Gottsuchmaschine - Manfred Schneider - E-Book

Gottsuchmaschine E-Book

Manfred Schneider

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Beschreibung

Ein junger Mann hüpft in unregelmäßigen Sprüngen durch den Essener Hauptbahnhof. Was verrückt anmutet, ist eine rhythmische Übung. Der tanzende Jason Durante ist ein junger Lyriker, der später in einem Kernspintomographen Gedichte erfinden soll. Das Dichter-Experiment ist Teil eines neurowissenschaftlichen Forschungsprogramms, das in einem riesigen Turm auf dem Bochumer Unicampus durchgeführt wird. Man sucht dort nach den Hirnarealen, wo die Gottesvorstellung entsteht. In dieser "Gottsuchmaschine" fragt man sich: Ist Gott nicht nur eine dichterische Erfindung? Jason verliebt sich in die hyperintelligente Assistentin Beate Leisegang, die die Dichter-Experimente durchführt. Sie geleitet Jason durch die Abteilungen des riesigen Turms, der 33 Stockwerke in die Höhe und 34 Floors in die Erde ragt. Jason betritt unvorstellbare Versuchsstätten. Oben trainieren Versuchspersonen verschiedene Techniken der Denkoptimierung, in den unteren Abteilungen werden durch Gentechnik transhumane Menschentypen erzeugt. Man will dort den alten Schöpfergott überbieten.Beates und Jasons Liebesgeschichte und ihr Weg durch den Turm erinnert an das große Epos Dantes; doch alles spielt sich in unseren Tagen ab, wo düstere Prognosen über das Schicksal unseres Planeten und wissenschaftliche Hybris miteinander wetteifern.

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INHALT

ERSTES KAPITEL:EIN DICHTER SPRINGT AUF VERSFÜSSEN DURCH ZWEI BAHNHÖFE UND EINE UNIVERSITÄT

ZWEITES KAPITEL:JASON BETRITT DIE GOTTSUCHMASCHINE UND TRIFFT PROFESSOR OVERSTOLZ

DRITTES KAPITEL:DER GROSSVATER SCHMIEDET PLÄNE UND EIN HUNDEGESPENST TAUCHT AUF

VIERTES KAPITEL:JASON UNTERSCHREIBT UND DICHTET DEN SONG VON DEN NULLEN

FÜNFTES KAPITEL:DIE NACHBARN ERZÄHLEN SICH GESCHICHTEN, EHE SIE JASON ZUM DICHTER KRÖNEN

SECHSTES KAPITEL:JASON DICHTET EINE BAHNHOFSELEGIE UND ERLEBT DIE ERSTE TURMFÜHRUNG

SIEBTES KAPITEL:ONKEL SIEGMUNDS GESCHICHTE UND DOKTOR FREUD IM WALPURGISTAL

ACHTES KAPITEL:ANGRIFF AUF EIN MÜLLHEIZKRAFTWERK UND DAS GEHEIMNIS DER ZORNIGEN AMEISE

NEUNTES KAPITEL:EINER KLAUT BÜFFELMOZZARELLA UND JASON WIRD UMGETAUFT

ZEHNTES KAPITEL:JASON BESUCHT DEN 14. FLOOR UND SCHEITERT MIT SEINEM LIEBESGEDICHT

ELFTES KAPITEL:AUF DER GOTTESWELLEN-TAGUNG IN MÜNCHEN SCHWINGT DIE GANZE WELT.

ZWÖLFTES KAPITEL:KEIN SCHÖNER LAND IN MÜNCHEN UND IM TOWER, WO BERGANZA AUFTRITT

DREIZEHNTES KAPITEL:FACHSIMPELN MIT DOKTOR BENNS GEHIRN UND MIT PROFESSOR OVERSTOLZ

VIERZEHNTES KAPITEL:AUS DEM SEELENLEBEN DER KÜHE UND NONNOS DIÄTPLÄNE

FÜNFZEHNTES KAPITEL:NEUE ERZÄHLUNGEN VON BERGANZA UND KUHGESÄNGE IM SCANNER

SECHZEHNTES KAPITEL:PROFESSOR UNFREUD TRÄUMT VOM MARMOR UND LERNT DIE ATEMPHILOSOPHIE KENNEN

SIEBZEHNTES KAPITEL:DROHNEN ÜBER KARNAP UND JASON PRÜFT DIE URHEBERRECHTE GEKLONTER KÜNSTLER

ACHTZEHNTES KAPITEL:ABSTIEG INS REICH DER LEIH MÜTTER UND AUFSTIEG ZU DEN HOCHBEGABTEN

NEUNZEHNTES KAPITEL:THEORIEN ZUM URSPRUNG DES BLANKVERSES UND EIN BACCHANAL IN HERNE

ZWANZIGSTES KAPITEL:ABSTIEG INS CRIMEBRAIN-LEGOLAND UND EIN ANONYMER DROHNEN-RAP

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL:NONNO RIECHT DEN FUMUS IUVENTUTIS UND JASON ENTKLEIDET ANTEA

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL:FORTSETZUNG DER HERZKNORPELSTORY UND EIN GUTACHTEN ÜBER DIE HUNDESPRACHE

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL:ANTEA UND JASON HÖREN PRIMZAHLENMUSIK AUF DEM 23. UND ÜBEN AUF DEM 3. FLOOR

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL:JASON DICHTET SAPPHISCH UND ANTEA ERKLÄRT DEN NUCLEUS SUPRACHIASMATICUS

FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL:JASON UND ANTEA LASSEN SICH VON DEN BONOBO-WEIBCHEN ANREGEN

SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL:EINBLICKE IN BERGANZAS VITRINE UND IN EINEN TANDEM-SCANNER

SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL:JASON BESUCHT DIE DEVINES UND SPRICHT MIT OSSIP MANDELSIAM IN DER UNTERWELT

ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL:PLANETEN WERDEN VERSTEIGERT UND PROFESSOR OVERSTOLZ’ GEHIRN AUSGELESEN

NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL:SERGE ENTDECKT ROSA CONTAINER UND TRIFFT FRAU DOKTOR SAMARANTH

DREISSIGSTES KAPITEL:AN NONNOS 85. GEBURTSTAG WERDEN WUNDERGESCHICHTEN ERZÄHLT

EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL:EIN FUNKTIONIERENDES ZWEITHIRN UND BERGANZAS LETZTE GESTALT

ZWEIUNDDREISSIGSTES KAPITEL:DOKTOR SAMARANTHS SPIEGEL-GESPRÄCH UND NEUE RECHTSFRAGEN

DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL:NACH DEM BERGANZA-REQUIEM ERZÄHLT DER NONNO JASON SEINE GESCHICHTE

VIERUNDDREISSIGSTES KAPITEL:ZUM ABSCHIED WIRD AUF DER A 40 EIN GESAMTKUNSTWERKAUFGEFÜHRT

PERSONENREGISTER

„ubi est seu habitat Deus?“

Nicolaus Cusanus

ERSTES KAPITEL EIN DICHTER SPRINGT AUF VERSFÜSSEN DURCH ZWEI BAHNHÖFE UND EINE UNIVERSITÄT

Der erste Satz trug Jason über die Schwelle des Hauptbahnhofs. Er schwebte kaum eine viertel Sekunde. Zwei Achtelsekundensprünge folgten. Lang-kurz-kurz. In diesem Takt ließ er, mit winzigen Pausen, seine Beine noch weitere Zweier- und Dreiersätze tun, und dann hatte er den letzten gesprungenen Hexameter vollendet. Die flüchtigen Momente der Schwerelosigkeit und die Erdberührungen der Fußspitzen brachten ihn aus dem von Kaugummiresten gesprenkelten Vorplatz des Essener Bahnhofs durch die Automatiktür, über die quergeriffelte Eingangsmatte auf die Granitfliesen der Schalterhalle. Kurz atmete er durch und blickte in ein irritiertes Augenpaar, das seinen Sätzen gefolgt war.

„Hey, wat is dattenn füen Anstand?“, dröhnte der Security-Hüne in Blau.

„Keine Aufregung, ich bin lyrischer Dreispringer!“ gab Jason zurück.

„Wat bisse?“

„Ich bin Bahnhofstänzer, heute mach ich Hexametersprünge!“

„Ich versteh' nua Bahnhof!“

„Ja, richtig – BAHNHOFSTÄNZER!“

„Wat bisse am tanzen?“

„Hexameter, so eine Art Wiener Wälzer aus Wörtern.“

„Ich geb' dir gleich Wiena Walza!“

Da war der Dialog schon wieder zu Ende, weil eine Schülergruppe den Wachmann umspülte und ihn ein Kinderruf ablenkte. Jasons getakteter Bahnhofstanz führte ihn weiter über die gerippten Blindenleitplatten, vorbei am Infostand der Deutschen Bahn und am Vierfarbenmüllcontainer bis zur Treppe, die hoch zum Bahnsteig 6 führte, wo er die Regionalbahn zur Bochumer Universität nehmen wollte. Die Übung im lyrischen Dreiertakt zählte zu seinem heutigen Morgenprogramm, denn er sollte später in der Röhre des Kernspintomographen eine Elegie dichten. Den Tag zuvor hatte er seinen Großvater, die Pflegerin, Eltern und Geschwister zum Lachen gebracht, weil er zur rhythmischen Eingewöhnung dauernd in Distichen sprach:

„Mama, du liebliche Köchin, die Nudeln sind schön wie Gedichte!

Distichen singt der Poet, füllt ihm erst Mehlspeis' den Wanst." Nur sein Dackel Rilke wollte die Befehle nicht begreifen, obwohl er als hochbegabt galt und sogar Zeitungen apportierte:

„Rilke, hilfreiches Vierbein, herbei mit den Tagesjournalen!

Alles, was weltweit geschieht, les‘ ich mit gierigem Aug!“

Die Antwort war arrhythmisches Schwanzwedeln. Dabei verdankte der Hund den Dichternamen seiner Vorliebe für genau skandierte Freudentänze und Zeilensprünge.

Die Hexametersätze heute Morgen machte Jason, um seine poetischen Hirnregionen auf das elegische Versmaß einzustimmen. Mit dem smarten Leiter des Projekts im NRCPC, dem Neuroscience Research Center of Poetic Creativity, hatte Jason verabredet, dass er sich auf das wöchentliche Experiment mit rhythmischen Übungen vorbereitete: „Ja, sicher doch, lassen Sie Ihre Versfüße ruhig ein bisschen tanzen!“ ermunterte ihn Professor Overstolz. Als „Distinguished Global Brain Network Professor“ leitete Overstolz unter anderem die Kreativitäts-Experimente im Rahmen des weltumspannenden GBMP (Google Brain Modeling Project). Sonst verlangte der Vertrag, den Jason unter Aufsicht des seltsamen Notars in Gestalt eines Mensch-Hund-Mischwesens unterzeichnet hatte, dass er spontan in der MRT-Röhre dichtete. Die Hirnregionen, wo Takt, Reim, Rhythmus, Klang, Zeilensprünge und andere lyrische Funktionen entstehen, sollten während ihrer kreativen Tätigkeit gescannt werden. Vor allem wollte man in der Versuchsreihe das Rätsel der Inspiration lösen. Was macht Orpheus singen? In welchen Neuronen wohnen die Musen? Heute hatte Jason den Weg von der Essener Altenhofsiedlung II an der Wittenbergstraße bis zum Bus und zuletzt die vierhundert Schritte von der Haltestelle, vorbei an der Post und dem Handelshof bis zum Bahnhofsvorplatz in einer Folge von gesprungenen Daktylen zurückgelegt. Ein wenig störten ihn die erstaunt mithüpfenden Blicke. Oh ja, Dichter sind Sonderlinge, erst recht die experimentellen Dichter! Beim heiligen Huelsenbeck! Oder beim megaheiligen Goethe, der schon seiner römischen Bettgenossin die Hexameter auf den Rücken klopfte. Ach, wenn wir Hirnscans der Klassiker hätten! In welchem Winkel der Weimarer Schläfenlappen nistete das Genie? Durch welche neokortikalen Zonen blitzte die klassische Walpurgisnacht? Die neuropsychologischen Versuche mit Jason als Genie-Vertreter liefen bereits seit zwei Wochen, und heute hatte er zum Warmdichten wieder der lyrischen Sprungfolge ein paar Worte unterlegt:

„Denk ich der Treppen und Hallen, von schreienden Menschen durchlaufen, Keiner staunet euch an, allen seid ihr egal;

Doch welches Schauspiel zeig ich, ihr Schlepper von Taschen und Trollis, Dass ihr so glotzet und gafft hier im Bahnhof umher?

Da sein digitaler Musikdienst Spotify unter „Genres und Stimmungen“ keine Hexametermusik anbot, erfand er dieses Remake zu Achim von Arnims Reiseelegie als Taktgeber für die heutige Gangart: Silbe für Silbe übersetzte Jason in längere und kürzere Sprünge, und diesen Tanz auf den Lautfolgen begleiteten bizarre Vorstellungen. Irgendwann würde er vor Glotzern und Gaffern auf dem Bahnsteig eine Ode tanzen, und dann würde man ihn für verrückt halten, ganz wie den Dichterfreund Nietzsche, der für seinen Auftritt einst die prächtige Domwölbung der Stazione Porta Nuova in Turin wählte. Nietzsche hatte dort als Dionysos im Januar 1889 getanzt und gesungen. Der alte Pferdeküsser soll sogar im Bahnhof gedichtet haben. Der Zug, den Nietzsche in Turin bestieg, führte über Basel nach Jena in die Klinik des Doktor Otto Binswanger, wo 13 Jahre später Margarethe, die Ehefrau des großen Essener Sohnes Friedrich Krupp, zwangsweise eingewiesen wurde, weil sie sich beim Kaiser über den Hang ihres Gatten zu Jünglingsfleisch beklagt hatte. Der große Dionysos war damals auch im Zug voller Poesie. Oben auf dem Sankt Gotthard sang der Philosoph weinend das Gondellied aus dem Ecce homo.

„An der Brücke stand

jüngst ich in brauner Nacht.

Fernher kam Gesang:

Goldener Tropfen quoll's

über die zitternde Fläche weg.“

Aber hatte nicht Professor Overstolz bei ihrem Vorgespräch gesagt, dass im Rahmen des Lyrik-Projekts auch die Gehirne von toten Dichtern wie Ossip Mandelstam, Gottfried Benn oder Friedrich Nietzsche remastert werden sollten? Wohl darum hatte Jason in der letzten Nacht geträumt, dass er mit dem kurz seinem Grab entstiegenen Nietzsche sprach. Die meisten Traumbilder waren verblasst, aber eine Szene stand ihm noch vor Augen. Er hatte den vom langen Totsein bleichen Philosophen gefragt, ob ihm sein postumer Weltruhm nicht eine Genugtuung sei. Und Nietzsche hatte leise geantwortet: „Ach, junger Mann, Unsterblichkeit ist ein Botenstoff, den kein Lebender ausschüttet“. Mit diesen Worten erstarrte Nietzsches Gesicht zu einer Terracottamaske, und aus dem weit zum Schrei geöffneten Mund flogen die Worte in goldenen Tropfen hervor. Wie merkwürdig! Noch im Traum hatte sich Jason über das Wort „Botenstoff“ gewundert, das doch zu Nietzsches Zeiten unbekannt war. Und jetzt im Wachzustand fragte er sich, ob die geistreiche Bemerkung des Traumgespenstes als seine Erfindung gelten durfte oder ob sie urheberrechtlich Friedrich Nietzsche gehörte. Jason studierte Rechtswissenschaft und befasste sich gerade mit Urheberrecht.

Für die Bahnhofselegie, die er später unter der Magnetspule dichten sollte, legte sich Jason einen Vorrat an Bildern und Worten an. „Goldene Tropfen“ und „zitternde Flächen“ aus dem Gondellied und aus seinem Traum - das würde rhythmisch passen. Und was noch? Er schaute sich um. Was konnte die Welt soufflieren? Oben die Anzeigetafel über dem Eingang zum dm-Markt zeigte eine zitternde Fläche, auf der digitale Stunden und Minuten tropften. Die Spalte mit der Abfahrtzeit seiner Regionalbahn zeigte an, dass der Zug zehn Minuten Verspätung haben würde. Was macht man mit einem Zuviel an Zeit? Kann man Stunden und Minuten in Schwingung versetzen? Die kleinsten Dinge haben einen Spin, dachte er, Protonen, Neutronen, ja Elektronen und Quarks drehen sich. In der Nanowelt tanzt alles! Vielleicht drehen sich auch die kleinsten Momente, die milliardstel Sekunden. Und laufen nicht auch dort Bewegung, Zeit und Raum zusammen oder nein, schwingen sie nicht zusammen? Nur wenn die Dinge zäh werden und wenn die Zeit zu Sekunden und Minuten aufquillt, ist der Tanz zu Ende.

Seine Sprünge, noch immer im Zweier- und Dreiertakt, trugen ihn durch die Halle. Er dachte an die dunkle Muffe der Magnetspule, in die er später einfahren würde. Welche Regionen seiner Hirnrinde waren eben jetzt aktiv? Sicher, der motorische und sensorische Kortex, der Gyrus frontalis inferior, die Regionen 44 und 45 nach Brodmanns Atlas und die Wernickeregion, die der Fasciculus longitudinalis superior miteinander verbindet. Lauter schöne bunte Flecken auf dem Bildschirm von Professor Overstolz! Wer den Dichter will verstehen, muss in Dichters Kortex sehen. Ach ja, in diesem Augenblick erregte sich auch der Bulbus olfactorius, denn Jason tauchte durch die Geruchswolken der Fastfoodkiosks und Cafés im Bahnhof. Seine Nase füllte McDonald’s Vanillesmog, dann der Erdbeerhauch der Kamps-Torten, eine Bratfischschwade der Nordsee, die Oreganowellen aus der Pizzeria, die Kaffeewölkchen bei Starbucks, die flüchtigen Dünste der Sushikette und zuletzt das Fruchtparfum des Teeladens. So fügen sich auch die Welten eines Hundes ineinander, dachte Jason. Kein Wunder, dass sein Hund Rilke Melancholiker ist. Er hat zu tiefe Einblicke (oder muss man sagen: Einrüche?) in die Welt. Doch gleich brachte Jason diese Stimme in sich zum Schweigen. Für die Inspiration im MRT benötigte er eine elegische Grundstimmung, gewiss, aber nicht die Geruchswelt einer Hundenase.

„Denk ich der Treppen und Hallen, von schreienden Menschen durchlaufen.

Keiner staunet euch an, allen seid ihr egal."

Jason verließ den unteren Teil der Bahnhofshalle und sprang im Dreierrhythmus die Treppe zur Galerie empor. Oben stützte er sich aufs Geländer, ließ seinen jambischen Puls abklingen und versenkte sich in das Getriebe dort unten. Ihn durchliefen jetzt kurzwellige Gedankenströme, wie doch der Bahnhof ein profaner, geisterloser Ort ist. Hier wohnt niemand, hier lebt niemand, niemand wird hier geboren, und niemand stirbt. Ständig durchfluten Passagiere die Halle, Gehen und Kommen laufen gleich, selbst die Wächter und Angestellten sitzen hier nur für Stunden. Diese Fuge des Lebens, das unruhige Vorüber, das Fließen und Durchlaufen belehrt uns, dass zu Menschenorten das Bleiben gehört. Hätte Heraklit von einem Bahnhof gesagt, dass auch dort Götter wohnen? Vielleicht lachen die Unsterblichen beim Blick auf Leute, die in Wellen, Schwärmen, Paaren, Mannschaften und Banden auftreten: Vor der Treppe zu den Toiletten im Untergeschoss stellte sich eine Reisegruppe zum Fotografieren auf, ließ das Lächeln gefrieren und taute es nach dem Fotoblitz wieder auf. Neben der Eingangstür standen ein paar südländisch anmutende ältere Männer mit schweren Augenlidern, silbrigen Oberlippenbärtchen, hängenden Anzugjakken und gestrickten Kopfbedeckungen. Im Schatten ihres Palavers tauschten zwei junge Dealer in Jeans und Sneakers rasch ihre Drogenpakete. Den Ticketautomaten daneben umringte eine Gruppe Japaner, die ihre Ratlosigkeit in graziösen Gebärden anzeigten. Hier umarmte sich ein junges Paar zur Freudenskulptur und küsste sich in langgezogenen Spondeen. An ihnen vorbei strichen drei dunkelhäutige Nonnen, die beinahe mit zwei hoch beladenen Gepäckwägen zusammengestoßen wären. Vor der Automatiktür ließen sie noch drei dürren Junkies den Vortritt, die in den Lidl-Supermarkt humpelten. Jetzt stürzte eine Kaskade Wanderer die Treppen hinab, in beigefarbenen Freizeitjacken und mit schwarzen Treckingstöcken. Das Tacktack ihrer Gehhilfen irritierte Jasons Gedankenrhythmus. Die Leute gerieten aber selbst aus dem Takt, als sie einen älteren Anstreicher mit einer Leiter auf der Schulter überholen wollten. Der Befleckte hinkte im Trochäus, als er nach draußen verschwand.

Nein, dachte Jason, ein Bahnhof ist doch nicht geisterlos, sondern eine poetische Stätte von tausend Versfüßen und prosodischen Gehweisen. So hüpften eben jetzt fünf Mädchen untergehakt vorbei und füllten die Halle mit Fröhlichkeit. Ein Rollstuhlfahrer gab den Rädern drei Mal Schwung zum Vierfarbmüllcontainer und fischte eine Flasche heraus. Diese Wellen, Wirbel und Unruheströme führten an Spielarten des Wartens vorbei. Hier ein Verspätungswarten mit leerem Blick, dort ein Abholwarten voll Erwartung, dort wieder reines Nichtstun, das nur Minuten schluckt; am Infostand bewegte sich das Kunstwerk des Schlangenwartens. Ach, seufzte es in Jasons Gehirn, wie bringt das Warten die Zeit zum Schmelzen? Nein, nicht das Warten, das Lauschen. Aber wer orakelt im Telefon? Eben folgten seine Augen noch einem Schwarm junger Leute, die die Schritte auf ihr Gelächter abstimmten, als sich die Szene verwandelte: Durch den Eingang strömten etwa dreissig Fußballfans in rotweißen Schals und Mützen, Bierflaschen in der einen Hand, Lärminstrumente in der anderen: „FUUUSSBALL – FIIICKEN – ALKOHOL“. Daaam-dam, daaam-dam, dam-dam-dam. In diesem Takt marschierte das hochgestimmte Rotweiß. Der Sprechchor verließ auf der Gegenseite in unregelmäßigen Trochäen die Halle.

Es war Zeit, zum Bahnsteig hochzugehen. Neben der Rolltreppe stand ein alter, abgerissener Mann, offenbar durch Alkohol heiter und lyrisch gestimmt. Er pfiff laut die Melodie von Una paloma blanca und schlug mit der linken Hand den Takt dazu. Seine Rechte streckte er den Passanten einen Plastikbecher entgegen, die Darbietung zu honorieren. Jason war bereits an dem pfeifenden Alki vorbeigehüpft, als ihn sein Lachen bremste. Auch ein Rhythmiker, dachte er, ging wieder zurück und warf dem Alten mit ein Zweieurostück in den Becher. Die Münze und das Kompliment „danke für ihre Musik!“ empfing der Künstler, ohne sein Pfeifen zu unterbrechen, mit einem kurzen Nicken. Am oberen Ende der Rolltreppe durchquerte Jason das gelb markierte Elendsquadrat der Raucher und gesellte sich zur Wartegruppe. Samstags war die Regionalbahn gewöhnlich kaum besetzt. Als der Zug hielt und die Türen aufgingen, überließ sich Jason der Verklumpung beim Einstieg. Im Abteil durchquerte er mehrere Körpergeruchsgeruchzonen, dann setzte er sich zwei Jungen gegenüber, die einträchtig an den Ohrschnullern ihrer Smartphones saugten. Jason wollte sich während der Fahrt in sein Wortmaterial versenken, dem Takt der Bahn lauschen und in die Stimmung eintreten, die er später für seine Verse benötigte. Zunächst aber war er von den beiden Jungen abgelenkt, weil die Bässe ihrer Musikautomaten auch an seine Ohren schlugen. Der Zartere der beiden trug eine graue Kappe, unter der die dünnen Haare zur Schulter hinab strebten. Sein Auge trübte das dunkle Keimdrüsengeschehen, das im Blick eines pubertierenden Knaben alles Licht löscht. Sein Nachbar, offenbar südeuropäischer Herkunft, hat volle kirschrote Lippen und dicke Brauen in Bumerangform, wo unter schweren Lidern die Augen sorgenvoll dreinblickten. Der Junge mit der Kappe wies auf sein Smartphone und sagte zu seinem Freund:

„Kuck ma, auf Facebook: McDonald's verkauft jeden Tag so viele Böga, dat die aufeinander gestapelt einmal bis zum Mond und zurück reichen.“

„Krass! Ich wüad geena ma aufn Mond!“

„Wat willse denn da?“

„Böga essen. Magich total.“

„Kannze auch hia.“

„Nee, meine Mama will dat nich."

„Voll scheiße“

Draußen, auf den Straßen und in den Fenstern war Samstag. Die Woche atmete durch. Den Samstag füllen Wunder und Verwandlung. Das Alltagsgrau löste sich in Farben auf und beseelt die Dinge: Koffer, Rollläden, Plakate, Friedhöfe, Gullydeckel, Straßenschilder wachen auf. Ziegelsteinruinen eilten an Jasons Fenster vorbei. Selbst die ans Himmelblau kritzelnden Freileitungsmasten suchten an diesem lichten Morgen im Drachengang die Ferne. Wohin, wohin? Langsam liefen die Gleise hinterm Bahnhof zusammen. Die Sonne belichtete noch den frühen Septembertag und zog von den Dingen scharfe Schatten ab. Scherenschnitte lagen auf den hellen Flächen. Die Bahn ließ die letzten Häuserreihen hinter sich, lief am grünen Band eines Wäldchens entlang und bog um einen kleinen polierten See, der die Schwünge der Zugvögel abbildete. Am Horizont zerstreute sich ihr Schwarm wieder in Mohnkügelchen über langgezogene, von Kühen in Halbtrauer besiedelte Weiden. Nach dem Lichtstaccato einer Kastanienallee füllten Gebüschwirbel und dunkles Wiesengrün das Fenster. Dann kündigten Jägerzäune ein paar kleine Bauernhöfe an, und nach einer langen Windung tauchte der Zug wieder in die Hochzivilisation: Bauhaus, Getränkemarkt, Aldi, Tattoo-Studio, Reinigung, Eckkneipe, Straßenbahn, Sonnenbank, Ibishotel. Schließlich blieb er im nächsten Bahnhof stehen. Jasons Augen schwenkten zurück auf die Bilder der beiden Jungen gegenüber. Der kleine mit der Kappe und der Kirschlippige saßen immer noch da und tippten auf ihre Smartphones. Der Bahnsteig draußen war menschenleer, kein Tänzer, kein Dichter. Zwei Security-Männer lehnten an den Fahrplanvitrinen und sorgten sich um die Sicherheit in Wattenscheid. Wieder in Fahrt passierten sie die Farbbänder verblichener Graffiti. Diese neue Poesie lenkte Jason ab. Alle Wörter, die er aus den Farbschlieren und verschlungenen Formen an den Schallschutzwänden herauslas, versetzten ihn in eine onomatopoetische Frühzeit: Crash, Dang, Zapp, Crunch, Rrring, Chomp, Slam, Beep, Fizz, Myam, Skrrk, Boing, Click. Die ersten Menschen waren Dichter, sagte Hölderlin. Und aus diesen Klangwörtern hätten sie ein hübsches Distichon machen können:

„Pákupak Crásh Dang Zapp Fízz - Beep Chómp Boïng Click Skrrk Snap Mýam, Túkkata Rumble Splat Whóosh – Dáng Humpf Plopp Zónk Clapp Raboúmm“.

Aber ob das genau aus den Hirnwinkeln kommt, wo die Inspiration ihr Wunderwerk tut? Die Frage verschwand mit den tätowierten Mauern und Schallschutzwänden. Sie wichen einer Siedlung, die in weißen Bauklötzchen am Fenster vorbeiflog. Am Horizont erhob sich die Strichzeichnung einer Industrieruine, dann überholte sie ein Güterzug, und gleich summte im Daktylus die Helldunkel-Folge der Container und Lichtblitze, die das Sonnenstroboskop zwischen die Wagen schickte. Dieser Takt rief Verse in sein Ohr: „ach, vergeblich das Fahren! Spät erst erfahren Sie sich“. Doktor Benns Daktylen schwangen mit den feinen Stoßwellen. Eine Zeitlang fuhren sie noch an Bochumer „Bahnhofstraßen und Rueen“ vorbei, bis der Zug hielt. Jason überstand die Stoßwellen der Aussteigenden.

Kurz darauf stieß er erneut auf die beiden Jungen mit ihren Musikmaschinen, als er die Bahnsteigtreppe hinabstieg, und da sie sich im Wiedererkennen anlächelten, fragte Jason dann doch: „Darf ich mal fragen, was für Musik ihr da hört?“

„Willze ma höan?“ fragte der kleine Kirschlippige zurück. „Dat is Rap von meiner Mama. Die hat 'nen Song gemacht, der heißt Botox-Rap!“ Schon drückte er Jason einen Knopf ans Ohr, und so hörte er eine raue Frauenstimme in irrwitzigem Tempo rappen:

„Kuck mal diese Angemalten

mit dem toten Triebverhalten:

In der Birne nicht mehr schalten,

können nicht die Pisse halten.

Alles endet mit den Alten

in den Seniornanstalten.

Willst du dich im Leben halten:

Dann nur mit Alkoholgehalten.

Ruhe hast du vor den Alten,

wenn sie endlich ganz erkalten

längst sich in den Särgen aalten.

Welch ein Anblick, diese Falten!

Welch ein Unrat, diese Alten

Willst du deine Seele schützen,

weil die Ekel dich erhitzen,

gib den Alten Botoxspritzen!

Die Visage neu zu schnitzen.

hau ihn tausend Nadelspitzen,

wo die ganzen Falten sitzen

und die Krähenfüße fitzen:

in die Kiemen, in die Ritzen,

auf die Stirne, in die Zitzen.

Wenn die Zellen Abschaum schwitzen,

weiße Schuppen, rote Grützen,

gib den Alten Botoxspritzen!“

„Au weia, ganz schön krass!“ kommentierte Jason am Ende der Treppe in der Bahnhofshalle.

„Weisse, meine Mamma aabeitet innem Seniorenheim. Sonz isse aba total lieb“, wiegelte der kleine Kirschlippige ab.

„Sag' Deiner Rapmama, sie kann mir ihre Songtexte schicken. Ich hab' 'he Lyrik-Zeitschrift und kann die vielleicht drucken.“ Jason gab dem Jungen seine Mobiltelefonnummer, aber er kam nicht mehr dazu, nach der Musik seines Freundes zu fragen, weil er sich beeilen musste.

Um die Rap-Schläge zu vergessen, tanzte Jason gleich seinen elegischen Walzer durch den Bochumer Bahnhof.

„Denk ich der Treppen und Hallen, von schreienden Menschen durchlaufen.

Keiner staunet euch an, allen seid ihr egal.“

Er eilte in Serpentinen um Penner, Passagiere und Bahnpolizisten, stolperte auf der wegen Reparaturarbeiten stillgestellten Rolltreppe in die Tiefe und sprang auf die eben eingelaufene U-Bahn zur Uni. In dem ferienleeren Wagen nahm er ein Reclam-Heft aus der Tasche und vertiefte sich in Goethes Alexis und Dora, das feine Eifersuchtsepos. Darin fand sich keine Bahnhofsszene, wohl aber ein Hafenabschied, den Jason für die U-Bahn und das kommende Experiment umformte:

„Ach, unaufhaltsam strebet die U-Bahn in jedem Momente

Durch den finsteren Schacht weiter und weiter hinaus!

Bringet dem Turme mich zu, damit dort Beate, die schöne

Forscherin, im MRT sorgsam mein Dichterhirn ausliest.“

Als die U-Bahn dann wieder ins Licht glitt, erblickte Jason bereits in der Ferne den weißen Turm, der sich als riesiger pyramidaler Zylinder in den Himmel schraubte. Wie Zwerge standen die alten Kolleggebäude der Uni vor diesem weißen Riesending und schauten empor zu seiner Spitze, wo sich eine Hirnplastik langsam im Sonnenlicht drehte. Mehrere hundert Forscher, Versuchspersonen und Techniker schrieben hier an den letzten Kapiteln in der Geschichte der Anstrengung, das mängelbehaftete Menschenhirn zu vervollkomnen. Der GBBT, der Google Boullée Brain Tower, ragte gut dreißig Stockwerke in die Höhe. Er war erst vor fünf Jahren eingeweiht worden, die futuristische Konstruktion eines Verbunds von Architekten, Geologen, Neurologen, Theologen, Genderwissenschaftlerinnen, Ökologen und Informatikern. Man sprach davon, dass der Turm, der sich auch achsensymmetrisch über dreißig Stockwerke in die Tiefe bohrte, einige Milliarden Euros gekostet haben soll. Zur Eröffnung war damals jede Menge Prominenz aus Popkultur, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport und Politik anwesend, darunter die Ministerpräsidentin des Landes, die Berliner Ministerin für Cybersicherheit, die EU-Kommissarin für posthumane Technologie, die CEO von Google, Vertreterinnen von NSA und CIA, die Präsidentin des VfL Bochum, die Wirtschaftsministerin sowie ein ehemaliges Playboymodell, das den amerikanischen Präsidenten vertrat. Die Bürgermeisterin der Stadt Bochum hatte in ihrer Rede die Initiative von Alphabet-Google ausgiebig bejubelt, war es doch die erste Großinvestition, nachdem das Opelwerk geschlossen worden war, und die Rektorin der Ruhr-Uni wurde immer wieder mit dem Satz zitiert, dass die Eröffnung dieser Forschungseinrichtung von Bochum aus eine Botschaft in die ganze Welt gehen ließe. Herbert Grönemeyer hatte einen für diesen Anlass komponierten Towerrocksong gesungen, während hip gekleidete Forscher und Gäste bereits an ihrem Champagner nippten. Seitdem wurde in der Riesenpyramide Tag und Nacht ruhelos geforscht und zugleich an einem weltumspannenden Neuro-Netzwerk gebastelt. Was aber sonst in dem lichten Turm und in seinem Unterwelttrichter geschah, war von großer Geheimhaltung umgeben. Jason hatte man in einige der Forschungen dort eingeweiht, aber zu strengem Stillschweigen verpflichtet. Heute hüpfte er als Bote aus poetischer Frühzeit im elegischen Takt auf das Gebäude zu, wo in einer prachtvollen Vision der Tag-und-Nacht-Rhythmus, eigentlich alle Naturrhythmen abgelöst wurden, um der Welt ein neues biotechnisches Pulsieren zu schenken.

Jason sprang die Treppe von der U-Bahnstation zur Uni hoch, tanzte über die Brücke, eine der windigsten Passagen Europas, um weiter zum GBBT zu gelangen. Manche Betonplatten rumpelten unter seinen Sprüngen. An einer der Begrenzungsmauern las er den Vers

„Hey, can you help me to carry the stone“ von Pink Floyd, der Lieblingsband seines Vaters. Ja, hatte Pink Floyd nicht auch in Hexametern gesungen? Und so wiederholte er auf seinem Weg den Vers in Daktylen: Hey, can you help me to carry the stone, / Hey, can you help me to carry the stone. Kurz blieb er vor der Mensa stehen, wo die Fachschaft Politik eine Umweltschutzparty mit grellgrüner Schrift GET STONED TO SAVE THE PLANET plakatiert hatte. Wieder kam Jason in Schwung und skandierte jetzt Hey, can you help me to carry the stoned, Hey, can you help me to carry the stoned, sprang am Botanischen Garten vorbei, bis er sich von den Grüppchen auf dem Vorplatz des Towers gebremst sah. Eine kleine, bleiche Studentin hielt dort ein Schild in die Höhe „Erhaltet das Hegel-Archiv! Rettet den Geist!“ Dahinter strömte aus dem Haupteingang eine Gruppe junger Leute, auf den Köpfen rote Brainhelmets. Jason wusste, dass sie diese Mindmachines von Google trugen, um die Frequenzen ihrer Gehirnströme ins Gammaband und höher zu modulieren. Die Helmträger bildeten eine eigene stumme Gruppe. Daneben schwatzten in verschiedenen Zungen die Forscher, Antragschreiber und Programmierer, viele von ihnen im Dastar. Alle diese bunt gekleideten Frauen und Männer schützten ihre Hirnschalen mit Baseballkappen. Neben den Antragstellern in blauen DFG-Sweatshirts standen in roten Kapuzenpullovern die fünf Mitglieder der Counter-Strike-Global-Offensive-Mannschaft. Die drei Frauen und zwei Männer waren unlängst aus der Gifted-Gruppe der Brainspeedies ausgeschieden. Nachdem sie ihre Gehirnströme mit Computerspielen hochgetunt hatten, waren sie souveräne ESL-Meister im Counter-Strike geworden. Zum Schutz all dieser Supergehirne flanierten zahlreiche bewaffnete Security-Angestellte in blauen Uniformen. Welche Gefahren mochten hier drohen? Es gab Menetekel: Zwei Hausmeister arbeiteten mit Bürsten und Lauge an der Fassade des Towers, um die aufgesprayten Parolen Animals have Rights! und daneben Brainfree Zone mit dem eingekreisten fetten Anarchisten-A zu beseitigen.

Die meisten Leute waren damit beschäftigt, ihre Zähne ins Teiggummi von Sandwiches zu graben und die herausfallenden Putenstücke, Gurken oder bleichen Tomatenscheiben aufzufangen; auf der Campuswiese häuften sich leere Cola-Dosen, die aufeinander gestapelt den kirschlippigen Knaben bis auf den Mond zum Böga-Essen geliftet hätten. Die schweigsamen Google-Rothelme setzten sich ab, da sie doch der Evolution enteilt waren. Sie sahen sich als homines hypersapientes, denn die Berufung ins Elitecorps setzte einen komplizierten Hirnfunktionstest voraus. Jason kannte einen von ihnen, den Grafen von Herzmanovsy-Orlando. Der junge Aristokrat, dessen Stammbaum im 8. Jahrhundert wurzelte, hatte den Roman seines Urgroßonkels Fritz von Hermanovsky-Orlando Der Gaulschreck im Rosennetz für eine TV-Serie bearbeitet, die in fünf Staffeln mit jeweils zehn Folgen die Schicksale des Wiener Hofsekretärs Jaromir Edler von Eynhuf in großen Spannungsbögen erzählte. Die Drehbücher, als k.u.k.-Variante zur erfolgreichen US-amerikanischen Serie Breaking Bad gedacht, waren von österreichischen, deutschen sowie amerikanischen Produktionsfirmen abgelehnt worden, obwohl Quentin Tarantino und Christoph Waltz ihre Mitarbeit zugesagt hatten. Die Herzmanovsky-Orlandos, eine galizisch-venezianische Unternehmerdynastie, zu deren Imperium eine Werft in Livorno, eine Huskiefarm in Alaska, fünf Banken auf Vanuatu und ein Casinohotel in Las Vegas gehörten, hatten für die riesige Hirnplastik auf der Spitze des Brain Towers im Stile Niki de Saint-Phalles eine namhafte Summe gespendet, denn sie wollten unbedingt eines ihrer Familienmitglieder durch den Auswahltest lotsen.

Graf Poldi löste sich eben aus seiner Gifted-Gruppe und ging auf Jason zu. Er trug auch einem roten Helm, der den Hinterkopf bedeckte, während vorne in den kurz geschorenen gelglänzenden Haaren die Sonne spielte. Der Graf und Jason hatten erst vor kurzem bei einem Vortrag über Ahnenforschung Bekanntschaft geschlossen. Sie hatten sich von ihren seltsamen Familien erzählt. Auch Jasons Familie Durante konnte ihre Ahnenreihe bis in Mittelalter zurückverfolgen. Einer von Poldis mütterlichen Vorfahren aus der Orlando-Linie hatte es vor längerer Zeit sogar zum Helden in Ariosts Epos vom Rasenden Roland gebracht. Der Graf interessierte sich für Jasons Zeitschrift und lobte seine Gedichte. Eine Woche zuvor hatte er im Essener Altenhof II einer von Jasons Großvater in Szene gesetzten Dichterkrönung beigewohnt. Jason nannte den Freund Apoll, weil ihn die Lautfolge Poldi im Ohr schmerzte. Poldi grüßte als erster:

„Servus, Essener Petrarca, bist du wieder auf dem Weg zum Dichterkernspin?“

„Phöbus, so ist es, und ihr? Denkt ihr so schnell wie der Blitz?“

„Naja, es geht bergauf. Heute war ich im Multitasking-Test eine hundertstel Sekunde schneller als beim letzten Mal.“

Dabei leuchteten Poldis aristokratische Züge auf.

„Vater der Musen, sprich, wie schafft dein Hirn solches Tempo?“

„Das kann ich dir leider nicht sagen, weil das hier der Geheimhaltung unterliegt. Jeder aus der Gruppe trainiert eine andere Disziplin: Klavier, Mimik, Erektionstechnik, transzendentales Meditieren. Eines kann ich verraten: Ich hab’ mit Literatur zu tun“

„Schweigen gelobte auch ich, versiegelt sind mir die Lippen.“

„Darüber weiß ich bisher nichts, oida Dichta, da musst du mir erst deine ID-Karte zeigen. Auf jeden Fall geht's hier rasant weiter! Wenn wir alle sieben Tage um eine Hundertstel schneller werden, haben wir in zwei Jahren eine ganze Sekunde geschafft."

Jason zog den Mund in einen Bewunderungshalbbogen und meinte dann elegisch:

„Aber zum Tempo des Lichts ist Äonen lang noch die Strecke.

Streit auch erschüttert die Welt: Hat Lamarck wirklich Recht?

Schreibt sich denn solche Kunst in eure DNA ein?

Oder paaret sich dann Hirnraser mit Raserin?

Was aber, wenn vom Progress des kortikal hohen Tempos

Eure Kinder zuletzt Nieten im Erbgut nur ziehn?

Hundertstel, die ihr gewannt, zerrinnen den Enkeln im Hirnbau;

dass eine Winzigkeit bleibt, ziert sich konstant die Natur.“

Poldi blieb gelassen:

„Du weißt, der Stammbaum unserer Familie reicht zurück bis in die Zeit des fränkischen Kaisers Karl, wir haben jede Menge Zeit. Ich erzähle dir gern mal die Geschichte des rasenden R-Helden, der ein Neffe Karls war. Er hat die Sarazenen besiegt! Das war ein anderes Multi-Tasking: Mit der schwertbewaffneten Linken schlug er den Ungläubigen ihre Schädel ab, zugleich betete er lateinisch und zügelte mit der Rechten sein Pferd. Wir sind übrigens seit achthundert Jahren Linkshänder.“

„Und sag, wie viele Köpfe schnitt einst sein scharfes Schwert ab?“

„Es müssen ein paar hundert gewesen sein. Nach den Schlachten haben sie daraus Pyramiden gebaut. Schade um die vielen Gehirne."

Über Poldis edle Stirn rollten kleine Kummerwellen. Dann aber horchte er auf:

„Sag mal, Dichter, sprichst du in Hexametern?“

Jason nickte:

„Um das zu merken“, spottete er in Alltagsprosa, „hat dein Elitegehirn allerdings recht lange gebraucht. Aber vielleicht kannst du mir ja helfen. Ich muss im Kernspin eine Bahnhofselegie dichten, und zur Übung der Form sprach ich die ganze Zeit in Distichen. Hättest du noch irgendeine Idee dazu?“

Poldi fragte nach: „Du brauchst eine Anregung für ein Reisegedicht?“

„Ja, ich soll die Elegie spontan erfinden“, erklärte Jason. „Aber das Material dafür, Bilder und Motive, auch Takt und Rhythmus darf ich vorbereiten."

Diesmal kam die Antwort wie ein Blitz: „Kennst du die Geschichte meines anverwandten Dichters Der Kaiser und die Kleine des Bahnwärters? Das ist, wie mein verwandter Ahnherr sagte, eine ,Eisenbahnträumerei.'“

„Also eine Geschichte des Dichters Fritz von Herzmanovsky-Orlando? Vielleicht ist das ja etwas für mich. Also leg los!“

„Das erzähle ich dir gerne, alter Dichterfreund. Die kleine Geschichte spielt in den letzten Lebensjahren des damaligen Kaisers um 1790. Zu der Zeit hatten Leute unter den beiden Adlern Habsburgs, was bis heute niemand weiß, heimlich in den Alpen eine Eisenbahnlinie gebaut. Es war eine streng geheime Sache. Niemand im Ausland durfte über das neue Verkehrssystem Bescheid wissen, da man den Zuzug asylsuchender Evangelischer aus Preußen fürchtete. Die Devise hieß damals: lieber Türken als Protestanten! Weil aus diesem Grund keine Fahrpläne ausgegeben wurden, behalf man sich mit Wahrsagerinnen, die die Ankunft der Züge aus dem Kaffeesatz lasen. Weil sich die Wahrsagerinnen häufig irrten, wurden sie wieder entlassen. Dafür ließ man Hunde, sie hießen ,Bahnsteigdackel’, neben den Gleisen schlafen. Die waren ausgezeichnet geschult und abgerichtet, und bei Annäherung eines Zuges knurrten sie vernehmlich. Das lief alles ganz gut, aber eines Tages kündigt der Kaiser seinen Besuch an, und gleich nach seiner Ankunft verliebt er sich in die Jüngste des Bahnwärters. Die ist sehr geschmeichelt und will ihrem Bräutigam den Laufpass geben, als etwas Einschneidendes passiert. Der englische Ambassadeur tritt auf, und er verlangt wenig freundlich, dass der Kaiser die Erfindung der Eisenbahn kassiert, einfriert und vergisst. Warum? Der Ambassadeur hatte bei einer Jagd versehentlich einen Treiber durch einen Flintenschuss verletzt und ihm als Schmerzensgeld in Aussicht gestellt, dass sein Ältester die Eisenbahn erfinden darf. Der Kaiser stimmt zu, und daher wurde die Eisenbahn vierzig Jahre später ein zweites Mal erfunden. Ist das etwas für deine Hexameter?“

„Eine lustigeTräumerei,“ bedankte sich Jason. „Zwar klingt das nicht sehr elegisch, aber die Bahnsteigdackel kann ich vielleicht einbauen. Doch jetzt sag ich rasch Adieu, in zehn Minuten geht mein Experiment los."

Die beiden Studenten, der Dichter und der Dichterurgroßneffe, trennten sich. Apoll gesellte sich zu den anderen Helmträgern, vor denen die kleine Philosophin immer noch tapfer ihr Hegel-Schild hochhielt. Jason erarbeitete sich eine Schneise durch die träge Forscher- und Antragsgruppen und machte ein paar Sprünge hin zur automatischen Karusselltür des Turms. Hier gab es keine Schwelle, um sie in Hexametersätzen zu überfliegen. Das Segment der Drehtür zwang ihn zu Trippelschritten, ehe er in die große Lobby des Towers treten konnte. Durch das aus hohen Fenstern in die Empfangshalle flutende Licht kreuzten Versuchspersonen, Forscher, Mitarbeiter, Hilfskräfte, Sicherheitsleute, umbrandet von Reden und Rufen.

Jason aber hörte in sich das Glück und den Stolz klopfen. The beat of our hearts is louder than words, sang Pink Floyd. Jetzt zählte auch er zur Avantgarde des Wissens und ragte ein Stückchen aus der grauen Studentenmasse hervor! Auf Anweisung des Personals an der Pforte geleitete ihn ein Angestellter der Security zum Ganzkörperscanner der Sicherheitsschleuse. Anschließend musste er sich noch von dem kleinen Lagotto Romagnolo abschnuppern lassen. Die Security hatte den umbrischen Trüffelhund umgeschult und auf Nanowitterung abgerichtet, da winzigste Partikel möglicherweise zur Sabotage eingeschleppt werden konnten. Jasons Weg führte dann an einer Batterie von Snackautomaten vorbei, wo sich die Rothelme, Turbanträger und Baseballkappen mit Getränken und Schokoriegeln versorgten. Kurz darauf ließ ihn der Security-Mitarbeiter vor der Projektsuite von Professor Vergilius Overstolz stehen. Jason berührte mit dem rechten Zeigefinder das Touchpad neben der Tür, dessen elektronisches Gedächtnis gleich seine Papillarlinien erkannte und der Tür das Offnen gebot.

ZWEITES KAPITEL JASON BETRITT DIE GOTTSUCHMASCHINE UND TRIFFT PROFESSOR OVERSTOLZ

An dieser Tür hatte Jason bereits zwei Wochen zuvor gestanden, nachdem der romagnolische Nanohund auch seine Zeitschrift durchsucht hatte. Schon damals schien ihm dieser Tower mehr aus Sicherheitsvorschriften als aus Steinen errichtet. Die Tür von Professor Overstolz hatte sich auf kein Klopfen hin geöffnet, sondern eine Leuchtschrift auf dem Display neben der Tür hatte ihn aufgefordert, sich an der Sprechanlage zu erkennen zu geben. „Hallo, ich bin Jason Durante!“ Die Assistentin verglich das akustische Profil seiner Stimme mit dem Eintrag ihres letzten Telefonats und öffnete ihm. Der Professor hatte seine Assistentin unter den Schönen des Landes gewählt. Die dunklen aufgesteckten Haare, der präzise Scheitel, vor allem jedoch das feine herzförmige Gesichtchen der Assistentin erinnerten Jason sogleich an Parmigianinos Porträt der Antea, das er in der Nationalgalerie von Neapel einmal lange betrachtet hatte. Auch ihre Blässe und den Ernst hatte sie sich von Antea abgeschaut. Sie trug allerdings keinen pelzbesetzten Mantel wie Parmigianinos Geliebte, sondern einen ziemlich kurzen gefalteten weißen Rock, den sie von der automatisch schließenden Tür ein bisschen wehen ließ. Da ihn der Ausschnitt ihrer modischen Leopard Print Bluse mit einem Lockruf grüßte, wusste Jason nicht gleich, ob er seine Blicke dorthin oder in Anteas graugrüne Augen lenken oder nach einem freundlichen Lächeln fahnden sollte. Doch die Türhüterin ließ ihm kaum Zeit zu entscheiden, denn Professor Overstolz hatte nicht nur unter den Schönen des Landes gewählt, sondern auch unter den kurz Angebundenen. Einen Augenblick nach der Begrüßung fand sich Jason in einem Nebenraum wieder, wo nur noch der Ausschnitt des Fensters seine Blicke anzulocken suchte.

In welchen Sternen mag es gestanden haben, dass er einmal zum Mitwirkenden in solch umwälzenden Forschungen werden sollte! Diese stolze Rolle hatte ihm der liebe Zufall zugespielt. Da die Herausgeber verschiedener Literaturzeitschriften, denen er ein paar Gedichtproben zur Veröffentlichung zugeschickte hatte, vor allem die beiden indianergesichtigen Michel Krüger und Norbert Wehr, sehr freundlich, aber ablehnend reagiert hatten, gab er seit einem Jahr an der Ruhr-Uni seine eigene Literaturzeitschrift heraus. Sie trug in Anspielung auf den mythischen Jason den Titel Orbitalargonauten. Zugleich erinnerte der wenig werbewirksame Titel auch an die Weltraumhündin Laika, der Jason ein Gedicht auf der Vorderseite des ersten Heftes gewidmet hatte. Der Huskie-Terrier-Mischling Laika war im Oktober 1957 als erstes biomedizinisches Versuchstier von russischen Weltraumforschem mit einer Rakete auf eine Reise in den Erdorbit geschossen worden, wo sie später in ihrem Satelliten als winzige Sekundensonne am Himmel verdampfte. Wer aber wusste jetzt noch etwas von dem Hund? Jason verglich sie in seinem Gedicht mit Chrysomallos, dem fliegenden goldfelligen Widder aus dem Argonautenmythos, der einst den Knaben Phrixos rettete:

Flug ins Schwerelos

Laika Chrysomallos,

wo glänzt dein goldenes Fell?

Hörst du meine „Hallos“?

Antwortet dein fernes Gebell?

Im Orbit schwebt deine Treue

hinaus ins Schwerelos,

Runde um Runde, aufs Neue

rettest du den Phrixos.

Nur Dichter erwiesen dir Ehre:

Brodskys rührendes Lied

Schwingt auf in die Stratosphäre,

ins Erzengelfluggebiet.

Keine streichelnden Hände,

Herrenlos oben dein Kurs.

Schön und traurig dein Ende:

Wölkchen am Rand des Azurs.

Seine Zeitschrift, deren Gründung er über die Website der Universität der Welt bekannt gemacht hatte, sollte allen Literaturfreunden unter den Studenten den Mund für eigene Poesien öffnen. Die juristische Fakultät, wo er studierte, zeigte wenig Sinn für Literatur, und er hoffte auf Dichter und vor allem auf Dichterinnen aus anderen Fächern. Die Sache lief nicht gut. Nur ein Gedicht aus fremder Feder hatte er erhalten, einen Fangesang auf den VfL Bochum („Blauweiß, du biss meine Liebe,/ Blauweiß, für dich schlägt mein Herz,/ Dem Gegner eins auf die Rübe, / Und Aufstieg im nächsten Herbz“), den er dann doch nicht abdrucken wollte. So blieb ihm nichts übrig, als die Seiten seiner Hefte mit eigenen Gedichten zu füllen. Bisweilen übersetzte er alte Rocksongs, Lieder von J.J. Cale oder uralte Verse aus einer italienischen Anthologie, die ihm gefielen, und schrieb erfundene Namen darunter. So erschien einmal eine sehr freie Übersetzung von Giacomo Leopardis melancholischem Gedicht A se stesso unter dem Autornamen Leopard Benn Nemsi:

Loge im Jammertal

Ergib dich ins Schweigen, poch ewige Stille,

Du müdes Herz, wie dein Traum zerfloss!

Das Hoffen und Wünschen, die Hochgefühle

aus Ewigkeitsschaum, sind des Wahns Genoss.

Du löschst das Verlangen, nun ruhe im Immer,

die letzten der Schläge unzählbare Zahl,

der Erde Schönheit, der Erde Trümmer,

nichts lohnt deinem Herz die pulsierende Qual.

Dein Pochen gibt nur dem Kummer Nahrung,

Für wen diese Seufzer, für wen dieses Ach?

Schließ deine Augen zur ewigen Bahrung,

Und tief im Unwissen liegt das Danach.

Die Stille schenkt zeitloses Schlafen zum Troste,

Verzweifle, mein Herz, noch ein letztes Mal,

die Natur gab dir nichts -, ach nein, sie loste

für dich eine Loge im Jammertal

Die Herzklopfenverse wurden sein Schicksalsgedicht. Wenige Tage, nachdem er die Orbitalargonauten an die zehn Abonnenten, zu denen Freunde, Nachbarn und seine Familie gehörten, verschickt und Werbeexemplare in verschiedenen Instituten ausgelegt hatte, erreichte ihn eine E-Mail aus dem NRCPC. Im Auftrag des Leiters wurde der Herausgeber der Zeitschrift freundlich gebeten, die Kontaktdaten des Herrn Leopard Benn Nemsi, der das Gedicht Loge im Jammertal verfasst hatte, weiterzugeben. Jason fragte telefonisch nach, lüftete sein Pseudonym und führte ein erstes Gespräch mit Parmigianinos Antea, die eigentlich Beate Leisegang hieß, einen Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektmanagerin hatte und ihn sofort an Professor Overstolz weitervermittelte. Der Professor fragte nur kurz, ob er seine Gedichte mit der rechten oder linken Hand niederschrieb, worauf Jason antwortete, dass er beidhändig dichtete. Gleich darauf erhielt er eine Einladung zum Gespräch im Turm, die dann das nächste Glied in der Verkettung seines seltsamen Schicksals bildete.

Jetzt neigte Beate noch einmal kurz ihr anteaförmiges Köpfchen und ließ die Rockfalten wehen, als sie Jason ins Büro des Chefs führte.

Schon damals ging ihm Pink Floyds Textzeile The beat of our hearts is louder than words durch den Kopf, als er den coolen Raum betrat. Wohl weil ihn Pink Floyds beat of our hearts an Leopardis Herz und das assai palpitasti erinnerte. Aber hier schien niemand etwas hören zu wollen. Erst nach einer langen halben Minute Herzklopfenszeit tauchte ein Kopf mit einem schweren dunklen Haarvorhang hinter einem riesigen Apple-Bildschirm auf. Professor Overstolz erinnerte Jason auf den ersten Blick an Botticellis jungen Giuliano de‘ Medici.

„Hallo, guten Tag, Herr Durante, sorry“, rief der frisch erschienene Giuliano-Kopf freundlich, „ich habe eben noch einen Blick auf den Telescan ihrer linken Hirnhemisphäre geworfen. Great! Sie sind unser Mann! Wenn Sie wollen, sagen Sie nur Vergilius zu mir, wir duzen uns hier alle. Meinen Vornamen habe ich ja von einem ihrer Dichterkollegen. Leider fehlt mir die poetische Ader oder präziser: das zerebrale lyrische Netzwerk. Wir reden hier neurospeech! Aber Sie, Sie haben das Genie, und wir werden mit ihnen, wenn Sie mitmachen, alle Geheimnisse der poetischen Kreativität entschlüsseln.“

Aus Vergils oder aus Giulianos vorgeschobenem Unterkiefer stürzten die Worte in Katarakten hervor, eingehüllt in feinen Speichelsprühregen, und Jason versuchte gar nicht erst, seine Redegeschwindigkeit anzupassen.

„Hallo, guten Tag, Herr Professor Overstolz“, antwortete Jason gedehnt. „Ich weiß nicht, ob ich ihr richtiges Versuchsobjekt bin. Es gibt bessere und berühmtere Dichter. Außerdem ist mir noch etwas schleierhaft, was ich tun soll.“

„Also: ich heiße Vergilius, ich sage Jason zu dir“, sagte der Professor kumpelhaft, „wir haben uns das gut überlegt. Es gibt nicht mehr viele Lyriker, die in Reimen dichten. Der Reim von ,Stille’ und ,Gefühle’ in deinem Gedicht hat den Ausschlag gegeben. Genial! Ganz einmalig! Wir haben recherchiert. Wir können alle Reime der Weltliteratur abrufen. Diesen Reim hat es noch nicht gegeben. Dein Gehirn ist für die Forschung geschaffen, ein Synapsenwunder!“

„Na ja“, wiegelte Jason ab, „es ist ein unreiner Reim, aber längst wurden alle deutschen Wörter und Endsilben schon mal gereimt. Die Dichter sitzen, wie Wallace Stevens sagte ,on the dump', auf dem riesigen Müllberg verbrauchter Wörter. Wir müssen runter vom Wörterabfall, vom Reimetrash, unser Dichterjob lautet: neues Material, rhythmisch und klanglich, Fremdwörter, Neologismen, englische auf deutsche Wörter reimen, einen Mix von technischen Begriffen, Werbung, Rap, Slang, Vulgäres mit poetischem Sound. Dichten wird immer schwerer.“

Der Professor wiegte sein mediceisches Haupt ein paar Takte lang, nahm einen Schluck aus einer stylischen Icelandic Glacial Water-Flasche und wechselte kurz vom kumpelhaften in einen väterlichen Ton.

„A little dump doesn’t matter! Wir wollen ja nach und nach alle Parameter durchmessen: Reim, Vers, Rhythmus, Klangfarbe, Stimmung, Worte, Sound. Wir müssen die neuronalen Netzwerke finden, wo das passiert, wir müssen sie durchsuchen, kopieren, nachbauen.“

Jason war verblüfft.

„Wie soll das gehen? Wie wollen Sie meine Gedichte durchmessen?“

Vergilius erlitt einen kurzen Lachanfall und ließ beim Kopfschütteln seine Frisur fliegen.

Dann setzte der Wortsprühregen wieder ein:

„Nein, Jason, wir wollen dir, natürlich nur, wenn du mitmachst, im Kernspin beim Dichten selbst zuschauen oder genauer deinem Gehirn. Denn klar, du denkst, du machst Verse, aber in Wahrheit dichtet dein Gehirn.“

Kurz wartete der Professor die Wirkung der Bemerkung ab. Dann fuhr er im Schmeichelton fort:

„Du bist ein smarter junger Mann, aber dein Bewusstsein ist wie bei uns allen nur ein funktionelles Ornament. Ein paar hundert Milliarden Nervenzellen schreiben auf deinen Bewusstseinsscreen, was du so denkst und empfindest. Alles nur Feedback im System. Lass dich nicht irritieren, es ist dennoch absolutely amazing, so ein geniales Dichtergehirn zu haben. Die Neurosciences haben jetzt die religiösen Gespenster Geist, Ich, Freiheit, Vernunft ad acta gelegt. Wir glauben nicht mehr an Hexen, wir glauben nicht mehr an Geister.

Geist ist out. Wir werden Antispiritualia entwickeln wie Antibiotika. Schau hier auf den Bildschirm!“

Jason nahm den Weg um den Schreibtisch und schaute Professor Vergilius über die Schulter. Seinem üppigen Haar entströmte der Geruch eines edlen Haarpflegemittels. Auf seinem Zeigefinger, der die Kontur auf dem Bildschirm nachzog, wuchsen feine schwarze Haare.

„Have a look at this cauliflower! Dieses blumenkohlartige Gebilde, das bist du, das ist die CPU, die dein Ich heuert und steuert, sorry, alberner Forscherreim! Aber hier“, der Professor ließ auf dem Touchscreen mit drei behaarten Fingern die Blumenkohlpartie ins Blowup schießen und deutete auf die Mitte des Displays, wo sich eine Spalte zeigte: „Hier um den sulcus lateralis, um die sylvische Furche herum sitzen die neuronalen Akteure und Netzwerke, die dafür sorgen, dass du meinst, du dichtest.“

„Und was wollen Sie da beobachten?“

„Wir scannen dort und an anderen Stellen die kortikalen Muster bei der lyrischen Aktivität, beim ,Dichten und Denken', wie unsere Urgroßeltern sagten. Und das machen wir in unserer Supermaschine, im Kernspintomographen, Hast du so ein Ding schon mal gesehen oder drin gelegen?“

Jason schüttelte den Kopf.

„Nein? Na gut, das ist eine horizontal liegende Trommel, und da wirst du reingeschoben. Die Sache ist ganz einfach. Dein Kopf kommt dann in eine Spule, wo das Gehirn einem Magnetfeld ausgesetzt wird, und wie auf Befehl stehen alle Wasserstoffatome in deinem Schädel parallel zu diesem Feld stramm. Halt! Bei Wasserstoff fällt mir ein, dass ich dir noch nichts zu trinken angeboten habe!“

Auf einen kurzen Anruf hin kam die schöne Antea-Assistentin und brachte Jason ein Glas Wasser. Ob es auch isländisches Gletscherwasser war? Während Jason überlegte, ob er eine solche Frage stellen sollte, nahm der Professor seine Erklärung wieder auf.

„Also die Wasserstoffatome im Magnetfeld! Naja, so stramm stehen sie nun auch wieder nicht, denn das Proton des Wasserstofîkerns hat einen Drehimpuls wie ein Kreisel, der auch ein Magnetfeld erzeugt, das parallel und phasengleich zum anderen Magnetfeld schwingt. Das ist Technolyrik: rhythm and swing is everything. Wenn nun durch elektromagnetische Impulse diese quirlenden Atome aus ihrer Rotationsebene fallen, dann wechselt auch die Richtung zwischen den beiden Magnetfeldern. Die Protonen drehen ihre Achse mal in die eine, mal in die andere Richtung. Hast Du ein Fahrrad mit Dynamo? Da drin kreiselt auch so ein Magnet, der in die Spule eine Spannung eingibt. Ganz ähnlich arbeiten die Protonen. Lässt man den Impuls wieder weg, dann benötigen die Atome eine bestimmte Zeit, um in ihre ursprüngliche Ausrichtung zurückzukehren. Wie schnell das geht, hängt jeweils von der organischen Umwelt ab, wo die Atome Karussell fahren. Die Protonen senden ihre Impulse in den gleichen Frequenzen wie die Magnetfelder, und diese Rücksendung heißt ,Resonanz’. Wenn man sie misst, lassen sich die unterschiedlichen Intervalle, in denen die Atome in ihre ursprüngliche Stellung zurückkehren, genau berechnen. Das ist die Relaxationszeit. Diese Signale, also die Schwingungen, verwandelt der Computer in optische Werte, und das sind dann für unsere Augen empfängliche Bilder.“

Eine neuer Schluck Gletscherwasser! Bei so viel Speichelverbrauch musste er Professor dauernd nachladen! Jason bemühte sich, sein Unverständnis hinter einer Miene von erstauntem Interesse zu verbergen. Er merkte aber schon, als die Worte noch aus seinem Mund stolperten, wie blöd die Frage wurde.

„Und Gedichte bringen auch Schwingungen hervor, die in der Magnetspule gemessen werden?“

„Das wäre super“, antwortete Vergilius, schüttelte seine prächtige gelgestärkte Frisur und stimmte seinen Bariton auf ein sanft tönendes Register ab.

„Aber es ist etwas komplizierter”, fuhr er fort. „Alle Aktivität von Nervenzellen im Gehirn hinterlässt Spuren, weil Denken, Fühlen, Sprechen, Dichten immer etwas Energie verbrauchen. Dieser Stoffwechsel moduliert die aktiven Zellen, weil der Kernspin der Atome in der jeweiligen Umwelt, im Fettgewebe, in Gefäßen oder Flüssigkeit, anders abläuft und die Impulse somit andere Messwerte hervorbringen. Wo die Relaxation schneller geht, ergeben sich helle Bildwerte, bei langsamerer Rückbewegung kommen dunklere Werte zustande.“

„Ah, so geht das!“ heuchelte Jason Verständnis. „Aber was sehen Sie, wenn ich dann dichte und reime?“

„Wir wollen sehen, wo, wie und wie intensiv die für Poesie zuständigen Hirnparzellen aktiv sind.“

Jetzt schaute ihn der Professor so intensiv an, als blicke er bereits durch Jasons Schädeldecke.

„Im Prinzip wissen wir, how it works. Aber welche Netzwerke, Neuronen und Laminae im Gehirn dazu angesprochen werden, ob das die Zonen sind, die die Bewegung organisieren oder die Musik oder nur die Sprache, wie die Schichten der Zytoarchitektur beteiligt sind, wie tief das Poetische ins Kleinhirn und in den Hirnstamm hineinreichen. Das ist aber erst der Anfang! Wir wollen alle Winkel aller Zellen ausleuchten, wo's dichtet.“

Jason fühlte in seinem Kopf einen leisen Druck entstehen. Drückten die Neuronen oder der sulcus lateralis? Während er einen Schluck Wasser trank, glaubte er zu bemerken, wie in Overstolzens Augen kleine fanatische Lichtpunkte flimmerten.

„Wir wollen alles wissen! Wo sitzen die Wörter, wo der Klang, wo der Rhythmus, wo der Sinn, wo die Metapher, der Reim, der Takt? Alles ist doch Bewegung, Quirl, Rock ‘n Roll von Atomen. Wie sammelt die Inspiration das alles ein? Ist sie ein Schatten von Impulsen, ist sie ein Schwarm von Neuronen? Inspiration ist noch ein dunkles Geheimnis. Was ist vor der Inspiration? Wo kommt sie her? Was ist ihre Zeit? Wer oder was konspiriert mit ihr?“

„Ach, das hat schon der Dichter Gottfried Benn gewusst“, warf Jason ein. „’Woher die Dränge? ‘ fragte Benn in einem Gedicht und gab selbst die Antwort: ’Es strömt dir aus dem Nichts zusammen? Gedichte sind für Benn Wortimpulse und Nichtsströme.“

Overstolz ließ einen kurzen Lachknaller los, stellte seine Flasch ab und faltete theatralisch die Hände.

„Dear Mister Poet!“ Er wurde ein wenig feierlich. „Ihr könnt das eine oder andere dazu sagen, aber wir, wir können ins Gehirn blicken.“

Schon wieder hatte Jason das Gefühl, dass sein Schädel für das Professorenauge aus Glas sei. Aber er schien nicht alles zu wissen.

„Und jetzt wollen wir genau erfassen, wie Gedichte entstehen“, fuhr er fort. „Laut für Laut, Vers für Vers, Reim für Reim, jedes prosodische Fitzelchen. Übrigens, aber das bleibt unter uns, wir haben eine Kopie von Doktor Benns Gehirn!“

„Wie, das Gehirn von Gottfried Benn?“ fragte Jason ungläubig. „Wo haben Sie das denn her?“

„Das kann ich jetzt nicht sagen...“ kam die geheimnisvolle Antwort. „Oder nur so viel: Wir haben ein Speed-Brain-Nursing-System erfolgreich entwickelt. Wenn du mehr wissen willst, musst du den Vertrag und die Geheimhaltungsklausel unterschreiben. Sollen wir das nicht gleich erledigen? Außerdem wirst du gut bezahlt. Du bist Mitglied unseres Teams 'Neuropsychologie des lyrischen kreativen Prozesses."

„Ich oder mein Gehirn?“

„Excellent question!“ lobte Overstolz und schütelte seine Flasche. „Wir sind ja alle nur wässrige Masse, die an einem neuronalen Management hängt. Mein Gehirn spricht mit deinem Gehirn, wir sind ein circuit von Nervenzellsystemen, nur organisch überladen mit Händen und Füßen. Wir arbeiten daran, dass diese Körperreste, dieser – wie hieß nochmal dein Dichter? Stevens? - dass der organic dump langsam verschwindet. Vor allem die Sprachmaschinerie, Zunge, Glottis, Stimmbänder, alles, was die originalen Nervenströme verfälscht, muss abgeschaltet werden. Sie sind überflüssig wie der Appendix. Unsere Gehirne werden eines Tages direkt wie über Bluetooth miteinander kommunizieren. Dann gibt es keine Störung mehr, kein Rauschen, kein Missverstehen, kein Blabla, die Menschheit wird in einen seeligen Frieden des Gehirnschwatzens eintauchen. Wörter und Sprachen, letter and litter, fliegen dann endgültig auf den dump. Niemand muss mehr die unselige Zeit fürs Sprechen aufbringen. Es wird Wortentsorgung geben, den grünen Punkt für Verpackung von Gedanken in Wörter. Unfortunately, we haven't reached that point yet. Außerdem müssen wir diesen verfluchten Vertragskram noch immer abwickeln. Aber bald werden die Notare und Advokaten vom Fortschritt verschlungen. Richter und Staatsanwälte gehören zur Steinzeit. Come on, Jason, einfach unterschreiben!“

„Oh nein, nicht so schnell! Das kommt mir zu plötzlich“, drosselte Jason das Tempo.

Dazu griff er nach dem Wasserglas. Zwei Schlucke und noch etwas Zeit! Er hatte den Eindruck, dass jetzt in Overstolzens Augen mephistophelische Feuerchen aufflammten. Das wollte er wissen:

„Meinen Sie eigentlich, dass Gott ein Gehirn hat oder auch nur Appendix in seiner neuronalen Behörde ist?“

Es war die richtige Frage, denn Overstolz kam in Fahrt:

„Ich hoffe, dass ich dir nicht zu nahe trete. Aber ich bin Neuroscientist und muss sagen, wie der Stand der Wissenschaft ist: Gott ist nicht tot, heaven knows why, er sitzt in einer verborgenen Hirnregion. Wir wissen nicht wo. Aber dort, wo er sitzt, lebt er als Parasit und saugt sich, was er braucht, aus den religiösen Neuronen. Gott ist ein Hirnlutscher, eine Neurozecke. Aber dieses zerebrale Gottesnest werden wir finden, wir werden es ausräuchern. Wir werden die Leute durch Neurektomie von dieser frommen Krankheit erlösen. Wir werden retten, aber erst müssen wir ihn finden, diesen verteufelten Gott!“

Jason hätte gerne geantwortet, dass er im Augenblick eher etwas Diabolisches an Vergil spürte. Der Mann war ein wenig fanatisch, vor allem ein besessener Wassertrinker, aber auch ziemlich eitel. Wie der immer wieder seine Haarpracht in Bewegung brachte! Sollte er sich darauf einlassen? Jason hatte sich seit dem letzten Semester für Neurowissenschaften interessiert! Eine seiner Professorinnen, die den Ray Kurzweil-Lehrstuhl für trans- und posthumanes Recht innehatte, sprach sehr interessant über die Juristerei der Zukunft, die durch Hirnchips, Neuroenhancement und andere transhumane Techniken völlig neu konzipiert werden müsse. Das war schon etwas unheimlich: Gibt es irgendwann ein Recht ohne Sprache? Über Schuld und Unschuld würde dann ein Scanner entscheiden. Ist das nicht Teufels Werk? Er musste an den Faustpakt denken: Würde er jetzt seine Seele verkaufen? Genuss und Wissen gegen die Sprache? Aber vielleicht bekäme er ein Gretchen mit dem König von Thule dazu? Er suchte dem Gedanken eine scherzhafte Wendung zu geben:

„Ich weiß nicht recht, Herr Professor. Mein Dichtergehirn sagt: Es gibt viele Götter. Und mein Juristengehirn fragt: Verkaufe ich meine Seele? Muss ich mit Blut unterzeichnen?“ Jetzt erhob sich der Professor, umkreiste seinen Schreibtisch, stellte sich unmittelbar vor Jason und wechselte das Register:

„Jason“, erklärte er feierlich, „du schließt einen Vertrag in einem menschheitshistorisch einzigartigen Projekt! Wir schreiben jetzt unsere Namen in das große Geschichtsbuch. Dein Name steht in tausend Jahren noch in den Lesebüchern, ach was, die wird es nicht mehr geben! Aber nach dir werden kleine graue Zellen benannt: das poetische Jason-Zentrum, die lyrische Durante-Zone. So wie manche Sterne die Namen ihrer Entdecker tragen. Wir sind die ersten Mondfahrer, nein, die ersten Mars-Astronauten des Gehirns. Dein Kollege Faust hätte auch diese Rakete bestiegen. Keineswegs verkaufst du deine ,Seele’“, Vergil hob die Stimme an, damit man die Anführungszeichen um das armselige Seelenwort hörte, „du verkaufst ein paar Stunden Gehirnlaufzeit, wenn ich so sagen darf. Komm hier, unterschreibe doch!“

Jason zögerte immer noch. Aber ihn reizte das Abenteuer.

„Irgendwie will mein Appendix noch nicht unterschreiben. Zeigen Sie mir lieber erst mal die Röhre, in die Sie mich stecken wollten.“

„Okay, dann schau dir mal die modernste Dichterstube an.”

Auf Vergils Signal hin erschien Antea-Beates Herzchengesicht in der Türe und winkte Jason mit feinem Lächeln zu sich. Jason sprang auf, ein wenig zu eilfertig, wie er sich selbst rügte. Er wollte echt cool wirken! Antea ging voran, sie verließen Overstolzens Suite, wandten sich offenbar ins Innere des Turms. In diesen künstlich beleuchteten Gängen öffnete sich Tür auf Tür, sobald seine Führerin die Touchscreens betätigte, und mit dem Windhauch der Türen wehte auch Antea-Beates Röckchen, sie geleitete ihn auf mehreren über Lifts verbundene Stockwerke durch Serien von Laborräumen mit Batterien von Rechnern und aktiven Bildschirmen. Sie eilte voran und blickte bisweilen lächelnd zurück, ob er auch folgte. Flüchtig erwiderte er den Gruß, wenn sie anderen Forschern oder VPN’s oder auch Security-Leuten begegneten. Welch eine Konfusion in seinem Kopf! Jetzt ging es ins Innere der Turmgeheimnisse! Er wäre noch gerne ein paar Stunden hinter ihr hergelaufen. Auf und ab wie seine wirren Gedanken! Drei Mal passierten sie automatische Sicherheitsschleusen. Schließlich erreichten sie eine weitere Reihe von Räumen, die paarweise angelegt waren. Darin stand jeweils ein weißer Kernspintomograph, und im Nebenraum, der durch ein Fenster Sichtkontakt gewährte, leuchtete von den Screens das Logo des Google Bouffée Brain Towers. Jason wurde noch unruhiger: Dieser gewaltige Maschinenpark und seine kleinen Gedichte! Wie sollte das zusammengehen? Antea-Beate griff beruhigend nach seinem Arm.

„Nur nicht nervös werden! Das sieht alles ein bisschen sehr hightech-unheimlich aus, isses aber nicht“, meinte sie mit feinem Ruhrgebietsklang. Wenn sich ihre Stimme ein wenig senkte und das Kühl-Professionelle verstummte, hörte man ein feines lispelartiges Zischeln. Zu schön!

„Schau mal“, fuhr sie in ihrem Beruhigungston fort, „das sind die Untersuchungsräume und daneben die Workstations. Hier werden die Versuchspersonen betreut, nebenan sitzen Overstolz, ich und andere Kollegen an den Endgeräten und bearbeiten die Bilder, die im Kernspin erzeugt werden. Gut zwei Millionen kostet so eine Maschine, und wir haben zehn Stück davon hier stehen.“

„Tja, wenn man so preiswert auf den Mars fliegen kann!“ meinte Jason.

Antea-Beate schaute ihn fragend an:

„Soll ich dich zur Probe in eine Röhre schieben? Da bekommst du schon mal ein Feeling für diesen engen Raum.“

Jason blickte dem Tomographen vorsichtig ins Walfischmaul. Dort ging es noch ein Stückchen tiefer ins Geheimnis! Ach, vor dieser lieblichen Frau durfte er doch nicht ängstlich wirken! Er holte tief Luft und legte sich beherzt auf den fahrbaren Schlitten. Die Assistentin bettete seinen Kopf in die Spule und musterte ihn. Jason glaubte in ihren Augen und ihrem Lächeln etwas Mütterliches zu lesen:

„Ich hab’ vergessen: Hastu irgendwo Piercings oder vielleicht 'nen Herzschrittmacher?“ fragte sie (wieder das wunderbar zischelnde „Pierthing“). „Die wären bei der richtigen Untersuchung ganz gefährlich. Auch deine Uhr musst du dann abgeben. Bitte, nimm zum Eingewöhnen auch den Kopfhörer. Den solltest du unbedingt aufsetzen, sonst fallen dir dann bei dem Lärm der Maschine die Ohren ab.“

Gehorsam setzt Jason den Kopfhörer auf, ließ sich das Mikrophon montieren und schaute staunend durch die Gitter der Spule, die über ihn geklappt wurde. Denn ein letzter Blick in Anteas Ausschnitt ließ sein Herz schneller schlagen, und er sagte:

„Oh, ich glaube, ich habe doch einen Herzschrittmacher! Kennst du den Song Louder than words von Pink Floyd?“

Und das waren bereits seine letzten Worte in Freiheit. Denn ohne zu antworten, brachte Antea den Schlitten in Bewegung, und Jason ließ sich unter Jonasgefühlen vom Walfischrachen des MRT verschlingen. Bei der Einfahrt ins Halbdunkel überlegte er, ob er hier seinem pochenden Gehirn je ein Verslein würde abringen können. „Schließ deine Augen zur ewigen Bahrung“, so könnte er ja den Benn Nemsi zitieren. Die Assistentin spürte seine Unruhe und legte ihm fürsorglich ihre Hand auf seinen Unterschenkel. Sie erklärte das Gerät, die Sprechanlage, den Ohrschutz und den Verlauf des Experiments. Unwiderstehlich wichen unter ihrer fürsorglichen Hand die Jonasgefühle einer lyrisch-erotischen Anwandlung, und nach kurzem Nachdenken rief Jason über die Sprechanlage aus der Höhle:

„Ich habe gerade einen MRT-Song gedichtet. Möchtest du ihn hören?“

„Ja sicher, nur zu!“

Und Jason begann:

„Ach, leg dich doch zu mir ins Rohr,

zum Donner der Gradientenspule!

Komm zärtlich meiner Angst zuvor,

sing mir das Lied vom King von Thule.

Umschmiege mich und teile sie,

mit zarter Hand und Lispelwort,

die himmlische Klaustrophobie:

Schleicht sie herbei, scheuchst du sie fort.

Magnet, Atome, Resonanzen,

sie kosten Summa zwei Million,

der Wasserstoflkern, der kann tanzen:

Mir fehlt der Platz zur Erektion."

Mit dem letzten Vers floh Anteas Hand von seinem Bein, sie schaltete die Sprechanlage ab, der Schlitten setzte sich wieder in Bewegung, und Jason kehrte unsanft in die offene Welt zurück.

Dort begrüßte ihn ein kühler Blick. Ihr Herzchengesicht hatte einen herzlosen Ausdruck angenommen, im Graugrün ihres Blicks war alle Anteahaftigkeit erloschen, und während sie das Spulengitter aufklappte, fragte sie:

„Wir das Pink Floyd?“

„Nein, das war mein eigener Rock ’n Roll,“ antwortete Jason lachend. „Bei Pink Floyd hört man Puls und Herzschlag so laut wie bei mir vorhin. Oder auch den Atem.“

„Wir sprechen hier Wissenschaftssprache und keinen Rock ’n Roll,“ gab Antea spröde zurück. „Der Scanner ist eine Maschine für Forschungen und nicht für Studentenporno". Eigensinnig wollte Jason zurückfragen, ob denn „Erektion“ ein unwissenschaftlicher Begriff sei, aber Beate war bereits durch die Türe hinaus und drohte Jason im Labyrinth des Towers allein zu lassen. Eilig trottete er hinter ihr her. Nur mit Not konnte er die Türen, die hinter ihr zuzufallen drohten, noch aufhalten. Er fühlte sich wie ein straffälliger Internatsschüler, den die Gouvernante zum Anstaltsleiter dirigiert. Etwas atemlos kam er zurück.

Professor Overstolz blickte den beiden fragend entgegen. Er hatte inzwischen eine neue Flasche Iceland Glacial Water auf dem Schreibtisch stehen. Beate berichtete, dass der Dichter den Test gut überstanden und sogar sexistische Verse erfunden habe, doch Jason berief sich auf seine platonische Dichternatur, die vom Schönen unwiderstehlich angezogen werde. Er musste die drei Strophen wiederholen. Overstolz lachte leise und versprach:

„Okay Beate, ich werde dich künftig vor dieser Sexpoesie beschützen! Keine Angst: Der Dichter wird unseren Verhaltenskodex unterschreiben und sich zähmen lassen.“

Und zu Jason gewandt:

„Are you ok? Kannst du dir vorstellen, bei den Experimenten mitzumachen? Offenbar hältst du die Lage in der Röhre aus und kannst sogar Verse erfinden. Ich wäre sehr zufrieden, wenn das funktionierte!“

Jason erklärte ein wenig pathetisch, dass er sich keiner Zensur unterwerfen werde, und als ihm Vergilius erneut das Vertragspapier zuschob, bat er wieder um Bedenkzeit. Er könne nur in völliger geistiger, moralischer, politischer und literarischer Freiheit dichten. Das müsse in dem Papier stehen. Er sei angehender Anwalt und werde den Vertrag genau prüfen.

Vergilius ließ nicht locker:

„Lass uns dieses große Werk nicht von Juristenkleinkram verderben lassen“, beschwor er Jason. „Wir stehen an der Schwelle eines neuen Zeitalters. Das dunkle Mittelalter geht zu Ende. Die Menschheit lässt die Evolution hinter sich. Sie will nicht mehr von Zufällen, Trieben, Launen oder gar noch vom Unbewussten gesteuert werden.“

„Arbeitet das Gehirn nicht auch unbewusst?“ wagte Jason zu fragen.

Wieder hatte er den mediceischen Löwen gereizt.