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Der jüngste Hauptkommissar des Landes – aber um welchen Preis? Dieser harten Frage muss Joshua Trempe sich stellen, als seine Frau ihm ein Ultimatum stellt: Statt brandgefährlichem Außendienst entweder Schreibtischarbeit im Düsseldorfer LKA – oder Scheidung. Trempe wählt den Bürojob, nicht ahnend, dass gleich sein erster Fall höchst brisant sein wird: Der Medienmogul Ramon Schändler wird tot an der Autobahn gefunden – und als Trempe die Angehörigen informieren will, empfängt ihn ein schreckliches Bild: die Ehefrau kaltblütig hingerichtet, die ahnungslose Tochter laut Musik hörend in ihrem Zimmer. Gibt es eine Verbindung zwischen dieser brutalen Tat und Schändlers Werbeagentur, mit der er tagtäglich Millionen Menschen erreichte? Der erste Band der spannungsgeladenen Krimireihe um Kommissar Trempe und sein Team – für Fans von Andreas Franz.
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Seitenzahl: 422
Über dieses Buch:
Der jüngste Hauptkommissar des Landes – aber um welchen Preis?
Dieser harten Frage muss Joshua Trempe sich stellen, als seine Frau ihm ein Ultimatum stellt: Statt brandgefährlichem Außendienst entweder Schreibtischarbeit im Düsseldorfer LKA – oder Scheidung. Trempe wählt den Bürojob, nicht ahnend, dass gleich sein erster Fall höchst brisant sein wird: Der Medienmogul Ramon Schändler wird tot an der Autobahn gefunden – und als Trempe die Angehörigen informieren will, empfängt ihn ein schreckliches Bild: die Ehefrau kaltblütig hingerichtet, die ahnungslose Tochter laut Musik hörend in ihrem Zimmer. Gibt es eine Verbindung zwischen dieser brutalen Tat und Schändlers Werbeagentur, mit der er tagtäglich Millionen Menschen erreichte?
Über den Autor:
Erwin Kohl wurde 1961 in Alpen am Niederrhein geboren und wohnt noch heute mit seiner Frau in der herrlichen Tiefebene am Niederrhein. Neben der Produktion diverser Hörfunkbeiträge schreibt Kohl als freier Journalist für die NRZ / WAZ und die Rheinische Post. Grundlage seiner bislang 15 Kriminalromane und zahlreichen Kurzgeschichten sind zumeist reale Begebenheiten sowie die Soziologie der Niederrheiner und ihre vielschichtigen Charaktere.
Die Website des Autors: www.erwinkohl.de/
Bei dotbooks erscheint Erwin Kohls »Kommissar Trempe«-Reihe:»Kommissar Trempe – Zugzwang«
»Kommissar Trempe – Grabtanz«
»Kommissar Trempe – Flatline«
»Kommissar Trempe – Willenlos«
Auch bei dotbooks veröffentlichte Erwin Kohl seine humorvolle Krimireihe um »Grimm & Sohn – Das kopflose Skelett« mit den Bänden:»Grimm & Sohn – Das kopflose Skelett«
»Grimm & Sohn – Der Tote im Heidesee«
»Grimm & Sohn – Das Hornveilchen-Indiz«
»Grimm & Sohn – Der tote Schornsteinfeger«
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eBook-Neuausgabe Mai 2024
Dieses Buch erschien bereits 2006 bei Gmeiner unter dem Titel »Zugzwang«.
Copyright © der Originalausgabe 2006 Gmeiner-Verlag GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung von Motiven von Adobe Stock (Sina Ettmer, wildman, Phongphan Supphakank)
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-033-2
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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].
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Erwin Kohl
Kommissar Trempe – Zugzwang
Kriminalroman
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All that we see or seem
is but a dream within a dream
Edgar Allen Poe
Sie sahen sich stumm in die Augen. Seit zwei Stunden saßen sie bereits in der Küche. Tauschten Argumente aus, ohne die des anderen zu akzeptieren. Britt und David gingen betrübt hinaus, sie schienen verstanden zu haben, womit ihr Vater sich nicht abfinden konnte. Im Türrahmen drehten sie sich noch einmal um und winkten ihm traurig zu.
Das monotone Ticken der Küchenuhr schien ihm sagen zu wollen, dass seine Zeit abgelaufen war. Die eingeschaltete Spülmaschine untermalte die triste Stimmung. Er hielt ein Bild von ihrem letzten Urlaub in den Händen. Britt war so stolz, dieses Foto gemacht zu haben. Die Erinnerung wurde lebendig, lief wie ein Film vor seinen Augen ab. Sie spazierten durch Olivenhaine und endlos blühende Wiesen. Er spürte den sanften, warmen Wind dieses Sommerabends, hörte abertausende Grillen zirpen, die dem liebevollen Gesang der Vögel den passenden Hintergrund gaben. Die Musik der Toskana. Immer wieder hielten sie an und umarmten sich zärtlich. Mit schmalen Lippen und voller Melancholie legte er das Bild zurück.
Ihm war zum Weinen zumute, aber irgendwas hielt ihn davon ab. Seine Frau stand auf und räumte die Tassen fort. Er verstand und ging wortlos hinaus.
Hilflos blieb er im Türrahmen stehen, neben ihm zwei Koffer. Wochenlang hatten sie über ihre Entscheidung diskutiert, aus seiner Sicht ergebnislos. Er entschloss sich, noch einen letzten Versuch zu starten.
»Janine, bitte! Die Wohnung ist doch riesig. Ich nehme das Zimmer im Giebel. Du wirst mich gar nicht wahrnehmen.«
Sie sah ihn mitleidig an und schüttelte den Kopf.
»Joshua, du hast nichts verstanden. Tausendmal habe ich versucht, es dir zu erklären. Selbst wenn du das Zimmer im Giebel hättest, würde ich jede Nacht wach liegen. Ständig diese Angst haben – kommt er, kommt er nicht? Lebt er vielleicht gar nicht mehr. Ich halte das nicht mehr aus. Verstehst du das denn nicht? Ich liebe dich, gerade deshalb halte ich diese Angst nicht mehr aus. Manchmal wünschte ich mir …, ich könnte aufhören, dich zu lieben.«
Bei ihrem letzten Satz sah sie beschämt zu Boden. Nach einigen Sekunden der Stille blickte sie ihm in die Augen und sprach leise weiter.
»Es muss doch nicht für immer sein. Vielleicht klappt es ja mit deinem neuen Job?«
Joshua biss die Lippen zusammen. Er hatte verloren. Vorerst, aufgeben konnte er nicht.
»Du wirst sehen, ich bin schneller beim LKA, als du denkst. Kannst meine Bettwäsche drauflassen.«
»Dafür musst du dir aber noch ein anderes Outfit zulegen.«
Mit einer Mischung aus Lachen und Weinen sah sie ihn dabei an. Während er seine Koffer zum Auto trug, dachte er noch über ihren letzten Satz nach. Er trug praktisch zu jedem Anlass eine Jeanshose und Jeansjacke oder wie jetzt, seine alte hellbraune Lederjacke. Die besaß er schon, als sie sich vor fünfzehn Jahren kennen lernten. Mittlerweile sah sie arg mitgenommen aus. Abgewetzte Ärmel, überall Kratzer, aber immer noch sein Lieblingsstück. Janine hatte ihm schon mehrmals neue Lederjacken geschenkt. Die hingen auch jetzt noch in seinem Schrank, sie wurden gar nicht erst eingepackt. Nur unter größtem Protest trug er zur Hochzeit einen Anzug. Sie warf ihm immer vor, er weigere sich, älter zu werden. Seine zotteligen, schulterlangen dunkelblonden Haare fand sie tagsüber altmodisch und nachts verwegen. Als sie früher noch ihre Motorräder hatten, war sie so stolz auf ihren hübschen Lover gewesen. Nach der Geburt von David vor zwölf Jahren wurden die Mopeds gegen ein Kinderzimmer eingetauscht. Sein Outfit behielt er bei. Als zwei Jahre später Britt zur Welt gekommen war, kauften sie sich mit kräftigen Zuschüssen ihrer Eltern diese riesige Altbauwohnung. Die Belastungen waren erträglich und sein Polizistengehalt erlaubte ihnen auch den obligatorischen Jahresurlaub in den Ferien. Sie reisten jedes Jahr nach Italien, dieses Land war ihre gemeinsame Leidenschaft. Das sonnige Mittelmeerklima, die italienische Küche und freundliche Menschen, die scheinbar frei von Sorgen leben, faszinierten sie. Die Toskana wurde dabei immer mehr zu ihrem Favoriten. Wenngleich sie den Kindern zuliebe in der Nähe des Meeres wohnen mussten und Ausflüge ins Landesinnere nur mit der Aussicht auf Unmengen von Eis akzeptiert wurden, kam niemand zu kurz.
Joshua war Polizist aus Leidenschaft. Seine Karriere verlief außerordentlich steil. Vor vier Jahren wurde er zum jüngsten Hauptkommissar des Landes befördert. Nun sollte er versuchen, seinen so geliebten Job gegen einen Schreibtischposten beim Landeskriminalamt einzutauschen. Dass dabei eine entsprechende Beförderung inbegriffen war, reizte ihn auch nicht besonders. Schließlich kamen sie auch so klar.
Als Alternative drohte das Ende seiner Familie. Joshua liebte beides, Job und Familie. Aber es gelang ihm nicht, es unter einen Hut zu bringen. Wie oft kam es schon vor, dass er während einer laufenden Ermittlung wochenlang praktisch nur zum Wechseln der Kleidung nach Hause kam. Das war es nicht. Das machte ihm mehr zu schaffen als Janine. Es war die Angst. Die Angst um ihn, die seine Frau nachts nicht schlafen ließ. Die Vorstellung, er könnte einmal nicht wieder nach Hause kommen, machte sie wahnsinnig. Seit einem halben Jahr war sie in therapeutischer Behandlung. Seinetwegen, was ihm ein schlechtes Gewissen bereitete. In Gegenwart von David und Britt sprachen sie nie darüber, dennoch hatte er in letzter Zeit den Eindruck, die beiden veränderten sich. David wurde immer ruhiger, ging nur noch selten auf den Bolzplatz zu seinen Freunden. Britt konnte nicht mehr alleine sein, ständig suchte sie die Begleitung ihrer Eltern oder ihres Bruders.
Nun saß er im Wagen und war auf dem Weg zu seinen Eltern, um sein ehemaliges Zimmer wieder zu beziehen. Er hatte bis zuletzt nicht daran geglaubt, dass es soweit kommen würde und sich nicht um eine eigene Wohnung bemüht. Zum Glück hatte er ein freies Wochenende und konnte sich am morgigen Samstag darum kümmern. Ihm graute vor den Vorhaltungen seiner Eltern. Ihrer Meinung nach hatte eine Frau sich hinter ihren Mann zu stellen, bedingungslos. Außerdem wusste Janine ja von Anfang an, auf was sie sich einließ. Ihm war klar, dass er es nicht lange ohne seine Familie aushalten würde. Sein Entschluss stand fest. Er würde alles dafür tun, so schnell wie möglich an diesen Posten beim LKA zu kommen, egal wie. Joshua bemühte sich darum, die Sache so positiv wie möglich zu sehen. Geregelte Arbeitszeiten, mehr Wochenenden bei der Familie. Außerdem würde er Jack wieder häufiger zu Gesicht bekommen. Jack, der eigentlich Joachim Holsten heißt, war sein bester Freund. Seit der Grundschule waren sie unzertrennlich. Sie besuchten auch gemeinsam die Polizeihochschule. Jack war schon lange beim LKA, Abteilung Wirtschaftskriminalität. Ihm gefiel es dort sehr gut. Aber was ihren Beruf betraf, gingen ihre Ansichten auseinander. Joshua musste raus auf die Straße, mit Menschen in Kontakt kommen, vor Ort ermitteln. Er war jedes Mal schlecht gelaunt, wenn es über einen längeren Zeitraum nur Schreibtischarbeiten zu erledigen galt. Wie ein Tiger im Käfig lief er dann im Präsidium herum. Seine Reizschwelle lag in solchen Zeiten sehr niedrig. Obwohl es ihn oft tief in seiner Seele berührte, sehnte er sich insgeheim und ohne es sich selbst einzugestehen, nach dem nächsten Verbrechen. Es war der Kick, den er brauchte. Janine warf ihm oft vor, seinen Beruf mehr zu lieben als seine Familie. Das sah er anders und er spürte es in diesem Augenblick so heftig wie nie zuvor.
Mühsam arbeiteten die Scheibenwischer gegen den immer stärker werdenden Regen an. Die mächtigen dunkelgrauen Wolkenberge schienen alle Hoffnungen zu erdrücken. Wie geduckt lagen Wiesen und Sträucher unter ihnen. Ihr kräftiges Grün hielt sich unter einem nebeligen Grauschleier verborgen. Seine Zuversicht auch.
Die Scheiben wurden jetzt auch von innen feucht. Er hatte Janine den Volvo überlassen und fuhr den alten Golf. Den hatte er mal günstig von einem Kollegen bekommen, als ›Winterauto‹. Im Sommer wollte Joshua wieder Motorrad fahren. Am liebsten mit David auf dem Sozius und Janine und Britt auf einer zweiten Maschine neben ihm. Schmerzlich registrierte er die Ferne zu diesem Erlebnis. Vor nicht allzu langer Zeit noch optimistisch und glücklich, trugen seine Gedanken ihn nun über den Friedhof seiner Träume.
Als Joshua auf den elterlichen Hof fuhr, lief ihm seine Mutter schon mit einem Regenschirm in der Hand entgegen. Er hatte sie unterwegs von seinem Vorhaben unterrichtet. Sie hatten es ihm vor längerer Zeit schon einmal angeboten, als er nach einem Krankenhausaufenthalt absolute Ruhe brauchte. Joshua brauchte aber seine Familie dringender.
»Das musste ja so kommen«, begann seine Mutter auch gleich, »wir haben dir immer gesagt, die Janine macht das nicht mit, die steht das nicht durch. Hättest du damals mal gleich auf uns … «
»Mutter bitte!« fuhr Joshua dazwischen.
»Wenn ich jetzt dauernd diese Vorhaltungen zu hören bekomme, fahre ich in ein Hotel. Ansonsten lasse mich bitte zuerst meine Koffer ins Zimmer bringen.«
Seine Mutter gab bei und er wusste genau, dieses Thema war noch lange nicht vom Tisch. Eine Wohnung zu suchen, würde sich nicht lohnen, war er überzeugt. Gleich morgen früh würde er mit Elsing über seine Versetzung reden.
In seinem Zimmer dachte Joshua noch einmal über alles nach. Janine hatte seinetwegen wirklich viel mitgemacht. Vor drei Jahren der schwere Unfall während einer Verfolgung. Acht Wochen Krankenhaus und die gleiche Zeit in der Reha. Das war verdammt knapp. Zu Anfang meinten die Ärzte, er müsse sich daran gewöhnen, für immer auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein. Voriges Jahr war er von einem Zuhälter niedergeschossen worden. Zwei Wochen hatte er auf der Intensivstation im künstlichen Koma gelegen. Janine erlitt einen Nervenzusammenbruch. Seitdem quälten sie Schlafstörungen. Wenn sie nachts einen Einsatz hatten, war es am schlimmsten. Sie saß dann in panischer Angst zu Hause neben dem Telefon. Er selbst hatte monatelang Albträume gehabt, war ein halbes Jahr lang in psychologischer Behandlung. Nur mit viel Mühe und großen Anstrengungen konnte er damals seine Versetzung in die Verwaltung verhindern. Janine erzählte er nichts davon. Mittlerweile schaffte er es, diese Vorfälle zu verdrängen.
Als Joshua mit seinen Eltern beim Abendbrot saß, kam es zum Eklat. Sein Vater verlangte offen von ihm, sich von seiner Frau zu trennen. Sie wäre zu weinerlich für die Frau eines Polizisten, ihr fehle es an Nervenstärke.
Der alte Trempe war stolz, als Joshua in seine beruflichen Fußstapfen trat und wie er damals zur Polizei ging. Eine erstklassige Laufbahn, bis er vor drei Jahren als Kriminalrat in Pension ging. Seine Mutter genoss das hohe Ansehen, das ihr in der Nachbarschaft entgegengebracht wurde. Es machte ihr nichts aus, wenn ihre Persönlichkeit auf die Frau Kriminalrat reduziert wurde. Sie sah es als ihre Aufgabe an, dem erfolgreichen Mann für dessen Karriere privat den Rücken freizuhalten. Sie hatte Kunst studiert, doch ihr Gatte machte ihr sehr schnell klar, wie sinnlos diese Berufsausrichtung hinsichtlich der Ernährung einer Familie doch wäre. Da war seine Profession doch wesentlich ergiebiger. Sie glaubte ihm, wie immer. Dabei begann es für ihn nicht gerade systemkonform. Als Mitglied der APO war er an diversen Demonstrationen beteiligt, meistens gegen den Vietnamkrieg. An langen Winterabenden erzählte er oft davon und dass er Rudi Dutschke persönlich kannte. Aber nie vergaß er am Schluss darauf hinzuweisen, dass es sich um Jugendsünden handelte, die nicht zur Nachahmung empfohlen waren. Von seiner Mutter erfuhr Joshua sogar mal von einer Anzeige wegen Landfriedensbruch, die gegen seinen Vater erstattet wurde und dass er seinen Vornamen der pro israelischen Einstellung seines Vaters verdankte. Als dieser noch darauf hinwies, was für ein Glück Janine doch hätte, nicht an seinen Bruder geraten zu sein, reichte es Joshua endgültig.
Er knallte sein Messer so laut auf den Teller, dass seine Mutter zusammenzuckte.
»Mir reicht’s! Ich bin es satt, mir ständig eure Vorhaltungen anzuhören. Ich liebe meine Frau und die Kinder und werde alles dafür tun, zu ihnen zurückzukehren! Und was Manuel betrifft, solltet ihr euch mal fragen, warum er nicht mehr kommt.«
Joshua sprang auf und ging in sein Zimmer. Die beiden Koffer hatte er noch nicht ausgepackt. Im Flur lief er grußlos an seinen Eltern vorbei zum Hof. Seine Mutter rief ihm noch etwas hinterher. Er hörte es nicht mehr. Er warf die Koffer in den Wagen und fuhr mit durchdrehenden Rädern auf die Hauptstraße. Apathisch richtete er seinen Blick nach vorne. Er dachte daran, wie sein Bruder Manuel jetzt wohl reagieren würde. Seine Eltern hatten ihm dauernd vorgeworfen, sein Studium abgebrochen zu haben, um Kunstschmied zu werden. Es war Manuels große Leidenschaft. Seit sechs Jahren lebte sein Bruder nun auf Ibiza. Damals sagte er, auf Ibiza würden auch schwarze Schafe gebraucht. Heute hatte Manuel einen festen Kundenstamm und führte ein angenehmes Leben. Im vorigen Jahr verbrachten sie die Herbstferien bei ihm. Er lebte in Sanct Miguel, einem malerisch schönen Küstenort. David schwärmte noch heute davon, in einer echten Piratenhöhle gewesen zu sein. Die Freibeuter gelangten zu der Zeit durch eine Grotte in diese Höhle. In den weit verzweigten Gängen dieses unterirdischen Versteckes lagerten sie ihre Beute. Mit offenem Mund hörte David damals fast andächtig den Ausführungen seines Onkels zu. Nach einer Woche hatten sie es bedauert, abreisen zu müssen. Er beneidete seinen Bruder oft um sein ungezwungenes Leben.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen. Das heller gewordene, gleichmäßige Grau des Himmels konnte jeden Moment von den Sonnenstrahlen durchlöchert werden. Joshua sah zum Himmel, als fürchte er sich davor. Ihm war nicht nach Sonne. Die graue, triste Regenwelt kam seiner Stimmung entgegen.
Er dachte daran, sich vorübergehend ins Bahnhofshotel einzuquartieren, als sich sein Handy meldete. Hektisch zog er es aus der Innentasche seiner Lederjacke. Er träumte kurz davon, Janine würde sich melden und von einem Missverständnis sprechen. Es fiel ihm schwer, seine Enttäuschung hinunter zu schlucken, als er die Stimme seines Chefs, Winfried Elsing, vernahm. An einem Autobahnrastplatz bei Moers hatte man eine männliche Leiche gefunden. Die Tatsache, dass diese ein Einschussloch in der Stirn aufwies, ließ ihn die geplante Zimmersuche vorläufig verschieben. Wütend steckte er sein Handy ein. Seit vier Monaten bearbeiteten sie nun alte, ungeklärte Fälle, wälzten von halb acht morgens bis nachmittags um vier angegilbte Akten. Ausgerechnet jetzt, da er selbst sein größter Fall war, musste etwas passieren. Janine hatte vergangene Woche zynisch den Wunsch geäußert, es möge endlich etwas geschehen. Seine Laune sei unerträglich. Vielleicht, so dachte Joshua, wäre Ablenkung im Moment genau das Richtige. Fast im selben Augenblick schämte er sich dafür. Da lag ein Mensch ermordet neben der Autobahn und für ihn war er nichts weiter als eine Abwechslung. Als er auf die Autobahn fuhr, blendete ihn ein Sonnenstrahl.
Weit vor der Abfahrt sah er die Blaulichter der Streifenwagen. Es war halb sieben, die letzten Wolken machten der Abendsonne Platz. Ein milder Frühlingswind kam von Westen auf. Die Dämmerung würde bald einsetzen. Am Rastplatz befanden sich bereits etliche Kollegen. Drei Gestalten in weißen Schutzanzügen suchten jeden Zentimeter nach Spuren ab. Als Joshua ausstieg, kam ihm sein Kollege Daniel van Bloom entgegen. Er lief dabei wie auf Eiern, immer wieder seinen Blick auf den Boden richtend. Daniels Eltern stammten aus Belgien, er selbst wurde hier geboren. Daniel achtete stets penibel auf sein Äußeres. Er trug einen langen dunklen Mantel über einem hellgrauen Anzug. Die Hosenbeine hatte er bis zu den Knien hochgekrempelt. Weißes Oberhemd, grau gemusterte Krawatte und gepflegte schwarze Halbschuhe, die nun doch in eine Pfütze eintauchten. Daniel war ebenfalls Hauptkommissar, allerdings ohne entsprechende Planstelle. Er kam im Januar zur Krefelder Mordkommission und wurde in dieser Dienststelle quasi zwischengelagert, wie er sich ausdrückte. Seitdem war er laufend damit beschäftigt, Versetzungsgesuche zu schreiben dass der Lagerort die gegenüberliegende Seite seines Schreibtisches war, gefiel Joshua wenig. Dort saß Werner Verheugen bis zu seiner Pensionierung Ende letzten Jahres. Verheugen war so etwas wie der polizeiliche Ziehvater von Joshua, übernahm die alleinige Verantwortung. Er bewunderte den Scharfsinn und die Gelassenheit, mit der der erfahrene Kollege ihre Fälle anging. Dabei sah Verheugen sich selbst als kleines, unbedeutendes Rädchen des Polizeiapparates. In den ersten Tagen ohne ihn kam Joshua sich oft wie ein Artist vor, der ohne Netz am Trapez hing. Er musste sich so schnell wie möglich mit der neuen Situation arrangieren. Es fiel ihm schwer, vor allem mit der Eitelkeit des Kollegen kam er nicht zurecht.
»So ein verdammter Mist«, fluchte van Bloom auch gleich los.
»Was meinst du«, konterte Joshua, »dass deine Lackschühchen ein Spritzerchen abbekommen haben oder dass da vorne ein Toter liegt?«
»Haha, du könntest doch undercover bei den Bahnhofspennern ermitteln, ohne aufzufallen. Aber für diesen Fall wird die Mutti dich wohl fein machen müssen.«
Joshua konnte die verdammte Arroganz seines Kollegen nicht ausstehen. »Wieso, liegt da einer aus der Upperclass?«
»Kann man sagen. Ramón Schändler, achtundfünfzig Jahre, Multimillionär, Besitzer einer großen Werbeagentur in Düsseldorf. Ein LKW-Fahrer hat ihn gefunden. Musste mal in die Büsche und da sah er ihn liegen.«
Joshua antwortete nicht und ging zu Max Drescher von der Spurensicherung. Drescher schritt die Peripherie des Tatortes ab und sprach dabei in ein Diktiergerät. Der Boden unter ihnen war aufgeweicht und matschig.
»Hallo Max, habt ihr schon was für uns?«
Der fast zwei Meter große, stabile Endvierziger hob reflexartig seine Hände und sah den Hauptkommissar mit zusammen gekniffenen Augen an. Seine Miene verfinsterte sich zusehends. Für eine Sekunde bedauerte Joshua den forschen Ton, mit dem er seine Frage formuliert hatte.
»Klar, wir sind ja schon geschlagene zehn Minuten hier. Ich gehe sofort zum Auto und schreibe einen Bericht.«
Hat der wieder eine Laune, dachte sich Joshua. Aber es nutzte nichts, die ersten Stunden konnten für eine Mordermittlung entscheidend sein.
»Schon klar, Max. Du weißt, wie ich es meine. Eine kleine Info. Irgendetwas, was du sofort wahrgenommen hast. Ich will jetzt keinen exakten Bericht von dir, sondern deine persönliche Einschätzung.«
Der Kollege von der Spurensicherung atmete schwerfällig ein. Das gehörte zum Spiel. Es war ein immer wiederkehrendes Ritual. So wie ein Automechaniker nach dem Offnen der Motorhaube zunächst fassungslos den Kopf schüttelt, um sich einen größeren Freiraum für Reparaturen zu verschaffen, hob Drescher zuerst abwehrend die Hände, atmete tief durch und bediente sich seines griesgrämigsten Gesichtsausdruckes, um die Bürde seiner Aufgabe ausreichend zu dokumentieren. Wurde diese entsprechend gewürdigt, folgte gewöhnlich eine detaillierte Beschreibung des Tatortes.
»Also dieses Sauwetter den ganzen Tag über macht es uns nicht leichter, soviel kann ich schon mal sagen. Kampfspuren konnten wir auf den ersten Blick auch nicht erkennen. Aber«, Drescher machte eine kurze Pause und drückte sein Kreuz durch, »neben den Fußspuren des Opfers gibt es noch einige weitere, zum Teil sehr deutliche Fußabdrücke. Außerdem befanden sich in unmittelbarer Nähe des Opfers zwei Zigarettenkippen. Die sind schon eingetütet und so gut wie im Labor. Ich glaube zwar kaum, dass der Täter die hierhin gelegt hat, aber wir werden sie untersuchen. Das Fahrzeug des Opfers steht dort drüben. Die Kollegen schleppen es gleich ein.«
»Danke Max, das ist doch schon was.«
»Bitte. Noch etwas: Raubmord könnt ihr wohl als Motiv streichen. Wir haben beim Opfer seine Brieftasche mit über zweitausend Euro gefunden. Da kommt übrigens der Doc. Vielleicht kann der dir auch noch was erzählen, ich muss jedenfalls weiter machen.«
Sie hatten sich mittlerweile daran gewöhnt, anstelle des Dienst habenden Arztes den Gerichtsmediziner persönlich am Tatort zu begrüßen. Eugen Strietzel war zum einen der Ansicht, die Totenscheine würden von den niedergelassenen Kollegen allzu leichtfertig ausgefüllt, zum anderen wollte er sich gerne vorab ein Bild vom Tatort machen. Seine hellrot gelockten Haare, seine leuchtend blauen Augen und seine helle Gesichtsfarbe ließen die Tristesse dieses Ortes für einen Augenblick vergessen. Der Gerichtsmediziner zog die Handschuhe aus und ließ sie kurz darauf in seinen Kitteltaschen verschwinden. Daniel setzte gerade zu einer Frage an, als der Mediziner ihm zuvor kam.
»Tödlicher Schuss aus kurzer Distanz, Kaliber vermutlich, ich betone vermutlich, neun Millimeter. Näheres entnehmen Sie bitte in Kürze meinem Bericht. Sie entschuldigen mich.«
Noch bevor die beiden Ermittler reagieren konnten, lief der Mediziner mit schnellen Schritten an ihnen vorbei zu seinem Wagen. Joshua wurde wütend.
»Sag mal, hat hier keiner mehr Bock, Freitag Abend zu arbeiten? Sind wir bei der Stadtverwaltung, oder was?«, schrie er dem Mediziner hinterher.
»Ich schon, da steh ich drauf«, antwortete Daniel, »ich fahre jetzt zum Präsidium und lege los.«
Während seiner letzten Worte lief van Bloom bereits zum Parkplatz.
»Ja super, und wer verständigt die Angehörigen?«
»Immer der, der fragt«, rief er Joshua noch herüber, bevor Daniel in sein altes MG-Cabriolet versank.
Joshua fragte sich, warum dieser Rosinenpicker ihm ständig die Drecksarbeit überließ. Dabei würde es ihm wohl aufgetragen werden, die Ermittlungen zu leiten.
Während er zu Max ging, um sich die Adresse des Toten zu besorgen, dachte Joshua an das letzte Gespräch mit seinem Chef. Es ging um seine fällige Beurteilung. Winnie wusste, dass er sich irgendwann um eine Stelle beim Landeskriminalamt bewerben wollte und dazu gute Referenzen äußerst hilfreich waren. Der Kriminalrat teilte ihm unverblümt mit, er wiese noch Defizite im menschlichen Bereich auf. Er sei einfach zu kumpelhaft, ihm fehle es an Autorität, um die ganz große Karriere zu machen. Man müsse stets die nötige Distanz und angemessenen Respekt bewahren, teilte sein Vorgesetzter ihm mit. Dabei war er es, der dem Hauptkommissar Joshua Trempe zu seiner Beförderung das Du anbot.
Joshua betrachtete eingehend den Toten. Er lag auf der linken Seite, seine Beine waren leicht angewinkelt. Er trug einen schwarzen Anzug. Joshua konnte seine Schuhe nicht mehr sehen. Knöcheltief versank er im nassen Gras. Warum war dieser Schändler ohne Schirm oder Regenkleidung hierhin gegangen? Es könnte bedeuten, der Täter hatte ihn bereits am Auto in seine Gewalt gebracht. Oder er war sogar mit ihm hergekommen. Ein Mord im Affekt erschien ihm abwegig. Da Raubmord als Motiv ebenso wenig infrage kam, lag die Vermutung nahe, dass Täter und Opfer sich persönlich gekannt hatten oder in irgendeinem Verhältnis zueinander standen. Joshua lief langsam um das Opfer herum. Seine Haut war gräulich verfärbt. Augen und Mund weit aufgerissen. Joshua sah zum Parkstreifen herüber. Ungefähr fünfzig Meter mussten Opfer und Täter zurückgelegt haben. Er suchte nach einer Erklärung dafür, wieso der Täter sein Opfer an diesem relativ belebten Ort umbrachte. War es nicht geplant? Handelte es sich um ein zufälliges Treffen? Ein Gespräch entwickelte sich zu einem heftigen Disput, der schließlich mit dem Tod endete? Joshuas Blick war wieder auf den Toten gerichtet. Er versuchte, eine erste Theorie zu entwickeln. Die Möglichkeit, dass sich Täter und Opfer zufällig an einem Rastplatz trafen, hielt er für unwahrscheinlich. Aus welchem Grund trifft man sich an einem Rastplatz? Zwei dunkel gekleidete Männer kamen auf sie zu. Sie trugen einen einfachen, grauen Sarg. Joshua verließ den Tatort und machte sich auf den Weg zur Witwe.
Am Horizont verabschiedete sich der Tag in einem leuchtend orangefarbenen Wolkenband, während Joshua sich überlegte, wie er der Ehefrau die Todesnachricht überbringen sollte. Sein Magen verkrampfte sich. Wen sollte er mitnehmen? Marlies war mit ihrer einfühlsamen Art in der Regel dabei. Aber erstens hatte ihr Sohn heute Geburtstag und zweitens wusste Joshua genau, hinter ihrer coolen Fassade nahm es sie wochenlang mit. Vor einem Jahr mussten sie einer verzweifelten Mutter mitteilen, dass ihr vermisster Sohn Selbstmord begangen hatte. Marlies tat dies mit großer Hingabe und Mitgefühl. Sie verrichtete in den darauf folgenden Wochen ihren Dienst, als sei nichts geschehen. Nach drei Wochen kam ihre Mutter zu Joshua und berichtete, sie habe ihre Tochter sturzbetrunken und in Tränen aufgelöst im Garten ihrer Wohnung gefunden.
Wütend dachte er an Daniel. Er war regelrecht geflüchtet. Joshua hätte nach Krefeld zurückfahren und ihn holen sollen. Es war ihm zuwider, er wollte ihm nicht hinterherlaufen.
Die weiß geklinkerte Villa im Moerser Stadtteil Kapellen lag nur etwa fünfzehn Autominuten vom Tatort entfernt. Ein fast zwei Meter hoher Stahlzaun umspannte das Grundstück. Als Joshua die stählerne Außentür erreichte, gingen überall auf dem Grundstück Lichter an. An einem der beiden großen gemauerten Säulen, die das Tor einfassten, befand sich eine Klingel mit Gegensprechanlage. Darunter war das Metallschild eines Sicherheitsdienstes angebracht. Joshua betätigte den Klingelknopf und wunderte sich. Nach der Warntafel am Tor zu urteilen, hatte er damit gerechnet, sein Klingeln würde sofort von mindestens einem bissigen Hund mit lautem Gebell quittiert. Aber es blieb still. Er klingelte erneut. Auch diesmal wurde die Stille durch nichts unterbrochen. Joshua sah auf seine Uhr. Vielleicht war Frau Schändler berufstätig und noch nicht zu Hause. Er ließ seine Blicke über das riesige Wohnhaus gleiten. Ein unruhiges Gefühl überkam ihn. Langsam ging er den Zaun entlang, auf einem engen Weg vorbei an Holunderbüschen. Das Wasser von den Ästen über ihm tropfte in seinen Nacken. Sein Blick wich dabei nicht von dem Grundstück. Joshua dachte an ein einsames Haus im Sauerland, das sie sich damals hatten kaufen wollen. Vielleicht wäre sein Dienst dort ruhiger verlaufen und sie hätten diese Probleme heute nicht. Sie hatten damals keine Bank gefunden, die es ihnen finanziert hätte.
Durch dünne Ritzen in den Rollladen drang Licht nach außen. Die Ahnung überkam ihn, irgendetwas würde nicht stimmen. Vorsichtig tastete er sich leicht gebückt durchs Gebüsch. Es ärgerte ihn, die Taschenlampe nicht mitgenommen zu haben. Von fern drang das Geräusch eines startenden Autos zu ihm herüber. Die Beleuchtung ging in diesem Moment aus und der Halbmond erleuchtete das Grundstück nur schemenhaft. Die Luft war klar wie nach einem Gewitter. Joshua stoppte plötzlich. Er befand sich mittlerweile an der Längsseite des Grundstücks und konnte den Bereich hinter dem Eingangstor einsehen. Verdeckt vom linken Mauerpfosten lag etwas Großes, Dunkles auf dem Rasen. Joshua drückte seinen Kopf an die Gitterstäbe, versuchte, seinen Blick darauf zu fokussieren. Er erkannte etwas Glänzendes im vorderen, dem Tor zugewandten Bereich. Joshua reagierte sofort. Er sah sich um, ging ein paar Meter weiter zu einer Birke, kletterte fast zwei Meter daran hoch und sprang zum Zaun herüber. Die Abschlussstäbe des Zaunes glichen kleinen, eisernen Speerspitzen. Sie stachen ihn kurz und heftig ins linke Bein, mit dem er versucht hatte, sich abzustützen. Mit einem Schwung ließ er sich über den Zaun fallen. Der Aufprall unterbrach für einige Sekunden seine Atmung. Seine linke Schulter schmerzte höllisch. Mühsam stand er auf. Dabei bemerkte er, wie sich seine Jeans im Bereich des linken Oberschenkels dunkel färbte. Sie war eingerissen und als er die Stelle berührte, zuckte er zusammen. Joshua hörte sich um, wunderte sich erneut über die Stille, die ihn umgab. Er griff instinktiv nach seiner Pistole. Mist, fluchte er leise. Seine Waffe lag im Schreibtisch seines Dienstzimmers. Janine zuliebe nahm er sie nie mit nach Hause und im Büro war er noch nicht gewesen. Er sah sich nochmals um, bevor er langsam in die Richtung des Eingangstores ging. Bereits einige Meter vor dem Tor erkannte er den Grund für diese verdächtige Stille. Der mächtige, dunkle Körper lag leblos vor ihm. Unter seinem Kopf war der Rasen dunkel eingefärbt. Joshua beugte sich über das Tier. Der Rottweiler trug ein breites, silberfarbenes Halsband mit nach innen gerichteten Stacheln. Seine weit geöffneten, schwarzen Augen schienen ihn zu warnen. Eine Handbreit unter seiner Schnauze klaffte eine offene Wunde. Das Blut war noch nicht geronnen.
Joshua betete innerlich, dass sein Handy nicht im Wagen liegen würde. Als er in die Innentasche seiner Lederjacke griff, atmete er erleichtert auf. Er zog es raus, wollte die Nummer des Kommissariats eintippen und fluchte. Das Display hatte einen Sprung und blieb dunkel. Wütend schmiss er es zu Boden und lief zum Haus. Nach wenigen Metern ging die Außenbeleuchtung erneut an. Instinktiv sprang er in den Schatten eines großen Rhododendrons. Gebückt und weiterhin jeden Schatten ausnutzend, rannte er von Strauch zu Strauch zur Haustür. Den Blick auf das Haus gerichtet, stieß er vor einen meterhohen, auf einer kleinen Säule thronenden Steinlöwen. Er biss die Zähne zusammen und unterdrückte den Schrei.
Die große, weiße Holztür stand einen Spalt weit offen. Ohne zu zögern öffnete er sie einen halben Meter und trat ein. Er befand sich in einer riesigen beleuchteten Eingangshalle. Schräg rechts von ihm führte eine breite geschwungene Treppe in das obere Stockwerk. Vor der Seitenwand der Treppe befanden sich eine kleine Sitzgarnitur und eine gusseiserne Stehlampe. Wohl zur Auflockerung des weißen Marmorbodens lag ein kreisrunder dunkelroter Teppich darunter. Vier Türen, zwei zu seiner Linken und zwei vor Kopf führten aus diesem Raum heraus. Die linke Tür an der Stirnseite war halb geöffnet. Gedämpftes Licht drang aus diesem Raum in den Flur. Joshua sah nach draußen. Noch immer war es still, er schien alleine zu sein. Als er sich wieder zurückdrehte, spürte er einen stechenden Schmerz in seiner linken Schulter. Die Wunde an seinem Oberschenkel pochte. Zu allem Überfluss bekam er auch noch leichte Kopfschmerzen. Aber für ihn gab es jetzt kein Zurück. Einen kurzen Augenblick trug er den Namen der Witwe auf den Lippen, wollte ihn hinausschreien, blieb aber instinktiv stumm. Er ging zu der offenen Tür und lauschte in den Raum hinein. Es war totenstill. Joshua öffnete die Tür weiter und trat hinein. Er schien sich im Wohnzimmer der Familie Schändler zu befinden. Dicke Teppiche dämpften jeden seiner Schritte. Er sah sich vorsichtig um. An der linken Wand befand sich eine massive, mindestens fünf Meter lange Schrankwand, vermutlich aus Eiche. Geradeaus blickte er durch eine lange Fensterfront in den Garten. Kleine, im Boden eingelassene Lampen ließen einen Swimmingpool in Nierenform erkennen. Joshua stutzte. Die Glastür stand ebenfalls einen Spalt weit offen. Am Rand des Pools saß ein Eichhörnchen und sah ihn misstrauisch an. Er blieb stehen und blickte sich weiter in dem Raum um. Sein Blick fiel auf eine Stelle an der Wand neben dem Kamin. Ein großes Ölbild hing wie eine Fensterlade halb geöffnet in Richtung Kamin und gab den Blick auf einen offenen Wandtresor frei. Zwischen ihm und dieser Wand befand sich eine ausladende Sitzlandschaft. Sechs klobige, schwarze Ledersessel mit hohen Rückenlehnen standen um einen passenden, etwa zwei Meter langen Naturholztisch mit einer dicken, anscheinend unbehandelten Tischplatte. Joshua ging um die Sitzgarnitur herum zur Wand, in der sich der Tresor befand. Die Öffnung befand sich genau in seiner Augenhöhe. Einige Schnellhefter und ein schwarzer Aktenordner lagen darin. Er rührte sie nicht an und drehte sich langsam herum. Plötzlich gefror ihm das Blut in den Adern. Ihm gegenüber in einem der Sessel saß eine Frau und sah ihn mit leerem Blick an. Mitten in ihrer Stirn befand sich ein Einschussloch.
Joshua fing sich schnell, in seinem Kopf begann es zu hämmern. Langsam näherte er sich der Frau und fasste ihr an den Hals. Die Körpertemperatur war kaum gesunken. Ihm wurde kalt. Der Mörder war möglicherweise noch im Haus, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Angstgefühl überfiel ihn, welches er sofort verdrängte. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Krampfhaft versuchte er, die Lage zu analysieren. Sein Handy war kaputt, seine Pistole im Büro und der Mörder möglicherweise ganz in seiner Nähe. Als Erstes musste er die Kollegen alarmieren. Joshua blickte sich um. Hinter ihm auf dem Tisch lag ein Funktelefon. Er zog ein Papiertaschentuch aus der Innentasche seiner Lederjacke und hob es damit vorsichtig an. Hektisch tippte er die Nummer der Leitzentrale in das Display und hielt sich den Apparat ans Ohr. Joshua vernahm ein kaum hörbares Rauschen und legte das Telefon frustriert beiseite. Es gab nur eine Möglichkeit, er musste so schnell wie möglich hier raus, um telefonieren zu können. Spontan sah er zur offenen Terrassentür, entschied sich aber für den gleichen Weg, den er gekommen war. In der Tür zur Eingangshalle verharrte er noch einmal und lauschte. Es war immer noch still, lediglich sein Atem war zu hören. Dann fiel ihm die Dunkelheit im Flur auf. Nur aus der oberen Etage drang etwas Licht und beleuchtete einen Teil der Treppe, sowie die Eingangstür. Am Rahmen der Haustür bemerkte er Blutflecken. Als Joshua hinausgehen wollte, hörte er im Obergeschoss eine Tür zufallen und zuckte zusammen. Kurz darauf wurde eine zweite Türe geschlossen. Hastig fuhr er herum und fasste sich sofort an die schmerzende Schulter. Er sah sich in der Eingangshalle um und entdeckte auf dem Tisch an der Treppe schemenhaft einen länglichen Gegenstand. Als er sich dorthin tastete und ihn an sich nahm, wunderte er sich. Der Kerzenhalter war ungewöhnlich schwer. Langsam und bemüht leise schlich er die Treppe hinauf. Der rote Teppich schluckte die Geräusche seiner Schritte. Oben angekommen, sah er sich um. Das Licht kam von einer messingfarbenen Wandlampe mit Glühbirnen, die an Kerzenflammen erinnerten. Ein langer roter Teppich füllte den Flur aus. Gegenüber dem Treppengeländer zwischen zwei Türen stand eine weiße Kommode. An den Längsseiten des Flures befanden sich zwei weitere Türen. In einer Ecke stand eine Bodenvase mit drei künstlichen Sonnenblumen. Joshua hielt einen Augenblick die Luft an und vernahm leise Musik. Sie schien aus dem Zimmer am rechten Ende des Flurs zu kommen. Joshua fiel ein seltsamer Geruch auf, er erinnerte ihn an kalten Rauch. Es war nicht dieser Geruch, der in Räumen, in denen viel geraucht wurde, noch tagelang in der Luft klebte. Es roch eher wie nach einem Brand. Kurz vor der Tür sah er Licht im Schlüsselloch. Er bückte sich und blickte hindurch. Vorher drehte er sich noch einmal herum, um sich zu vergewissern, alleine auf dem Flur zu sein. Seine Schmerzen wurden immer stärker, er sehnte sich auf einmal danach, zu Hause bei seiner Familie zu sein. In diesem Augenblick fühlte er sich unendlich einsam.
Durch das Schlüsselloch erkannte Trempe eine junge Frau, die in einem Korbsessel saß, die Beine übereinander geschlagen hatte und einen Kopfhörer trug. Ihre Finger klopften in einem nicht zu erkennenden Rhythmus auf die Lehnen des Sessels. Joshua spürte ein Gefühl der Erleichterung. Plötzlich erschrak er und stellte sich aufrecht hin. Ihm wurde klar, dieses Mädchen hatte womöglich völlig unbekümmert und fröhlich in ihrem Zimmer gesessen und Musik gehört, während unten im Wohnzimmer ihre Mutter erschossen worden war. Vom Tod ihres Vaters wusste sie natürlich ebenso wenig. Ohne Psychologin oder wenigstens einem Arzt sollte er jetzt nicht zu ihr gehen. Seine Kopfschmerzen ließen kein bisschen nach. Er musste sich zwingen, einen klaren Gedanken zu fassen. Verdammt, welche Möglichkeiten habe ich jetzt, hörte er sich flüstern. Wenn er das Grundstück verließ, um Hilfe zu holen, bestand die Gefahr, dass sie ihre tote Mutter fände. Außerdem war nicht auszuschließen, dass der Mörder sich noch im Haus befand. Er musste einen zweiten Telefonanschluss suchen. Doch dann schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf, der ihn erschreckte. Da hat jemand beide Elternteile umgebracht und die Tochter am Leben gelassen. Das war sehr riskant, sie hätte etwas sehen können. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Der Täter wusste nicht, dass noch jemand im Haus war oder er war überrascht worden und hielt sich tatsächlich noch im Haus auf. In dem Moment verstummte die Musik und Joshua hörte Schritte, die bedrohlich näher kamen. Er kam nur bis zum Treppengeländer, als die Tür vor ihm aufging und eine hübsche junge Frau mit braunen Augen und schulterlangem, schwarzem Haar herauskam. Eine Sekunde verharrte sie stumm vor ihm und sah ihm in die Augen. In dieser Sekunde hob Joshua den linken Arm und wollte eine beschwichtigende Bewegung damit ausführen. Er kam nicht dazu. Die junge Frau stieß einen markerschütternden Schrei aus und sprang zurück in ihr Zimmer. Joshua wollte gerade zur Türklinke greifen, als er hörte, wie die Türe abgeschlossen wurde. Zunächst war er wütend, dann betrachtete er seine blutdurchtränkte Jeans und den wuchtigen Kerzenhalter, den er noch immer in seiner rechten Hand hielt. Dabei fiel ihm einer von van Blooms nervigen Sprüchen ein. Als er wieder einmal über das gestriegelte Äußere seines Kollegen herzog, meinte dieser, dass die Leute ihn wohl eher für den Täter als den Polizisten halten müssten. In diesem Fall würde van Bloom wohl Recht haben. Aber wie sollte es nun weitergehen? Wenn der Täter noch irgendwo im Haus wäre, war er durch diesen Schrei der Kleinen jetzt bestens über ihren Standort informiert und er selbst befand sich hier wie auf dem Präsentierteller. Joshua kämpfte gegen seine Schmerzen an und versuchte, logisch zu denken. Die offene Terrassentür sprach dafür, dass der Täter nach der Tat verschwunden war, die Lebendigkeit der potenziellen Zeugin sprach jedoch dagegen. Er vernahm die Stimme der Tochter und ging näher an die Tür. Joshua hörte etwas von Einbrecher und die Polizei solle so schnell wie möglich kommen. Er schrie sofort los:
»Sag ihnen, sie sollen die Spurensicherung mitbringen … und alle Zufahrtsstraßen absperren und … «, dann bemerkte er die Stille an der anderen Seite der Tür. Er klopfte dagegen und flehte sie an, zu öffnen. Sie schrie zurück, er solle verschwinden und die Polizei sei bereits unterwegs.
»Ich bin Polizist, bitte glauben Sie mir!«
»Klar und ich bin bei der Heilsarmee und jetzt verschwinde!«
Er zog seinen Dienstausweis aus der Gesäßtasche und schob ihn unter die Tür durch.
»Ruf noch einmal bei der Polizei an und erkundige dich nach mir. Sie werden dir meine Identität bestätigen. Aber beeile dich bitte! Wir sind beide in Gefahr!«
Einen Augenblick lang war es ruhig, schließlich drehte sich der Schlüssel und die Tür ging langsam auf.
»Okay. Aber Sie bleiben in der Tür stehen und kommen keinen Schritt näher, sonst … «
Sie nahm sich ein dickes Buch vom Schreibtisch und stellte sich neben ihren Korbsessel. Joshua trat einen halben Schritt ins Zimmer. Sie wollte gerade protestieren, als er sie mit einer Handbewegung beruhigte. Joshua atmete tief durch.
»Bei euch ist eingebrochen worden. Ich fuhr hier vorbei und habe die offene Haustüre gesehen.«
Es war unwahrscheinlich. Joshua hoffte, sie würde ihm glauben. Sie sah ihn mit großen Augen an und atmete hektisch. Ihre Augenlider zitterten. Sie wirkte unsicher, verkrampft.
Vom Tod ihrer Eltern wollte er nichts sagen. Joshua dachte daran, seine Kollegen so schnell wie möglich zu informieren. Der Täter konnte noch nicht weit sein. Sie mussten dringend alles weiträumig absperren. Sein Blick richtete sich auf ein Handy, das auf dem Schreibtisch lag. Ohne zu zögern lief er dorthin und bückte sich nach dem Telefon.
Er spürte noch einen dumpfen Schlag auf seinen Hinterkopf, danach wurde es dunkel um ihn herum.
Joshua träumte, jemand würde ihm unentwegt ins Gesicht schlagen. Dabei vernahm er eine dunkle Stimme, die aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. Ihr Hall dröhnte in seinem Hirn. Sie sprach davon, der Notarzt müsse jeden Moment eintreffen und ob die Straßen endlich abgesperrt seien. Er meinte, van Blooms Stimme erkannt zu haben. Plötzlich ein lauter, heller Knall, dicht gefolgt von mehreren nur wenig leiseren. Er fühlte sich, als habe man ihn kurz vor der Frühmesse in den Glockenturm des Kölner Doms gesperrt. Schlagartig riss er die Augen auf und schloss sie sogleich wieder. Das grelle Licht tat ihm weh. Er öffnete sie erneut ganz vorsichtig. Ein gespenstisch gekleideter Kollege von der Spurensicherung hob zwei Lampenstative neben ihm auf.
»Na, gut geschlafen? Ist ja während der Arbeit eigentlich verboten, aber ich sag’s nicht weiter.«
Daniel van Bloom grinste übers ganze Gesicht. Joshua verspürte die Lust, seine Faust anzuheben, aber es wollte nicht funktionieren. Von überall her drang Stimmengewirr herein. Allmählich fing sein Verstand wieder an, die Arbeit aufzunehmen. Mit einem Ruck setzte er sich aufrecht. Sein Kopf quittierte diese hektische Bewegung mit dröhnendem Schmerz. Daniel wollte gerade protestieren, als er schon stand. Joshua wankte bedenklich. Den Hinweis seines Kollegen, er solle liegen bleiben, bis der Notarzt ihn behandelt hätte, ignorierte Joshua mit einer abweisenden Handbewegung. Leicht torkelnd verließ er das Zimmer. Er erreichte die Treppe und stieg hinauf, aber oben kam ihm eine junge Frau in orangefarbener Uniform entgegen und zeigte mit energischem Gesichtsausdruck in die Richtung eines der Schlafzimmer. Joshua befolgte ihren stummen Befehl. Als er auf dem Bett lag, begann die brünette, junge Ärztin ihn zu untersuchen.
»Was haben Sie denn mit Ihrem Kopf gemacht«, fragte sie ihn und deutete dabei auf eine beachtliche Beule an seinem Hinterkopf.
»Ich habe wohl ein Buch abbekommen«, antwortete er lakonisch.
»Aha, das muss aber schwere Literatur gewesen sein.«
Joshua weigerte sich beharrlich, mit ins Krankenhaus zu fahren, versprach jedoch, sich von einem Kollegen im Laufe des Abends dorthin bringen zu lassen. Missmutig behandelte sie ihn weiter. Sie schnitt ihm das linke Bein seiner Jeanshose ab und verband die Wunde. Anschließend musste er sich auf den Bauch legen. Während ein junger Sanitäter beide Hände fest zwischen die Schulterblätter drückte, renkte die junge Ärztin das Schultergelenk mit einer geschickten Drehung seines Armes wieder ein. Joshua schrie laut auf. Vorsichtig drehte er sich wieder herum.
»So, das wär’s. Muss aber noch geröntgt werden. Könnte sein, dass Ihr Schultergelenk gesplittert ist.«
Sie wies ihn noch einmal darauf hin, dass sein Bein genäht werden müsse und er vermutlich eine Gehirnerschütterung habe und absolute Ruhe bräuchte. Joshua ließ sich noch ein paar Kopfschmerztabletten geben und versprach ihr alles. Er gab ihr eine Minute Vorsprung und ging dann die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss herrschte reger Betrieb. Jutta von Ahlsen, die Polizeipsychologin, verabschiedete sich gerade. Sie hielt Rosalinde Schändler an der Hand. Kalle sah ihn kommen und reagierte als Erster. Er sah die junge Frau an und zeigte zu Joshua herüber.
»Das ist der Kollege, den Sie erlegt haben.«
Karl Heinz Schmitz, den alle nur Kalle nannten, hatte eine lockere Art. Normalerweise schätzte er ihn dafür. Diesmal fand Joshua es unpassend. Er blickte in die roten verheulten Augen des Mädchens. Mit zittriger Stimme gab sie ihm die Hand. Sie war zierlich und eiskalt.
»Es … es tut mir leid. Ich wusste doch nicht, dass … «, ihr Satz wurde durch einen Weinkrampf unterbrochen. Jutta von Ahlsen legte ihren Arm um die Schulter der jungen Frau und drückte sie langsam zur Tür hinaus.
»Gehörst du nicht eigentlich ins Krankenhaus?«
Kalle sah ihn mitleidvoll an. Joshua überging diese Frage.
»Habt ihr ihn?«
»Wen? Ach so, nein im Gegenteil, viel Arbeit haben wir. Übrigens, der König ist auch hier und hat schon ein paar Mal nach dir gefragt. Er hat dich gefunden und den Notarzt gerufen. Der hat vielleicht eine Laune. Also an deiner Stelle würde ich das Krankenhaus vorziehen.«
Staatsanwalt König hatte er in all den Jahren noch nie mit guter Laune gesehen, schon gar nicht, wenn man ihn Freitagabend in seinem Schachverein anrief und von einem Mord berichtete. König machte nie einen Hehl daraus, dass er mit dem äußeren Erscheinungsbild von Joshua, wie er sich auszudrücken pflegte, nicht zufrieden war. Dienstlich gab es hingegen kaum Ressentiments. Er bezeichnete die Ermittlungsarbeit Trempes zwar als ›zuweilen ungewöhnlich kreativ‹, aber der Erfolg gab ihm Recht und das zählte für den Staatsanwalt.
Als Joshua das Wohnzimmer betrat, kniff er die Augen zusammen. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten überall ihre grell leuchtenden Strahler verteilt und wuselten umher. König stand auf der Terrasse. Als er Trempe sah, brach er das Gespräch mit dem Kollegen ab und kam sofort herein. Mit langen Schritten lief er auf Joshua zu. Noch unterwegs musterte er ihn bereits von oben bis unten. Seine Mundwinkel glitten dabei herab. Der Staatsanwalt gab sich keine Mühe, sein Missfallen zu verbergen.
»Guten Abend, Herr Kollege Trempe. Falls das Wort Kollege überhaupt noch zutreffend ist, Sie scheinen ja die selbstständige Arbeit zu bevorzugen.«
Joshua hatte sich schon oft die Frage gestellt, woher der Staatsanwalt seine permanente Unzufriedenheit bezog.
»Guten Abend, Herr König. Ich hatte keine andere Möglichkeit. Es war Gefahr im Verzug … «
»Gerade dann sollten Sie Verstärkung anfordern«, fiel König ihm lautstark ins Wort, »das müssten Sie doch wohl wissen!«
»Das konnte ich nicht, Herr Staatsanwalt. Mein Handy ist beim Sturz vom Zaun zerstört worden und das Funktelefon der Familie Schändler funktionierte ebenfalls nicht. Und eine Trommel hatte ich gerade nicht zur Verfügung. Ich wollte gerade zu meinem Auto, als ich von oben … «
»Ersparen Sie mir Ihre Unverschämtheiten. Ich erwarte noch heute Abend Ihren ausführlichen Bericht, haben wir uns verstanden, Herr Trempe?«
»Ich Sie wohl.«
Joshua wendete sich ab und ging in Richtung Außentür.
»Moment, wo wollen Sie hin?«
Joshua drehte sich herum und bemerkte zu seiner Erleichterung, dass die Schulter kaum noch schmerzte. Allerdings marterten ihn nach wie vor heftige Kopfschmerzen. Außerdem hatte er eine maßlose Wut auf König.
»Ins Präsidium, den Bericht schreiben und dann ins Bett. Hat die Ärztin mir verordnet. Sie hören dann gegebenenfalls wieder von mir.«
»Trempe, so warten Sie doch. Das geht doch nicht. Der Bericht kann noch warten. Wir brauchen Sie jetzt hier.«
Joshua stutzte. König würde es niemals förmlich sagen, aber war das nicht so etwas wie eine Entschuldigung vom Staatsanwalt? Seine Laune verbesserte sich wieder ein wenig. Wortlos ging er an König vorbei zu van Bloom, der sich gerade mit Eugen Strietzel, dem Gerichtsmediziner, unterhielt. Der Doktor wirkte leicht mitgenommen und sah Joshua grimmig an.
»Keine blöden Fragen jetzt«, raunzte er ihn direkt an, »ich bearbeite hier mittlerweile Morde am Fließband.«
Joshua schloss die Augen und atmete tief durch.
»Okay, schon gut«, fuhr Strietzel fort, »es scheint der gleiche Täter zu sein. Ebenfalls aus kurzer Distanz in die Stirn. Kaliber könnte auch stimmen, aber bitte, meine Herren … «
»Schon klar, erst die Untersuchungsberichte abwarten«, vollendete Joshua den Satz des Gerichtsmediziners. Könnte er doch auch mal sagen: Ich erwarte Ihren Bericht noch heute Abend. Strietzel wendete sich wieder seiner Arbeit zu. Max Drescher füllte die Lücke, er schien nur das Gespräch mit dem Arzt abgewartet zu haben. Der fast zwei Meter große Spurensucher wirkte angespannt. Als Joshua ihn fragend ansah, hob er abwehrend die Hände.
»Bevor ihr mich löchert, wir werden wohl noch die ganze Nacht hier und am anderen Tatort beschäftigt sein. Übrigens«, Drescher sah sich Joshuas Hose und das verbundene Bein an, »wir haben da eine unbekannte Blutspur an der Tür, kann es sein, dass die von dir ist?«
»Ja, wahrscheinlich. Und wenn ihr draußen neben dem Hund ein Handy findet, das ist auch von mir.«
»Na prima, das Handy ist bereits bei der Kriminaltechnik. Ruf die Kollegen mal gleich an.«
Joshua sah ihn verwundert an. Daniel deutete in die Richtung der Ermordeten, den Blick dabei auf Drescher gerichtet.
»Kannst du uns schon was Näheres sagen?«
Joshua stieß ihn mit dem Ellenbogen an und verdrehte seine Augen. Daniel verstand sofort und versuchte seine Frage zu entschärfen.
»Ich meine, ihr habt ja noch sehr viel Arbeit, aber bei deiner Erfahrung ist dir doch bestimmt irgendetwas aufgefallen.«
Drescher konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
»Der Täter scheint ein Profi zu sein. Wir haben im Haus praktisch keinerlei Spuren. Obwohl wir zu den sichergestellten Fingerabdrücken noch Vergleichsspuren nehmen müssen. Aber keine Faserspuren, Fußabdrücke oder sonst was. Dazu kommt noch die Alarmanlage. Sie wurde fachgerecht abgestellt. Sämtliche Leitungen zu den Sensoren und nach außen wurden überbrückt. Die Notstromschaltung wurde ebenfalls außer Betrieb gesetzt. Wir haben jemanden von der Installationsfirma herbestellt. Der meinte, es sei eine Arbeit von mindestens einer Stunde und nur von einem Fachmann auszuführen, der mit diesem System absolut vertraut ist.«
Joshua und Daniel sahen sich fragend an.
»Wie und wo ist der Täter denn hereingekommen?«
»Das, Herr van Bloom, fragen wir uns auch. Bislang haben wir nirgendwo Spuren finden können, die auf ein gewaltsames Eindringen schließen lassen. Aber wer weiß, wir sind ja noch nicht fertig.«
Joshua vermisste die nötige Logik.
»Der Täter wird wohl kaum stundenlang die Alarmanlage manipuliert haben, um dann mit dem Schlüssel hereinzukommen. Irgendwo muss es einen Hinweis auf Einbruch geben.«
Drescher stieß schwerfällig seinen Atem aus.
»Das ist mir auch klar, Junge. Morgen früh wissen wir mehr. Hoffe ich.«