte etwas Rumpeln. Das war noch sonderbarer.

Schon kurz davor, ihr hinterherzugehen, sah ich sie mit einem braunen, abgegriffenen Umschlag zurückkommen.

Während sie sich wieder setzte, reichte sie ihn mir.

„Es gibt leider nicht viel“, entschuldigte sie sich. „Das Jugendamt hatte sowieso schon kaum Informationen über deine Eltern, es muss wohl viel verloren gegangen sein.“

Sie spielte auf die vorherigen Pflegefamilien an, die mich vor ihr aufgenommen und teilweise mehr wie einen Fußabtreter behandelt hatten.

Neugierig öffnete ich den Umschlag und holte ein paar Zettel heraus. Meine Geburtsurkunde. Außerdem eine Kopie der Ausweise meiner Eltern.

Wilhelm und Anna Demerath, hießen sie hier. Staatszugehörigkeit russisch.

Ich grunzte auf. „Ist Demerath nicht griechischer Herkunft?“

„Ich gebe zu, das hat mich schon immer etwas stutzig gemacht“, sagte Nadja und lächelte mir vorsichtig zu. „Da ist auch ein Foto drin.“

Ein Foto!

Aufgeregt legte ich die Zettel auf den Tisch, steckte meine Hand abermals in den Umschlag hinein und zog das Foto heraus.

Es war alt und in der Mitte einmal geknickt, doch es zeigte tatsächlich meine Eltern.

Zum ersten Mal konnte ich sie außerhalb eines Traumes sehen.

Jahrelang hatte ich mich nicht für sie interessiert. Menschen, die ich nicht kannte, brauchte ich nicht hinterherzutrauern. Seit ich wusste, dass so viel mehr dahintersteckte, wollte ich sie kennenlernen. Mir fehlten die Worte, es zu erklären; ich wusste nur, dass ich mehr über sie erfahren musste.

Rechts stand mein Vater, sein Haar war ein paar Zentimeter zu lang und hing ihm in seine eisblauen, gütigen Augen. In der Sonne schimmerte es wie flüssiger Honig. Mit seinem Rauschebart hatte er wenig Königliches an sich, was wohl ganz in seinem Sinne gewesen sein musste.

Er sah nett aus.

Das fiel mir auf. Er sah aus wie ein Mann, zu dem man als kleines Kind gerne rannte, wenn man sich auf dem Spielplatz ein Knie aufgeschürft hatte. Gleichzeitig strahlte er etwas aus – sogar auf dem Foto – dass mir deutlich sagte: Ich bin dein Vater, nicht dein bester Freund. Ich bin immer für dich da, aber du hast meine Regeln zu befolgen.

An seiner Seite lehnte meine Mutter. Sie war einen ganzen Kopf kleiner als er und schmal gebaut, ähnlich wie ich. Ihr weißblondes Haar reichte ihr bis zu den Hüften und lag in einem geflochtenen Zopf, aus dem sich schon die eine oder andere kleine Strähne heraus stahl, über ihrer Schulter. Ihre großen Augen erinnerten mich an das Meer.

Sie wirkte gütig und fröhlich, wie eine dieser Frauen, die barfuß durch ihre Wohnung tanzten und dabei irgendeine Melodie summten, die ihnen gerade in den Sinn kamen.

Gemeinsam hielten sie ein kleines, dickes Baby in einem gelben Kleidchen in ihren Armen. Es trug ein weißes Stirnband um den Kopf, in das irgendjemand die Blüte eines Gänseblümchens hineingesteckt hatte.

Mein Herz wurde schwer.

Sie hatten ihr Zuhause verlassen, um hier ein sicheres Leben zu führen. Hatten ihre Freunde und Familien zurückgelassen, all ihr Hab und Gut, ihren gesellschaftlichen Stand aufgegeben – nur, damit mir nichts geschehen konnte.

In unserer Welt ein Gänseblümchen zu finden, welches ihrer beheimateten Primularis Semper so ähnlich war, musste sich für sie wie ein Hoffnungsschimmer angefühlt haben.

Ein bisschen Heimat in einer gänzlich unbekannten Welt.

Mit der Spitze meines Zeigefingers fuhr ich die Konturen meiner Eltern entlang. „Danke“, sagte ich mit belegter Stimme, ohne zu wissen, ob ich Nadja meinte, oder meine Eltern, weil sie mich so sehr geliebt hatten, dass sie alles für mich aufgegeben hatten.

Nadja, schoss es mir plötzlich durch den Kopf und ich hob meinen Blick.

Sie saß etwas zusammengesunken auf ihrem Stuhl und beobachtete mich. Ihre traurigen Augen bildeten einen starken Kontrast zu dem Lächeln auf ihren Lippen, welches sie aufrecht zu erhalten versuchte.

„Es tut mir leid, dass es so wenig ist“, sagte Nadja ehrlich.

Ich schüttelte den Kopf. „Es ist nicht wenig. Das ist alles, was ich brauche.“

„Du hast nicht eher gefragt“, sagte Nadja, als müsste sie sich verteidigen.

Ich hob meine Augenbrauen. „So war das nicht gemeint.“

Sie seufzte. „Entschuldige, ich bin … überfordert.