Gott ungezähmt - Johannes Hartl - E-Book

Gott ungezähmt E-Book

Johannes Hartl

4,9

Beschreibung

"Wir haben uns das Bild eines gezähmten Gottes gemalt." – Johannes Hartl stellt das Gottesbild unserer Zeit auf den Prüfstand und stellt fest, dass es von dem Gott der Bibel weit entfernt ist: Der Gott der Bibel ist kein tauber, hilfloser Greis. Er ist ein Gott, der allmächtig, ewig und heilig ist; ein Gott, der provoziert, erschreckt und erschüttert. Hartls Botschaft ist klar: "Was man nicht fürchten kann, das kann man auch nicht anbeten." Eine Aufforderung, aus der religiösen Komfortzone auszubrechen und sich von Gott faszinieren zu lassen.

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Der Autor

© Julia Marie Werner

Dr. Johannes Hartl ist Philosoph, Theologe, Speaker und Gründer des Augsburger Gebetshauses. Im Internet erreichen seine Vorträge zu den Themen Sinn, Verbundenheit und Glaube Hunderttausende. Er verbindet Menschen quer über Konfessionsgrenzen hinweg und macht Glaubensthemen relevant und verständlich für heute. Der Autor zahlreicher Bücher füllt als international gefragter Speaker Konferenzsäle mit über 10.000 Zuhörern. Er gilt als einer der einflussreichsten Vermittler zwischen christlicher Spiritualität, Philosophie und Psychologie im deutschsprachigen Raum.

Neuausgabe 2021

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand

Umschlagmotiv: fotana/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN E-Book 978-3-451-82646-7

ISBN Print 978-3-451-03183-0

Inhalt

Vorwort

Prolog

1. Phantomschmerz

Geplantes Leben

Technische Vernunft

Schattenseiten der Aufklärung

Dunkle Ahnung

Die Frage des Lebens

2. Realitätsverlust

Worüber man nicht spricht

Ego auf dem Thron

Bedrohter Narzissmus

Evangelium des Nettseins

Selfie-Kirche

Ausverkauf des Heiligen

Objektiv erhaben

Verlorene Mitte

Weglos in Qadisha

Anfang der Weisheit

Adieu, billiger »Gott«!

3. Priorität

Torheit des Herzens

Gast in einem sonderbaren Restaurant

Mangel an Worten

Kopfwissen

4. Herrlichkeit

Ein selbstvergessener Gott?

Mesusa

Gottes Glück

Ein göttlicher Egoman?

Ehre, dreifaltig

Wovon die ganze Geschichte erzählt

Und zum Dessert der Lobpreis

Ein Brief aus Korallen

5. Prometheus

Wo ist der Haken?

Wider der Titanen Übermut

Lissabon 1755

Die Wurzeln des Misstrauens und das Pendel

Hiobs Botschaft

24

Der Tag, als mein bester Freund starb

6. Tremendum

Die einzige Wahrheit über Gott?

Unbefugt auf heiligem Boden

Gott ist nicht beliebig, sondern heilig

Gott ist nicht relativ, sondern ewig

Gott ist nicht hilflos, sondern allmächtig

Tränen in Riga

Gott ist kein Kumpel, sondern der Richter

Hoffnung für die alte Elisabeth

Kleine Übung

7. Exodus

Begegnung mit der Schönheit

Geheiligt werde

Die Wurzel des Problems

Herzens-Götzen

Der Auszug aus der Sklaverei

Wer du bist und wer ich bin

Vor Sonnenaufgang

Raus aus der Komfortzone!

Anmerkungen

Vorwort

Ein Spiritualitäts-Defi

Es gibt Bücher, die wie Defibrillatoren (umgangssprachlich Defi genannt) im Mainstream der theologischen und spirituellen Literatur unserer Zeit wirken. Das vorliegende Buch von Johannes Hartl zählt dazu. Wie das medizinische Gerät, das mittlerweile in allen öffentlich zugänglichen Gebäuden bereitgestellt ist, verabreicht es gezielte Stromstöße. Verstörend und belebend, biblisch klar und unvermutet zugleich. »Gott ungezähmt« ist eine wohltuende Alternative zu einer verharmlosenden Rede von Gott. Diese macht Gott zum nostalgischen Teddybären unserer Vorstellungen und emotionalen Erwartungen, ermutigt oder ermächtigt aber niemanden zu einer Neuorientierung des Lebens. Ähnlich verhält es sich mit der von Johannes Hartl scharfsinnig kritisierten Wohlfühl-Spiritualität, die letztlich nur ein religiöses Konsumverhalten verfestigt. Von einem Mündigwerden der Töchter und Söhne des einen himmlischen Vaters kann keine Rede sein.

Sich Gott aussetzen

Wir müssen an Gott Maß nehmen – so der Duktus des engagierten Textes – nicht an unseren Sehnsüchten, spirituellen Bedürfnissen und Erwartungen. Wir beobachten doch vielerorts, dass eine nur wohlmeinende, auf eine rasche Harmonie bedachte Spiritualität nicht einzulösen vermag, was sie verspricht. Als Wohlfühlprogramm, das Gott letztlich außen vor hält, verkommt sie rasch zu einer subjektiven Täuschung – auf Dauer weder Trost noch Nahrung für die Seele. Angesichts vielfältiger Verflachungen in der Gottesrede und einer geschmäcklerischen Vermarktung von Spiritualität provoziert die schnörkellose Theologie von Johannes Hartl. Gegen eine zu gefällige Mainstream-Spiritualität spricht das Buch von Gottesfurcht und Anbetung. Gott anbeten! Ein klares Korrektiv zur »Wasmir-guttut«-Verbrämung des Glaubens. Wirkliche Lebensrelevanz erlangt unser Glaube erst dann, wenn wir uns in aller Brüchigkeit und Nervosität heutiger Zeit Gott neu aussetzen.

Zuerst Gott lieben

Die Notwendigkeit einer vielfachen Konversion (Papst Franziskus) ist uns auch aus der globalen Krisen-Debatte bekannt. Es wird keine nachhaltige ökologische Neuorientierung geben können, wenn wir weiterhin unsere überzogenen Wünsche zum Maßstab des Handelns machen. Ähnliches gilt für die Frage nach einer global fairen Verteilung von Gütern und Zukunftschancen. Christliche Spiritualität könnte für alle jetzt anstehenden, lebensnotwendigen Umkehr- und Veränderungsprozesse eine wichtige Rolle spielen. Wenn wir sie in ihrer geistvollen Radikalität ernst nehmen. Es geht nicht zuerst um das eigene Ich, das bedient und versorgt werden muss, sondern um das Du des Nächsten, um das Du der Schöpfung und – Johannes Hartl ruft es uns in Erinnerung – an erster Stelle um das Du Gottes. Zuerst Gott lieben und verherrlichen! Dieses Zuerst erneuert den Herzrhythmus, der für die Zukunft unserer Welt entscheidend sein kann. Mit einem kraftlosen Kammerflimmern dürfen wir uns nicht begnügen. Umkehr ist nötig!

Neue Freiheit wagen

Entscheidend bei der Defibrillation ist der frühestmögliche Einsatz, da die durch das Kammerflimmern hervorgerufene Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff binnen kurzer Zeit zu massiven neurologischen Defiziten führen kann. Dieses Faktum verpflichtet. Auf den Spiritualitäts-Hunger unserer Zeit dürfen wir nicht fahrlässig reagieren. Es braucht im unbestimmten, nervösen Herzflimmern unserer Gesellschaft eine geistvolle Unterbrechung. Und eine neue Herzensbildung angesichts einer vorherrschenden Zerstreutheit in den wesentlichen Lebensfragen. Kritisch zu hinterfragen und zu entthronen sind die vielen »Herzens-Götter«, die uns innerlich besetzen. Wirkliche Freiheit stellt sich erst dann ein, wenn wir Gott als bestimmende Mitte unseres Daseins wählen, als Ziel, Quelle und Fluchtpunkt. In Jesus hat Gott uns definitiv von aller Entfremdung befreit. Lobpreisende Anbetung ist die Antwort darauf – und die entsprechende Haltung zur präventiven Vermeidung aller Zwänge und Ängste, die aus der Anbetung der falschen Götter resultieren.

Persönlich antworten

Ohne das »heilsame Erschrecken vor Gottes Souveränität« verkommt christliche Frömmigkeit doch rasch zu einem religiösen Dekor eines wohlanständigen bürgerlichen Lebens. Johannes Hartl verbirgt in seinen Ausführungen auch nicht sein persönliches Ringen mit den großen Enttäuschungen, die niemandem erspart bleiben, der sich auf den anspruchsvollen Weg mit Gott einlässt. Vor allem der Tod seines besten Freundes Tom, der eine schwangere Frau und ein weiteres Kind zurücklassen musste, hat den Autor zu einem verständnisvollen Zeugen gemacht. Er spricht nicht theoretisch über Gottes tröstende Gegenwart, sondern als jemand, der sich in die herausfordernde Schule Gottes nehmen ließ. Das vorliegende Buch ist ein heilsamer Defi – anregend, inspirierend und lustvoll einladend zu einer persönlichen Beziehung mit Gott selbst.

Ein faszinierender Ausstieg aus der Komfortzone ist dafür notwendig.

Hermann Glettler

Prolog

Berstendes Glas. Die dünnen Scheiben halten dem Druck nicht mehr stand. Das heulende Untier holt uns ein, vor dem wir geflohen waren. Jetzt auch krachend splitternde Fenster aus dem dunklen Gang oben, eingedrückt vom Sturm. Wieder Flucht vor dem Sturm aus dem kalten Gang in den kargen Schlafsaal der Gäste. Die weißen Wände vom flackernden Licht kahler Glühbirnen gelb erleuchtet, die Rucksäcke am Boden. Hier ist noch alles heil. Doch wohin soll man sich legen, wenn jedes der klapprigen Eisenbetten in der Nähe eines Fensters steht? Würden plötzlich klirrend Scherben über das Bett und meinen Kopf schleudern, mitten in der Nacht?

Begonnen hatte es mit einem besorgten Blick auf das Meer. Lange vor Sonnenaufgang aufgestanden hatten Tom und ich unten bei der Feuerstelle zu beten begonnen. Hinter uns die Skiti Hagia Anna, eine kleine Klostersiedlung an der klippenreichen Südostspitze der Halbinsel Athos, dem Staat in Nordgriechenland, der nur aus orthodoxen Mönchen besteht und einer mediterranen Wildnis, in der die Zeit seit Jahrhunderten stehengeblieben scheint. Tagelang waren wir gewandert. Schweigend, betend. Bis heute, dem Abreisetag und dem besorgten Blick auf das Meer: Denn weg kamen wir hier nur mit der Fähre, kein Landweg führt auf den Athos. Oder zumindest kein gefahrloser, frei zugänglicher, bekannter, auf Karten eingezeichneter. Doch die Ägäis zeigte sich an jenem frühen Morgen anders im Dämmerlicht, als ich das Meer je zuvor gesehen hatte. Wellen peitschten schaumgekrönt, Reihe um Reihe. So dicht an- und ineinander, dass Grau sich brodelnd ins Grau stürzt. Eine einzige Gischt, dort weit unter uns. Die Stunden der Dämmerung verstrichen. War es vielleicht ein stürmischer Nachtwind, der mit der aufgehenden Sonne einer sanfteren Brise weichen würde? Pflegt nicht die Brandung sich mitunter morgens zu besänftigen? Trügerische, schnell vernichtete Hoffnung.

Dies war kein stürmischer Nachtwind. Das Meer selbst war aus dem Schlaf erwacht und hatte brüllend sein Haupt erhoben. Es schien unsere Hoffnung auf Beruhigung mit nachlässiger Gebärde zu ignorieren. Berauscht von der eigenen Macht, schien das Meer gerade erst Fahrt aufzunehmen, und zwar gegen uns. Wir, ein knappes Dutzend gestrandeter Besucher. Westler, moderne Weltmenschen, in dieser Wildnis unter ein kleines Vordach geflüchtet. Dort, wo die Fähre anlegen sollte, nur heute gewiss nicht würde. Wir, ein französischer Soldat und sein Kollege, ein italienischer Bauingenieur und ein paar Deutsche. Zunächst wählt jeder seine eigene Strategie der Beruhigung. Ruft zu Hause an. Ruft bei der Hafenbehörde an. Dort wird zwar nur Griechisch verstanden, aber alles lässt sich regeln. Klar, ein Sturm. Doch man hat Pläne, man hat Rückflüge zu erreichen. Für unseren bleibt uns genau noch ein Tag, an dem wir bis nach Thessaloniki kommen müssen. Stattdessen verstreichen die Stunden und der ganze Tag versickert im Warten. Ein kleiner Pick-Up bringt uns schließlich in das Hauptdorf des Athos. Die schmale Straße windet sich höher und höher durch den herbstlichen Wald. Steiler die Klüfte unter und neben uns. Umgestürzte Bäume. Der Sturm fegt durch die Wipfel wie ein achtloser Junge über die Ähren. Seit Kindheitstagen hatte ich keine Angst mehr vor der Natur gehabt. Doch diese entfesselte Gewalt schien auch das kein bisschen zu interessieren. Und sie entließ uns nicht aus ihrem Griff. Auch in Karyes nicht, im Zentrum der Insel, auch dort nicht, wo mehr Menschen wohnen. Drohende Wolken fahren in Schwaden dunklen Rauchs über den aufgewühlten Himmel. Der Regen setzt prasselnd ein und wir flüchten uns in das halbverfallene russische Kloster, das uns dampfende Nudeln in großen Blechtöpfen und ein kurzfristig hergerichtetes Nachtlager beschert. Berstendes Glas an diesem Abend. Berstendes Glas zum sonoren mehrstimmigen Bass russischer Mönchsgesänge. Und nur die Literflasche harzigen Weißweines verhilft in den unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen strahlt der Himmel hell. Frohen Schrittes erreichen wir abermals den kleinen Hafen. Heute geht unser Flugzeug! Wieder versammelt die zwei Franzosen, der Italiener und wir Deutsche. Der Wind hat nachgelassen und die Hoffnung kam mit dem Sonnenaufgang. Endlich, ein Uniformierter. Im brüchigen Englisch erklärt er, es sei unsicher, ob die Fähre heute fahren könne. Man müsse warten. Und so warten wir. Stunde um Stunde. Der Vormittag verstreicht und mit ihm die allerletzte Möglichkeit, vielleicht noch unser Flugzeug zu erreichen. Überall werden die Handys gezückt. Wetterbericht. Anrufe bei der Wetterbehörde, der Fährengesellschaft, der Fluggesellschaft. Fassungslose Blicke. Der Sturm sei doch vorbei! Ja, aber das Meer sei noch zu unruhig. Aber die Wellen wirken doch nicht mehr groß, protestieren wir und fühlen uns ungerecht behandelt. Ob die in der Hafenbehörde überhaupt wüssten, wie wichtig das sei? Wie wichtig die Termine seien, die wir zu erreichen hätten? Der eine hat eine Vorlesung in Medizin zu halten, der andere ein entscheidendes Treffen für ein großes Bauprojekt. »Aber ich muss morgen in Mailand sein!«, oder in München, Paris, Athen. Alternativrouten werden erwogen. Ein Waldarbeiter lässt sich breitschlagen, uns für einige hundert Euro tief in den Wald bis zur Grenze des Athos-Gebiets zu fahren. Von dort könne man es zu Fuß versuchen. Allerdings sei das nicht ungefährlich, immer wieder seien Wanderer tief in diesem unwirtlichen Urwald verloren gegangen. Die Alternative: ein kleines Boot von der anderen Seite der Insel. Doch auch daraus wird nichts: Das Meer sei noch immer zu unruhig. Der Tonfall wird wütender, der Blick des Hafenaufsehers immer gleichgültiger. Vielleicht werde das Seewetter ja noch besser. Aber es sei doch schon besser! Ja, aber wir verstünden einfach nichts vom Meer. Ob es eine Frage des Geldes sei, startet der französische Soldat seinen letzten verzweifelten Versuch. Doch die Hafenbehörde zeigt sich unbestechlich. Und selbst wenn sie bestechlich wäre: Das Meer kann man nicht bestechen. Schreie. Tränen der Wut. Hier lässt sich nichts mit Geld kaufen, mit Verhandeln ändern. Wir sind ausgeliefert und hängen fest. »Wenn aber wieder ein Gott mich schlägt auf dem weinroten Meer, ertragen will ich’s (…), denn schon viele Leiden litt ich und viele Mühen auf den Wogen und im Krieg«, lässt Homer den Odysseus der Göttin Kalypso zum Abschied sagen – ein wenig nachfühlen kann ich dem attischen Helden in seiner Sehnsucht, endlich nach Hause zu kommen. All unsere Pläne von einem Sturm aus der Hand gerissen. In Scherben zu unseren Füßen wie das dünne Fensterglas. Vor uns schlicht die unbeugsame Macht der See. Und wir vor ihr.

Stets liebte ich das Meer. Der Blick in die grenzenlose Weite. Dort, wo die schnurgerade Kimm die Unendlichkeit der Wasserfläche mit der des blauen Himmelsraumes zu verbinden und von ihr scharf zu trennen versteht. Ich liebte den Ozean mit seinen Schätzen. Den Korallen und eiskalten Tiefen. Den schattigen Palmenstränden und dem millionenfachen Glitzern des blendenden Sonnenuntergangs auf den glatten Wogen. Und seit jenen Tagen zwischen Bangen und Hoffen, zwischen ratlosem Warten und mürrischem Sich-Ergeben, seit jenen Tagen im Sturm auf Athos, sage ich: Ich liebe und fürchte das Meer. Das Watt, das mit seiner Weite lockt und mit seinen Mustern und kleinen Geheimnissen im Schlick, und das Watt, in dem man sich tödlich verlieren kann. Die Flut, die jauchzend in die Klippen kracht und Kinder in den Wellen toben lässt, und die, in der man ertrinken kann. Ich liebe und fürchte das Meer. Und nur weil ich es fürchte, staune ich so recht darüber. Ich meine nicht Angst, aber ich habe Respekt davor. Und hätte ich das nicht, so würde ich es nicht kennen. Je mehr man es kennt, desto mehr liebt und fürchtet man es. Und es kennt wohl jener am besten und weiß auch um seine Gefahren, der auf einer Insel lebt. Der vom Meer umgeben ist. Dem der Landweg nicht offensteht. Sein Auge schweift permanent hinaus ins Grenzenlose und er gerät immer wieder ins Staunen. Die frische Brise und die Hoffnung auf neue Ausfahrt ist ihm immer neu, wie der Schrei der Möwe. Zugleich weiß er, womit er es zu tun hat. Selbst der Tauglichkeit des Schiffes und selbst dem Wetterbericht wird er nur bedingt Bedeutung zumessen. Denn er hat schon zu viel gesehen von dem, wie das Meer sein kann. Verschmitzt schüttelt er den Kopf, murmelt sein »wer weiß, wer weiß« und meint damit: Am besten macht man Frieden mit dem Meer, findet sich ab mit Gezeiten, Wetter und Strömungen. Der Mann auf der Insel ahnt: All das wird sich niemals ändern lassen. Und trotzdem liebt er das Meer, obwohl, gerade weil er es auch fürchtet.

Ich liebe und fürchte Gott wie das Meer. Ich staune über Gott wie über das Meer. Früh schon begann ich mit dem Staunen. Doch er ist mir immer größer geworden, so wie das Meer. Das Staunen ist der Anfang der Philosophie, das wussten schon Plato und Aristoteles.1 Doch es ist auch der Anfang des Betens. Dem Betenden wird Gott immer größer. Und er hat mehr zu staunen, mehr zu lieben und – mehr zu fürchten. Denn was man nicht fürchten kann, darüber staunt man nicht recht. Nicht Angst ist gemeint, doch das Spüren, dass da etwas viel Größeres ist als man selbst. Wovor man nicht zittern kann, das kann man nicht anbeten. Das jedenfalls ist die These dieses Buches. Und selbst das, was man aus ganzem Herzen liebt, lässt auch erbeben. Dem Betenden wird all das über Gott klar, so wie dem Fischer von der See. Freilich lebt der Inselbewohner in besonderem Bewusstsein des Meeres. Und so vielleicht der betende Gläubige im Bewusstsein Gottes. Wie von einer anderen Insel mag der erscheinen, wenn er am Festland davon erzählt, was er gesehen hat. Wie einer gar, der Seemannsgarn spinnt. Dessen Geschichten, falls sie wahr sind, von etwas handeln, was unendlich weit weg ist. Weit weg von hier, wo es feste Straßen gibt, Wettervorhersagen und Mobiltelefone. Er wiederum kann sie nicht ernst nehmen, die Einwände derer, die es sich sicher und warm eingerichtet haben auf dem Festland. Ihre trockene Stubenseligkeit.

Er weiß, was er zu fürchten hat. Er weiß am besten: Jeder Kontinent ist vom Wasser umgeben. Und jede Straße, fährst du sie nur lang genug, grenzt an den Ozean. Du kannst ihm nicht ausweichen. Du kannst Gott nicht ausweichen. Keine Chance. Lass dein Handy ruhig stecken. Er ist unbestechlich. Er ist real. Und er ist nicht harmlos. Er ist – ungezähmt.

1.Phantomschmerz

Geplantes Leben

»Klar werde ich zum Meeting nächste Woche kommen, außer ein Sturm hindert mich daran«, ist ein Satz, den man in einem Bürogebäude in Deutschland wohl nicht so oft hören wird. Genauso unerhört klänge die Aussage, man könne ein Projekt für das nächste Jahr nicht mit letztgültiger Sicherheit terminieren, weil ja noch nicht einmal klar sei, ob man bis dahin nicht schon gestorben, in eine schwere psychische Krise geraten oder ein Krieg ausgebrochen sei. Es gibt gewisse Dinge, von denen geht man einfach nicht aus. Obwohl Leiden und Tod in der Menschheitsgeschichte ständige, allgegenwärtige Begleiter sind, verwundert das fassungslose Erstaunen, wenn es das eigene Leben oder das unmittelbarer Mitmenschen bedroht. »Wie konnte gerade mir das passieren«, hallt wieder die gleiche ungläubige Überraschung, die in unseren Reaktionen auf eine Todesnachricht mitschwingt: »Ich kann es nicht glauben, gerade war sie doch noch da!« Das Ungeplante ist nicht eingeplant in unser Leben.

Das ist einerseits auch gut so. Menschen können nicht jeden Tag und jede Stunde im festen Bewusstsein eines möglichen unmittelbar bevorstehenden Unglücks leben. Und wer so lebt, um dessen geistige Gesundheit darf man wohl zu Recht besorgt sein. Doch das grundsätzliche Gefühl der Vorhersagbarkeit und Verlässlichkeit des natürlichen Lebens ist ein überdeutliches Kennzeichen der heutigen westlichen Zeit. So überdeutlich, dass es nähere Betrachtung verdient. Dass ein Sturm – eben nur ein Sturm auf dem Meer – die eigenen Pläne so ohne jedes Achselzucken über den Haufen wirft, versteht ein Mensch besonders wenig, der es gewohnt ist, sein Leben in der Hand zu haben. Und die moderne Welt liefert dem Menschen eine Unmenge von Anlässen, davon auszugehen, das Leben in der Hand zu haben. Wir sprechen von Lebensplanung. Welchen Beruf ich ergreife, wann ich den Arbeitsplatz wechsle, wann ich in Rente gehe und wohin ich in den Urlaub fahre, sind allesamt Gegenstand der eigenen Planung und der eigenen Vorstellungen. Auch ob und wann man Vater oder Mutter wird, ist kalkuliert, dafür gibt es schließlich die Familienplanung.

Für das, was man nicht planen kann, gibt es Versicherungen. Gegen Blitzschlag und gegen Wasserrohrbruch. Welch trügerisches Spiel mit den Worten: Eine »Lebensversicherung« sichert ja eben nicht das Leben vor dem Tod ab, sondern bedeutet in Wahrheit nur, dass jemand Geld bekommt, falls ein Ereignis eintritt, das man nicht verhindern kann. Trotzdem gibt es irgendwie ein gutes Gefühl und suggeriert, man lebe völlig abgesichert. Und wenn etwas nicht funktioniert, wird der Arzt gerufen. Oder der Polizist. Oder der Hausmeister. Oder der Rechtsanwalt oder die Politiker. Denn grundsätzlich erscheint das Leben uns organisierbar. Fragt einer genauer nach, gilt er schnell als Pessimist oder Grübler. Hinterfragt einer die angeblichen Sicherheiten unserer Realität, ist er vielleicht schlicht realitätsfern.

Das grundlegendste Mittel der Orientierung des Menschen in der Welt und seiner Absicherung darin ist die Sprache. Es beruhigt, wenigstens den Namen der Krankheit zu wissen. Die Diagnose heilt nicht, doch der Schrecken ist zumindest etwas geworden, über das man sprechen kann. Das Wort ermöglicht weitere Information. Zwar ändert der Wetterbericht das Wetter nicht, doch zumindest zu wissen, wie es wahrscheinlich wird, lässt die Realität ein wenig planbarer erscheinen. Statistiken über prognostizierte Krankheitsverläufe reihen das Unbegreifliche dieses Einzelschicksals ein in das topographisch erfasste Terrain dessen, was schon andere Menschen erlebt haben und deshalb etwas darüber wissen. Selbst wenn die Statistiken ein düsteres Bild zeichnen: Wir wollen sie kennen. Denn selbst diese Zahlen zu wissen, ist besser als die undurchdringliche Ungewissheit. Freilich: Sie heilen nicht.

Das Vertrauen in menschliche Technik und menschliche Wissenschaft ist groß in unserer Zeit. Und sie gibt uns guten Grund dazu. In den letzten Jahrzehnten wurde das All bereist, das menschliche Genom entschlüsselt, das Higgs-Teilchen und ein Mittel gegen den Herpesvirus entdeckt. Die Welt ist, so könnte man meinen, erforschter, heller und dem Menschen freundlicher geworden. Und daran ist etwas Wahres. Die Errungenschaften der technischen Vernunft sollen an keiner Stelle von jemandem kleingeredet werden, der sich ihrer so fraglos und täglich bedient. Es ist jedoch weise, einschätzen zu können, wo man steht. Um den Weg zu wissen, den man gegangen ist und den, den man nicht kennt. Es ist weise, unterscheiden zu können zwischen dem eigenen Sichtfeld und dem tatsächlichen Horizont. Und es ist weise, zu erkennen, wie weit die Straße führt, auf der man fährt, bevor das Meer beginnt.

Technische Vernunft

Was genau geschieht, wenn der Mensch sich in der Welt orientiert? Was geschieht, wenn ein Wissenschaftler »etwas erforscht«? Im Wesentlichen Zweierlei: Phänomene werden einsortiert und Umgangsweisen mit ihnen werden entwickelt. Das helle Leuchten am Himmel wird »Blitz« genannt und, auf Grund von Messung und Beobachtung, in die Kategorie der elektrischen Phänomene eingeordnet. Wir wissen dann, weil wir um andere elektrische Phänomene wissen, was das Auftreten von Blitzen wahrscheinlich macht. Daraus folgern kann man, dass es sinnvoll ist, einen Blitzableiter an ein Hausdach anzubringen. So orientieren wir uns in der Welt. Ein Blick auf Wikipedia gibt uns Informationen, mit denen wir dann arbeiten können.

Die Frage ist: Was genau wissen wir, wenn wir einen Wikipedia-Artikel gelesen haben? Was genau weiß der Wissenschaftler? Um welche Art von Wissen handelt es sich?

Die technisch-beschreibende Vernunft des Menschen gibt Phänomenen Namen und lehrt, mit ihnen umzugehen. Sie nennt das Leuchten »Blitz« und verwaltet dadurch menschliche Erfahrung. Sie klebt ein Namensschildchen auf den Gegenstand. Doch »kennt« sie den Gegenstand dadurch? Erfasst sie ihn? Kann sie ihn selbst greifen?

Nun, was soll das bedeuten: »Erfasst sie ihn«? Wird hier nicht ein mythisches Irgendwas vorgegaukelt, wo das Licht der Vernunft doch das einzig wirklich Wissbare aussagt? Es ist nun mal ein Blitz. Ja gewiss, doch die menschliche Erfahrung ist mehr als das Wort, mehr als die wissenschaftliche Kategorie. Und wer wirklich einmal einen Blitz erlebt hat, weiß etwas, das der noch niemals weiß, der lediglich in Wikipedia darüber gelesen hat. Max Horkheimer, der Begründer der »Kritischen Theorie«, kritisierte: »Für die jungen Leute von heute ist allein die Wissenschaft wahr, weil sie das Wahre mit dem Exakten verwechseln und daran glauben, dass die einzige Gestalt der Vernunft die ist, die ich instrumentell nenne – und dass sie alle anderen aufhebt«2.

Vernunft besteht nicht nur aus der technischen, aus der »instrumentellen«, wie es Horkheimer sagt.

Wir verdanken ihr zwar unglaublich viel. Alles ist sie jedoch nicht. Das, worum es im menschlichen Leben zuerst und zutiefst geht, ist von ihr noch nicht einmal berührt. Wer ein Mensch ist, weiß was es bedeutet, sich zu verlieben oder wie sich heftiger Schmerz anfühlt: Nichts davon kann durch Worte völlig erfasst und durch wissenschaftliche Beschreibung fassbar gemacht werden.

Schattenseiten der Aufklärung

Die europäische Geistesgeschichte wurde oft mit dem schlichten Motto »Vom Mythos zum Logos« überschrieben. Am Anfang glaubten die Griechen an die olympischen Götter, die Germanen an Wotan und die Angelsachsen an Feen. Doch irgendwann entdeckte man, so jedenfalls beschreibt unsere Geschichte sich selbst, dass das Meer von Gezeiten und nicht von Poseidon regiert werde. Dass die Erde sich um die Sonne dreht und rund ist. Und dass für die Pest weniger der Fluch der Götter, sondern vielmehr Bakterien zur Verantwortung zu ziehen seien. An die Stelle des Halbdunkels des Aberglaubens sind das Licht der Wissenschaft und die Sonne der Vernunft getreten.

Es klingt wie der Gipfelpunkt dieser Entwicklung, wenn Hegel am Ende seiner Berliner Antrittsvorlesung zum Lob der Vernunft anhebt: »Zunächst aber darf ich nichts in Anspruch nehmen, als dies, dass Sie Vertrauen haben zu der Wissenschaft, Glauben an die Vernunft, Vertrauen und Glauben zu sich selbst mitbringen. Der Mut der Wahrheit, Glauben an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung des philosophischen Studiums; der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig erachten. Von der Größe und Macht des Geistes kann er nicht groß genug denken; das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muss sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse bringen.«3

Hegels Worte klingen in der Rückschau wie das Programm für das damals noch junge Jahrhundert. Wenige wissenschaftliche Revolutionen haben das Bewusstsein des modernen Menschen so geprägt wie die wenige Jahre nach Hegel von Charles Darwin entwickelte Lehre von der Entstehung der Arten. Die Vielfalt, Schönheit und Zweckmäßigkeit der gesamten Tierund Pflanzenwelt reduziert auf eine Formel Zufall und Nutzen. Die Wirkung der Evolutionstheorie war eine viel weitere als nur eine auf die Biologie bezogene. Es war die Wirkung einer Entmythologisierung. Die Myriaden von untersuchten Wirbeltieren konnten endlich einer Kategorie und einer Entstehungslinie zugeordnet werden. Ein einfacher wissenschaftlicher Satz brachte das unüberschaubare Chaos der vielfarbigen Arten auf einen Nenner. Auch um die Entstehung des Lebens selbst herrschte nicht länger das »verschlossene Wesen des Universums« mehr, dem Spuk war endlich die Larve vom Gesicht gerissen!

»Der entzauberte Regenbogen« lautet vielsagend der Titel des Evolutionsbiologen und modernen Staratheisten Richard Dawkins. Von wegen Schöpfung! Von wegen Schöpfer! Von wegen Geheimnis! Der Zauber ist gebannt, das Rätsel gelöst: Der Regenbogen ist nichts weiter als sphärisch gebrochenes Licht und die Arten sind von allein gemäß völlig diesseitiger Gesetze entstanden.

Freilich: Auch der Mensch ist eine biologische Art. Ein Primat unter vielen, den gleichen Gesetzen unterworfen. Auch er nur Kohlenstoff. Materie unter Materie. Wer einer unter vielen ist, der ist nicht mehr der Mittelpunkt. Und wo der menschliche Geist sich gerade noch als Allerklärer feiert, findet er sich selbst an der Peripherie wieder. Das All, so wird Anfang des 20. Jahrhunderts klar, ist endlich, aber unsagbar groß. Es herrschen dort so eigenartige Gesetze, dass nicht einmal die vertrautesten Kategorien wie Raum und Zeit irgendwie letztgültig sind. Das All ist den Gesetzen der Thermodynamik unterworfen und auf seinem unaufhaltbaren Weg in den Gravitationskollaps, also das totale Aus. Es ist eigenartig bestellt um den Menschen, der einerseits sein Leben planen und die Welt erklären will, und andererseits plötzlich »seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen«, wie der Zellbiologe und Nobelpreisträger Jacques Monod formuliert. Er müsse »endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen«4.

Doch nicht nur in Physik und Biologie findet der Mensch sich von seinem zentralen Platz verdrängt. Im Jahre 1900 erscheint Sigmund Freuds »Traumdeutung« und läutet den Beginn der modernen Erforschung der menschlichen Psyche ein. Freuds große Entdeckung: das Unbewusste. Der Mensch ist gar nicht nur oder zuerst gelenkt von seiner Vernunft, sondern es sind dunkle, triebhafte Seelenkräfte, die den Menschen leiten. Das Ich, so könnte man überspitzt sagen, ist nicht der Herr im Haus, sondern findet sich dezentralisiert in einem Wesen wieder, das sich selbst zum Rätsel wird.5

Der Versuch der Vernunft also, den Menschen zu erklären, endet mit der Erklärung, dass die Vernunft nicht die Triebfeder menschlichen Strebens sei? Tatsächlich verdichtet exakt diese Vermutung sich auch in den Geisteswissenschaften und der Wissenschaftstheorie mehr und mehr. Es sind die Machtstrukturen der Diskurse, die das lenken, was wir als »wahr« bezeichnen, so die postmoderne Philosophie. Sie schlussfolgert: Die Rede von einer objektiven Vernunft, die alles erklären könne, sei ein gefährlicher Mythos. Doch was tritt an die Stelle der alten Gewissheiten? Macht ab sofort jeder seine Wahrheit selbst?

Dunkle Ahnung

Es ist als würde der Mensch, der ausgezogen war, sich die Welt zu erklären und verfügbar zu machen, auf einmal eingeholt von einer grauenvollen Wahrheit. Es scheint, als trete nur gähnende Leere an die Stelle der alten Mythen. Aus all der modernen Wissenschaft: so viel Erklärung, doch kein Sinn. So viele Sätze, doch keine Antworten auf die tiefsten Fragen. Das Nichts betritt die Bühne. Der Nihilismus, nach Nietzsche der »unheimlichste aller Gäste«, setzt sich an den Tisch. »Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch«, schreibt der amerikanische Physiker Steven Weinberg.6

»Geworfensein« nennt der Philosoph Martin Heidegger diesen Zustand des Menschen.7 In ein Leben geworfen, das ihm rätselhaft ist. Auf einen Tod zugehend, der unausweichlich ist. Mit der Angst konfrontiert, die unbesiegbar ist. Und unbesiegbar scheint die Angst tatsächlich zu sein. Vorhersagbarer sind Wetter, Krankheitsverlauf und Straßenverkehr geworden. Versichert sind wir gegen beinah alles. Doch der Verbrauch von Psychopharmaka gegen Angst und Depressionen verdoppelt sich innerhalb weniger Jahre. Noch niemals gab es eine Generation, in der junge Menschen so viele Möglichkeiten hatten und prozentual so wenig von Krieg, Krankheit, Tod, Hunger und Gewalt direkt bedroht waren. So sicher, das Leben. So frei. So entzaubert.

Doch ist das nicht eine Ahnung? Eine Ahnung davon, dass das Rationale, das Gesicherte und das Logische eben nicht alles ist? Dass es das Unsagbare, das Erschütternde, das völlig Unkontrollierbare gibt? Dass die Tiefen der Welt eben nicht durch die wissenschaftliche Beschreibung erschöpft sind? Oder eine Sehnsucht danach zumindest? Inmitten von Entzauberung: eine Sehnsucht nach dem verlorenen Zauber? Ein Sehnen und Suchen, nach dem … Geheimnis.

Die Frage des Lebens

Es muss ihn wie ein Schlag getroffen haben. Um das Jahr 600 v. Chr. herum beginnt die Geschichte der abendländischen Philosophie. Sie beginnt in Kleinasien und kreist um die Frage, was die Ursubstanz von allem gewesen sei. Und Thales von Milet hatte gelehrt, das Wasser sei der Ursprung von allem. Naheliegend, wenn man am Meer lebt. Und doch ist es wie ein geistiger Dammbruch, als Thales’ Schüler Anaximander erklärt, das »Apeiron« sei der Ursprung von allem. »Apeiros« – grenzenlos – so hatte bereits Homer das Meer genannt. Doch aus der Betrachtung des grenzenlosen Horizonts am Meer erwuchs dem Anaximander eine ganz andere Erkenntnis. Da alles Sein seine Existenz einem anderen Sein verdankt und begrenzt sei, müsse der Anfang allen Seins selbst unbegrenzt und unverursacht sein. Und da jede Definition und Beschreibung schon wieder eine Eingrenzung wäre, schließt er mit logischer Notwendigkeit, dass das »Apeiron« selbst unsagbar und undenkbar sein müsse. Am Anfang der europäischen Philosophie steht die Erkenntnis, dass es das Unbegrenzte gibt. Und das alles andere seine Herkunft und Wertigkeit erst von dorther ableitet. Dass das Land der begrenzten Dinge grenzenlos umgeben sei von einem Meer, das selbst ohne Anfang und Ende ist.8

Wenn Anaximander recht hat, dann steht der Mensch an dieser Stelle vor der wichtigsten Frage seines Lebens. Die Beantwortung dieser Frage wird alles andere beeinflussen. Es ist die Frage, ob es dieses Höchste und Letzte gibt und wie es ist. Es ist die Frage nach Gott. Die Frage nach Gott ist die wichtigste Frage des menschlichen Lebens, die wichtigste Frage der Geistesgeschichte und die entscheidende Frage über den Menschen. Wenn wir die Wichtigkeit dieser Frage völlig erkennen würden, würden alle anderen Fragen in ihrem Licht verblassen. Es ist eine Frage, die einen Großteil unserer alltäglichen Fragen so lächerlich erscheinen lassen würde wie die Frage nach der Speisenfolge des Abendessens, wenn man sich auf der Titanic befindet. Eine Frage, die wichtiger ist als die Frage nach Herkunft, Aussehen, Erfolg und Geld, ja selbst nach Gesundheit und persönlichem Wohlergehen. Es ist die ultimative Frage. Die unausweichliche Frage. Die Frage nach dem Meer rings um unsere Insel. Die drohende, lockende, erschreckende und faszinierende Frage nach Gott. Tausend Phantomschmerzen erinnern den, der sie vergessen hat. Und unsere Welt ist voll davon. Es ist Zeit, sich dem Meer zu stellen.

2.Realitätsverlust

Worüber man nicht spricht

»Und wie denken Sie so über den Tod? Was glauben Sie, wie Sie einmal sterben werden? Lungenkrebs oder doch eher Schlaganfall?«, wäre sicherlich ein ungewöhnlicher Beginn für Smalltalk mit einem Arbeitskollegen, den man in der Straßenbahn trifft. Ungläubige Blicke: Hat er das gerade wirklich gefragt? Es ist ja nicht so, dass man noch nie über den Tod nachgedacht hätte, doch eine solche Frage in einer solchen Situation wirkt einfach völlig indiskret und verstörend. Über so etwas spricht man nicht. Jedenfalls nicht öffentlich, nicht so direkt und jedenfalls nicht jetzt. Doch es geht nicht nur um den Tod allein, auch andere Themen sind im öffentlichen Gespräch tabu. Über die persönlichen finanziellen Verhältnisse eine direkte Frage zu stellen, gälte zwischen flüchtigen Bekannten wohl ähnlich anstößig wie die Frage nach den persönlichen sexuellen Vorlieben.

Nun scheut man sich vielleicht, die obigen Fragen im zwischenmenschlichen Gespräch anzuschneiden, falls es sich