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Unser Leben ist komplex geworden. Wir werden von Erwartungen und Informationen überflutet. Oft sehnen wir uns danach, auszubrechen. An dieser tiefen Sehnsucht setzt Bestseller-Autor Johannes Hartl an und zeigt in einer überraschenden Reise durch verschiedene Disziplinen – Philosophie, Psychologie, Soziologie, Kunstgeschichte und Religion – glasklar auf, was uns verloren gegangen ist. Nicht als Abrechnung, sondern als vorwärtsgewandte Analyse. In drei Prinzipien – Verbundenheit, Sinnorientierung sowie unverzweckte Schönheit – erkennt Hartl die Nährstoffe unseres Lebens. Es geht dabei um ein anderes Leben und ein neues Morgen. Ein tiefschürfendes und interdisziplinäres Sachbuch, das polarisiert und inspiriert. Eine Einladung zu einer neuen Kultur: der Eden Culture. »In welcher Zukunft wollen wir leben? Dies ist ein Buch der feurigen, zornigen Hoffnung, dass ein anderes Leben möglich ist. Ausbrechen. Ankommen.« (Johannes Hartl)
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Seitenzahl: 430
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Johannes Hartl
Eden Culture
Ökologie des Herzens für ein neues Morgen
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Die Bibeltexte sind entnommen aus:
Die Bibel. Die Heilige Schrift
des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutsche Ausgabe
© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005
Umschlaggestaltung: Thomas Lupo/arthelps; Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Julia Maria Werner
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN E-Book Epub 978-3-451-82607-8
ISBN E-Book PDF 978-3-451-82608-5
ISBN Print 978-3-451-03308-7
Prolog
Teil 0: Sehnsucht nach Eden
Einleitung: Unser alter Garten
Alte Mythen
Sehnsucht nach Eden
Eine Reise zu den Ursprüngen
Geheimnis 1: Verbundenheit
Etty und das große Glück
»Die Welt dreht sich nicht um dich«
Waren unsere Großeltern zufriedener?
Vier Feinde der Verbundenheit
Fünf Wege zurück in die Verbundenheit
Geheimnis 2: Sinn
Sechs Eigenschaften von Sinn
Drei aktuelle Probleme
Geheimnis 3: Schönheit
Der große Bruch 1: Entweihungen
Der große Bruch 2: Kult des Funktionalen
Schönheit: wahr und unverzweckt
Schönheit ist objektiv
Sieben Thesen für eine neue Renaissance
Teil 4: Eden Culture
Was man »Sein« nennt
Zwei Lebensmodelle
Die Liebe kennt das Sein
Eine nur allzu bekannte Party
Der große Turm
Gebaut auf Misstrauen
Berühmt und allgegenwärtig: Der Zeitgeist
Die Welt wird neu
Das Herz des Problems
Eine zweite Kindheit
The great reset
Besser als Eden
Epilog
Dank
Über den Autor
Am 12. November 2052 findet sich Jonas in einem Bunker wieder. Im Freien ausgebrannte Autos und ein Hinweisschild auf eine radioaktiv verseuchte Zone. Leute in Militärkleidung. »Willkommen in der Zukunft.« Das ist das Letzte, was er hört, bevor er bewusstlos geschlagen wird.
DARK heißt die Serie, die dieses Bild zeichnet. Sie ist die erste komplett in Deutschland entwickelte »Netflix«-Produktion, international erfolgreich und von Kritiken gelobt. Noch bekannter ist die britische Serie »Black Mirror«. Jede Folge dieser Serie zeichnet ein anderes Bild der Zukunft. Künstliche Intelligenz, die perfekte Paare automatisch zueinander führt. Biotechnik, die in Verbindung mit gespeicherten Daten aus Social-Media-Interaktionen eine verstorbene Person scheinbar weiterleben lässt. Totale Überwachung. Programmierbarkeit des Gehirns. Vollständige und lückenlose Speicherung aller Erinnerungen. Verfolgung von Dissidenten durch Hunde-Kampfroboter.
Das alles ist richtig gut gemacht und positiver als DARK. Doch egal, wie viele Folgen man ansieht, es bleibt ein flaues Gefühl zurück. Soll das wirklich unsere Zukunft sein? Eine technische Welt, in der alles möglich ist? Eine Welt, in der alles beliebig geworden, in der alles sinnlos und hohl ist? Entwurzelte, einsame Menschen im ständigen Kampf in einer hypermodernen, hässlichen Welt? Egal, welcher Filmemacher sich die Zukunft ausmalt: Es sind allesamt Dystopien.
»Willkommen« in der Zukunft?
Um das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, stand ein alter Garten. Er schien mir so groß, dass man sich darin verlaufen konnte. Umfriedet von dichten Hecken barg er zahllose Geheimnisse. Der Geruch der trockenen Thujaäste, unter denen wir uns versteckten, frisch gemähter Rasen im August. Gefühlt endlose Sommerwochen beim Bau eines Baumhauses. Die Bretter legten wir mit Kissen und Decken aus und tranken Cocktails aus Fruchtsäften. Wohnlich und doch wild, das war unser Garten.
Heute, dreißig Jahre später, spielen meine Kinder in dem jetzt noch älteren Garten, wenn sie ihre Großeltern besuchen. Was seinen Zauber eigentlich ausmacht, das hab’ ich mich oft gefragt, besonders, seit wir in der Stadt wohnen. Unser neues Haus steht zwar auch in einem Garten: ein kleines Rechteck in einer Neubausiedlung, abgegrenzt mit einem Metallzaun von den dreißig gleichgeschnittenen Rasenflächen in unserer Reihe. Das ist nicht dasselbe wie der große, alte Garten.
Als meine Eltern unser altes Haus kauften, stand es schon 80 Jahre. Als die Soldaten in den Ersten Weltkrieg zogen, da gab es diesen Garten schon. Vielleicht ist das sein erstes Geheimnis. Er ist so alt. Es gab da eine Fichte, deren Stamm nicht einmal drei Kinder mit ausgestreckten Armen umfassen konnten, und ihre Spitze ragte bis in den Himmel. Ich kann ihn nicht vergessen, den alten Garten, und immer wenn ich an ihn denke, überkommt mich leichte Wehmut.
Dieses Gefühl kennen Sie bestimmt: Opas Wohnzimmer und das Ticktack einer Wanduhr. Das grüne Laminat im Flur der Grundschule und wie das roch. Ein spezielles Essen, sein unnachahmlicher Geruch und Geschmack. Die Gegend, wo man einmal gewohnt hat und wie die Straßen dort aussahen. Und egal, ob es bei Ihnen Wohnzimmer, Laminat, Essen, etwas ganz anderes oder auch wie bei mir ein Garten ist: Unsere Wehmut ist verknüpft mit dem Gefühl, etwas verloren zu haben. Der Garten steht deshalb symbolisch für einen Zustand, in den wir uns zurücksehnen, weil ein Teil von uns weiß, dass wir etwas verloren haben. Genau einem solchen Sehnsuchtsort will sich dieses Buch annähern: einem Ort, der uns daran erinnert, dass das Leben einmal anders war – oder uns zumindest anders schien und auch wieder anders werden könnte. Eine Erinnerung daran, wie wir eigentlich leben wollen. Aber keine Nostalgie, sondern ein Sehnsuchtsort einer Welt von morgen.
Dieses Gefühl des Verlustes ist ein Grundgefühl der Menschheit. Wie ist es sonst zu erklären, dass die Mythen und Legenden so vieler Kulturen die Geschichte der verlorenen Unschuld erzählen? »Aurea prima sata est«, so beginnt die Dichtung von den Menschenaltern in den Metamorphosen des lateinischen Dichters Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.). Und der Satz bedeutet: »Am Anfang gab es ein goldenes Zeitalter.« Dort herrschten Harmonie und Friede und es gab noch keine Städte. »Auch die Erde selbst gab alles von sich aus ohne Zwang, von keiner Hacke berührt noch aufgerissen von irgendwelchen Pflugscharen.«1 Beschrieben werden auch die köstlichen Früchte, die dort wie von allein wuchsen. Mit solchen Vorstellungen steht Ovid durchaus nicht allein. Die Götter des antiken Griechenlands bewohnten der Legende nach Elysion, eine Insel der Seligen, wo sich Gärten voll singender Vögel weit ausbreiten, Bäume blühen und köstliche Früchte wachsen. Im Alten Testament beginnt die Geschichte der Menschheit mit Adam und Eva im Garten Eden – paradiesische Landschaft, genug zu essen, ein Mann und eine Frau, beide nackt.
Sind diese Vorstellungen naiv? In der Tat neigen wir Menschen allgemein dazu, die Vergangenheit zu verklären. So wie ich den Garten meiner Kindheit. Denn paradiesisch war dort natürlich auch nicht alles. Immerhin wurden in eben diesem Garten nicht weniger als zwei (!) meiner geliebten Zwergkaninchen Opfer des Nachbarhunds. Ebenso unklar ist, ob es das goldene Zeitalter je gegeben hat. Doch die Sehnsuchtsbilder lassen sich nicht leugnen. Welche Funktion erfüllen sie? Warum tauchen sie mit solcher Regelmäßigkeit in unserer ältesten kulturellen Überlieferung auf?
Als Geisteswissenschaftler habe ich die Bedeutung solcher Bilder und Metaphern untersucht und glaube: Sie haben uns Existenzielles zu sagen. In ihnen hat sich Menschheitswissen codiert und sie prägen unbewusst unser Denken und Fühlen. Daran haben Aufklärung und Wissenschaft nichts geändert – nur dass uns die lebensfreundlichen Bilder für die Zukunft mehr und mehr fehlen. Nicht ohne Grund:
Die antiken Kulturen hatten eine Idealvorstellung von der Welt und eine Ahnung davon, wie sie eigentlich aussehen sollte. Unsere modernen Geschichten dagegen erzählen uns nur, wie wir nicht leben wollen. Die gruselige Faszination der dystopischen Filme lebt ja davon, dass wir vor der Zukunft erschaudern, die vor uns ausgebreitet wird. Das einzige Problem: Wir arbeiten mit Hochdruck an der Erschaffung genau dieses Zustandes, daran, dass die Dystopie zur Realität wird.
Die dystopischen Filme scheinen zur Realität nicht zu passen: Glaubt man den Zahlen, so wird die Welt nämlich immer besser, die Statistiken zeichnen ein ermutigendes Bild. So hat sich global betrachtet zum Beispiel der Anteil unterernährter Menschen in den letzten vier Jahrzehnten mehr als halbiert. Der Soziologe Thomas Robert Malthus (1766–1834) hatte vorausgesagt, dass das Bevölkerungswachstum zu massenhaftem Aussterben durch Hungersnöte führen werde. Er lag falsch. Denn seit der Industrialisierung werden die Ernten immer besser und die Hungersnöte seltener.
Auch der Wohlstand, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, ist weltweit am Steigen. War bittere Armut für alle, die nicht zur Oberschicht gehörten, vor Beginn der Industrialisierung die Regel, lebten Anfang der Achtzigerjahre noch ca. 40% der Weltbevölkerung in absoluter Armut. Heute liegt dieser Anteil bei nur noch 10%.2
Lust auf weitere gute Nachrichten? Tote durch Katastrophen, Flugzeugabstürze und Kriege sind weltweit ebenso stark am Abnehmen wie die Kindersterblichkeit, die Feinstaubbelastung und die Atomwaffen. Zugenommen haben die Alphabetisierung (seit 1800 von 10% auf heute 86%), der Zugang zu sauberem Trinkwasser (seit 1980 von 58% auf heute 88%), die Schulbildung bei Mädchen, das Überleben bei Kinderkrebs, die Lebenserwartung.3
Betrachtet man die eben vorgestellten Zahlen, hätten wir eigentlich allen Grund zum Optimismus. Nur erleben wir das oft ganz anders. Ein ganz normaler Montagabend auf Instagram. Mein Postfach quillt über von Antworten. »Müde«, »traurig«, »keinen Bock«. Vanessa ist 32 und schreibt, sie fühle sich ausgelaugt und überfordert. All das sind Antworten auf einen Post, in dem ich meine rund 50.000 Follower frage, wie sie sich gerade fühlen. Das ist natürlich nur eine Momentaufnahme, doch nicht die einzige. Seit Jahren veröffentliche ich Vorträge zu ganz unterschiedlichen Themen auf YouTube. Unter all den hochgeladenen Videos wurde eines mit großem Abstand am meisten angesehen. Es trägt den Titel Wenn die Seele weint, und knapp eine Million Menschen haben es gesehen, obwohl es von 2013 und technisch nicht besonders gut gemacht ist. Der Bedarf an Antworten auf dieses Thema ist offensichtlich groß. Geht es so vielen Menschen wirklich schlecht? Und zwar so schlecht, dass sich viele junge Menschen die Frage stellen, ob es ethisch verantwortlich sei, noch Kinder in die Welt zu setzen? »Fortschritts-Paradox« nennt Gregg Easterbrook seine Beobachtung: »In westlichen Nationen leiden zehnmal mehr Menschen unter Depressionen oder anderen dauerhaft negativen Gefühlen ohne spezifische Ursache als noch vor einem halben Jahrhundert. Amerikaner und Europäer haben immer mehr von allem, außer Glück.«4 Das trifft sicher nicht auf jeden Einzelnen zu, doch der Trend ist deutlich.
Seit 1997 hat sich die Zahl der Tage verdreifacht, in denen Arbeitnehmer in Deutschland wegen Depressionen und Angst- oder Belastungsstörungen nicht zur Arbeit gehen konnten, weiß der Psychoreport der DAK für das Jahr 2020.5 Auch bei Jugendlichen sieht es nicht besser aus. Das Robert-Koch-Institut gibt an, etwa ein Drittel der Mädchen und ein Fünftel der Jungen leide unter mehreren psychosomatischen Beschwerden.6 Aber nicht nur das psychische Wohlbefinden scheint abzunehmen. Auch um die Fähigkeit zur Empathie ist es zunehmend schlechter bestellt. Nach einer Metaanalyse von Daten aus 72 Studien zu der Persönlichkeitseigenschaften von nahezu 14.000 amerikanischen College-Studenten hat sich deren durchschnittliche Fähigkeit und Bereitschaft zur Empathie zwischen 1979 und 2009 um 40% verringert.7 Diese alarmierenden Zahlen zeigen, dass etwas fundamental nicht in Ordnung ist. Die langfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie und der höchst belastenden Lockdown-Erfahrungen beginnen wir erst zu erahnen, doch sie haben all diese Trends mit Sicherheit weiter verstärkt. Was nützt es einem Menschen, wenn er immer erfolgreicher oder mächtiger wird, wenn er dabei immer deprimierter und einsamer wird? Und genau das ist offensichtlich der Weg, auf dem wir uns als Gesamtgesellschaft befinden.
Der Blick ist durchdringend. Er pausiert und blickt sein Gegenüber unverwandt an, als müsse er diesem Zeit gewähren, das Gesagte in all seiner Tragweite zu erfassen. Wenn es jemanden gibt, der etwas von Zukunft versteht, dann er: Elon Musk.
Musk ist der Chef von Tesla. Er ist Pionier in den Bereichen Elektromobilität und automatisiertes Fahren und plant den ersten Flug zum Mars. Klingt utopisch, doch das klang es auch, als Musk Mitte der Neunziger die Idee hatte, man könne per E-Mail bezahlen, und PayPal gründete. Im Jahr 2018 sitzt er mit dem YouTube-Star Joe Rogan im Studio, trägt ein schwarzes T-Shirt, auf dem »Occupy Mars« steht, und raucht einen Joint. High ist er nicht, als er schon zu Beginn des Gesprächs lapidar darlegt, welche Zukunft er erwarte. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine werde zu transhumanen Intelligenzen führen, die die Menschheit übertreffen. Das sei keine Frage des Ob, sondern nur des Wann. Maschinen, die von menschlichen Gehirnen gesteuert werden, und Maschinen, die menschliche Gehirne steuern können. Einziges Problem: Die Maschinen werden siegen, da sie unendlich schneller sein werden.
Musks eigene Firma Neuralink ist weltweit führend in der Erforschung der Mensch-Maschine-Technologien. Zehn Jahre lang habe er Politiker vor den kommenden Problemen gewarnt, dann habe er aufgegeben. Nun sehe er der unabwendbaren Herrschaft der Maschinen mehr oder weniger resigniert entgegen.8 Diese pessimistische Sicht teilt auch Richard David Precht in seinem neuesten Buch Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens 9. Er befürchtet ein posthumanistisches Zeitalter, auf das wir zusteuern, obwohl es eigentlich keiner will.10 Die Frage, die Precht jedoch stellt, ist: Was ist der Sinn des Lebens, wenn Roboter und Technik effizienter werden als wir? Und entgegen dem Versprechen des Titels wird das Buch dann etwas vage. Das menschliche Leben selbst sei der Sinn. Noch blasser klingt es bei Elon Musk, auch er findet keine echte Antwort auf das Problem: Es sei abzuwarten, ob die künftig weltbeherrschenden Maschinen etwas an der Menschheit finden würden, das sie als guten Grund gelten ließen, die technisch überwundene Menschheit am Leben zu lassen.
So wie wir die Schimpansen ja auch leben lassen, obwohl wir ihnen überlegen sind. Tatsächlich? Ist es das, was wir Menschen von uns Menschen denken?
Schuld an dem ganzen Schlamassel tragen Technik und Kapitalismus. Jedenfalls dann, wenn man Richard David Precht und vielen anderen Kritikern der Moderne glaubt.11 Gerade unter jungen Leuten populär ist zum Beispiel die Degrowth-Bewegung: Nicht Wirtschaftswachstum, sondern dessen Begrenzung wird als die Lösung betrachtet.12 Doch der menschliche Drang nach Fortschritt ist so alt wie die Menschheit selbst. Und Industrialisierung, Technik und freie Marktwirtschaft haben dazu beigetragen, dass es uns materiell besser geht als je zuvor. Deshalb dürfen sie nicht verteufelt werden.
Die Frage lautet daher nicht, ob Fortschritt gestaltet wird, sondern wie: wie Fortschritt menschlich bleibt. Mich treibt um, wie wir weder naiv noch fortschrittsskeptisch auf die Gegenwart und zukünftige technische Möglichkeiten blicken können und zugleich die Frage nicht aus dem Blick verlieren, welche Art von Fortschritt wir überhaupt anstreben. Zwar bringt die menschliche Vernunft immer neue Erfindungen hervor, zugleich bedeutet Vernunft aber auch, Nein sagen können. Auch die Erkenntnis, dass eine eingeschlagene Richtung falsch ist, ist eine Form des Fortschritts.13
In den letzten Jahren erregte der Begriff der Resonanz Aufsehen. Damit umschreibt der deutsche Soziologe Hartmut Rosa ein gelingendes Verhältnis des Menschen zur Welt. In der Moderne gehe alles immer schneller und man könne auch immer mehr erleben. Doch irgendwie berührt uns all das immer weniger.14 Wer Rosa reden hört, spürt, dass sein Forschen von der Sehnsucht nach einem anderen Lebensmodell getrieben ist. Bei einem gemeinsamen Abend im Restaurant vergaß ich fast das Essen, so engagiert kreiste das Gespräch um die entscheidende Frage: Wie wollen wir stattdessen leben? Rosa meint, dass »uns individuell und kulturell keine Gestalt gelingenden Lebens mehr vor Augen steht«.15 Deshalb seien wir auch kaum imstande, uns ein anderes Leben überhaupt noch vorzustellen oder zu benennen, wie wir nicht leben wollen.
Natürlich ist es immer leichter zu sagen, wogegen man ist. Doch wofür sind wir?
Bei unserem Abendessen konnten wir das natürlich nicht abschließend klären, doch Rosas Konzept der Resonanz hat mich seither begleitet. In Resonanz mit der Welt und anderen Menschen zu leben, berührt zu werden und berührbar zu bleiben – das klingt wirklich viel besser als die kalte, technische Welt von DARK und Elon Musk.
In der Positiven Psychologie gibt es den Begriff Flourishing. Während sich viele klassische psychologische Schulen auf das Heilen seelischer Leiden fokussiert haben, nimmt die Positive Psychologie das in den Blick, was ein Mensch braucht, um ganzheitlich zu gedeihen, aufzublühen. Und natürlich gehört nicht jede neue Erfindung dazu!
Es waren die Vordenker der »Frankfurter Schule«, die nach der Hölle des Zweiten Weltkriegs das Wort von der »Dialektik der Aufklärung« prägten. Aufklärung also als etwas, das Gutes und Schlechtes befördern kann. Der technische Fortschritt des Menschen kann Dinge hervorbringen, die unmenschlich sind. Die Alternative ist aber nicht der Rückschritt, sondern die Besinnung auf das, was Menschsein ausmacht. »Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun«, heißt es in der Vorrede der Dialektik, geschrieben im Jahre 1944.16 Die Hoffnung treibt die Geschichte voran und genau diese Hoffnung gilt es wachzuhalten.
Ein blauer Pulli. Der Blick ist starr, die Stimme bebt. Die einen verehren, die anderen hassen sie. Neutral bleibt kaum jemand, wenn Greta Thunberg spricht. Ihre Worte tragen das Gewicht eines unausweichlichen Schicksals. Keine Bewegung der letzten Jahrzehnte kann es an Prägekraft und Reichweite mit der ökologischen Bewegung aufnehmen.17 Sie hat bewirkt, dass wir komplett anders über den Planeten denken.
Fridays for future lockte Millionen überwiegend junger Menschen auf die Straße, und der Klimawandel wird von einer überwältigend großen Mehrheit als große Bedrohung angesehen. Obwohl ein for im Titel steht, definiert sich die ökologische Bewegung in erster Linie aber als Bewegung gegen etwas: gegen Klimawandel und ökologische Zerstörung. Klar, wir wollen nicht aussterben. Oder doch?
Während alle weitgehend darin übereinstimmen, dass bedrohte Tierarten schützenswert sind, ist das beim Menschen nicht so klar. Denn er ist doch das Problem des Planeten.
Klingt radikal, und ist es auch. »Die Lehrerin Verena Brunschweiger bezeichnet in ihrem Buch Kinderfrei statt kinderlos. Ein Manifest Kinder als das Schlimmste, was man dem Planeten antun könne, und fordert eine Prämie für Kinderlose. Die britische Sängerin Blythe Pepino findet mit ihrer Bewegung Birth Strike, die zur Reproduktionsverweigerung aufruft, bis das Klima gerettet ist, auch in Amerika Anklang.« Und als wohl prominenteste Stimme verkündete Prinz Harry, er und seine Frau Meghan wollten sich der Umwelt zuliebe auf zwei Kinder beschränken.18 »Sich beschränken« – das Kinderkriegen sehen sie also als eine potenziell gefährliche Sache. So wie man nicht zu viel Auto fahren oder zu viel Fleisch essen sollte.
Der blinde Fleck von Teilen der ökologischen Bewegung ist also ausgerechnet der Mensch. Warum wollen viele den Planeten schützen, wenn sie nicht einmal sicher sind, ob das menschliche Leben es verdient, weitergegeben zu werden? Wir brauchen eine neue Ökologie des Menschen. Ansonsten wird die Welt von morgen so sein, wie es die radikale Extinction-Rebellion-Bewegung auf ihrer Homepage klassisch dystopisch ankündigt: »HALLO, DEINE ZUKUNFT SIEHT SCHEISSE AUS.«19
Ich glaube nicht, dass deine, meine und unsere Zukunft scheiße aussieht. Deshalb ist dies ein Buch der Hoffnung – der feurigen und zornigen Hoffnung, die einfach nicht glaubt, dass es kein anderes Leben geben kann! Sie mögen mich einen Träumer nennen? Nun, meinetwegen. Mir scheint, es gibt zu wenig Träume und zu wenig Visionen. Zu viel Pragmatismus. Ein Sich-Abfinden mit einer Welt, von der wir uns nicht einmal mehr sicher sind, ob wir es verantworten können, noch Kinder hineinzusetzen. Ich habe vier Kinder. Als meine Tochter Anna zehn Jahre alt war, spazierten wir durch eine Gasse in der schönen Augsburger Altstadt. Beim Blick auf die historischen Häuser stellte sie mir plötzlich eine Frage, die mich seither nicht mehr loslässt: »Papa, warum sind die alten Häuser alle so schön und die modernen alle nur weiße Betonklötze?« Mit dieser Frage im Kopf begann ich tatsächlich anders auf die Stadt zu sehen. Natürlich ist die Fassade des Renaissance-Rathauses ansprechender als jene der nahe gelegenen Wohnblocks aus den Siebzigerjahren, die alten Handwerkshäuser mit ihren hohen Giebeln und geschnitzten Balken heimeliger als die Bankfiliale gegenüber. Warum das so ist, warum das Frühere tatsächlich freundlicher und schöner wirkt, weiß ich nicht. Doch es liegt etwas Weises in der Frage meiner Tochter, denn sie führt zu der noch wichtigeren: An welcher Zukunft wollen wir bauen? Und woran erkennen wir, dass sie besser ist als das, was wir heute vorfinden? Es wäre fatal, wenn wir diese Frage nicht stellen würden.
Dieses Buch ist beseelt von der Überzeugung, dass es eine gute Zukunft für die Menschheit gibt – und dass Menschen etwas sind, was Maschinen niemals sein werden. Um dieses Menschliche gilt es zu kämpfen. Dieses Menschliche braucht Visionen und ein klares Leitbild – noch dringender als wirtschaftliches Wachstum oder Schutz der Natur. Denn es gibt Ressourcen des Menschlichen, deren Zerstörung mindestens so gefährlich ist wie der Klimawandel. Ihn kann man nicht leugnen, das wäre ignorant und fatal. Wenn nach der internationalen Studie European Perceptions of Climate Change (EPCC, 2016) 16% der Befragten in Deutschland den Klimawandel anzweifeln, dann ist das besorgniserregend. Zugleich aber ist auch evident, dass ein nachhaltiger Umgang mit Wasser und Luft allein uns auch nicht retten wird, wenn das ausstirbt, was uns als Menschen ausmacht. Auch in einer CO2-neutralen Welt kann das menschliche Herz ersticken.
Doch so müssen wir nicht leben. So wollen wir nicht leben. Wir brauchen eine neue Ökologie, die über die Ökologie des Menschen noch hinausgeht: die Ökologie des Herzens. Ihr begegnen wir in den Mythen und Bildern, die uns an das erinnern, was Menschsein ausmacht. Das Geheimnis für ein gelingendes Leben ist nämlich etwas ganz Einfaches, etwas, das buchstäblich vor unserer Haustüre beginnt.
Zu den erfolgreichsten Sachbüchern der letzten Jahre gehört Das geheime Leben der Bäume von »Deutschlands beliebtestem Förster« (ZEIT) Peter Wohlleben. Wie Bäume miteinander kooperieren, in welcher Biodiversität sie gedeihen, all das wird bei Wohlleben zum Bild für gelingendes menschliches Leben. Meine Frau und ich haben uns den Film dazu angesehen und fühlten uns tatsächlich gleich entspannter.
»Glück kann man pflanzen«, behauptet Kathrin Schumann in ihrem Buch über den eigenen Garten als Schlüssel zum Lebensglück. »Als Gärtner oder Gärtnerin weiß man mehr als alle anderen, wie gut das Leben es eigentlich mit uns meint«, schreibt sie und erklärt, dass nichts umsonst oder überflüssig sei, sondern alles seinen Sinn habe.20 Die Zeitschriften Landlust und Landidee gehören zu den auflagenstärksten Kaufzeitschriften in Deutschland, die jüngere und internationalere Kundschaft greift zu dem ästhetisch überaus ansprechenden Magazin KINFOLK.
Was macht die Anziehungskraft dieser Publikationen aus? Sie alle zeichnen das Bild eines reichen, stimmigen Lebens. Bei »Mutter Natur« ist alles noch einigermaßen in Ordnung. Nur wir Menschen passen nicht so recht ins Bild. Doch im Kontakt mit der Natur scheint ein anderes, harmonischeres Leben möglich. Dass gerade moderne Städter sich zur Landidylle hingezogen fühlen, unterstreicht die These, dass das Sehnsuchtsmotiv als Gegenmittel zu der Gesellschaft wirkt, von der wir uns tatsächlich mehr und mehr umgeben sehen. Derweil bleibt es nicht immer bei bloßen Fantasien.
Es war ein sonniger Tag in Warschau und wegen Corona war die Veranstaltung ausgefallen, auf der ich sprechen sollte. Durch Zufall war mir ein Buch in die Hände gefallen, das ich in meinen nun freien Stunden im Hotel durchblätterte. Auf einmal fand ich mich umgeben von Beispielen, wie die Sehnsucht nach einem anderen Leben zu sehr konkreten Schritten treibt. Der gerade frisch erschienene Bildband zeigte eine faszinierende Vielzahl innovativer Menschen, die lokale Traditionen wiederbeleben.
Malena und ihr Bruder Virgilio Martínez zum Beispiel graben in der Erde Knollen aus, die man essen kann. Seit Jahren beschäftigen sie sich mit verschiedenen Ökosystemen in Peru und entdecken alte und neue Lebensmittel, die sie mit Respekt vor der Natur zubereiten. Die San-Pellegrino-Liste führt ihr Restaurant Central derzeit auf Platz 6 der besten Restaurants der Welt. Ihr Geheimnis? Sie glauben, dass es einen kulturellen Wandel gibt hin zu einer Landwirtschaft der Symbiose.21 Nun wäre ich tatsächlich gerne in Peru. Doch ich war in Warschau, blätterte neugierig weiter und stieß auf Bilder, die mir von meinen Islandreisen her bekannt vorkamen. Ein junger Unternehmer entdeckt dort gerade traditionelle Methoden der Salzgewinnung aus der Zeit seiner Vorfahren wieder. Ich las weiter und fand farbenfrohe Bilder einer rauen Küste. Auf der Insel Fogo in Ost-Kanada arbeiten junge Designer und Künstler mit traditionellen Fischern zusammen, um die örtliche Wirtschaft zu erneuern. Das sah großartig aus! Lokales Essen, das Design in die Landschaft eingepasst, die innovative Herangehensweise der vorgestellten Pioniere – all das weder rückwärtsgewandt noch fortschrittsfeindlich, sondern uralte mit modernen Techniken kombiniert. In einer Zeit, in der alles machbar und manipulierbar geworden ist, entdecken junge Menschen den Respekt vor dem, was schon da ist. Ich staunte.
Kurz darauf war ich zurück in Deutschland und telefonierte mit Carsten Waldeck. Wenn er erzählt, beginnt man selbst zu träumen. Seine Begeisterung steckt an, wenn er beschreibt, wie er sich in Homberg (Nordhessen) mit anderen jungen Unternehmern (den HOMEbergern) das Ziel gesetzt hat, eine nachhaltige Zukunft auf dem Land zu schaffen. Die Verbundenheit mit der Natur ist dabei ebenso wichtig wie die christlichen Wurzeln von Carsten Waldeck. Er selbst hat SHIFT gegründet, ein Start-up, das mit dem komplett modular und nachhaltig gebauten SHIFT-Phone schon internationale Preise für Innovation und Technik gewonnen hat. Ein Smartphone, das im ländlichen Raum entwickelt und unter fairen Bedingungen gefertigt wird, das die Natur nicht belastet: Auch das ist eine Form von »neuem Traditionellem«.22 Nach dem Telefonat mit Carsten Waldeck fühle ich mich so belebt wie nach einer frischen Dusche. Beim Nachdenken zeichnet sich ein Muster ab. In all den Beispielen vom alternativen Leben der new traditionals kehren drei Elemente wieder: Verbundenheit (mit Tradition, Menschen und Natur), Sinnorientierung und Ästhetik.
Die Sehnsucht danach ist groß in unserer Gesellschaft, das zeigt sich an vielen Orten. Kein Wunder, denn die Sehnsucht weist fast immer auf etwas zutiefst Wichtiges hin, das unser Menschsein bestimmt.
Wie sieht ihr persönliches Paradies aus? Bei mir ist es das klassische Postkartenidyll aus weißem Sandstrand, Palmen und blauem Meer. Nach einer internationalen Studie bin ich damit nicht repräsentativ. Egal, ob sie in der Großstadt, in eisigen Steppen oder im Gebirge leben: Menschen mögen statistisch gesehen am häufigsten grasbewachsene Landschaften mit vereinzelten niedrigen Bäumen, mit Wasserstellen oder Flüssen und Wegen. Woher kommt diese ästhetische Vorliebe? Sie könnte mit unserer Herkunft zu tun haben, der Savanne.23 Genetisch gibt es Hinweise auf eine gemeinsame Abstammung aller Menschen von einer kleinen Gruppe von Vorfahren in Afrika vor etwa 200.000 Jahren.24 Dort lebten sie als Jäger und Sammler und die Savanne mit ihren Wasserstellen, Bäumen und Grasflächen war der optimale Lebensraum.
Später kam die Entwicklung des Ackerbaus dazu. Bestimmte Pflanzen zu kultivieren und andere zu beseitigen wurde nun entscheidend. Diese tiefe Erfahrung ist eine Erklärung, warum wir Gärten und Parks so lieben, und zwar schon sehr lange.
Der Totentempel der ägyptischen Königin Hatschepsut in Deir el-Bahari bei Luxor wurde zum Beispiel 1470 v. Chr. erbaut. Als wir ihn als Familie zum ersten Mal besuchten, hatten wir gerade mehrere Stunden in einem holprigen Bus durchs Gebirge mit einem ständig erbrechenden Kleinkind hinter uns. Dennoch wirkte die prächtige Anlage sofort auf uns. Obwohl direkt an die Wüste grenzend, zierte sie ursprünglich ein weitläufiger, prächtiger Garten mit Balsambäumen und Springbrunnen. Ein architektonisches Meisterwerk.
Auch in anderen Teilen der Alten Welt finden wir solch beeindruckende Anlagen. Die hängenden Gärten der Semiramis in Babylon beispielsweise galten schon in der Antike als ein Weltwunder und wurden von zahlreichen Reisenden beschrieben. Eine ähnlich lange Geschichte dürften die chinesischen Ziergärten haben, denen die reiche Tradition der japanischen Zen-Gärten folgt.
Doch was steckt hinter diesen Anlagen, die viel Mühe, Geduld und Detailversessenheit verlangen? Der Garten ist kein zufälliger Ort, er wird vom Menschen kultiviert. In der Liebe zum Garten verbindet sich die menschheitsgeschichtliche Erinnerung an die Ursprünge in der Savanne mit der zutiefst prägenden Erfahrung der Sesshaftwerdung.
Die weltweit bekannteste Erzählung von der Urgeschichte des Menschen ist die alttestamentliche Geschichte von Adam und Eva im zweiten Kapitel des Buches Genesis. Gott erschafft den Menschen als sein Abbild und setzt ihn in einen Garten in Eden. In diesem Garten wachsen viele Bäume, die schön sind und essbare Früchte tragen. Ein Strom entspringt in Eden und fließt in verschiedene Richtungen. Unter den Gegenden, an die sein Wasser reicht, werden solche genannt, in denen es Gold, Edelsteine und duftenden Weihrauch gibt. Dem Menschen wird von Gott der Auftrag gegeben, den Garten zu bebauen und zu bewahren. Außerdem darf er allen Tieren Namen geben. Gegen seine Einsamkeit hilft Gott mit der Erschaffung eines zweiten Menschen aus: Eva entspringt der Seite Adams. Die beiden sind »Fleisch von einem Fleisch«, leben also in enger Verbundenheit und Harmonie. Trotz ihrer Nacktheit schämen sie sich weder voreinander noch vor Gott. Auch die Beziehung zu Gott scheint entspannt zu sein: Gott und Mensch reden unbeschwert miteinander, von religiösem Zwang keine Spur.
Der ganze Garten ist voll köstlicher Früchte und prächtiger Bäume. Nur ein einziger davon ist dem Menschen vorenthalten: Er soll sich nicht anmaßen, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen.
Das Schöne an der Geschichte von Eden ist, dass sie Zentrales über den Menschen aussagt, egal, ob man an Gott glaubt oder die Bibel für ein Märchenbuch hält. So lesen der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel die Bibel unter evolutionärem Gesichtspunkt. Sie sind beide nicht religiös und kommen zu erstaunlichen Erkenntnissen. Indem sie die Bibel nicht als »Gottes Wort« lesen, sondern ausgerüstet mit den neuesten Erkenntnissen der Evolutionswissenschaften, entdecken sie in der Bibel etwas ganz anderes: das »Tagebuch der Menschheit«.25 Ihre Aussagen über die Geschichte der Menschheit hätten noch lange nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie eigentlich verdienten. So erzähle Eden vom uralten Sehnsuchtsort der menschlichen Gemeinschaft vor der Sesshaftwerdung. In Bilder und Geschichten codiert, komme darin zum Ausdruck, was uns Menschen eigentlich ausmacht: »Die anthropologische Bibellektüre verrät uns auch, was unserer ersten Natur guttut: Gemeinschaft, gemeinsame Erlebnisse, Gleichheit, Gleichberechtigung und natürlich Geschichten und noch bessere Geschichten. Also all das, was uns ein Stück des verlorenen Paradieses zurückgibt.«26
Mich erinnert unser alter Garten an meine Kindheit. Welche sind die Grundbestandteile des menschlichen Lebens, an die uns die alten Gartenerzählungen erinnern? Und in welchem Verhältnis stehen sie zur tatsächlichen Urgeschichte der Menschheit?
»Das sonderbare Wesen: mit den Füßen im Schlamm und mit dem Kopf in den Sternen«, so beschrieb die deutsche expressionistische Lyrikerin Else Lasker-Schüler (1869–1945) den Menschen. Ein Tagewesen sei der Mensch, der »Schatten eines Traums«, dichtet der frühgriechische Dichter Pindar (522–446 v. Chr.), und doch sei es ihm eigen, den Göttern selbst gleich sein zu wollen.27 Die Spannung zwischen den biologischen Anlagen des Menschen und seinen von anderen Primaten deutlich verschiedenen Eigenschaften durchzieht die philosophische Beschäftigung mit dem Menschen seit ihren Anfängen. Einer der Begründer der modernen philosophischen Anthropologie, Arnold Gehlen (1904–1976), nennt den Menschen ein »biologisches Sonderproblem«.28
Weshalb? Während ein Schwein oder ein Pferd ihr Geburtsgewicht innerhalb weniger Wochen verdoppeln, braucht der Mensch dafür ein halbes Jahr. Geschlechtsreif wird er als Teenager, das Hausschwein bereits mit sechs Monaten.
Dieses langsame Heranwachsen ermöglicht jedoch die Ausprägung wichtiger sozialer Fähigkeiten, besonders der Sprache. Zwar können auch Tiere Lautzeichen lernen, aber nur Menschen können auf die Beweggründe anderer Personen schließen.29 Diese Fähigkeit ist grundlegend für unser Sozialverhalten.30
Menschen sind auf eine Weise Wesen der Verbundenheit, wie Tiere es nicht sind.
Was ein Wesen ausmacht, ist eine andere Frage als die, wie es zu dem wurde, was es ist.31 Und nur durch den Hinweis, wie er sich entwickelte, ist die entscheidende Frage noch nicht beantwortet: was der Mensch ist.32 Fest steht, dass er sich grundlegend vom Tier unterscheidet.
Es ist kein Zufall, dass nur Menschen Grabstätten anlegen und ihre Toten mit rituellen Grabbeigaben versehen. Die ältesten Funde verzierter Begräbnisstätten deuten auf eine Zeit vor 100.000 v. Chr. hin.33 Nur Menschen interessieren sich für den Tod, nur Menschen sind religiös. Und nur Menschen bemalen Höhlen oder Körper und schmücken sich mit Muschelketten. Faustkeile sind die ältesten bekannten Werkzeuge des Menschen. Ihre Verwendung hat vor über einer Million Jahren begonnen. Interessant ist, dass viele der gefundenen Exemplare symmetrisch sind. Für die Funktion hat das keinen Sinn: Einen Säbelzahntiger kann man ebenso gut mit einem asymmetrischen Faustkeil töten. Der Philosoph Dennis Dutton ist der Meinung, die Steinzeitmenschen hätten symmetrische Faustkeile einfach schöner gefunden.34 Das passt zu der Tatsache, dass Menschen schon vor 100.000 Jahren in Afrika im großen Umfang Pigmente abbauten, weil sie sie zum Malen brauchten.35 Unsere genetische und kulturelle Entwicklung zeigt, dass sich der Mensch von der Tierwelt, ja vom Rest der Natur unterscheidet. Zum Menschsein, zur menschlichen Natur gehören komplexes Sozialverhalten, Religiosität und Kreativität. Diese Einsicht ist zentral – und mit Blick auf die Geistesgeschichte nicht unbedingt selbstverständlich.
Aristoteles hatte noch keine Hemmungen, von einer menschlichen Natur zu sprechen. Für ihn ist die Frage nach der Natur, der Physis, einer Sache oder eines Lebewesens zentral. Dass aus einer Eichel ein Eichenbaum wird, liegt in ihrer Natur. In der Natur des Menschen liegt es für Aristoteles, ein vernunftbegabtes Wesen zu werden, das im Unterschied zu den Tieren Geist (Nous) und sittliche Verantwortung hat.
Heute liegen die Dinge etwas komplizierter.
Wie konnte es so weit kommen? Als Charles Darwin 1871 in seinem bahnbrechenden Werk The Descent of Man die Abstammung des Menschen gemäß jenen Prinzipien erklärte, die er zuvor schon bei Pflanzen und Tieren beschrieben hatte, löste er eine anthropologische Revolution aus. Unterschied sich der Mensch nur graduell, nicht aber kategorisch von den Tieren? Und welche Konsequenzen hatte das? Darwins direkter Einfluss auf die nationalsozialistische Rassenlehre ist zwar umstritten,36 doch fest steht, dass die Vorstellung vom Menschen als Tier perfekt zur Ideologie des Faschismus passte. Dazu kam die bald überaus populäre Philosophie Friedrich Nietzsches, der von Darwin den Gedanken des Kampfes als Motor der Höherentwicklung übernahm. Der Mensch ist ein Tier und das Schwache hinderlich.37 Nach Nietzsche sind Moral und Religion das, was den Menschen zurückhält, der Wille zur Macht sei der eigentliche Motor nach vorne.38 Im Denken der Rassenideologie der Nazis ist der Mensch ein Raubtier, die Ausrottung »minderwertiger Rassen« eine biologische Notwendigkeit.
Ebenfalls vom darwinistischen Menschenbild geprägt ist die zweite große Ideologie des frühen 20. Jahrhunderts. Im Mai 1905 besuchte ein junger Russe mit weiteren Mitstreitern London. Sie diskutierten über die politische Zukunft der Welt. Wladimir Iljitsch Uljanow sollte später besser bekannt werden unter seinem Revolutionsnamen Lenin. Auf dem Programm stand auch ein Besuch im berühmten Natural History Museum, in dem sich bis heute viele Originalfunde von Darwins Forschungsreisen auf der HMS Beagle befinden. Die Skelette der längst ausgestorbenen Dinosaurier passten als Anschauungsmaterial perfekt zum Gesprächsthema der jungen Kommunisten. So wie sich neue Lebensformen gegenüber älteren durchgesetzt haben, würde sich auch eine neue Gesellschaftsordnung gegen die herrschenden Klassen durchsetzen. Neben dem Museum gab es noch einen zweiten wichtigen Ort in London zu besuchen: das Grab des Verfassers des Kommunistischen Manifests, Karl Marx. Bei dessen Beerdigung hatte sein Mitstreiter Friedrich Engels vor dem offenen Grab gesagt, so wie Darwin das Gesetz der Evolution in Bezug auf die Materie entdeckt habe, habe Marx das Gesetz der Evolution im Bezug auf die menschliche Geschichte entdeckt.39 Ob Materie oder menschliche Gesellschaft: rein natürliche Gesetze. Vom Menschsein und der Menschlichkeit bleibt da nicht mehr viel übrig.
Auffällig bei den Versuchen, die menschliche Natur oder die ganze Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Evolution zu betrachten, ist ihr Hang zum Reduktionismus. Dass der Mensch ein Lebewesen unter anderen sei, das haben auch die alten Philosophen nicht bestritten. Der zweite Schöpfungsbericht in der Tora geht sogar noch weiter: Gott macht den Menschen aus Erde, er ist Materie neben Materie, der Name Adam kommt vom hebräischen Wort für Erde, das lateinische homo von humus. Logisch folgt daraus aber noch nicht, dass sich das Menschsein im Lebewesensein erschöpft. Vielmehr entspringt die Überzeugung, es gebe außer Materie und Energie nichts und der Mensch sei nur ein Tier, dem Reduktionismus, der einen komplexen Gegenstand als »nichts weiter als« das betrachtet, was in die anvisierte Kategorie passt. Selbstverständlich ist Verliebtsein auch eine Hormonreaktion. Doch wer sagt, es handle sich beim Verliebtsein um nichts weiter als Hormone, der hat wenig von der Liebe verstanden. Beethovens Fünfte Sinfonie ist auch ein akustisches Phänomen. Doch wer meint, sie sei nichts weiter als Geräusch, der weiß nicht, wovon er redet.
Niemand bestreitet die großen Parallelen zwischen Mensch und Tier. Noch wichtiger aber sind die Unterschiede. Der britische Essayist G. K. Chesterton (1874–1931) formulierte das in seinem süffisanten Ton so: »Dass Menschen und Tiere sich ähneln, ist eigentlich eine Binsenweisheit; aber dass derart ähnliche Lebewesen so wahnsinnig unähnlich sein sollen – das schockiert und gibt Rätsel auf. Dass ein Affe Hände hat, ist für den Philosophen weit weniger interessant, als dass er mit seinen Händen so gut wie nichts anfängt; weder Karten noch Violine spielt; weder Marmor noch Hammelfleisch behaut. Man spricht heute gern von barbarischer Baukunst und minderwertiger Malerei. Aber Elefanten errichten nicht einmal riesige Elfenbeintempel im Rokoko-Stil; Kamele malen nicht einmal schlechte Bilder, obgleich sie mit dem Material für viele Kamelhaarpinsel ausgestattet sind. Moderne Träumer behaupten, Ameisen und Bienen besäßen Gesellschaften, die den unseren überlegen sind. In der Tat besitzen sie eine Zivilisation; aber so sehr das zutrifft, es erinnert nur daran, dass ihre Zivilisation minderwertig ist. Wer hat je einen Ameisenhügel gesehen, der mit den Standbildern berühmter Ameisen geschmückt war?«40
Wenn wir über die menschliche Natur sprechen, sollten wir uns weigern, die Reduktion auf das Biologische mitzumachen. Der Mensch ist nicht nur ein Tier und das Leben ist nicht nur Materie. Das Gehirn ist kein Computer, denn Ich-Bewusstsein ist etwas, das sich jeder materialistischen Beschreibung entzieht. Wir sind nicht nur Überlebensmaschinen, Roboter, die von egoistischen Genen blind programmiert wären, Gene weiter zu verbreiten, wie der atheistische Evolutionsbiologe Richard Dawkins einmal schrieb.41 Nein, vielmehr können wir mit dem amerikanische Philosophen Thomas Nagel festhalten: »Der Materialismus ist sogar als eine Theorie der physikalischen Welt unvollständig, da die physikalische Welt bewusste Organismen zu ihren erstaunlichsten Bewohnern zählt.«42
Wenn wir nicht nur Materie oder Energie sind, wenn wir uns nicht auf das Biologische reduzieren lassen, was macht dann unsere menschliche Natur aus? Nach dem kürzlich verstorbenen Sir Roger Scruton ist es auffallend, dass nur Menschen über Witze lachen. Das Lachen habe dabei, wie das Weinen, einen sozialen Aspekt, so der britische Philosoph in seinem Buch On Human Nature. Doch nur Wesen, die auch rationale Schlüsse ziehen können, seien imstande, einen Witz zu verstehen.43 Ist es ein Zufall, dass der Android Lieutenant Commander Data im Raumschiff Enterprise nie versteht, warum die anderen in Gelächter ausbrechen? Man muss den Sinn eines Witzes auch richtig deuten. Und schließlich kann man einfach Gefallen an einem Witz haben, ihn ansprechend finden. Im Lachen finden wir einen Schlüssel zu den drei entscheidenen Dimensionen der menschlichen Natur, den drei Geheimnissen: Verbundenheit, Sinn und Schönheit. Sie korrespondieren mit dem, was wir vorher angesprochen haben: Sozialverhalten, Religiosität und Kreativität.
Das tiefe Wissen um das, was menschliches Leben ausmacht, findet sich nun nicht nur im Lachen oder der vorher beschriebenen Kulturgeschichte sondern in codierter Form auch in den alten Geschichten vom Garten. Unsere Sehnsucht nach Eden besagt mehr als die unbewusste Erinnerung an die afrikanische Savanne. Gärten faszinieren uns so, weil in ihnen etwas aufleuchtet, was uns für das menschliche Leben allgemein mehr und mehr aus dem Blick gerät: der Rhythmus der Jahreszeiten; dass manches nicht sofort funktioniert, dass alles seine Zeit hat; dass auch Tiere und Pflanzen, die weniger schön sind, ihren Sinn haben, weil sie für andere Organismen wichtig sind; dass wir nicht alles machen und kontrollieren können, aber dennoch Verantwortung haben. Gärten sind nicht auf ihren Zweck reduziert: Zwar kann man dort auch etwas anbauen, doch sie sind etwas ganz anderes als eine Fabrik oder ein Feld. Sie erwecken Freude, und dadurch werden sie zum Ort der Begegnung zwischen Menschen.
Der Landschaftsarchitekt Dieter Kienast drückt das so aus: »Der Garten ist der letzte Luxus unserer Tage, denn er fordert das, was in unserer Gesellschaft am kostbarsten geworden ist: Zeit, Zuwendung und Raum.«44
Verbundenheit, Sinn und Schönheit sind die Nährstoffe, die den Garten des Menschlichen vital halten. Sie geraten leicht aus dem Blick. Tatsächlich betreiben wir mit großer Geschwindigkeit Raubbau an ihnen. In den folgenden drei Teilen versuche ich das aufzuzeigen – und mögliche Lösungswege. Dabei beleuchte ich zunächst immer die Bedeutung eines dieser Geheimnisse für das menschliche Leben anhand konkreter Beispiele und der relevanten Forschungsergebnisse aus Psychologie und Philosophie. Danach zeige ich auf, in welcher Hinsicht das entsprechende Geheimnis gerade bedroht ist und wie es dazu kam. Schließlich geht es jeweils um sehr konkrete Schritte, was jeder von uns selbst tun kann, damit wir gemeinsam an einer Zukunft bauen, die wir auch tatsächlich erstrebenswert finden.
Uns modernen Menschen ist relativ klar, wogegen wir sind. Wir wollen keine Umweltzerstörung, keinen Rassismus, keinen Terrorismus. Doch wofür sind wir? Welches Prinzip Hoffnung (Ernst Bloch)45 könnte für die heutige Gesellschaft echte Impulse zur Erneuerung beisteuern? Fragen Sie sich, wie das menschliche Leben anfangen könnte, wieder mehr nach Eden zu schmecken?
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1 Vgl. Ovid, Metamorphosen 89-101; https://lateinon.de/uebersetzungen/ovid/metamorphosen/goldenes-zeitalter-89-112/
2 Schwiecker, Sebastian: Entwicklungshilfe bringt doch nichts ..., Effektiv Spenden Org., o. D.: https://www.effektiv-spenden.org/spenden-tipps/entwicklungshilfe-bringt-doch-nichts/ Das bedeutet: Es gibt immer weniger arme Menschen und der Trend setzt sich fort. Gleichzeitig mit dem Rückgang der absoluten Armut hat sich eine »globale Mittelklasse« herausgebildet.»Mittelklasse« bedeutet nach der Definition der Weltbank eine Einkommensgruppe, die über Ländergrenzen hinweg betrachtet zwischen 11 und 110 US-Dollar am Tag verdient (gemessen in Kaufkraftparität von 2011). Nach Berechnungen der amerikanischen Denkfabrik »Brookings Institution« kam es im September 2018 zu einem »Tipping Point«: Eine Hälfte der Menschen gehört zu den »Reichen« oder der »Mittelklasse«, die andere Hälfte gehört zu den »Verletzlichen« oder »Armen«. Nach Prognosen von Brookings wird sich diese Entwicklung – hinaus aus der Armut, hin zur Mittelklasse – weiter fortsetzen: https://www.brookings.edu/blog/future-development/2018/09/27/a-global-tipping-point-half-the-world-is-now-middle-class-or-wealthier/
3 Vgl. Rosling, Hans: Factfulness, Berlin: Ullstein 2019; Ridley, Matt: The rational optimist, New York: HarperCollins 2011; Pinker, Steven: Enlightenment now, London: Penguin 2018
4 Gregg Easterbrook in seinem Buch The Progress Paradox: How Life Gets Better While People Feel Worse (New York: Random House 2003), 163
5 DAK Gesundheit: Arbeitsunfähigkeiten aufgrund psychischer Erkrankungen, Stand 2019, 2: https://www.dak.de/dak/download/folien-2335938.pdf
6 So das RKI in seinem Journal of Health Monitoring 2020 auf S. 13: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/JoHM/2020/JoHM_Inhalt_20_03.html
7 Konrath, Sara H. (et al.): Changes in Dispositional Empathy in American College Students Over Time: A Meta-Analysis, in: Personality and Social Psychology Review 15 (2011), 180–198
8 Joe Rogan Experience #1169 mit Elon Musk vom 7.9.2018: https://www.youtube.com/watch?v=ycPr5-27vSI
9 Precht, Richard David: Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens, München: Goldmann 2020
10 Seine fast durchwegs einseitig negative Sicht ist nicht unwidersprochen geblieben, bietet die KI-Forschung doch auch unbestritten lebensförderliche Anwendungsfelder. So wird etwa im deutschen Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme (in Stuttgart und in Tübingen) an Kunststofflinsen für Röntgenmikroskope geforscht, die eine höhere Auflösung erreichen als Lichtmikroskope, weil sie sich adaptiv in Echtzeit an die Lichtumgebung anpassen können: https://www.cicero.de/kultur/richard-david-precht-buch-kuenstliche-intelligenz
11 Die Gier nach Geld sieht auch Precht im Letzten als treibende Kraft hinter der KI-Bewegung. Da würden viele zustimmen. Am radikalsten klingt das bei dem Schweizer Soziologen und ehemaligen UNO-Berichterstatter Jean Ziegler: Allein mit der Überwindung des Kapitalismus könne das Menschliche gerettet werden. (Ziegler, Jean: Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin, C. Bertelsmann, München 2019) Auch seine Thesen blieben nicht unwidersprochen (nicht zuletzt wegen seiner Nähe zu kommunistischen Diktatoren), können sozialistische Länder doch gerade historisch auch nicht als Erfolgsmodell bezeichnet werden. Etwas esoterischer klingt das bei dem populären Philosophen Charles Eisenstein. Er wünscht sich eine »Renaissance der Menschheit« und nennt ein anderes Buch gar Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich. Doch auch seine Analysen der Probleme der Welt lesen sich überzeugender als die Lösungsvorschläge. Am Ende läuft es auch hier auf Fortschrittsskepsis, Naturromantik und eine Überwindung des Geizes hinaus.
12 Degrowth-Webportal: https://www.degrowth.info/de/degrowth-de
13 Vgl. Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2019, 174
14 Rosa, Hartmut: Resonanz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2019, 520
15 Ebd. 19
16 Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, 5
17 Im Jahre 1970 wurde das Europäische Naturschutzjahr ausgerufen, es war die erste europaweite Umweltkampagne. Als der Club of Rome im Jahre 1972 unter dem Titel Grenzen des Wachstums seinen nachmalig berühmten Report zur Zukunft der Menschheit vorlegte, war eine solche Art der Geschichtsbetrachtung noch durchaus neu. Das hat sich radikal verändert. Mittlerweile ist die aus der Umweltbewegung hervorgegangene Partei »Die Grünen« die stärkste Kraft unter jungen Wählern und die Entscheidung zum Ausstieg aus dem Atomstrom schon zehn Jahre alt.
18 Scheer, Ursula: Kinder oder Klima, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.8.2019: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/prinz-harry-will-der-umwelt-zuliebe-hoechstens-zwei-kinder-haben-16313566.html
19 Extinction Rebellion Deutschland: https://extinctionrebellion.de
20 Schumann, Kathrin: Glück kann man pflanzen, München: Gräfe und Unzer 2020, 9f.
21 Klanten, Robert (Hg.): The New Traditional, Berlin: Beside Media 2020, 250: »We are observing a cultural return to the values of an agricultural system in which all living organisms exist in symbiosis.«
22 SHIFT GmbH: https://www.shiftphones.com/
23 Falk, John H./Balling, John D.: Evolutionary Influence on Human Landscape Preference: https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0013916509341244
24 Oppenheimer, Steven: Out of Eden, London: Robinson 2003, 347: »Clear genetic trees for both modern Y chromosomes and mtDNA point back to a recent common ancestor of all modern humans within the last 200.000 years and a migration out of Africa less than 100.000 years ago.« Die sogenannte »Out-of-Africa-Theorie« ist nicht unumstritten. Dieser Artikel von 2016 bietet einen guten Überblick über die weitergehende Diskussion: López, Saioa/van Dorp, Lucy/Hellenthal, Garrett: Human Dispersal Out of Africa: A Lasting Debate: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4844272/
25 Schaik, Carel van/Michel, Kai: Das Tagebuch der Menschheit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2016
26 Ebd. 487. Ganz ähnlich entdeckt der deutsche Professor für Biologie Aloys P. Hüttermann in den Texten des Alten Testaments erstaunlich präzises Wissen über das menschliche Leben in seinem ursprünglichen biologischen Umfeld. Am Anfang war die Ökologie heißt sein Buch über die Bibel, das er zusammen mit seinem Sohn Aloys H. Hüttermann geschrieben hat, der Doktor für bioorganische Chemie ist. (Hüttermann, Aloys P./Hüttermann Aloys H.: Am Anfang war die Ökologie, München: Kunstmann 2002)
27 Fränkel, Hermann: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München: C. H. Beck 1993, 542
28 Gehlen, Arnold: Der Mensch, Wiesbaden: Aula 1995, 9
29 So konnte der Bonobo Kanzo nach intensivem Training etwa 3000 gesprochene Wörter verstehen, der Graupapagei Alex nicht weniger als 100 Objekte benennen und Zahlen bis 10 verstehen. Die Sprachfähigkeit des Menschen ist davon aber deutlich verschieden, denn Kinder beginnen spontan und von alleine zu sprechen. Morell, Virginia: Inside Animal Minds, National Geographic Magazine März/April 2008
30 Diese Fähigkeit wird als »shared intentionality« bezeichnet, vgl. Tomasello, Michael/Carpenter, Malinda/Call, Josep/Behne, Tanya/Moll, Henrike: Understanding and sharing intentions: The origins of cultural cognition: https://www.cambridge.org/core/journals/behavioral-and-brain-sciences/article/abs/understanding-and-sharing-intentions-the-origins-of-cultural-cognition/F9C40BF73A68B30B8EB713F2F947F7E2
31 Über Möglichkeiten und Grenzen, die Entstehung von Ethik und Religion mit Hilfe des evolutionären Paradigmas zu erklären: Sumser, Emmerich: Evolution der Ethik, Berlin/Boston: de Gruyter 2016
32 Dazu: Scruton, Roger: On Human Nature, Princeton/Oxford: Oxford University Press 2017, 19
33 Oppenheimer: Out of Eden 122
34 Als Argument führt er auch überlebensgroße symmetrische Steine auf, die keinerlei Funktion hätten, doch von Steinzeitmenschen unter großem Aufwand aufgerichtet wurden. (Dutton, Dennis: A Darwinian Theory of Beauty [TED 2010, Long Beach, CA, 12.2.2010]: https://www.ted.com/talks/denis_dutton_a_darwinian_theory_of_beauty)
35 Oppenheimer 120
36 Eine kontroverse Diskussion hat so zum Beispiel die These ausgelöst, von Darwin zu Hitler verlaufe ein direkter Weg. Dies behauptet: Weikart, Richard: From Darwin to Hitler: Evolutionary Ethics, Eugenics and Racism in Germany, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2006
37 So in Jenseits von Gut und Böse 62: »Es giebt bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig Leidenden; die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht festgestellte Thier ist, die spärliche Ausnahme.« (Nietzsche, Friedrich : Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York: dtv/de Gruyter 1980, Bd. 5 (=KSA V), 81)
38 Darwins Einfluss auf Nietzsche und dessen Verhältnis zu ihm ist durchaus kompliziert. Erhellend dazu: Choung, Dong-Ho: Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Darwinistischen Evolutionismus in seinem Bemühen um die Gewinnung eines neuen Menschenbildes (Diss.), Freiburg i. Br. 1980: https://www.freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:1212/datastreams/FILE1/content
39 Marx-Engels Werke, Bd. 19, Berlin (Ost): Dietz 1962, 335
40 Chesteron, Gilbert K.: Orthodoxie, Kißlegg: Fe 2011, 268
41 Dawkins, Richard: The Selfish Gene, Oxford: Oxford University Press 1989, XXI
42 Nagel, Thomas: Geist und Kosmos, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013, 70
43 Scruton: On Human Nature 20
44 Zitiert nach: Garten & Mehr (Blogeintrag vom 22.8.2008): https://www.brennemann.com/tag/dieter-kienast/
45 »Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor der Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen (…)« (Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, 1628)
Seine Zukunftsprognosen finden Millionen Leser. In seinen Bestsellern Homo Deus und 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert zeichnet der israelische Geschichtsprofessor Yuval Noah Harari kein allzu optimistisches Bild von der Zukunft. Auch er geht davon aus, dass künstliche Intelligenzen und Algorithmen unser Leben schon bald in kaum vorstellbarem Maße prägen werden. Der Besitz von Daten werde in Zukunft der entscheidende Machtfaktor sein. Mit ihnen kann das Denken und Fühlen eines Menschen vorhergesagt werden. Es ist also kein Wunder, wenn Zalando genau jene Schuhe zum Kauf vorschlägt, die Ihnen auch tatsächlich gefallen (und Sie gerade auch wirklich nach neuen Schuhen suchen): Zalando erfährt das anhand immer besserer Algorithmen durch Ihre Daten.
Mit dem Wissen um diese Daten wächst auch die Gefahr der Manipulation. Interessant ist, was Harari auf die Frage antwortet, welche Fertigkeiten in einer solchen Zukunft noch zählen werden, zumal die Roboter in den meisten Tätigkeiten besser sein werden: Es werde die mentale Gesundheit und emotionale Intelligenz gefragter sein denn je.1 Denn genau sie machen einen Menschen fähig, sich gegen Manipulation zu wehren und das eigene Denken und Fühlen nicht aufzugeben. Die Fähigkeit, eine Situation emotional zu erfassen und die eigenen Gefühle und Gedanken wahrzunehmen und auszudrücken: Das wird ein entscheidender Erfolgsfaktor der Zukunft sein. Man könnte auch sagen: Genau darin wird unser Vorsprung vor den Computern bestehen. Wer an der Zukunft der Menschheit interessiert ist, kommt an diesem Thema nicht vorbei. Doch worin besteht diese innere Stabilität und woher kommt sie?
Einige ihrer Bekannten sind schon verhaftet worden. Man hört im von den Nazis besetzten Amsterdam im Sommer 1941 Schreckliches von tagelangen Transporten auf Viehwaggons und Todeslagern weit im Osten. Etty Hillesum macht sich keine Illusionen, sie weiß, dass die Vernichtung und das Leiden nur einen Tag entfernt sein könnten. Doch am Abend des 23. August sitzt sie in einem Bummelzug, lässt ihren Blick aus dem Fenster über die sommerliche Landschaft schweifen und findet alles gut, das Leben und die Menschen. Die jüdische Studentin ist 27 Jahre alt und wird am Abend im dämmrigen Licht ihres Schlafzimmers folgende Sätze in ihr Tagebuch schreiben: »Ich war allein, und doch war mir, als bestünde ich aus zwei Personen, die sich innig aneinanderschmiegten und sich wohltuend wärmten. Sehr enger Kontakt mit mir selbst und dadurch große Wärme in mir.« Als sie zuvor vergnügt eine Allee hinunterspaziert war, habe sie festgestellt, »dass ich allein mit mir selbst in guter Gesellschaft bin und sehr gut mit mir auskomme«.2
Die Seelenruhe, ja dieses innere Glück, von dem Etty berichtet, war keineswegs immer in ihrem Leben gewesen. Als hochbegabte Tochter aus bildungsbürgerlichen, säkular jüdischen Verhältnissen hatte sie bald beschlossen, eigene Wege zu gehen. Die Lebensweise ihrer Familie kann sie nicht befriedigen, unter der Oberfläche einer resignierten Lebensphilosophie erspürt Etty das sinnlose Chaos. Ihre Eltern fördern sie umfassend und lassen ihr viel Bewegungsfreiheit, auch und gerade für erotische Abenteuer. Doch Halt konnten sie ihren Kindern keinen geben, da sie, so Etty, selbst keinen gefunden hatten. So begibt sich die junge Studentin auf eine intensive Suche. Heiße Affären und immer wieder neue Liebschaften lassen sie enttäuscht zurück. Die Quelle kann nicht in einem anderen Menschen zu finden sein. Zum Wendepunkt wird die Begegnung mit dem Psychoanalytiker Julius Spier, einem Schüler von Carl Gustav Jung. Seine stark körperbezogene Form der Psychologie fasziniert Etty. Der deutlich ältere Julius wird ihr Therapeut, Mentor und Geliebter. Durch die Beschäftigung mit der eigenen Seele, tiefe Sinnsuche und schonungslose Ehrlichkeit sich selbst gegenüber erkennt Etty, dass man nicht alles mit dem Verstand allein lösen kann. Ganz unverkopft erschließt sich ihr etwas Neues, Umfassendes.
Es sei der Durchbruch zu ihrer ganz eigenen Wahrheit: dass das Leben wert ist, gelebt zu werden; dass es Gott gibt und sie tief mit ihm verbunden sein kann wie mit einem Brunnen tief in sich selbst.