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Grabraub auf dem Rheinberger Friedhof? So etwas hat Gertrud Grimm in ihrem ganzen langen Leben noch nicht gehört, aber anscheinend ist die Stadt am Niederrhein vor nichts mehr sicher! Ein Dutzend vertauschter Hornveilchen und der Fund einer menschlichen Rippe legen jedenfalls nahe, dass das Grab des angesehenen Professors der kirchlichen Hochschule leer ist. Aber aus welchem Grund? Gertrud ist fest entschlossen, das aufzuklären, bevor in der Kleinstadt die Gemüter hochkochen. Zumal ihr Sohn, der pensionierte Kriminalkommissar Heinrich Grimm, plötzlich einen alten Schulfreund im Verdacht hat … In dieser humorvollen Provinzkrimireihe kann jeder Band unabhängig gelesen werden.
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Seitenzahl: 312
Über dieses Buch:
Grabraub auf dem Rheinberger Friedhof? So etwas hat Gertrud Grimm in ihrem ganzen langen Leben noch nicht gehört, aber anscheinend ist die Stadt am Niederrhein vor nichts mehr sicher! Ein Dutzend vertauschter Hornveilchen und der Fund einer menschlichen Rippe legen jedenfalls nahe, dass das Grab des angesehenen Professors der kirchlichen Hochschule leer ist. Aber aus welchem Grund? Gertrud ist fest entschlossen, das aufzuklären, bevor in der Kleinstadt die Gemüter hochkochen. Zumal ihr Sohn, der pensionierte Kriminalkommissar Heinrich Grimm, plötzlich einen alten Schulfreund im Verdacht hat …
Bitte beachten Sie, dass dieser Kriminalroman früher bereits unter dem Titel »Das Hornveilchen-Indiz « erschienen ist.
Über den Autor:
Erwin Kohl wurde 1961 in Alpen am Niederrhein geboren und wohnt noch heute mit seiner Frau in der herrlichen Tiefebene am Niederrhein. Neben der Produktion diverser Hörfunkbeiträge schreibt Kohl als freier Journalist für die NRZ / WAZ und die Rheinische Post. Grundlage seiner bislang 15 Kriminalromane und zahlreichen Kurzgeschichten sind zumeist reale Begebenheiten sowie die Soziologie der Niederrheiner und ihre vielschichtigen Charaktere.
Die Website des Autors: www.erwinkohl.de/
Bei dotbooks veröffentlichte Erwin Kohl seine humorvolle Krimireihe um »Grimm & Sohn« mit den Bänden:»Grimm & Sohn – Das kopflose Skelett«
»Grimm & Sohn – Der Tote im Heidesee«
»Grimm & Sohn – Das Hornveilchen-Indiz«
»Grimm & Sohn – Der tote Schornsteinfeger«
Auch bei dotbooks erscheint seine »Kommissar Trempe«-Reihe:»Kommissar Trempe – Zugzwang«
»Kommissar Trempe – Grabtanz«
»Kommissar Trempe – Flatline«
»Kommissar Trempe – Willenlos«
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eBook-Neuausgabe August 2024
Dieses Buch erschien bereits 2011 beim Droste Verlag.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Erwin Kohl, Wesel-Ginderich und Droste Verlag GmbH, Düsseldorf.
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (paranormal) und Adobe Stock (Sergiy Bykhunenko, Curly, MCM)
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-163-6
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Erwin Kohl
Grimm & Sohn – Das Hornveilchen-Indiz
Mord am Niederrhein, Band 3
dotbooks.
Nachdenklich betrachtete er die vom Regen aufgeweichte Erde. Am Fuße des Grabes hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Eine Blume war unter dem Gewicht des Wassers umgeknickt. Sein Blick wanderte auf den Grabstein, der silbrig im Mondschein glänzte. »Warum konntest du nicht schweigen«, murmelte er. Seine Gedanken wanderten zu ihrer letzten Begegnung, zu dem milden Lächeln, das er seinem Flehen entgegenbrachte. Da ahnte er noch nicht, welchen Preis die Freiheit hatte. Wie gegenwärtig dieser Mensch für immer bleiben, wie sehr er seine Träume beherrschen sollte. Mehr als einmal hatte er sich gewünscht, diesen Tag aus seinem Leben streichen zu können. Es war so einfach gewesen. Ein kleiner Schritt durch den Notausgang. Seitdem schmerzte ihn das Bewusstsein, damit in einen Strudel geraten zu sein, der ihn immer weiter in den Abgrund zog. Ein Sog, der unaufhaltsam schien. Bis zur heutigen Nacht. Ein Gefühl der Erleichterung überfiel ihn, schob die düsteren Erinnerungen für einen kurzen Augenblick beiseite. Er betrachtete den Schuh in seiner rechten Hand. Einen zweiten Fehler durfte er sich nicht erlauben. »Verzeih mir«, sagte er. Dann beugte er sich vornüber.
Missmutig klemmte Ewald Klostermann die Plastikdose mit der Roll-Hundeleine zwischen die Beine, setzte den Hut auf und zog den Reißverschluss seiner Regenjacke bis zum Kinn hoch. Auf die Kapuze verzichtete er. Sie nahm ihm die Sicht zur Seite. Außerdem gelang es ihm nie, sie wieder so einzurollen, dass sie nicht als Kugel auf dem Nacken thronte und sein Unvermögen für jedermann sichtbar zur Schau stellte. Hildegard war in solchen Dingen wesentlich geschickter. Bei einer OP-Schwester muss jeder Handgriff sitzen, sagte sie immer, obwohl sie schon lange in Rente war. Aber sie hatte sich direkt nach dem Krimi ins Schlafzimmer begeben. Und sie mochte es nicht, wenn er dann noch wegen irgendwelcher Nichtigkeiten zu ihr ans Bett kam. Für eine Sekunde hatte er mit dem Gedanken gespielt, einen Schirm mitzunehmen. Der aufkommende Wind hatte ihn davon abgehalten.
Auf dem Bürgersteig stehend, richtete er den Blick nach oben. Mühelos trieb der Wind die glänzenden Tröpfchen durch die milchigen Lichtkegel der Straßenlaternen. Kleinere Regenwolken widersetzten sich immer wieder, als wollten sie im Scheinwerferlicht einen letzten Tanz aufführen, bevor sie fortgetragen wurden.
»Guten Abend, Ewald. Bei dem Wetter möchte kein Hund vor die Tür, nicht wahr?«
Er hatte Charlotte Gesdonk gar nicht bemerkt, die ihm vom Haus gegenüber zuwinkte, grüßte sie freundlich und drehte sich um.
»Kommst du mal her, Sissi? Wir müssen noch Gassi gehen.« Lustlos stand der Dackel unter dem schützenden Dach des Eingangsbereichs und hielt schnüffelnd die Nase in den Wind.
»Recht hat er«, bemerkte Frau Gesdonk, »wenn man mir so einen unpassenden Namen geben würde, tät ich auch nicht darauf hören.«
»Ja, ja. Aber du kennst doch die Hilde.«
Wenige Minuten später erreichten sie den Maria-Kann-Weg, der vorbei an einem kleinen Neubaugebiet zum Friedhof führte. Sissi hatte sich mittlerweile mit dem Novemberregen arrangiert und sprang lebhaft um die Beine seines Besitzers.
»Hier brauchen wir keine Leine, das weißt du ganz genau, was?« Es klang, als würde sich ein Opa mit seinem Enkelkind unterhalten. Vorsichtig sah Ewald Klostermann sich um. Als er sicher war, unbeobachtet zu sein, löste er den Karabinerhaken am Halsband des Dackels. Sofort stürmte dieser auf die schmale Grünfläche am Zaun des Kindergartens zu. Klostermann blickte sich verstohlen um. Er lief nun schneller, in der Hoffnung, dass Sissi ihm folgen würde. Hundert Meter weiter teilte der Weg den Sankt-Annafriedhof in den alten Teil, der früher einmal ausschließlich Katholiken Vorbehalten war, und das größere, neue Areal. Das flackernde Licht einer Fahrradlampe kam näher, eine innere Unruhe befiel Klostermann. Instinktiv drehte er sich um. Sissi lief mittlerweile neben ihm. Der Radfahrer bog in den Weg zwischen Friedhof und Kindergarten ein und Klostermann atmete erleichtert auf. Das monotone Surren des Dynamos verstummte allmählich. Der Krimi, den sie sich vorhin angeschaut hatten, spielte teilweise auf einem Friedhof. Der Mörder hatte hinter einem Grabstein gekauert und auf seine Opfer gewartet. Klostermann wurde es plötzlich eiskalt. »War ja nur ein Film«, hatte Hilde ihn beruhigen wollen, während er die Schuhe anzog. Bevor er die Haustür schloss, hatte sie noch von oben heruntergerufen: »Sei vorsichtig!« Das hatte ihm Angst gemacht. Die Stille, die er sonst so sehr schätzte, wirkte auf einmal bedrohlich.
Er befand sich nun auf dem schmalen Weg, der den Friedhof teilte. Das Licht der Laternen spiegelte sich auf dem feuchten Asphalt. Wenige Meter weiter würde er abbiegen und am Fuße der Sankt-Anna-Kapelle vorbei zum Hauptweg gelangen. Von der nahen Annastraße drang das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos herüber und sorgte für einen kurzen Moment der Erleichterung. Sekunden später kehrte die Stille zurück. Klostermann wollte sich ablenken, dachte an den Winter fahr plan. Wochenlang hatte er ihn ausgetüftelt, morgen sollte er in Kraft treten. Kein Zug durfte Verspätung haben. Sorgen bereitete ihm vor allem der neue ICE, den Hilde ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Für die nötigen Gleisbaumaßnahmen hatte ein Vorratsregal weichen müssen, was seine Frau bei der Auswahl des Geschenkes offenbar nicht bedacht hatte. In seine Überlegungen, ob die fahrplanmäßig zur Verfügung stehenden zwei Minuten für die Bewältigung der neuen Hochgeschwindigkeitstrasse entlang der Wand zum Heizungskeller wohl ausreichten, mischte sich ein unheilvolles, leises Knurren. Vom nordöstlichen Teil des Friedhofs drangen seltsame Geräusche herüber. Klostermann blieb unschlüssig stehen, glaubte zunächst, seine Nerven würden ihm einen Streich spielen. Dann hörte er sie wieder: Kaum lauter als der Wind drangen die Töne an seine Ohren. Sissis Knurren schwoll an, ging in zaghaftes Bellen über. »Ruhig, Sissi«, die Worte kamen nur brüchig über seine Lippen. Seine Knie zitterten, hektisch griff er nach dem Karabinerhaken. In dem Augenblick, als er den Dackel anleinen wollte, rannte dieser entschlossen auf den neuen Teil des Friedhofsgeländes und verschwand wenige Augenblicke später kläffend in der Dunkelheit. »Oh nein«, murmelte Klostermann weinerlich. Er starrte auf die Hundeleine in seiner Hand. Hilde würde es ihm nie verzeihen, wenn er ohne Sissi zurückkam. Für einen Moment schloss er die Augen, dann raffte er allen Mut zusammen und bog in den Friedhofsweg ein. Bäume und Sträucher hüllten die Grabsteine in dunkle Schatten. Aus dem hinteren Teil des Friedhofs hörte Klostermann seinen Hund, der unentwegt bellte. Das macht er nur, wenn er fremden Männern begegnet, schoss es ihm durch den Kopf. Plötzlich raschelte es hinter einem Grabstein zu seiner Linken. Sekunden später rannte ein Wiesel fast über seine Schuhe. Klostermann hielt sich die Brust, ein höllischer Schmerz durchfuhr seinen Oberkörper. Langsam ging er weiter. Kurz vor dem Ende des Weges vernahm er Männerstimmen. Sie wurden leiser, schienen sich zu entfernen. Klostermann blieb wie angewurzelt stehen, atmete in kurzen Zügen. Zwei Minuten später, die ihm wie Stunden vorkamen, hörte er nur noch den Wind. Vorsichtig ging er weiter, sah sich immer wieder in alle Richtungen um. Die Grabreihen an der angrenzenden Bahnlinie wurden weder von Sträuchern noch von Bäumen unterbrochen. Im fahlen Licht des Mondes erkannte er einen Erdhaufen. Davor lag Sissi und knabberte zufrieden an einem Stöckchen. Klostermann sah sich noch einmal um, bevor er den schmalen Weg betrat. Fassungslos stand er vor dem Grab. Er konnte kaum glauben, was er sah. Instinktiv griff er sich erneut an die Brust, atmete in kurzen Zügen. Er spürte kalten Schweiß auf der Stirn. Wie in Trance leinte er Sissi an und zog den Dackel mit schnellen Schritten hinter sich her.
Zu Hause angekommen, ließ er die Haustür hinter sich zufallen und plumpste auf die Treppe im Flur. Kalter Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Den Blick ins Leere gerichtet, atmete er schwerfällig. Er hatte seine Frau nicht bemerkt, die in einen Bademantel gehüllt hinter ihm auf der Treppe erschien.
»Was ist das für ein Dreck? Ihr habt ja alles versaut!«, polterte sie los. Nach einem Blick ins Gesicht ihres Mannes verstummte sie. Ewald Klostermann fingerte nervös an der Hundeleine. Der Blick seiner Frau wanderte unterdessen zu dem Hund. Sein Fell war fast flächendeckend mit feuchter Erde überzogen.
»Was hast du denn da, Sissi?«
»Ein Stöckchen«, murmelte Ewald Klostermann teilnahmslos.
»Sieht aber eigenartig aus. Zeig doch mal der Mama, was du da hast, Sissilein.«
Sofort stand Sissilein auf und legte die Beute schwanzwedelnd in ihre Hände. Hildegard Klostermann hatte ihre Brille nicht auf und hielt den Gegenstand dicht vor die Augen. Ihr Mund öffnete sich weit, sie wurde leichenblass.
»Das … das … ist eine Rippe.«
Heinrichs Laune näherte sich dem Gefrierpunkt. Am Samstag war er mit seiner Mutter nach Duisburg gefahren, um bei einem skandinavischen Möbelanbieter einen Aktenschrank für ihr Büro zu kaufen. Zu Hause angekommen, musste er feststellen, dass seine Mutter beim Ausmessen den Umstand außer Acht gelassen hatte, dass sich Zimmertüren meist nach innen öffnen ließen. Nach dem Mittagessen war er abermals nach Duisburg gefahren und hatte den Schrank gegen ein schmaleres Modell getauscht. Als er ihn heute Morgen aufbauen wollte, fiel ihm das Fehlen der Türscharniere auf. Ein freundlicher Mitarbeiter erklärte ihm am Telefon, dass diese gesondert gekauft werden müssten. Immerhin ersparte ihm der Rat einer Verkäuferin, er solle doch auch passende Türgriffe mitnehmen, eine vierte Fahrt. Der Zusammenbau bereitete ihm keinerlei Probleme. Innerhalb kurzer Zeit waren Seitenteile, Boden und Decke miteinander verschraubt. Der bebilderten Anleitung folgend, hatte er das Möbelstück anschließend der Länge nach auf den Boden gelegt und mit Dutzenden kleiner Nägel die Rückwand befestigt. Als er ihn endlich zufrieden aufstellen wollte, bemerkte er sein Missgeschick: Weil zwischen Decke und Schrankoberkante lediglich ein Abstand von acht Zentimetern bestand, hätte er ihn stehend montieren müssen. Frustriert setzte Heinrich sich auf einen der Bistrostühle, die seine Mutter zusammen mit einem passenden Tisch für ihre Kunden angeschafft hatte, und faltete die Anleitung zusammen. Auf der Rückseite fiel ihm der fett gedruckte Hinweis ins Auge: »Vor dem Zusammenbau unbedingt den nötigen Mindestabstand von fünfzehn Zentimetern zur Decke beachten!«
Noch gestern hatte er sich fast ein wenig über die Abwechslung gefreut. Er fragte sich, wie andere Pensionäre mit der überschüssigen Zeit umgingen, wie sie die leeren Tage füllten. Im Sommer hatte er sich in die Gartenarbeit gestürzt. Das Ergebnis konnte sich durchaus sehen lassen. Seine Freundin Annette nannte die gepflegte Landschaft scherzhaft den Kamper Klostergarten im Miniaturformat. Im vorigen Monat stand dann die längst überfällige Renovierung seiner Wohnung an. Tapeten in mediterraner Farbgebung und der Austausch alter Eichenmöbel gegen eine moderne Wohnlandschaft sollten nach Annettes Meinung seine Stimmung heben. Was tatsächlich zutraf, aber es löste nicht den Kern des Problems. Eine laute Männerstimme riss ihn aus den Gedanken. Offenbar hatte er die Türklingel überhört.
»Sie werden mir jeden Cent zurückzahlen, Frau Grimm! So etwas ist mir ja noch nie untergekommen. Eine Dreistigkeit sondergleichen ist das! Sie hören von mir!«
Kurz darauf trat seine Mutter laut schimpfend durch die offene Bürotür.
»Was bildet der sich ein? Gar nichts bekommt der zurück! Das wäre ja noch schöner.«
»Zufriedene Kunden sind die beste Werbung. War das nicht von dir?«
Über ihre Augen legte sich ein dunkler Schatten.
»Ich habe den Auftrag ordnungsgemäß ausgeführt. Was kann ich dafür, wenn seine Frau keinen Liebhaber hat?«
»Warum fordert er dann sein Geld zurück? Er müsste doch mit dem Ergebnis zufrieden sein.«
»Zufrieden? Der?«
Sie setzte sich zu ihm, beugte sich leicht über den runden Tisch und stützte die Ellenbogen auf.
»Das ist ein Schuft, wie er im Buche steht. Während er ein Detektivbüro damit beauftragt, seine Frau zu beschatten, trifft er sich mit seiner Geliebten!«
Unerwartet sprang sie wieder auf, kletterte umständlich über den am Boden liegenden Schrank zum Schreibtisch und kam mit einem Stapel Fotos zurück. Sie warf die Bilder derart schwungvoll auf den Tisch, dass einige über die Kante rutschten und auf den Boden fielen. Heinrich erkannte auf dem obersten Foto ein Paar, das sich hinter zwei großen Eisbechern eng umschlungen küsste.
»Dabei hat er so eine liebe Frau. Die Gute hatte nicht die geringste Ahnung von den skrupellosen Machenschaften ihres Gatten. Ist das nicht furchtbar?«
»Moment … Du hast es ihr gesagt?«
Sie seufzte theatralisch, als halte sie die Frage für ausgesprochen naiv.
»Zuerst natürlich nicht. Ich bin ja nicht blöd und verschenke Geld. Ein paar Andeutungen haben aber schon gereicht, da hatte ich den Auftrag.«
»Sag mal, bist du jetzt total verrückt geworden?«
»Im Gegenteil. Der Björn, Friedas Ältester, studiert doch Betriebswirtschaft … «
»Ja, seit zwölf Jahren«, warf Heinrich trocken ein.
»Quatsch. Also, der Björn hat gesagt, man muss Kunden antiquieren, wenn man erfolgreich sein will.«
»Antiquieren?«
»Na ja, sich welche besorgen eben. Und das habe ich gemacht.«
»Aber du kannst doch nicht die Frau deines Auftraggebers als … als Doppeldetektivin, ich meine … «
»Wieso nicht, es gibt doch auch Doppelagenten.«
Heinrich schüttelte den Kopf. Er spürte einen inneren Drang, lauthals zu lachen. Dann fiel ihm ein, dass die Detektei immer noch auf seinen Namen angemeldet war.
»Du wirst dem Mann das Honorar zurückerstatten und dich bei ihm entschuldigen. Andernfalls melde ich das Gewerbe ab. Ich lasse mich von dir doch nicht zum Gespött der Leute machen!«
»Von wegen. Dem Kerl werde ich … «
In diesem Augenblick klingelte es einmal kurz an der Haustür. Gertrud Grimm schien nur darauf gewartet zu haben. Voller Elan stand sie auf.
»Da ist er wieder. Na warte, Bürschchen … «
Kaum hatte sie die Haustüre losgerissen, legte sie los.
»Sie mieser Schuft, Sie … « Ihre Stimme brach ab, als ihr Blick eine ältere Dame erfasste, die verunsichert an ihrer Jacke nestelte.
»Ähem … Ges … Gesdonk … Charlotte Gesdonk … Guten Tag, Frau Grimm.«
Gertrud Grimm räusperte sich betreten.
»Guten Tag, Frau Gesdonk. Entschuldigung, aber ich hatte jemand anderen erwartet. Bitte kommen Sie herein.«
Heinrich räumte die Fotos vom Tisch und bot Frau Gesdonk einen Stuhl an, nachdem die beiden Damen sich an der Wand entlang am Schrank vorbeigetastet hatten.
»Sie müssen entschuldigen. Eigentlich sollte mein Sohn längst mit der Arbeit fertig sein. Aber er ist halt auch nicht mehr der Jüngste, nicht wahr, Heinrich?«
Der Angesprochene presste die Lippen aufeinander. Nachdem sie sich begrüßt hatten, kam Charlotte Gesdonk zum Grund ihres Anliegens.
»Ich weiß, es klingt unglaublich. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich … nun … ich fürchte, man hat meinen Mann gestohlen.«
Heinrich, der auf Wunsch seiner Mutter den Kaffeeautomaten bediente und währenddessen seine Rolle in der Detektei Grimm hinterfragte, drehte sich neugierig um.
»Sie meinen, man hat Ihren Mann entführt?«, hakte Frau Grimm nach.
»Nein, das ist nicht mehr möglich. Mein Mann ist vor drei Monaten gestorben.«
Die einsetzende Stille wurde nur gelegentlich vom Röcheln des Kaffeeautomaten unterbrochen, der die letzten heißen Tropfen in die Tassen spie. Während Heinrich den Kaffee servierte, wanderte sein Blick zu Charlotte Gesdonk. Der verzweifelte Ausdruck, die leise, ängstliche Stimme, ihre Nervosität, all das ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihres Anliegens.
»Wie kommen Sie zu der Annahme, man hätte möglicherweise den Leichnam Ihres Mannes gestohlen?«, fragte er leise.
»Mein Sohn und meine Schwiegertochter haben das Wochenende anlässlich ihres Hochzeitstages in Wien verbracht. Sie haben sich dort vor über zwanzig Jahren kennengelernt. Ich habe in Rheinberg auf das Haus und die Kinder aufgepasst, das mache ich seit dem Tod meines Mannes oft. Ich … habe ja sonst niemanden mehr. Was soll ich auch alleine hier in Wesel«, sie wischte sich mit einem Taschentuch eine Träne aus dem linken Auge.
»Heute Morgen um halb acht klingelten Herr und Frau Klostermann bei mir, die Nachbarn von gegenüber. Herr Klostermann war völlig aufgelöst. Er war gestern Abend mit Sissi, ihrem Dackel, Gassi gegangen. Über den Friedhof, das macht er öfter. Dabei waren ihm seltsame Geräusche und Männerstimmen auf dem neuen Friedhofsteil aufgefallen. Er ist sofort hingegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Die Männer waren ihm entwischt, aber«, sie schluckte, »sie haben sich offensichtlich am Grab meines Mannes zu schaffen gemacht. Es war einen halben Meter tief ausgehoben, die Erde lag auf dem Nachbargrab … « Ihre Stimme versagte, sie weinte leise. Frau Grimm legte ihre Hand auf den Unterarm von Frau Gesdonk. Es dauerte eine Weile, bis sie weitersprechen konnte.
»Ich bin sofort zum Friedhof gelaufen. Hilde und Ewald … ich meine, das Ehepaar Klostermann hat mich begleitet. Auf den ersten Blick war alles wie immer. Nur eine Vase fehlte. Sie sah zwar wie eine teure Kupfervase aus, war allerdings kaum was wert. Herrn Klostermann war es sehr peinlich. Dann habe ich mir das Grab näher angesehen, und … « Sie bekam einen Hustenanfall. Frau Grimm klopfte ihr zaghaft auf den Rücken.
»Die Herbstmargeriten hatte ich auf die Seite meines Mannes gepflanzt. Es ist eine Familiengruft, damit wir irgendwann wieder zusammen sind, er mochte sie so sehr. Daneben, auf der anderen Seite, habe ich Hornveilchen eingesetzt. Das sind meine Lieblingsblumen.«
Während sie zitternd die Kaffeetasse zum Mund führte und einen winzigen Schluck trank, fragte Heinrich sich, worauf sie eigentlich hinauswollte.
»Sie wurden vertauscht. Außerdem ist alles frisch geharkt und von Unkraut befreit. Das wollte ich heute machen. Mit den beiden Kindern wäre das zu anstrengend gewesen.«
Heinrich runzelte die Stirn.
»Für den nächtlichen Vorfall habe ich keine Erklärung. Aber wäre es vielleicht möglich, dass die Friedhofsgärtnerei das Grab verwechselt hat?«, wollte er wissen.
»Mitten in der Nacht?«, kam seine Mutter ihrer neuen Klientin zuvor.
»Gestern, am späten Nachmittag, war ich mit meinen Enkelkindern noch am Grab. Da war alles wie immer. Bitte, können Sie herausfinden, was es damit auf sich hat? Das lässt mir keine Ruhe. Vielleicht gibt es ja für alles eine Erklärung … Aber ich muss es wissen, bitte.«
Ihre Pupillen glänzten feucht im Schein der Deckenlampe.
»Selbstverständlich! Bei uns ist der Fall … ähem, ich meine natürlich Ihr Anliegen, in den besten Händen, Frau Gesdonk.«
Heinrich fiel der lauernde Unterton in der Stimme seiner Mutter auf. Den hatte sie gewöhnlich nur dann, wenn sie einen Mordfall witterte. Er bemerkte den Block in ihrer Hand, auf dem nur noch wenige Seiten frei waren, und fragte sich, was sie während der Ausführungen ihrer Klientin notiert haben mochte. Besonders viele Fakten gab es jedenfalls nicht.
»Davon bin ich überzeugt. Deshalb habe ich mich auch an Sie gewendet. Eine Dame in Ihrem Alter und mit Ihrer Erfahrung bringt sicherlich das nötige Maß an Sensibilität auf. Außerdem habe ich es ja nicht weit zu Ihnen.«
Heinrich konnte im letzten Augenblick verhindern, lauthals loszulachen.
»Ich habe selbstverständlich die Polizei verständigt«, fügte Frau Gesdonk nach einer kurzen Pause an.
Über die Augen von Frau Grimm legte sich ein dunkler Schatten, so als habe ihre Kundin vorab die Konkurrenz informiert.
»Sie haben mich nicht ernst genommen. Sie sagten, ich solle mich nicht so sehr aufregen und erst mal eine Nacht darüber schlafen.«
»Ha!«, jubilierte Frau Grimm. Dann bemerkte sie den erschrockenen Blick Frau Gesdonks. »Ich meine, das ist leider normal. Die Polizei möchte immer sofort Tatsachen und Beweise.« Ihr Ton ließ vermuten, dass sie diese Bedingungen für ziemlich nebensächlich hielt. »Am liebsten ist es der Polizei, wenn man ihnen einen bereits aufgeklärten Fall präsentiert. Aber dafür haben Sie ja jetzt mich … ähem, ich meine uns. Also, zunächst einmal benötige ich Informationen zur entführten … «, sie räusperte sich, »ich meine, na ja, gestohlenen Person. Weshalb wurde Ihr Mann überhaupt in Rheinberg beerdigt, wenn Sie doch in Wesel wohnen?«
»Mein Mann war Professor für praktische Theologie mit dem Spezialgebiet Homiletik, das bedeutet Predigtlehre, an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal. Vor acht Jahren ließ er sich emeritieren. Aber gar nichts mehr zu machen, damit konnte er sich nicht abfinden. Kurz darauf erfuhr er, dass die evangelische Kirchengemeinde in Rheinberg dringend Hilfe benötigte. Der damalige Pfarrer Lescheck musste aufgrund gesundheitlicher Probleme kürzertreten. Mein Mann hat sofort seine Hilfe angeboten. Er hat Beerdigungen übernommen, Gottesdienste geleitet, die Frauenhilfe unterstützt und vieles mehr. Es sollte nur eine Übergangslösung sein, aber dann wurden einige Jahre daraus. Weil es für meinen Mann unzumutbar war, regelmäßig den weiten Weg auf sich zu nehmen und wir das Diensthaus auf der Hardt in Wuppertal nach seiner Emeritierung ohnehin verlassen mussten, sind wir nach Rheinberg gezogen. Das war auch für mich sehr schön. Ich bin in Wesel aufgewachsen, meine Eltern lebten hier. Als sie vor zwei Jahren kurz nacheinander verstarben und ich das Haus in Fusternberg erbte, zogen wir nach Wesel. Für die Grabstätte auf dem Sankt-Anna-Friedhof haben wir uns entschieden, weil unsere Kinder und Enkel ganz in der Nähe leben. Wir wollten ihnen keine großen Umstände bereiten.«
Ein Leben im Zeichen des Glaubens und der christlichen Nächstenliebe. Kaum vorstellbar, dass dieser Mensch Feinde hatte, dachte Heinrich. Obwohl er wusste, dass gerade die oberflächlich stillen Wasser tiefe Abgründe in sich bergen konnten, suchte er nach einer glaubwürdigen Lösung, fern jeglichen Verbrechens. Seine Mutter hatte inzwischen die schriftliche Aufarbeitung der Aussage beendet und sah ihre Klientin tatendurstig an.
»Gut. Dann bräuchte ich noch die Anschrift des Zeugen Klostermann. Und natürlich Ihre Daten.«
Nachdem Frau Grimm sich alles notiert hatte, begleitete sie Frau Gesdonk zur Tür. Heinrich nutzte die Gelegenheit und blätterte in den Aufzeichnungen seiner Mutter. Es handelte sich um eine Art To-do-Liste: Zeugenbefragung Klostermann – Umfeldermittlung Opfer – Suche nach möglichem Tatmotiv. Kopfschüttelnd legte er den Block zurück.
»Das ist wieder typisch. Wenn man sie mal braucht, kann man stundenlang warten. Aber den halben Tag leer durch die Gegend fahren!« Wütend klatschte sie den Busfahrplan auf den Küchenschrank. Ihr Sohn hatte sich zu allem Überfluss auch noch mit Annette in der Stadt verabredet. Aber sie hatte ohnehin vor, die wichtige erste Zeugenbefragung alleine durchzuführen. Denn genau diese erste Zeugenbefragung diente als Basis der Ermittlungen und erforderte ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Sensibilität, wie sie wusste. Ermittlungsrelevante Details äußerten sich oft in scheinbar unbedeutenden Nebensätzen und Gesten. Ob das auch für den Hund des Zeugen galt? Sollte sie Herrn Klostermann bitten, sie mit dem Dackel zum Tatort zu begleiten, um möglicherweise den Fluchtweg der Täter zu rekonstruieren? Während Frau Grimm auf das Taxi wartete, blätterte sie in dem »Handbuch der Kriminalistik« auf der Suche nach Antworten.
Eine halbe Stunde später hielt der Taxifahrer vor dem gepflegten Vorgarten der Familie Klostermann in der Geheimrat-Schmitz-Straße in Rheinberg-Annaberg. Ihre Bemühungen, den Fahrpreis von fast 27 Euro herunterzuhandeln, blieben erfolglos. Immerhin hatte der Fahrer ihr zugesichert, für die Rückfahrt den halben Fahrpreis zu kassieren, wenn diese innerhalb der nächsten zehn Minuten erfolge.
Viermal hatte sie den Klingelknopf bereits betätigt. Vielleicht hätte ich meinen Besuch telefonisch ankündigen sollen, dachte sie. Während ihr Arm sich erneut Richtung Türklingel bewegte, öffnete sich die Tür nebenan und eine Dame mittleren Alters, in Jeans und Pullover gekleidet, musterte sie misstrauisch.
»Wir kaufen nichts.«
Für eine Sekunde war Gertrud Grimm irritiert.
»Ich wollte zu Familie Klostermann«, entgegnete sie mit einem aufgesetzten Lächeln.
»Die kaufen auch nichts.«
Frau Grimm wühlte umständlich in ihrer Handtasche und kramte schließlich eine Visitenkarte hervor.
»Mein Name ist Grimm, Gertrud Grimm. Ich komme von der Detektei Grimm und Sohn«, flüsterte sie und überreichte der verdutzten Nachbarin die Karte. »Es handelt sich um eine sehr brisante Angelegenheit. Können Sie mir sagen, wo ich die Familie Klostermann erreichen kann?«
Die Nachbarin zog die Augenbrauen hoch und begutachtete die Visitenkarte eingehend. Zwischendurch bedachte sie ihr Gegenüber mit einem prüfenden Blick. Frau Grimm glaubte zu spüren, wie sie in der Achtung der Dame stieg.
»Tja. Ist schon schlimm heutzutage mit den niedrigen Renten. Hoffentlich enden wir nicht auch mal so. Aber bei der Regierung … « Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Klostermanns sind im Garten, die Kübelpflanzen in den Keller bringen. Ich sage mal Bescheid.«
Bevor Frau Grimm etwas zu ihrer Verteidigung erwidern konnte, verschwand die Frau im Haus. Eine knappe Minute darauf vernahm sie lautes Bellen im Flur, gefolgt von schlurfenden Geräuschen. Im Glas der Haustür spiegelte sich ihre verärgerte Miene. Sie bemühte sich um einen souveränen Ausdruck.
»Guten Tag, Frau Grimm. Wir haben Sie schon erwartet. Frau Gesdonk hat uns von Ihnen erzählt.«
Ewald Klostermann trug einen dunkelgrünen Arbeitsanzug. Die Jacke spannte sich um seinen ausladenden Bauch, die Hose endete am Saum der grauen Wollsocken. Die wenigen verbliebenen Haare waren nach hinten gekämmt und schienen dort wie festgeklebt. Hastig zog er die klobigen Arbeitshandschuhe aus, bevor er ihr die Hand reichte. Den Dackel zwischen die Knöchel geklemmt, geriet er kurz ins Stolpern. Halb gebückt machte er mit kleinen Tippelschritten den Weg frei. Die einladende Armbewegung, mit der er die Besucherin hereinbat, endete im Gesicht seiner Frau.
»Und Sie haben die Stimmen nicht erkannt?«
Ewald Klostermann hatte ausschweifend über sein Erlebnis berichtet. Gertrud Grimm glaubte einen Anflug von Stolz herauszuhören. Wollte man der Version des pensionierten Bahnbeamten Glauben schenken, so hatte seine bloße Anwesenheit die Männer in die Flucht geschlagen.
»Nein«, antwortete der Hausherr wahrheitsgemäß.
»Mit solchen Leuten pflegen wir auch keinen Umgang«, bestätigte seine Frau.
»Es waren aber mindestens zwei. Das habe ich an den Stimmen erkannt«, merkte Ewald Klostermann noch an. Mit einem Satz sprang der Dackel unvermittelt auf das Sofa und machte es sich neben der Detektivin gemütlich.
»Sissi!«, keifte Frau Klostermann. »Siehst du denn nicht, dass wir Besuch haben? Sie müssen entschuldigen, das ist sonst sein Platz. Gehst du da runter!«
»Lassen Sie mal, Frau Klostermann. Das macht mir nichts. Wir hatten früher Pferde. Herr Klostermann, Sie sagten, das Grab sei zur Hälfte ausgehoben gewesen. Was war mit der Grabbepflanzung? Laut Aussage von Frau Gesdonk befand diese sich am nächsten Morgen wieder dort, als sei nichts geschehen.«
Ewald Klostermann kaute nachdenklich auf der Unterlippe. Darüber hatte er nicht nachgedacht. Angestrengt versuchte er, sich die Bilder des Abends ins Gedächtnis zu rufen. Plötzlich hellte sich seine Miene auf.
»Stimmt. Dass ich das vergessen konnte! Das gibt es ja nicht.«
Verschwörerisch beugte er sich vornüber und senkte die Stimme.
»Die gesamte Bepflanzung lag fein säuberlich auf dem Nachbargrab. Im ersten Augenblick ist es mir gar nicht aufgefallen. Ich wollte mich gerade umdrehen, da habe ich mich gewundert. Ich dachte noch, weshalb liegen die Blumen nicht bei dem Erdhaufen, auf der anderen Seite?«
Es sollte niemandem auffallen. Alles sollte so aussehen wie immer. Vermutlich haben die Täter vorher ein Foto gemacht und das Grab anschließend spiegelverkehrt bepflanzt, dachte Frau Grimm. Gedankenverloren streichelte sie Sissis Bauch. Etwas, das sie dort nicht erwartet hatte, ließ sie erschrocken die Hand zurückziehen. Entsetzt betrachtete sie ihre feuchten Finger. Herrn Klostermann schien die Situation peinlich.
»Das … das hätte ich Ihnen vielleicht sagen sollen. Sissi ist ein Rüde. Eigentlich heißt er Querulant Graf vom Angerbachufer. Aber der Name gefiel uns nicht so richtig.«
»Wir hatten sechzehn Jahre eine Dackelhündin mit dem Namen Sissi«, übernahm seine Frau, »ich konnte mich einfach nicht umstellen. Irgendwann hat er darauf gehört. Tja, seitdem heißt er Sissi.«
»Eigentlich Sissi der Zweite«, berichtigte ihr Mann.
»Sissi der Zweite«, wiederholte Frau Grimm und sah den Dackel argwöhnisch an. »Hat er sich gestern Abend vielleicht ungewöhnlich verhalten?«
»Nein, überhaupt nicht. Der Sissi ist ein richtiger Playboy. Frauen gegenüber zeigt er immer seine Schokoladenseite. Aber sobald er fremden Männern begegnet, knurrt er. Und gestern Abend auf dem Friedhof hat er geknurrt. Schon von Weitem. Und dann ist er losgerannt. Sissi hat die Männer vertrieben, bevor ich sie stellen konnte.«
»Zum Glück«, seine Frau hob mahnend den Zeigefinger, »wer weiß, was das für Ganoven waren. Die schrecken ja heutzutage vor nichts mehr zurück. Nicht einmal vor den Toten … « Sie stockte mitten im Satz, stand auf und eilte aus dem Zimmer. Frau Grimm sah ihr verwundert hinterher. Mit einem in Zeitungspapier eingewickelten Gegenstand kam Frau Klostermann wenig später zurück.
»Das hätten wir beinahe vergessen.« Sie überreichte Frau Grimm das Paket. Vorsichtig wickelte diese das Papier ab und entnahm ihm den bleichen Knochen.
»Das ist eine Rippe, die hat Sissi mitgebracht. Ist das nicht schrecklich?«
Gertrud Grimm hielt die Rippe gegen das einfallende Licht. Kratz- und Bissspuren waren deutlich zu erkennen. An einigen Stellen lag das Knochenmark frei.
»Sagen Sie, Frau Grimm«, Frau Klostermann klang verunsichert, »Herr Gesdonk ist doch erst vor wenigen Monaten gestorben. Da kann er ja noch nicht … ich meine, glauben Sie, Sissi hat die Rippe … nun, ähem, abgenagt?«
Ewald Klostermann zuckte bei dem letzten Wort zusammen. Mit einer Mischung aus Angst und Ekel sah er seine Frau an.
»Nein, keine Sorge, Frau Klostermann. Die Rippe wird vom Vormieter … Verzeihung, von jemand anderem sein. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein Beweisstück, welches der weiteren Sicherstellung durch meine Person bedarf.«
Hilde Klostermann warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu, dann nickte sie. Gertrud Grimm verstaute das Beweisstück in ihrer kleinen Handtasche, aus der es zur Hälfte herausragte, und verabschiedete sich. An der Haustür überreichte sie der Gastgeberin eine Visitenkarte.
»Rufen Sie mich bitte an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«
Ewald Klostermann schob sich räuspernd in den Türrahmen neben seine Frau.
»Meinen Sie, ich war Zeuge eines Verbrechens?«, flüsterte er.
Frau Grimm sah sich um, trat danach ganz dicht an das Ehepaar heran.
»Ich glaube nicht, dass Friedhofsgärtner Nachtschicht machen.«
Als der Taxifahrer sie bemerkte, warf er die Zeitung auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Frau Grimm öffnete die Fahrertür.
»Da sind Sie ja.« Der Fahrer sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Also mit dem halben Preis für die Rückfahrt ist jetzt Essig. Können wir dann wenigstens? Ich habe eine Anschlussfahrt reinbekommen.«
»Gleich, ich muss nur noch kurz zum Friedhof. Warten Sie bitte vor dem Haupteingang auf mich, ich nehme den Fußweg dort. Und über den Preis reden wir noch.«
Sie deutete auf den Maria-Kann-Weg, über den Ewald Klostermann am Vorabend zum Friedhof gelangt war. Kopfschüttelnd fuhr der Taxifahrer los.
Der Novemberregen hatte die Gerüche der Stadt aufgenommen und mit sich gezogen auf seinem Weg ins Erdreich. Nur die süßlich feucht riechende Luft und das Sirren der Autoreifen auf dem nassen Asphalt der Annastraße erinnerten noch an ihn. Der Wirtschaftsbereich des bis zur Bahntrasse reichenden Annafriedhofs wurde durch Bäume und Strauchwerk vor den Blicken der Besucher abgeschirmt.
»Jemand muss sie überrascht haben.«
Polizeioberkommissar Bartschneider bog ein Stück der durchtrennten Metallstäbe zur Seite. Die Schnittstelle glänzte silbrig. Er sah sich um. Einige Meter weiter endete der einspurige Weg an einem Tor. Auf dem feuchten Boden befanden sich mehrere Fußabdrücke. Daneben lag ein Leinenbeutel mit dem Schriftzug »Deutsche Bundespost« und einem aufgedruckten, leicht verblassten schwarz-rot-gelben Längsstreifen. Der Oberkommissar beugte sich herunter, inspizierte das Türschloss. Kleine Kratzer und Einkerbungen waren erkennbar. Bartschneider bog den Rücken durch, massierte nachdenklich sein Kinn.
»Weshalb wollten sie hier durch? Dort drüben kommen sie doch viel bequemer und schneller vom Friedhof«, meinte Kevin Manthey und deutete in Richtung des asphaltierten Weges, der die beiden Friedhofsteile trennte und den Fußgänger und Radfahrer gerne als Abkürzung nutzten, um von der Annastraße in den benachbarten Ortsteil Annaberg zu gelangen. Fragend sah er den zehn Jahre älteren Kollegen an.
»Zu viel Verkehr. Sobald die ihre Sachen zusammenhaben, simsen sie ihren Kumpel an. Der fährt an den Zaun, Klamotten rein, und ab. So läuft das heutzutage.«
»Oder auch nicht.« Mantheys ausgestreckter Arm senkte sich und verharrte eine Handbreit über dem Postsack.
Bartschneider bückte sich, griff in den Beutel. Der Stoff war mit Wasser vollgesogen. Er fragte sich, warum die Post die ihnen anvertrauten Sendungen nicht besser gegen Feuchtigkeit schützte. Dann zog er eine ungefähr dreißig Zentimeter große Figur hervor. Die schlanke Frau mit Umhang und Kopftuch hielt die gefalteten Hände zum Gebet vor die Brust. Ihr Gewicht schätzte er auf mindestens fünf Kilo. Farbe und Struktur deuteten darauf hin, dass die Figur aus massiver Bronze bestand. Der Oberkommissar griff erneut in den Postbeutel und beförderte eine Vase zutage. Es handelte sich um ein Kupferimitat, die Farbe war an einigen Stellen abgeblättert. Bartschneider wunderte sich. Nach und nach stellte er das Diebesgut auf eine Grasfläche, die wie eine Insel aus dem Laub ragte. Viele der Gegenstände waren völlig wertlos, stellte Bartschneider fest. Auf der Unterseite eines Grablichtes befand sich ein Aufkleber mit der verwischten Aufschrift »Made in Hongkong«.
»Das ist doch alles Murks«, entfuhr es ihm kopfschüttelnd. »Die Beute ist wahllos zusammengeklaut und wird auch noch liegen gelassen. Der Zaun wird, offensichtlich mit einem Bolzenschneider, nur halb geöffnet. Warum nicht ganz? Und was sollen die Versuche am Torschloss?«
Manthey zuckte die Schultern.
»Sieht nach Junkies aus. Die denken nur bis zum nächsten Schuss«, bemerkte er mit ratlosem Unterton.
»Junkies?« Bartschneider schüttelte den Kopf. »Junkies sind auf schnelle Kohle aus. Das Zeug kannst du nicht beim nächsten Schrotthändler versilbern.«
»Und wenn sie einen Auftraggeber haben?«
»Diese Dilettanten? Glaube ich nicht.«
Benedikt Bachus räusperte sich. Der Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde hatte am Morgen die Schäden bemerkt und die Polizei verständigt.
»Wenn ich meine Meinung äußern dürfte? Ich halte die Tat für einen Übergriff von Jugendlichen. Es kommt leider immer öfter zu solchen Vorfällen. Wie Sie wissen, leben wir am Rande eines sozialen Brennpunkts.« Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf eine Siedlung jenseits des Bahnüberganges. »Es fing mit Graffiti an, später wurden Abfalltonnen angezündet. Dies hier ist nur eine neue Variante. Der Jugend fehlt der gesellschaftliche Halt. Sie wachsen ohne die nötigen Werte auf. Im Grunde genommen sind sie die eigentlichen Opfer. Wir versuchen sie innerhalb der Gemeinde mit speziellen Programmen aufzufangen. Aber leider konnten wir bislang noch nicht die erhofften Erfolge erzielen.«
Bartschneider atmete tief durch. Seine Gedanken flogen drei Jahre zurück. Es war ein herrlicher Frühsommerabend. Dicht gedrängt standen die Menschen beim Rheinberger Stadtfest auf dem Marktplatz. Am Rande grölte eine Handvoll Jugendlicher. Einem Vierzehnjährigen hatte er die Wodkaflasche abnehmen wollen. Er hörte nur »Scheißbulle« dann klatschte ihm die warme Mischung aus Schnaps und Orangensaft ins Gesicht, er spürte, wie seine Uniform nass wurde, hörte das hämische Lachen der Jungen. Bevor seine Gedanken mahnend eingreifen konnten, landete seine rechte Hand schallend an der Wange des Anführers. Die Mutter des Jungen stand mit einer Bierdose in der Hand und einer Kippe im Mundwinkel daneben. Anzeige – Disziplinarverfahren – fünf Jahre Beförderungsstopp und tausend Euro für die Jugendhilfe. Die eigentlichen Opfer – Bartschneider ballte die rechte Hand so stark zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Haben Sie einen speziellen Verdacht?«, durchbrach Manthey seine Gedanken.
»Nein.« Pfarrer Bachus stieß seinen Atem aus. »Ich möchte auch niemanden verdächtigen. Ich bin nur der Ansicht, dass es sich um einen Fehltritt von Jugendlichen handelt. Wir sind als Gesellschaft gefordert, uns von höchster Sensibilität leiten zu lassen. Man darf nicht außer Acht lassen, dass diese Menschen noch ihr ganzes Leben vor sich haben. Immerhin sollen sie ja mal die Stütze unserer Gesellschaft werden.«
»Amen«, entfuhr es Bartschneider. Als er die entgleitenden Gesichtszüge seines Gesprächspartners bemerkte, sah er sich zu einer Erklärung genötigt.
»Diebstahl, Sachbeschädigung und Vandalismus gehen weit über einen Jugendstreich hinaus, Herr Bachus. Ich habe Verständnis dafür, dass Sie sich für Ihre Schäfchen einsetzen, aber es gibt immer noch Gesetze, die es zu beachten gilt.«
Er rechnete mit Widerstand. Stattdessen nickte der Geistliche resigniert.
»Sie haben ja recht. Bleibt wohl nur, uns in Zukunft noch mehr auf die Sozialarbeit zu konzentrieren. Falls Sie mich nicht mehr benötigen, meine … Schäfchen warten.«