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Zeitgenössische Autorinnen und Autoren schreiben zu aktuellen Themen. Kurzprosa ist als experimentierfreudige Wegbereiterin literarischer Strömungen aus dem Unterricht kaum wegzudenken. Doch der Schulkanon ist meist auf ein kleines Spektrum altbewährter Texte beschränkt. Dieser Band bietet endlich Neues – er versammelt Kurzprosa zu Grenzerfahrungen, die junge Erwachsene interessieren: Flucht, Tod, Kinderarbeit, Obdachlosigkeit, Behinderung … In jeweils 900 bis 1200 Wörtern, dem idealen Prüfungsformat, und angereichert mit Fragen zum Text.
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Seitenzahl: 111
Neue Kurzprosa für die Sekundarstufe II
Reclam
2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962069-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015091-7
www.reclam.de
Formenreichtum und Experimentierfreude
I (Inter)nationale Grenzerfahrungen
Verzicht oder Leben
Drei Nüsse für Leya
Right away
II Zwischenmenschliches
Ein Mond für Bachmann
Beinarbeit
Die Rüstung des Mannes
III Gewohnte Pfade verlassen
Der Rabe und der Fuchs
Der Steg
IV Soziale Wirklichkeiten
Reichsein ist ein Fluch oder Los ricos también llorant
Schwarze Mamba
Überlebenstraining
V Unterschiedliche Konzepte
Die Schwere des Himmels
Fahrtrichtungen
Mahlzeit!
VI Letzte Grenzen
Matchpoints
Vier Himmelsrichtungen
fämili sitting in sse kar
Die Autorinnen und Autoren
Vorwort
Kurzprosa gilt als Wegbereiter literarischer Strömungen. Aus dem Schulunterricht ist das Format kaum wegzudenken, bleibt aber trotz eines überwältigenden Angebots in der Regel auf ein kleines Spektrum an Autor*innen und Texten beschränkt. Dies ist einem Kanon geschuldet, der bewährte Qualität hochhält und Experimente scheut – nicht nur auf verlegerischer Seite: Lehrkräfte entscheiden, was sie für Schüler*innen beziehungsweise für pädagogisch-didaktische oder fachwissenschaftliche Zwecke für geeignet halten. Texte, die epochenrelevant oder formal idealtypisch erscheinen, oft durch eine Vielzahl an bestehenden Analysen gesichert, erleichtern die unterrichtliche Vorbereitung und werden daher gern bevorzugt. Das Kriterium der pädagogischen oder didaktischen Verwertbarkeit erschwert zudem die unbefangene Interpretation. Schüler*innen entwickeln feinere Antennen für Erwartungen der Lehrkräfte, was aus einer Geschichte gelernt werden sollte, als für die Texte selbst. Und sie finden im Netz eine Fülle an Copy&Paste-Vorlagen für die Analyse bekannter Kurzprosa-Werke. Aus Suchanfragen von Schüler*innen geht oft hervor, dass der Text vor der Recherche noch gar nicht gelesen oder zumindest nicht ›verstanden‹ wurde, verbunden mit der Sorge, das eigene Verstehen genüge der Erwartung, wie er verstanden werden sollte, nicht.
Lehrkräfte wiederum stoßen bei der Suche nach neuen Themen, Autor*innen und ›unverbrauchten‹, formal herausfordernden Texten, die nicht in die klassischen Schubladen von Fabel, Parabel, Kurzgeschichte etc. passen, auf ein Problem: Die wenigsten haben den Umfang, der Schüler*innen in einer 45-Minuten-Einheit zuzumuten ist, oder der Vorgabe entspricht, die für Fachhochschulreife- oder Abitur-Prüfungsaufgaben gilt: etwa 900 beziehungsweise 1200 Wörter.
Der vorliegende Band Grenzerfahrungen erzählen, der mehrheitlich eigens hierfür verfasste Kurzprosa versammelt, soll dies ändern: Die Suche nach zeitgenössischen Autor*innen, die bereit waren, einen Text zu verfassen, der der Vorgabe von 900 beziehungsweise 1200 Wörtern entspricht, stieß auf große Zustimmung. Vielen der Angesprochenen war es ein Bedürfnis, den Kanon durch aktuelle Themen zu ergänzen, die in diesem Band nach verschiedenen Aspekten gruppiert wurden: Den Auftakt nehmen Texte, die von (inter)nationalen Grenzerfahrungen erzählen, von Flucht, Ausbeutung und Abschottung. Weiter geht es mit Ausgrenzung im menschlichen Miteinander, um häusliche Gewalt und Einsamkeit, Inklusion und queeres Leben. Im nächsten Abschnitt wird es phantastisch, eine neu erzählte Fabel fordert ebenso wie ein Kunstmärchen auf, neue Wege zu gehen. Ökonomisch-existenziellen Herausforderungen widmen sich die darauffolgenden Erzählungen, es geht um grenzenlosen Reichtum, um Arbeitsplatzverlust bis hin zu Obdachlosigkeit. Widerstreitende Konzepte, Glaube, Wahrnehmungen, (Tier-)Ethik kommen in drei weiteren Geschichten aufs Tapet. Und schlussendlich geht es um den Tod, Suizid und das Abstellen lebenserhaltender Maßnahmen. Jeder der Abschnitte wird durch ein Zitat eingeleitet, das für einen reflexionsorientierten Schreibauftrag genutzt werden kann.
Formal möchte der Band nicht schulbuchtypische Kurzprosaformen und Genres bedienen. Er bietet Texte, die diese Formen aufgreifen, variieren, mit ihnen spielen, sie weiterentwickeln – oder auch ganz klassisch daherkommen. Die Geschichten wollen (be)lehren, Denkanstöße bieten oder schlicht erzählen. Und sie wollen interessierte Rezipient*innen finden, die ihr literarisches Wissen, ihre Kenntnisse von Prosaformen, epischen und rhetorischen Mitteln anwenden, aber vor allem mit Unvoreingenommenheit neue Texte von zeitgenössischen unbekannten und Bestseller-Autor*innen kennenlernen können.
Fragen zu Inhalt, Form, Themen, Hintergrund, Anliegen, persönlichen Erfahrungen der Schüler*innen, zu Übungen und Vorgehen bei der Analyse sind den Texten jeweils angefügt. Einige wurden von den Autor*innen selbst vorgeschlagen. Alle verstehen sich als Anregungen und wollen ein möglichst großes Spektrum der Auseinandersetzung mit den Geschichten anbieten. Die vorangestellten Sternchen signalisieren, dass die folgende Frage auf ein höheres Leistungsniveau abzielt.
Fortschritt ist ambivalent. Er entwickelt zugleich das Potential der Freiheit und die Wirklichkeit der Unterdrückung.
Theodor W. Adorno
JABBAR ABDULLAH
Schon als Kind wollte ich die Murmeln, die ich beim Spielen in der nördlich unseres Dorfes gelegenen antiken Römerstadt gewonnen hatte, nicht wieder herausrücken, wenn die größeren und stärkeren unter den Verlierern mich mit Gewalt oder Drohungen dazu zwingen wollten. Ein Trotz, aus dem später meine Beteiligung an der Revolution gegen den größten Tyrannen des Nahen Ostens erwachsen sollte, an die sich wiederum eine lange Fluchtreise durch Wüsten und Wälder anschloss, den Spuren der mittelalterlichen Kaufleute auf der Seidenstraßenroute folgend. Mal lief ich zu Fuß, mal hockte ich in einem Zelt, das weder Schutz vor den Winden bot noch vor den schwarzen Wolken, die den Meeresdunst und den Zigarettenrauch der Seeleute herantrugen, noch vor giftigen Krabbeltieren oder dem Sand, den die Soldaten, beim Anblick der fliehenden Leichname um die Grenzen fürchtend, mit Schüssen aufwirbelten.
Die Gesellschaft, in der ich vor dreißig Jahren das Licht der Welt erblickte, wurde von einer eisernen Kette stranguliert, deren eines Ende in der Hand der Partei lag, während am anderen das Regime zog. Wo die Kette sich zusammenschnürte, lagen die Dörfer meiner Heimat. Meine Eltern, die schon vorher zur Welt gekommen waren, erst meine Mutter, dann mein Vater, wurden vom Leben ständig im Kreis geführt. Schon bei ihrer Hochzeit hatte man vierzehn Tage lang getanzt, obwohl eine Hochzeitsfeier normalerweise drei Tage dauerte. Doch nach dem Tod eines Verwandten meiner Mutter hatte man die Heimführung der Braut um elf Tage verschoben, was es den Leuten meines Vaters erlaubte, elf weitere Abende zu tanzen und zu singen. Danach führte man meine Mutter ins Haus meines Vaters, wo sie Kinder bekam, die dem Regime geopfert werden sollten.
Während der Schulzeit priesen wir die Erhabenheit des Präsidenten. Nach achtzehn Jahren hatten wir vom kärglichen Brot kräftige Muskeln bekommen und der Nationalismus war uns durch die Slogans, die wir hörten, lasen und immer wieder skandierten, in Fleisch und Blut übergegangen. Die präsidialen Verordnungen, das Wehramt und die Geheimdienstspitzel entschieden nun, wir seien alt genug, Soldaten zu werden und sie mit Waffen gegen die Wahrheit zu verteidigen.
Meine Eltern hatten Weizen gesät, den der Präsident ins Abendland verkaufte, um sich dort anzudienen. Und von den Einnahmen Kampfflieger bezahlen zu können. Als ich meinen Vater fragte, warum er sich nicht gegen die Tyrannei wehrte, aus den Ketten befreite und den Weizen auf eigene Faust auf den Markt brachte, statt ihn für einen Spottpreis der Regierung zu überlassen, erklärte er, er leiste Verzicht für seine Kinder, rette uns damit vor dem Tod. So erfuhr ich, dass Verzicht Leben bedeutete. Der Präsident schenkte es meinen Eltern, und die gaben es an uns weiter.
Nach jahrelangem Verzicht war ich herangewachsen, und die Kette war dick und fest geworden. Da erklärte ich meinem Vater, dass ich es nicht mehr aushielt. Er beschimpfte mich als Versager, weil ich ihm nicht in den Verzicht nachfolgte, lief zur Haustür, die einen Spaltbreit offenstand, blickte sich um, wohl aus Furcht, ein Vorübergehender könne mich gehört haben, und knallte die Tür zu. Dann schoss er wie eine Rakete auf mich zu, zeigte auf die vier Wände des Zimmers und rief: »Nimm dich bloß in Acht, selbst vor den Mauersteinen, die haben Ohren! Sie werden es dem Geheimdienst und dem Präsidenten zutragen, wenn du auf die Idee kommen solltest, eigene Wege zu gehen und deine Kette zu sprengen!« So lernte ich von meinem Vater den Verzicht als patriotische Pflicht kennen, in der man aufzugehen hat. Denn in meiner Heimat wird das Leben gekidnappt.
Im zwanzigsten Jahrhundert aber sprengten die Menschen scharenweise ihre Ketten und lehnten sich gegen das Regime auf, das den Verzicht predigte. Dieses jedoch stellte für jeden Revolutionär einhundert bis an die Zähne bewaffnete Soldaten ab. So kamen die meisten um. Und gelang einem die Flucht, so nahmen die hundert Soldaten seine Schwester oder Ehefrau oder sein Kind, seine Mutter oder seinen Vater oder auch alle zusammen als Geiseln und forderten ihn auf, sich zu ergeben. Ließ er sich darauf ein, fand er den Tod. Die Geiseln allerdings ebenfalls – nachdem sie vergewaltigt worden waren.
Dieses Konzept von Soldaten und Geiseln war so erschreckend, dass ich ins Ausland floh. Zuvor jedoch gab ich meiner Mutter unter unserem Weinstock ein Versprechen: Ich reckte meinen Zeigefinger zu vier unreifen Traubenbüscheln hinauf und erklärte, im Sommer, wenn diese Trauben reif wären, würde ich zurückkehren, und dann könnten wir sie gemeinsam essen, ohne Angst vor Schüssen zu haben. Denn bis dahin wäre der Präsident tot oder ins Ausland geflohen.
Stunden später überquerte ich die Grenze und verzichtete damit für ein Jahr auf meine Mutter, meine Geschwister und Freunde, meine Wohnung, meine Freundin, auf das Dorf und den Fluss, der seit dem Weltenbeginn dort fließt, auf die Nachbarn, die Häuser, die ich kenne, die allerorten herumliegenden römischen Scherben, auf die furchtsamen Augen der Vögel angesichts des Gewehrs meines Vaters, auf die Oliven-, Granatapfel- und Feigenbäume, auf die Moschee neben unserem Haus und all die Leute in der Stadt, die ich vom Sehen her kannte, ohne zu wissen, wie sie hießen.
Ein Jahr später, ich war mittlerweile zwei Länder weiter, hieß es, der Präsident habe Auslieferungsabkommen geschlossen, und ich sagte meiner Mutter am Telefon: »Ich werde für ein weiteres Jahr auf euch verzichten müssen.« Ich bat sie, die Trauben zu mumifizieren, indem sie ein Glas Marmelade aus ihnen kochte, dieses wie eine ägyptische Mumie in weißen Stoff einschlug und an einem Ort versteckte, den nur wir beide kannten, damit die Hungrigen des Krieges es nicht stahlen.
Das tat sie. Drei Tage danach wurde unser Weinstock von einem Soldaten aus einem Flugzeug heraus bombardiert, doch das Marmeladenglas behauptete sich gegen den Tod.
Ich überwand weitere Grenzen, und auch meine Mutter hatte nach dem Tod meines Vaters auf das Dorf verzichtet und war im Nachbarland angekommen. Ich zog von einer Flüchtlingsunterkunft zur nächsten, von einem Metallbett ins andere. Alle Betten waren gleich schwarz, die Wände dagegen weiß gestrichen – meine neue Heimat erlebte damals eine Farbkrise. Sämtliche Kameraden waren Geflüchtete, Verbundene durch unsere Geschichte. Wie ich hatten sie ihre Namen verloren, und uns einte dieselbe Anschrift.
Der Verzicht auf die richtige Aussprache unserer Namen war erst der Anfang. Unsere Gefühle und Befindlichkeiten in fremden Worten zu beschreiben, die verletzt und verstümmelt in uns geboren wurden, kostete viel Kraft. Die neue Sprache war unerbittlich, unerbittlicher als der Krieg. Beherrschen konnte sie nur, wer aus einem blonden Schoß gekrochen war. Weil der Schoß meiner Mutter orientalisch braun war, verzichtete ich darauf, mein Befinden zu beschreiben, wie ich es gern getan hätte. Der Verzicht war größer als der auf meinen Namen.
Bereits nach sechs Jahren – statt der üblichen acht – wurde ich eingebürgert. Dies war nur möglich, indem ich meine eigene Staatsangehörigkeit aufgab. Also verzichtete ich darauf. So kam meine Mutter trotz ihres braunen Schoßes zu einem ausländischen Sohn.
Der Präsident erließ eine Amnestie für alle Geflüchteten, nachdem er die Wahlen gewonnen und sich im Morgenland Freunde gemacht hatte, die ihn gelegentlich besuchten. Der Weinstock erholte sich wieder, meine Mutter kehrte ins Dorf zurück und tastet nach den Trauben, wenn sie an ihren verlorenen Sohn denkt. Und ich bekam mein Abwesendsein in den Griff. Genau wie die Tatsache, dass es vorerst kein Wiedersehen geben wird mit meiner Mutter und den Trauben.
Jabbar Abdullahs Heimat ist Syrien. Die Kultur dieses Landes findet sich in Details seiner Erzählung. Tragen Sie sie zusammen und ergänzen Sie sie um Sitten und Gebräuche aus dem Land, in dem Sie aufgewachsen sind, und anderen, die Sie kennengelernt haben.
An einer Stelle spricht Jabbar Abdullah vom »Schoß meiner Mutter« und den Schwierigkeiten, die dem Ich-Erzähler in dem Land, in das er geflüchtet ist, begegnen. Welche Erfahrungen oder Beobachtungen in der Fremde oder mit Zugewanderten kennen Sie? Klären Sie die Begriffe »Rassismus«, »Integration«, »Assimilation« und »Inklusion«. Was davon finden Sie hier wieder und was halten Sie für ein sinnvolles Konzept?
Jabbar Abdullah verwendet eine sehr bildhafte Sprache. Analysieren Sie insbesondere die Metaphern aus dem Bedeutungsbereich »Ernährung« und »Gewalt« in Hinsicht auf das, was er vermitteln will.
BRIGITTE GLASER
Der Regen wird den Boden unter den Haselsträuchern weiter aufweichen, und er wird alles wegwischen, Leyas Blut und die schwarze Asche des Serkars. Kardan und die Seinen werden weiterziehen zur nächsten Plantage, Haselnüsse gibt es überall in Ordu. Leya wird nicht mehr an Kardans Rockzipfel hängen, doch sie wird ihn als Dschinn begleiten, flüchtig wie Nebel und leicht wie der Wind. Immer wird sie an seiner Seite sein, und wenn ihm Gefahr droht, wird sie ihm eine der drei Zaubernüsse schenken. Mit der wünscht er sich den fliegenden Teppich herbei und fliegt auf und davon.