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Hat man denn nie seine Ruhe? Kommissar Heinrich Grimm muss stets ein waches Auge darauf haben, was seine Mutter Gertrud so treibt. Denn seitdem sie in der kleinen Gemeinde am Niederrhein ein Detektivbüro eröffnet hat, scheint sie die Verbrechen geradewegs anzuziehen. So auch, als Gertrud eigentlich nur einen Ehebruch aufdecken will – aber ein mysteriöser Bogenschütze daraus einen Mordfall macht. Gertrud ist fest entschlossen, den Täter zu finden. Aber der pensionierte Oberstaatswalt Claus Gunther Struck macht es ihr nicht leicht. Er hält wohl nicht allzu viel davon, dass seine Tochter mit Gertruds Sohn zusammen ist. Vielleicht kann Gertrud ihn aber durch die clevere Lösung dieses Falls von den Qualitäten ihrer Familie überzeugen? Dieser Kriminalroman ist früher bereits unter dem Titel »Der dritte Daumen« erschienen. Kluftinger trifft Miss Marple in dieser humorvollen Provinzkrimireihe, in der jeder Band unabhängig gelesen werden kann.
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Seitenzahl: 296
Über dieses Buch:
Hat man denn nie seine Ruhe? Kommissar Heinrich Grimm muss stets ein waches Auge darauf haben, was seine Mutter Gertrud so treibt. Denn seitdem sie in der kleinen Gemeinde am Niederrhein ein Detektivbüro eröffnet hat, scheint sie die Verbrechen geradewegs anzuziehen. So auch, als Gertrud eigentlich nur einen Ehebruch aufdecken will – aber ein mysteriöser Bogenschütze daraus einen Mordfall macht. Gertrud ist fest entschlossen, den Täter zu finden. Aber der pensionierte Oberstaatswalt Claus Gunther Struck macht es ihr nicht leicht. Er hält wohl nicht allzu viel davon, dass seine Tochter mit Gertruds Sohn zusammen ist. Vielleicht kann Gertrud ihn aber durch die clevere Lösung dieses Falls von den Qualitäten ihrer Familie überzeugen?
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Bitte beachten Sie, dass dieser Kriminalroman früher bereits unter dem Titel DER DRITTE DAUMEN erschienen ist.
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Über den Autor:
Erwin Kohl wurde 1961 in Alpen am Niederrhein geboren und wohnt noch heute mit seiner Frau in der herrlichen Tiefebene am Niederrhein. Neben der Produktion diverser Hörfunkbeiträge schreibt Kohl als freier Journalist für die NRZ / WAZ und die Rheinische Post. Grundlage seiner bislang 15 Kriminalromane und zahlreichen Kurzgeschichten sind zumeist reale Begebenheiten sowie die Soziologie der Niederrheiner und ihre vielschichtigen Charaktere.
Die Website des Autors: www.erwinkohl.de/
Bei dotbooks veröffentlichte Erwin Kohl seine humorvolle Krimireihe um »Grimm & Sohn« mit den Bänden:
»Grimm & Sohn – Das kopflose Skelett«
»Grimm & Sohn – Der Tote im Heidesee«
»Grimm & Sohn – Das Hornveilchen-Indiz«
»Grimm & Sohn – Der tote Schornsteinfeger«
Auch bei dotbooks erscheint seine »Kommissar Trempe«-Reihe:
»Kommissar Trempe – Zugzwang«
»Kommissar Trempe – Grabtanz«
»Kommissar Trempe – Flatline«
»Kommissar Trempe – Willenlos«
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eBook-Neuausgabe August 2024
Dieses Buch erschien bereits 2012 unter dem Titel »Der dritte Daumen« beim Droste Verlag.
Copyright © der Originalausgabe 2012 by Erwin Kohl, Wesel-Ginderich und Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (paranormal, Mira Drozdowski, Elenamiv) und Adobe Stock (Sergiy Bykhunenko, Curly)
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-164-3
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Erwin Kohl
Grimm & Sohn – Der tote Schornsteinfeger
Mord am Niederrhein, Band 4
dotbooks.
Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Regen prasselte auf die blanke Erde, sammelte sich hier und dort in kleinen Pfützen. Blitze mit beeindruckenden Silhouetten erhellten den Abendhimmel über Xanten, gefolgt von dumpfem Donnern, das die Luft für Sekundenbruchteile erbeben ließ.
Er zog die Kapuze seines Regenmantels tief in die Stirn. Sein Blick haftete auf einer Stelle am Boden, dicht vor seinen Füßen. Ein Regenwurm kroch über die leblosen Glieder, hinterließ eine silbrig glänzende Spur. Er hatte ihn finden müssen, bevor ihm ein anderer zuvorkommen würde. Dieses Ziel hatte seine ganze Aufmerksamkeit gekostet – und ein kleines Vermögen noch dazu. Nun lag er vor ihm, zum Greifen nah und doch so fern. Ein kurzer Blick auf die Uhr, ein letzter auf den reglosen Körper, noch eine Vorsichtsmaßnahme, die lediglich seiner Beruhigung dienen konnte – dann wandte er sich ab. Der Termin war wichtig, es galt, den Schein zu wahren. Was sollte schon passieren? Niemand wusste, wo er begraben lag. Niemand außer ihm. Die Zeugen waren seit Langem verstummt. Kein Grund zur Nervosität, redete er sich ein, verdrängte die Zweifel, die sich penetrant in seinem Bewusstsein hielten.
Wenige Stunden später sollten sie sich bestätigen …
Xanten, Samstag, 14. Juli
Julia Roth winkte ihrer Freundin geistesabwesend hinterher. Ihr Blick verlor sich in der Ferne, irgendwo im Laub einer Buche, und präsentierte ihr doch ein ganz anderes Bild. Nachdenklich schloss sie die Haustür. Es beschlich sie das Gefühl, jemand habe sie in eine tiefe, dunkle Grube geworfen. Ihre Finger formten sich zu verkrampften Fäusten, ein stummer Schrei drang durch ihren Körper, fand nicht heraus.
Sie ging in die Küche. Ihre Schritte hallten in der Stille, sie fühlte sich einsam. Auf dem Tisch stand noch das Kaffeegeschirr, in der Mitte lagen die Prospekte eines Reiseveranstalters. Eine vierwöchige Kreuzfahrt durch die Karibik als Geschenk zur Silberhochzeit im September. Bernd hatte es nicht länger ausgehalten, hatte ihr die Überraschung bereits am vergangenen Dienstag zum Geburtstag präsentiert. Der Gedanke, dass ihr Mann Geheimniskrämerei hasste, sein Herz meist auf der Zunge trug, machte ihr für einen kleinen Moment Hoffnung. Bernd betrügt mich nicht! Julia Roth versuchte, diesen Gedanken unverrückbar in ihr Bewusstsein zu pressen, doch er entglitt ihr immer wieder, verdrängt von Monika Horlemanns mahnenden Worten.
Du musst ihn zur Rede stellen, dich notfalls von ihm trennen. Was ich gesehen habe, war eindeutig. Alle wissen es. Sogar Siggi hat schon Angst, ich könnte was mit ihm anfangen.
Ihre Freundin hatte Bernds Wagen gestern Abend am Fürstenberg gesehen, unweit der Stelle, an der er die Grabungsarbeiten leitete. Heute beim Frühstück hatte er ihr mitgeteilt, dass er auch am Wochenende dorthin wollte. »Findest du es nicht merkwürdig, dass er sogar am Samstagabend zur Grabungsstätte möchte?«, hatte Monika zum Abschied gefragt. An einem Samstag wurde dort nicht gearbeitet, wusste Julia.
Ihre Gedanken wanderten drei Tage zurück. Er hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, es zu verheimlichen. Bernd wusste, dass sie seine Anzüge in die Reinigung brachte. Einer Gewohnheit folgend, wollte sie sich vergewissern, dass die Taschen leer waren. Die Visitenkarte eines Escortservice in der Innentasche seines Lieblingsjacketts wirkte auf sie beinahe wie eine Beleidigung. Sie kam sich vor wie eine dieser einfältigen Blondinen zweitklassiger Hollywoodproduktionen. Am Abend hatte sie Bernd eine Szene gemacht. Mit dem väterlichen Blick, den er immer dann aufsetzte, wenn er ihr Naivität unterstellte, degradierte er den Anlass zur Bedeutungslosigkeit. Ein befreundeter Archäologe habe ihm die Karte abends an der Bar des Bonner Hotels, in das er zu einem Kongress eingeladen war, zugesteckt. Angeblich, weil er in dem Weseler Etablissement eine Überraschung erleben würde.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich so etwas nötig habe, Liebling?«
Julia wusste nicht mehr, wem oder was sie glauben konnte. Als Bernd heute Abend zum Fürstenberg gefahren war, hatte ihre Freundin sie besucht. Monika wirkte fast konsterniert, als sie die Karte sah und von deren Herkunft erfuhr. Julia hielt ihre Reaktion für übertrieben, wollte ihrem Mann so gerne glauben …
Nervös lief sie im Erdgeschoss umher, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Augen flogen rastlos durchs Wohnzimmer, blieben einen Augenblick an dem Familienfoto oberhalb der Bar haften. Neles Hochzeit im vorigen Jahr, ganz in Weiß, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Ihr Bruder in einem schicken schwarzen Anzug mit blutroter Krawatte – auch das hatte sich ihre Tochter gewünscht, sehr zu Louis’ Unwillen, der bis dahin ausschließlich in Jeans gesehen wurde. Auf der anderen Seite standen die stolzen Brauteltern. Harmonie pur, eine rundum glückliche Musterfamilie. Sie galten als unzertrennlich. Unvermittelt kamen Julia Zweifel. Das Foto verlor seine Magie. Hatte dieses Muster damals schon keinen Wert mehr? Sollte Bernd bereits …? Julia glaubte jetzt zu erkennen, dass ihr Mann mit einem Auge das Dekolletee ihrer Schwester begutachtete. Sie öffnete das Barfach, griff nach der Cognacflasche. Den Blick noch immer auf das gerahmte Foto gerichtet, stellte sie die Flasche langsam zurück. Franko, ihr Bruder, natürlich! Franko betrieb eine kleine Detektei in Sonsbeck. Schnellen Schrittes holte sie das Mobiltelefon.
»Hallo, Schwesterherz. Ja, es bleibt beim Grillen am Samstag. Ich habe sogar einen Riesenlachs für deinen Mann besorgt. Frisch geangelt von einem Herrn Landmann Feinkost.«
»Das … «, daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Der Gedanke daran stieß ihr bitter auf.
»Ja, das ist gut. Aber deshalb rufe ich nicht an. Wer ist dein bester Konkurrent?«
»Habe ich nicht, ich bin der Beste.« Dann wurde es plötzlich ruhig. Julia wollte nachhaken, als ihr Bruder den Dialog wieder aufnahm. Seine Stimme hatte jede Fröhlichkeit verloren. »Was ist los, Kleines?«
»Ich … Es ist wegen Bernd … «
»Ist etwas passiert?«
»Ja, ich meine, vielleicht. Aber … «
»Oh, jetzt verstehe ich … Ich hoffe, du weißt, was du da von mir verlangst.«
Julia wollte bejahen, als ihr klar wurde, wie blindlings sie gehandelt hatte. Sie hatte tatsächlich vorgehabt, sich von ihrem Bruder einen Detektiv empfehlen zu lassen, der seinen Schwager ausspionieren sollte. Was, wenn ihr Verdacht falsch wäre? Was, wenn Bernd dahinterkäme, ihren Bruder eines Tages fragen würde, ob er davon gewusst hatte?
»Es tut mir leid, Franko. Ich habe nicht nachgedacht. Ich will dich da in nichts hineinziehen, also … Gibt es irgendwen, den du mir empfehlen kannst?«
Er schwieg einige Sekunden. Die Ruhe tat ihr weh.
»Torsten Gerling soll ganz brauchbar sein. Hat ein kleines Büro an der Marsstraße.«
Julia atmete tief durch. Sie hatte Torsten Silvester bei Horlemann kennengelernt. Er hatte einen cleveren Eindruck auf sie gemacht.
»Danke, aber der ist mit Siggi befreundet und Siggi mit Bernd. Da kann ich ja gleich dich engagieren.«
»Hm … Wehner und Konsorten aus Moers … zu weit weg, taugen auch nichts«, dachte Franko laut nach. Julia vernahm das Rascheln von Papier. »Brückerhoff in Kalkar … nee, besser nicht. Der steht sich seit Jahren in Kaufhäusern die Beine stramm, schlechtes Zeichen. Tja, die Geschäfte sind stark rückläufig. Die Versicherungen haben längst eigene Leute, die Erben morden immer perfider und Ehebruch wird zum tolerierten Volkssport. Oh … entschuldige bitte. Ich wollte dir nicht wehtun.«
Er stockte einen Moment.
»Schon gut.« Es fühlte sich an, als habe er ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie hatte immer an die eine starke Liebe geglaubt. Die Ehe bedeutete Julia mehr als schlichte Geborgenheit. Sie brauchte das grenzenlose Vertrauen, das Gefühl, nie tiefer fallen zu können als in seine Arme. Wenn dieses Gefühl zerbräche, würde niemand die Scherben zusammenkleben können, ohne sichtbare Risse zu hinterlassen. Aber war das Vertrauen nicht bereits gebrochen?
Schuldgefühle kamen in ihr auf. Durfte sie es zulassen, dass die Vermutungen einer außenstehenden Person das in dreißig Jahren dauerhaft gewachsene Vertrauen mit einem Knall zerstörte, als würde jemand eine Nadel in einen Ballon stecken? Aber da war noch die Visitenkarte. Ein Hostessenservice. Was fehlt ihm bei mir? Sie brauchte Klarheit.
»Franko, es muss doch noch jemanden geben«, unternahm sie einen letzten Versuch.
»Ich habe nicht gesagt, dass das nicht so ist. Also … da hätten wir noch die Oma Grimm aus Wesel. Wir nennen sie so, weil die Dame nicht mehr ganz frisch ist. Seit zwei Jahren auf dem Markt, der Laden läuft auf den Namen ihres Sohnes. Sie hatte in der Vergangenheit einige Erfolge vorzuweisen.«
»Das hört sich doch gut an.«
»Schwesterherz, die Lady ist vierundsiebzig! Als Köder taugt sie aller Wahrscheinlichkeit nach kaum noch.«
»Ich habe auch nicht vor, zu angeln. Hast du die Telefonnummer?«
Als die Sonne langsam unterging, hielt sie es nicht mehr aus. Länger als eine Stunde war Bernd selten am Fürstenberg. Jetzt waren es bereits zwei. Monika hatte recht, dachte Julia erneut. Die Zweifel daran schwanden. Es tat weh. Sie konnte nicht länger tatenlos abwarten, Zusehen, wie der Sekundenzeiger auf der Wanduhr in der Küche ihre Befürchtung mit jedem seiner winzigen Schritte wachsen ließ. Nach einem Telefonat mit ihrer Schwester packte sie die nötigsten Dinge fürs Wochenende in ihren Reisekoffer.
Auf dem Weg nach Sonsbeck wich das Gefühl, verletzt worden zu sein, stetig steigender Wut.
Du kannst mich nicht einfach ablegen wie ein verschlissenes Sakko, dir nehmen, worauf du Lust hast.
Vor der Kreuzung zum Fürstenberg fragte sie sich, ob sie diese Niederlage wirklich kampflos hinnehmen musste. Dann setzte sie den Blinker.
»Das musste ja irgendwann so kommen. Hast du wirklich geglaubt, es kann für immer dein Geheimnis bleiben?«
»Danke, das hilft mir jetzt sehr.« Ein Lieferwagen fuhr vom Parkplatz des Hotels Fürstenberg, erschwerte mit seinem Geräusch das Telefonat.
»Nehmen wir an, es kommt raus, was soll schon passieren?«, die Stimme wurde leise, mitfühlend.
»Was passieren soll? Du weißt doch, wie eifersüchtig er ist. Er würde mich umbringen.«
»Irgendwann muss er es erfahren. Wie lange willst du mich noch verheimlichen?«
»Bitte lass uns jetzt nicht streiten. Du weißt, dass ich das nicht kann.«
Für einige Sekunden war nur das abschwellende Motorengeräusch hörbar.
»Ich habe Angst.«
Ein mit einer grünen Folie verkleideter Bauzaun entlang der einspurigen Straße, der gut zehn Meter ins Gelände hineinging, riegelte die »Grabungsstätte Kloster Fürstenberg« vor ungebetenen Besuchern ab und diente zugleich als Sichtschutz. Auch wenn er so weit oben nicht mit Verkehr rechnete, fuhr Bernd Roth den Wagen bis an die Ackergrenze. Der Archäologe wollte nicht gestört werden. Die Autotür bereits halb geöffnet, griff er in die Mittelkonsole und entnahm ihr seine Digitalkamera. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, am späten Nachmittag, wenn seine Kollegen von der Grabungsfirma Blomberg nach Hause gegangen waren, bei einem Rundgang das gesamte Areal zu fotografieren. Eine Stunde vor Sonnenuntergang machte er regelmäßig einen Kontrollgang. Dabei waren ihm bereits mehrfach kleinere Unregelmäßigkeiten aufgefallen und das hatte ihm keine Ruhe gelassen. Eine innere Stimme riet ihm, auch an diesem Samstag die Grabungsstätte zu kontrollieren. Julias merkwürdige Reaktion ging ihm nicht aus dem Kopf.
»Ich weiß Bescheid«, hatte sie in einem sonderbaren Tonfall zurückgegeben, als er ihr eben mitgeteilt hatte, er müsse noch kurz zum Fürstenberg.
Als er aussteigen wollte, erkannte er das Fahrrad, das neben ihm anhielt. Norbert Pellmann von der ersten Kompanie der Sankt Viktor Bruderschaft grüßte ihn freundlich. Er trug einen grünen Arbeitsanzug. Auf dem Gepäckträger klemmte eine Heckenschere. Pellmann bemerkte Roths fragenden Blick.
»Ich komm vonne Omma aus Birten. Sie wollte die Haselnusshecke geschnitten haben. Mitten im Sommer.« Pellmann führte seinen Zeigefinger an die Stirn. »Aber wenn Omma sich wat innen Kopp gesetzt hat, wird so lange rumgequengelt, bis der Jung da ist. Dabei war ich noch bis drei inne Firma, Ware einräumen. Was ist mit dir, Bernie, haste den Schatz vonne Nibelungen schon gefunden?«
Der Angesprochene stieg grinsend aus und verriegelte ohne hinzusehen den Wagen.
»Den dürften wir hier oben wohl kaum entdecken, Pelle.«
Pellmann nickte stumm. Er schürzte die Lippen und betrachtete nachdenklich den Bauzaun. In seinen blassblauen Augen standen Zweifel.
»Ich weiß nich, ob dat alles so richtig ist.«
»Immerhin habt ihr keine Arbeit mehr damit.« Roth klang fast ein bisschen zynisch. Obwohl sich die Fürstenbergkapelle im Besitz der Sankt Viktor Kirchengemeinde befand, kümmerte sich seit Jahren die Bruderschaft um den Erhalt, erledigte Maler- und Putzarbeiten im Innenraum oder reinigte die Dachrinnen. Selbst die Pflege der Grünanlage um das kleine Gotteshaus aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert übernahmen die Männer regelmäßig. Zur Belohnung gab es von der Kirche gelegentlich einen Kasten Bier für das fröhliche Beisammensein nach getaner Arbeit.
»Dafür dürfen wir womöglich demnächst Eintritt zahlen, wenn der Kaskopp sein kleines Disneyland fertig hat.«
»Ach Pelle, hör auf. Der Archäologische Park ist doch auch kein Disneyland.«
Pellmann bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick.
»Wirst noch an meine Worte denken. Egal, traurig isset auf alle Fälle. Ich muss dann mal, machet gut.«
Bernd Roth klopfte ihm zum Abschied auf die Schulter. Er wusste genau, dass sein Kegelbruder liebend gerne weiterhin bei der Pflege von Gebäude und Grünanlage mitgeholfen hätte, wenn sie denn nur in Kirchenbesitz geblieben und damit jedem weiterhin zugänglich sein würden. Aber er wusste auch, dass der finanzielle Rahmen der Kirchen in Zeiten einer stetig wachsenden Zahl von Kirchenaustritten enger wurde. Das Angebot Steen van Brunecks kam ausgesprochen gelegen. Nachdem der Amsterdamer Kunsthändler vor einem halben Jahr das benachbarte Schloss Fürstenberg für über zwei Millionen Euro erworben hatte, war er seit drei Monaten auch Eigentümer der Kapelle samt dem angrenzenden Grundstück. Aus Kirchenkreisen kam das Gerücht auf, der Niederländer habe einen sechsstelligen Betrag geboten und zusätzlich einen Fonds eingerichtet, der den Erhalt des denkmalgeschützten Gebäudes garantierte. Eine der zahlreichen Auflagen, mit denen van Bruneck sich einverstanden erklärte, beinhaltete das Nutzungsrecht der Bruderschaft für die Kapelle am Sonntag nach dem 14. September, dem Kreuzerhöhungsfest.
In den ersten Wochen danach kursierten die wildesten Gerüchte über den Grund des Zukaufs. Bis van Bruneck seinen schier unglaublichen Plan offenlegte: Der Investor beabsichtigte, auf den in der Erde verborgenen Grundmauern die ehemalige Klosteranlage der Benediktinerinnen mitsamt der dreischiffigen romanischen Abteikirche und den vier umgebenden Türmen wieder aufzubauen. Neben einem kleinen Museum, einem Klostercafé und einem Restaurant mit anspruchsvoller Küche sollte der Gebäudekomplex auch einen Hotelbereich mit dreißig Zimmern beinhalten.
Beim Rat der Stadt Xanten, der dem Tourismus nicht alles, aber sehr vieles unterordnete, rannte er mit seinen Visionen offene Türen ein. Dass man es sich mit den Gastronomen des Ortes, insbesondere denen, die ihr Geld auf dem Fürstenberg verdienten, verdarb, nahm man dabei in Kauf. In der Bevölkerung hielten sich Argwohn und Zuversicht die Waagschale.
Bernd Roth beschäftigten dagegen andere Gedanken. Van Brunecks geschäftliche Interessen galten bisher einzig der Kunst. Mit dem Handel von Kunstgegenständen aller Art hatte er es zum Multimillionär gebracht. Weshalb sollte der Holländer plötzlich zum Hotelier und Gastronom werden? Roth hatte in zwei Gesprächen mit dem Bürgermeister diesen eindringlich gebeten, die Entscheidung zu überdenken. Er hatte argumentiert, dass van Bruneck mehrfach wegen illegalen Kunsthandels angeklagt worden war. Dass Spuren verschwundener Kunstgegenstände immer wieder nach Amsterdam führten und fast immer der Name van Bruneck im Spiel war. Seit zwei Jahren hatte er den Schwerpunkt seiner Tätigkeit auf den Handel mit antiken Exponaten verlegt. Und ausgerechnet in dieser Phase kaufte er die Grundstücke auf dem Fürstenberg? Nur einen Steinwurf von dem Ort entfernt, an dem vor zweitausend Jahren »Castra Vetera« lag, das mit sechzig Hektar umschlossener Fläche und zwölftausend Soldaten größte Militärlager der antiken Welt?
Bernd Roth hatte seine Kontakte genutzt und in Erfahrung gebracht, dass die Landesregierung wohl kaum einer entsprechenden Änderung des Flächennutzungsplanes zustimmen würde. Dieses Wissen besaß auch Steen van Bruneck, bevor er eine Investition dieser Größenordnung tätigte, war der Archäologe überzeugt. Es musste einen anderen Grund geben, einen Plan hinter dem Plan, sinnierte Roth bereits seit Wochen, ohne eine zufriedenstellende Antwort gefunden zu haben. Sicher, es dürften sich große Mengen von Münzen, Scherben und Alltagsgegenständen der dort stationierten Legionen im Erdreich des Areals befinden. Aber damit war der Markt überschwemmt, darauf konnte van Bruneck es nicht abgesehen haben.
Bernd Roth hob einen Zaunpfosten aus dem Betonfuß, schob das Element einen Spalt zurück und betrat die Grabungsstätte. Er hatte sich vor der Haustür mit dem Nachbarn verquatscht, war später als gewöhnlich hier. Die Dämmerung setzte langsam ein, ließ die Konturen der Kapelle dunkler wirken. Aus der Ferne vernahm Roth die Stimmen einiger Nachtigallenmännchen, die mit ihrem Abendgesang um die Gunst der Weibchen buhlten. Für einen Moment glaubte der Grabungsleiter, Schrittgeräusche aus dem hinteren Bereich der Kapelle zu hören. Aber als die Nachtigallen einige Sekunden verstummten, umgab ihn nur abendliche Stille. Nicht einmal die Blätter der angrenzenden Bäume raschelten im lauen Wind des Sommerabends. Er hatte sich verhört. Die Erde war an vielen Stellen noch feucht, die Luft verströmte den einzigartig süßlich reinen Duft, der nur nach einem Gewitter entsteht.
Es ärgerte ihn, dass er keine Taschenlampe mitgenommen hatte. Als könne er das Einbrechen der Dunkelheit verlangsamen, lief er schnellen Schrittes an der Kapelle vorbei zu dem Zelt, das seine Leute zum Schutz vor Regen über ihrem Arbeitsplatz errichtet hatten. Roth schritt den schmalen Pfad um den ersten Schnitt, wie Archäologen die einzelnen Gruben ihrer Ausgrabungsstätten nannten, verschaffte sich einen groben Überblick. Er musste sich dabei leicht nach vorne beugen und darauf achten, keine Erde aus dem Randbereich abzubrechen. Danach zog er die Kamera aus der kleinen Tasche und schaltete das Gerät ein. Das Durchblättern der Aufnahmen vom Freitag sorgte für Zufriedenheit. Es gab keinerlei Differenzen. Selbst die Spitzkelle, mit der ein Kollege die obere Erdschicht vorsichtig abgekratzt, die Fläche geputzt hatte, befand sich noch an derselben Stelle. Erleichtert verließ er die schützende Überdachung, um einen Blick auf die bereits abgeschlossenen Schnitte im südöstlichen Bereich zu werfen. Roth fragte sich auf dem Weg dorthin, wie van Bruneck es geschafft hatte, dass sein Chef alle anderen Projekte auf Eis gelegt und jede verfügbare Kraft zum Fürstenberg beordert hatte. Blomberg hatte es sich dafür sogar erlaubt, einen Auftrag seines besten Kunden, des Landschaftsverbands Rheinland, zu stornieren. Vorbei an einer alten Buche und einigen Sträuchern gelangte Roth zum hinteren Bereich der Grabungsstätte. Was er dort sah, verschlug ihm den Atem. Zwischen ihm und dem erwarteten Blick auf die freigelegten Fragmente der Grundmauern, die sich entlang der Baumreihen an der Böschung erstreckten, befand sich ein eineinhalb Meter hoher und fünf bis sechs Meter langer Erdwall.
Im Innenbereich der Klosteranlage, wenige Meter von der westlichen Begrenzungsmauer entfernt, hatten sie auf van Brunecks Drängen damit begonnen, Teile der runden Grundmauern der beiden Türme freizulegen. Roth erinnerte sich, dem Kunsthändler erhebliche Zweifel entgegengebracht zu haben, was die Grundrisspläne betraf, die von ihm nach alten Zeichnungen berechnet worden waren. Aber van Brunecks Vorhersagen bewahrheiteten sich bis auf wenige Zentimeter.
Bernd Roth fand sich am Rand der ursprünglich 1,40 Meter tiefen Ausgrabung wieder. Das runde Turmfundament hatte einen Außendurchmesser von 4,80 Meter. In östlicher Richtung wies es in Bodennähe eine Aussparung mit einer Breite von 1,50 Metern auf. Zwei Einfassungen rechts und links, auf denen vermutlich einmal ein tragender Balken gelegen hatte, deuteten darauf hin, dass es dort einen unterirdischen Gang gegeben hatte, der die beiden Türme miteinander verband. Genau dort öffnete sich ein neuer, etwa einen Meter tiefer Schnitt, der sich trapezförmig in nördlicher Richtung ausbreitete. Mit einem mächtigen Satz sprang der Archäologe in den inneren Bereich des Turmfundamentes und von da aus in den tiefer gelegenen Schnitt. An mehreren Stellen ragten runde Sockel kniehoch aus dem Boden. Roth berührte mit den Fingerspitzen einen davon. Opus Caementitium, eine betonähnliche Substanz, aus der die Römer vor zweitausend Jahren Fundamente und sogar ganze Kuppeln fertigten. Einen halben Meter entfernt bückte er sich nach einem halbrunden Bruchstück und rieb den groben Schmutz ab. Es handelte sich zweifelsfrei um Marmor. Roth wusste sofort um die Bedeutung des Fundes. Die Vermutung kursierte schon länger in den Kreisen seiner Kollegen, bislang gab es nur vage Hinweise. Woher wusste van Bruneck davon?, schoss es ihm durch den Kopf. Für einen kurzen Moment empfand er einen Anflug von Bewunderung für den Kunsthändler. Schnell jedoch kehrte die Wut zurück. Mit Ausnahme der Grabungstechniker war es jedem strengstens untersagt, den Boden eigenverantwortlich zu öffnen. Zwei Schritte vor ihm fiel der Boden um einen weiteren halben Meter zur Wand hin ab. Die Reste von zwei Säulen, die aussahen, als wären sie abgebrochen, endeten auf einem breiter werdenden Sockel. Roth betrachtete den unteren Bereich genauer und fühlte sich bestätigt.
Einen Meter von der nördlichen und östlichen Ausgrabungswand entfernt befand sich ein umgestülpter Plastikeimer auf dem Boden. Bernd Roth schenkte ihm zunächst keine weitere Beachtung. Er zog die Digitalkamera aus der Tasche an seinem Hosengürtel und machte einige Aufnahmen. Der automatische Blitz schaltete sich ein, lange dürfte es nicht mehr bis zur völligen Dunkelheit dauern, wusste er und beeilte sich, die offensichtliche Raubgrabung von allen Seiten zu dokumentieren. Von dem Ort, an dem sich der Eimer befand, bot sich eine gute Gelegenheit für eine Übersichtaufnahme. Sicherheitshalber schoss er gleich mehrere Bilder aus leicht veränderten Perspektiven. Dabei trat er mit der Hacke, ohne hinzusehen, den Plastikeimer um. Roth kontrollierte die Aufnahmen, sie waren schlecht belichtet. Er probierte mehrere voreingestellte Belichtungsprogramme aus und schoss damit noch ein Dutzend Fotos zur Sicherheit, schaltete das Gerät anschließend aus. Halbwegs zufrieden wollte er die Kamera in die Tasche am Gürtel schieben. Die Öffnung war zusammengedrückt, er rutschte immer wieder ab. Als er verärgert nach unten sah, fiel sein Blick auf die Stelle, an der der Eimer gestanden hatte. Schlagartig beschleunigte sich sein Puls. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und in kurzen Stößen schoss sein Atem durch den offenen Mund. Er bückte sich, sah genauer hin. Es gab keinen Zweifel. Mit zitternden Händen zog er das Mobiltelefon aus der Brusttasche seines Hemdes, wählte die vertraute Nummer und berichtete mit sich vor Aufregung überschlagender Stimme von dem Fund. »Komm sofort her!«, rief er und beendete das Gespräch, ohne eine Antwort abzuwarten. Bernd Roth setzte sich auf den Rand der Grube, um zu warten. Die Feuchtigkeit drang in seine Hose. Er spürte es nicht. Van Bruneck wusste ganz genau, wo man dich begraben hat, sinnierte er mit einem Blick auf die im Mondschein silbrig glänzende Hand.
Sonntag, 15. Juli
»In ein Hotel!« rief Gertrud Grimm entsetzt, als würde es sich dabei um eine absolut menschenunwürdige Form der Unterbringung handeln. Annette und Heinrich tauschten einen kurzen Blick, der erkennen ließ, dass sie diese Reaktion erwartet hatten.
»Gertrud«, sprach die Staatsanwältin beruhigend auf die Mutter ihres Freundes ein, »mein Vater soll doch nur vorübergehend dort wohnen. Bis wir eine adäquate Bleibe für ihn gefunden haben.«
Claus Günther Struck fühlte sich in dem Eifeldorf Schalkenmehren zunehmend unwohl. Nachdem Adelheid, seine zweite Frau, vor sechs Jahren gestorben war, hatte er sich in Hobbys wie das Malen oder Wandern geflüchtet. Ziemlich schnell wurde ihm klar, dass er damit die Einsamkeit nicht besiegen konnte. Der pensionierte Oberstaatsanwalt war nie besonders gesellig gewesen. Die Schalkenmehrener gaben sich wirklich Mühe, luden ihn immer wieder zu Festen und dörflichen Aktivitäten ein, aber alle zwischenmenschlichen Kontakte trieben belanglos auf der Oberfläche. Niemandem wollte es gelingen, auch nur ansatzweise in die Tiefe seiner Seele vorzudringen. Vor einem Jahr fasste er den Entschluss, nach Wesel, in die Nähe seiner Tochter, zu ziehen. Seitdem suchte Annette, wenn auch, wie sie sich eingestehen musste, eher halbherzig, nach einer Wohnung für ihren Vater.
»Eine adäquate Bleibe können wir ihm auch hier bieten. Der ganze Speicher steht leer. Also fast.«
»Bis auf zwei Müllcontainer voll Krimskrams«, konterte ihr Sohn.
»Das kann man alles wegräumen«, antwortete sie spitz.
»Klar. Und eine Heizung brauchen wir auch nicht.«
»Eben, ist ja Sommer.«
»Genau. Da kann Annettes Vater bei lauschigen fünfundvierzig Grad unterm Dach schlafen. Braucht er bestimmt keine Decke.«
Frau Grimm kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Am vergangenen Freitag war sie oben gewesen, um nach Wolle für die Strickgruppe der katholischen Landfrauen zu suchen. Nach zehn Minuten hatte sie das Vorhaben schweißgebadet abgebrochen. Dann kam ihr eine – wie sie fand – ausgezeichnete Idee.
»Du könntest ein oder zwei große Dachfenster einbauen. Flat Hildes Jupp voriges Jahr auch bei sich gemacht. Herr Struck kommt doch erst zum Wochenende.«
Heinrich atmete tief durch. Hildes Jupp, wie sie ihren Nachbarn von gegenüber nannte, war Schreinermeister und hatte sich vierzig Berufsjahre lang mit dem Einbau von Fenstern und Türen beschäftigt. Jeglichen Kommentar vermeidend, schüttelte er nur verständnislos mit dem Kopf. Das schrille Geräusch der Türklingel kam ihm äußerst gelegen.
»Oh, Kundschaft. Wir reden später weiter.« Mit einem Satz sprang Frau Grimm hoch und lief aus der Wohnküche in den Flur.
»Hat deine Mutter keinen Ruhetag?«
»Das Verbrechen schläft nicht«, imitierte Heinrich die bedeutungsschwere Stimme seiner Mutter.
Vor der Tür stand eine schlanke Frau, deren Alter Frau Grimm auf Mitte vierzig taxierte. Das dunkelblonde Haar umrahmte ihr Gesicht in einem flachen Bogen, der auf der Schulterpartie des rubinroten Kleides endete. Die weiße Perle an dem Goldkettchen um ihren Hals setzte sich deutlich von ihrem braunen Teint ab. Sie trug ein unaufdringliches Make-up, selbst der Farbton des Lippenstiftes fügte sich harmonisch in das Gesamtbild. Ihre kleinen braunen Augen verrieten Unsicherheit.
»Guten Tag. Mein Name ist Julia Roth. Ich möchte zur Detektei Grimm«, sie warf einen raschen Blick auf das Messingschild neben der Haustür, »und Sohn.«
»Da sind Sie goldrichtig, meine Liebe. Grimm, Gertrud Grimm.« Freundlich streckte sie der Besucherin die Hand entgegen. »Treten Sie ruhig ein.«
»Sie sind … « Verunsichert betrachtete Julia Roth ihr Gegenüber. Die Dame machte auf sie eher den Eindruck einer Haushälterin. Frau Grimm schien ihren Gedanken erraten zu haben. Auf dem Weg ins Büro zog sie hastig den Kittel aus.
»Ich hab noch einen Haushalt mit Sohn und Freundin, um den ich mich kümmern muss, wissen Sie? Bitte nehmen Sie Platz. Ein Käffken?«
»Nein, danke. Wenn Sie erlauben, würde ich gerne direkt zu meinem Anliegen kommen.«
»Nur keine Zeit verlieren, ist auch meine Devise. Dann erzählen Sie mal, Frau Roth.«
»Mein Mann … also, ich glaube, nein, es scheint beinahe … « Sie räusperte sich und sprach danach mit fester Stimme weiter. »Ich habe den Verdacht, dass er mich betrügt.«
Im gleichen Augenblick überkamen sie Schuldgefühle. Sie hatte den Eindruck, etwas Verwerfliches zu tun, so als würde sie Bernd vor ein Gericht zerren. Es quälte sie die Frage, ob sie wirklich alles versucht hatte, die Situation mit ihrem Ehemann ruhig und sachlich zu klären. Was wäre, wenn Monika sich geirrt hatte? Wenn die Visitenkarte vom Hostessenservice tatsächlich nur einen banalen Hintergrund hätte? War sie es dann nicht, die der fast dreißig Jahre währenden Beziehung das Vertrauen entzog? In einem ersten Reflex wollte sie aufstehen und gehen.
»Beides kommt häufig vor«, unterbrach Gertrud Grimm ihren Gedankengang. »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Roth, wir werden die Antwort liefern. Schnell und absolut diskret.«
»Beides?«
»Dass Ihr Verdacht begründet ist oder eben nicht. Vertrauen ist gut, Kontrolle besser. Vor allem, wenn es um Männer geht. Ständige Zweifel und Misstrauen höhlen eine Partnerschaft von innen aus, wissen Sie? Sie haben genau den richtigen Schritt getan. Aber etwas mehr Informationen benötige ich schon. Worauf gründet sich Ihr Verdacht, was macht Ihr Mann beruflich und so weiter.« Gertrud Grimm holte Block und Kugelschreiber vom Schreibtisch und setzte sich mit forderndem Blick ihr gegenüber.
Julia Roth verspürte einen Anflug von Erleichterung. Ein Tagtraum blitzte vor ihren Augen auf. Sie sah sich mit Bernd auf dem Traumschiff in der Karibik. Sie umarmten sich an der Reling, die warme Sommerluft vor Jamaika streichelte ihre Haut …
»Frau Roth?«
»Oh – Entschuldigung.« Mit einem Ruck zwang sie sich zurück in die Realität. Sie erzählte der Detektivin alles, was sie wusste, und musste erkennen, dass sie selbst eigentlich nichts bemerkt hatte. Noch gestern Nachmittag hatte sie den Escortservice angerufen und sich nach ihrem Mann erkundigt. »Wir geben keine Auskünfte über Kunden«, sagte man ihr dort.
»Wo ist Ihr Mann jetzt?«
»Das weiß ich nicht. Gestern Abend um kurz nach neun wollte er weg, angeblich zur Grabungsstelle am Fürstenberg. Bernd … ich meine, mein Mann ist Archäologe und mit der Leitung der dortigen Grabung beauftragt. An einem Samstagabend ist er allerdings noch nie zu einer Grabungsstelle gefahren. Nach zwei Stunden Warten hatte ich die Nase voll. Ich habe einige Sachen gepackt und bin zu meiner Schwester nach Sonsbeck gefahren. Meinem Mann habe ich eine Nachricht auf den Küchentisch gelegt, aber es scheint ihn nicht zu interessieren. Jedenfalls hat er sich bis jetzt nicht bei mir gemeldet. Ans Telefon geht er auch nicht. Ich dachte, nun … ich … vielleicht hätten wir noch einmal in Ruhe darüber reden können, aber … « Sie presste die Lippen aufeinander.
»Anscheinend sind für Ihren Mann der Worte genug gewechselt. Manchmal helfen eben nur noch Taten, so bitter das auch klingt.«
Gertrud Grimm hatte sich zwischendurch Notizen gemacht. Der Schmerz ihrer Klientin breitete sich unausgesprochen aus. Sie gehörte zu den Menschen, deren Stolz ihren Schatten so sehr anwachsen ließ, dass sie ihn nicht überspringen konnten.
»Ich muss Sie das fragen, Frau Roth: Haben Sie jemand bestimmten in Verdacht? Ich meine, mit wem könnte er …?«
»Nein! Das heißt … « Sie klang plötzlich selbstsicher. »Monika, ich meine Frau Horlemann, hat die Dame im Wagen meines Mannes nicht erkennen können. Es war fast dunkel. Ihm obliegt die Verantwortung für die gesamte Ausgrabung, sagt er immer. Verantwortung!«, wiederholte sie nach einer kurzen Pause sarkastisch.
»Ich verstehe Ihre Wut sehr gut, Frau Roth. Sie haben genau den richtigen Schritt unternommen. Sie werden Ihren Mann schon sehr bald mit der Wahrheit konfrontieren können, dafür sorge ich.«
Nachdem sie sich über vertragliche Details wie den aktuellen Tages- und Spesensatz geeinigt hatten, brachte Frau Grimm ihre Klientin zur Tür.
»Hostessen sind keine Prostituierten. Sie begleiten Geschäftsleute zu Empfängen oder anderen gesellschaftlichen Anlässen«, wollte sie Frau Roth zum Abschied noch besänftigen, obwohl die beiden Bezeichnungen für sie dasselbe meinten.
»Das beruhigt mich. Mein Mann ist ja quasi geschäftlich auf dem Fürstenberg. Ich nehme also an, die beiden saßen in irgendeiner Grube und haben gemeinsam im Sand geschaufelt.«
Frau Grimm wirkte hilflos.
»Entschuldigung«, fügte Frau Roth mit einem letzten Blick über die Schulter hinzu. »Ich weiß, Sie haben es gut gemeint.«
»Und? Neuer Mordfall?«, begrüßte ihr Sohn sie beim Betreten der Küche. Annette hatte den Frühstückstisch in der Zwischenzeit abgeräumt. Sie hatten sich für elf Uhr mit einem älteren Ehepaar in Bislich verabredet, die eine Einliegerwohnung im Obergeschoss vermieten wollten. Annette hatte den Tipp von einem Kollegen der Schutzpolizei bekommen.
»Nein, ganz sicher nicht. Nur wieder so ein Kerl, der die Gefühle seiner Frau mit Füßen tritt.«
»Kann es sein, dass du befangen bist, Mutter?«
»Ich bin realistisch, und jetzt entschuldigt mich, ich habe zu tun.« Sie holte ihre ermittlungstechnische Neuerwerbung, eine digitale Spiegelreflexkamera, aus dem Büro und packte das große Teleobjektiv zusätzlich in die Fototasche. Sie hatte sich die Ausrüstung nach dem Besuch eines Fotografiekurses an der Volkshochschule im Frühjahr zugelegt. Vor allem das Teleobjektiv erlaubte ihr nun ungeahnte Ein- beziehungsweise Ausblicke und wurde zum unverzichtbaren Hilfsmittel.
Ben versprach, sie in fünfzehn Minuten abzuholen, ohne ihr allerdings mitzuteilen, womit. Nur widerwillig hatte sie sich daran gewöhnen können, dass der neunzehnjährige Gelegenheitsdiscjockey, der sich nach eigenen Angaben in einer beruflichen Findungsphase befand, höchst eigenwillige Methoden zur Beschaffung mobiler Untersätze einsetzte. Heidi Heitkamp hatte ihr gestern am Käsestand des Wochenmarktes verraten, dass ihr Neffe jetzt ein eigenes Gefährt gekauft hätte, wusste allerdings nicht, worum es sich dabei handelte.
Das Erste, was er sah, waren die grünen Leuchtziffern des Radioweckers neben ihm. 11:15, alles um ihn herum war dunkel. Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an wie ein Bogen Schleifpapier. Er hob vorsichtig den Oberkörper, tastete mit der rechten Hand an der Bettkante entlang, suchte nach dem Mineralwasser. In seinem Kopf pochte es. Enttäuscht warf er die leere Flasche zurück und ließ sich kraftlos in die Kissen fallen. Was war passiert? Angestrengt griff er nach den losen Fäden, die die Erinnerung ihm hinhielt. Es gab Streit. In der Gaststätte »Zur Börse« am Xantener Marktplatz hatte er seine Vereinskameraden getroffen, später waren sie noch im »Einstein« gewesen. Mühsam erhob er sich, zog den Rollladen hoch. Das grelle Licht schmerzte, er presste die Augen zusammen, massierte seine Schläfen. Vorsichtig drehte er sich um. Das unbenutzte Bett neben ihm verdrängte schlagartig den Schmerz in seinem Kopf. Die Erinnerung bohrte sich wie eine heiße Nadel in seine Brust und die Erkenntnis kam urplötzlich aus dem Nichts. Ohne Vorwarnung, ohne die üblichen Hinweise, denen viele erst dann Beachtung schenkten, wenn sie überflüssig geworden waren.