Grimm & Sohn - Das kopflose Skelett - oder: Die Motte - Erwin Kohl - E-Book
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Grimm & Sohn - Das kopflose Skelett - oder: Die Motte E-Book

Erwin Kohl

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Beschreibung

Cosy Crime trifft Regio: Als würde Miss Marple am Niederrhein ermitteln. Skandal! Im beschaulichen Alpen, einem Dorf am Niederrhein, ist die Stimmung der Bewohner kurz vor dem Überkochen: Ausgerechnet auf einem jahrhundertealten historischen Erdhügel soll ein Hotel erbaut werden. Doch als dort ein Skelett gefunden wird, mit einem Einschussloch im Schädel, nimmt das Bauprojekt plötzlich eine mörderische Wendung. Vor allem, als Kommissar Heinrich Grimm kurz darauf feststellen muss, dass der Kopf des Skeletts verschwunden ist. Gibt es etwa einen Zusammenhang mit einem 30 Jahre lang zurückliegenden Mordfall? Die Polizeiakten von damals sind allerdings mehr als löchrig. Wie gut, dass Heinrichs Mutter, die rüstige Gertrud Grimm, ein besonderes Köpfchen für Kriminalfälle hat. Blöd nur, dass sie nun vorhat, ihn selbst zu lösen … Dieser humorvolle Kriminalroman ist früher bereits unter dem Titel »Die Motte« erschienen und wird Fans von M. C. Beaton sowie der »Kluftinger«-Krimis begeistern.

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Seitenzahl: 289

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Über dieses Buch:

Skandal! Im beschaulichen Alpen, einem Dorf am Niederrhein, ist die Stimmung der Bewohner kurz vor dem Überkochen: Ausgerechnet auf einem jahrhundertealten historischen Erdhügel soll ein Hotel erbaut werden. Doch als dort ein Skelett gefunden wird, mit einem Einschussloch im Schädel, nimmt das Bauprojekt plötzlich eine mörderische Wendung. Vor allem, als Kommissar Heinrich Grimm kurz darauf feststellen muss, dass der Kopf des Skeletts verschwunden ist. Gibt es etwa einen Zusammenhang mit einem 30 Jahre lang zurückliegenden Mordfall? Die Polizeiakten von damals sind allerdings mehr als löchrig. Wie gut, dass Heinrichs Mutter, die rüstige Gertrud Grimm, ein besonderes Köpfchen für Kriminalfälle hat. Blöd nur, dass sie nun vorhat, ihn selbst zu lösen …

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Bitte beachten Sie, dass dieser Kriminalroman früher bereits unter dem Titel »Die Motte« erschienen ist.

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Über den Autor:

Erwin Kohl wurde 1961 in Alpen am Niederrhein geboren und wohnt noch heute mit seiner Frau in der herrlichen Tiefebene am Niederrhein. Neben der Produktion diverser Hörfunkbeiträge schreibt Kohl als freier Journalist für die NRZ / WAZ und die Rheinische Post. Grundlage seiner bislang 15 Kriminalromane und zahlreichen Kurzgeschichten sind zumeist reale Begebenheiten sowie die Soziologie der Niederrheiner und ihre vielschichtigen Charaktere.

Die Website des Autors: www.erwinkohl.de/

Bei dotbooks veröffentlichte Erwin Kohl seine humorvolle Krimireihe um »Grimm & Sohn – Das kopflose Skelett« mit den Bänden:»Grimm & Sohn – Das kopflose Skelett«

»Grimm & Sohn – Der Tote im Heidesee«

»Grimm & Sohn – Das Hornveilchen-Indiz«

»Grimm & Sohn – Der tote Schornsteinfeger«

Auch bei dotbooks erscheint seine »Kommissar Trempe«-Reihe:»Kommissar Trempe – Zugzwang«

»Kommissar Trempe – Grabtanz«

»Kommissar Trempe – Flatline«

»Kommissar Trempe – Willenlos«

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eBook-Neuausgabe Juli 2024

Dieses Buch erschien bereits 2009 unter dem Titel »Die Motte« im Droste Verlag.

Copyright © der Originalausgabe © 2009 by Erwin Kohl, Wesel-Ginderich und Droste Verlag GmbH, Düsseldorf

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (paranormal) und Adobe Stock (Sergiy Bykhunenko, Curly, barbara buderath)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98952-146-9

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Erwin Kohl

Grimm & Sohn: Das kopflose Skelett

Mord am Niederrhein, Band 1

dotbooks.

In den Flüssen schwimmen Träume und die Träume die sind schwerAus den Häusern wachsen schon die BäumeMutter ruft schon lang nicht mehr

Hanns Dieter Hüsch

Kapitel 1

Alpen, 18.10.1977

Die Abenddämmerung legte sich wie ein dunkles Tuch über die kleine niederrheinische Gemeinde. Im Ortskern am Fuße der Bönninghardt ließen die Straßenlaternen bereits ihr milchiges Licht durch den Abenddunst schimmern. Eine Greisin ging gebückt aus dem zum Altersheim umgebauten Hotel Terheggen und sah sich neugierig um. Vor der Pommesbude an der Lindenallee saßen einige Jugendliche in Bundeswehrparkas auf ihren Vespamofas und hielten lässig ihre Zigaretten zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihr Atem verwandelte sich in kleine Nebelwölkchen.

Kurz bevor sich die Straße den Alpener Berg hochzog, steuerte Walter Jansen den NSU RO 80 in die Einfahrt der kleinen Tankstelle hinter dem Lindenhof. Seiner Tochter gegenüber hatte er erwähnt, am nächsten Morgen in aller Frühe nach Düsseldorf fahren zu wollen. Jedes Detail sollte stimmen. Die Tankstelle öffnete erst um acht Uhr, ebenso die des Autohauses Artz auf der Rathausstraße. Bevor er ausstieg, schaltete er das Radio aus. Die Berichte über die Geiselbefreiung in Mogadischu und die anschließenden Selbstmorde der Terroristen Baader, Ensslin und Raspe in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim hatte er im Laufe der letzten zwei Stunden bereits ein halbes Dutzend Mal gehört. Im kleinen Verkaufslokal der Tankstelle wetterten zwei Rentner über die Politik der Regierung Schmidt. Er kannte sie und grüßte flüchtig. Wenn die so weitermachen, vernahm er die Stimme des Bauern Steffens hinter seinem Rücken, würde die Arbeitslosenzahl in diesem Winter wohl erstmalig die Millionengrenze erreichen.

Walter Jansen bog an der Bönninghardter Kreuzung links Richtung Kamp-Lintfort ab. Wie eine Furche durchtrennte diese Straße die Leucht, das Waldgebiet bei Alpen. Versonnen betrachtete er die kahlen Wipfel der Bäume, die wie Mahnmale der Natur an ihm vorbeihuschten. Der saure Regen hatte bereits ein Drittel des Waldes in Mitleidenschaft gezogen. Abhilfe war nicht in Sicht. Der Verkehr nahm immer weiter zu. Für viele Niederrheiner war es der kürzeste Weg zur nächsten Autobahnauffahrt in Kamp-Lintfort.

Jansens Gedanken flogen zu dem Gespräch vor einer Stunde zurück. Sein zukünftiger Schwiegersohn hatte unterwegs aus einer Telefonzelle angerufen und ihn um eine Aussprache gebeten. Die bloße Befürchtung, seine Tochter an diesen Windbeutel zu verlieren, ließ die feinen Härchen auf seinem Handrücken emporstehen. Nächtelang hatte er mit ihr darüber diskutiert, sie immer wieder gefragt, weshalb sie ausgerechnet diesen Aufschneider heiraten wolle. Hilde, seine Frau, mahnte ihn, den Willen ihrer Tochter zu akzeptieren. Immerhin hätte Ackermann Mut bewiesen, als er sich gegen den sicheren Posten des Juniorchefs im elterlichen Betrieb entschieden und ein Studium der Architektur begonnen habe. Bei dem Gedanken daran wurde sein Ärger beinahe übermächtig. Mit dem Geld des Vaters ein kleines Bauunternehmen gründen, um damit das Studium zu finanzieren, war in den Augen seiner Frau Mut. Walter Jansen hatte sich alles mühevoll erarbeiten müssen, hatte den Beruf von der Pike auf gelernt. Und nun wollte dieser Schnösel ihm die Tochter nehmen. Beim Blick in den Innenspiegel erschrak Jansen. Sein Gesicht war dunkelrot, eine Ader auf der Stirn trat so stark hervor, dass er befürchtete, sie könne platzen. Der hohe Blutdruck bereitete ihm seit einiger Zeit Sorgen. Er nahm sich vor, am Nachmittag Doktor Schwarze aufzusuchen.

Warum sollte er unsere Birgit heiraten wollen, wenn nicht aus Liebe.

Jansen hatte die Naivität seiner Frau kaum glauben können.

Das Motiv war so klar wie der heutige Nachmittag. Ackermann hat große Pläne. Er will sich nicht für andere die Hände schmutzig machen, stattdessen die Luftschlösser seiner jugendlichen Träume realisieren. Dafür würde er mehr Startkapital benötigen, als sein Erzeuger jemals bereit wäre, ihm zu geben. Die Juweliergeschäfte hatten für beträchtlichen Wohlstand gesorgt, Birgit war ihr einziges Kind und somit Alleinerbin.

Aber da hast du dich geschnitten, Ackermann.

Im Innenspiegel zeichnete sich hämisches Grinsen ab. Gestern Abend hatte er die Reißleine gezogen, seiner Tochter verkündet, dass er am Tag ihrer Hochzeit mit diesem Nichtsnutz das Testament ändern würde. Birgit war stumm geblieben, hatte ihm einen hasserfüllten Blick zugeworfen und das Elternhaus wortlos verlassen.

Lichter blendeten ihn. Blitzschnell trat er aufs Bremspedal und zog die Limousine hinter den Traktor auf die rechte Fahrspur zurück. Wie ein Schwamm, der über eine Tafel gleitet, löschte das Bewusstsein die finsteren Gedanken und gab die Sicht auf die Realität frei. Als er die Zugmaschine endlich überholt hatte, erkannte er in der Ferne die Hinweistafel an der Einfahrt zum Waldparkplatz. Allmählich drosselte er das Tempo. Nur das Rauschen des Fahrtwindes und der flüsternde Wankelmotor drangen an seine Ohren. Erst jetzt wunderte sich Jansen über den ungewöhnlichen Treffpunkt. Vor einer Stunde war es ihm noch logisch erschienen. Aus seinem Haus hatte er ihn schon vor Wochen geschmissen. Und die Annahme, dass er, Walter Jansen, die Wohnung dieses Aufschneiders betreten würde, wäre absurd. Aber warum sollten sie sich nicht im Ort treffen, im Café Schölten beispielsweise oder bei Maria, der Wirtin seiner Stammkneipe? Will dieser Bengel mir etwa Angst einjagen? Er kann nichts beweisen.

Na warte, Junge, ich habe was für dich, das wird dir gar nicht schmecken.

Über sein Gesicht glitt ein breites Grinsen, als er den Blinker setzte. Obwohl die Parkstreifen rechts und links des Weges mehr als hundert Fahrzeugen Platz boten, waren sie an den Wochenenden im Sommer restlos überfüllt. Die Idee, einen sogenannten »Trimm-dich-Pfad« mit zahlreichen im Wald verteilten Sportgeräten einzurichten, war ein voller Erfolg. Die einsetzende Dunkelheit schluckte die Konturen. Birken am Rand des Parkplatzes warfen unheilvolle Schatten. Im Schritttempo steuerte Jansen den NSU geschickt an den größten Schlaglöchern vorbei. Er schien allein zu sein. Als er das Fernlicht einschaltete, erkannte Jansen kurz vor dem Holzbalken am Ende des Weges den knallgelben Opel Commodore von Birgits Verlobtem. In Jeansjacke, Jeanshose und Cowboystiefel gekleidet saß dieser lässig auf der Motorhaube. Das Gesicht lag im Halbdunkel, Jansen erkannte nur die Glut einer Zigarette. Er parkte neben ihm und stieg aus. Das Scheinwerferlicht einer heranrollenden Limousine erleuchtete sein Gesicht.

»Lass uns ein paar Schritte gehen, ich habe mit dir zu reden«, Ackermann deutete mit ausgestrecktem Arm in den dunklen Weg, der zum Schwebebalken führte, dem ersten Gerät des Trimm-dich-Pfads. Walter Jansen ballte die rechte Hand zur Faust. Er mochte den schroffen Umgangston Ackermanns nicht, wollte aber unbedingt den Grund für das Treffen erfahren. Mit stählernem Blick deutete er ein Nicken an.

Ackermanns Gesichtszüge wirkten ungewohnt scharf, fast steinern. Zum ersten Mal vernahm Walter Jansen eine Spur Unsicherheit.

Kapitel 2

Alpen, über 32 Jahre später …

Wie ein kahlgeschorener und halb eingeschlagener Kopf ragte der ehedem so anmutige Hügel über den Bretterzäunen empor. Bagger gruben sich Meter für Meter in sein Inneres. Zwei Mitarbeiter des Naturschutzbundes stellten eine Informationstafel am Rand der Weseler Straße auf. Auf dem Radweg lag ein durchnässter Handzettel des Heimat- und Verkehrsvereins. »Rettet die Motte« war auf dem gewellten Papier zu lesen.

Konrad Walther vom Rheinischen Boten kramte schlecht gelaunt die Gummistiefel aus dem Kofferraum des altersschwachen Mustang. Undenkbar, dass sein großes Idol Carl Bernstein damals Gummistiefel im Kofferraum seines Mustang hatte, bevor er mit seinem Kollegen Bob Woodward Richard Nixon zu Fall brachte.

Seit einem halben Jahr war der Redakteur des Lokalteils für das »Bauvorhaben Motte« zuständig. Anfangs hatte es sich noch gelohnt. Fast täglich war er an einen interessanten Artikel gekommen. Dieses Projekt hatte die bis dahin friedlich vor sich hin schlummernde Volksseele Alpens zum Kochen gebracht. Dabei war im vorigen Jahr die Ankündigung, die Vorburg wieder aufzubauen, von den Bürgern Alpens wohlwollend bis euphorisch zur Kenntnis genommen worden. Die öffentliche Meinung hatte sich allerdings ins Gegenteil verkehrt, als die Gemeinde erste Planungsskizzen veröffentlichte. Die postmoderne Zweckarchitektur, so des Volkes Meinung, dürfte wenig bis gar keine Ähnlichkeit zur damaligen Burg aufweisen. Laut dem Heimat- und Verkehrsverein würde die Gemeinde Alpen eine historische Chance durch reines Profitdenken für immer zunichtemachen. Eine öffentliche Diskussionsveranstaltung, zu der der Gemeinderat die Bürger ins Schulzentrum an der Fürst-Bentheim-Straße geladen hatte, wurde zum Eklat. Zwei Dutzend Alpener Bürger hatten keinen Einlass gefunden und ihrem Unmut auf dem Schulhof freien Lauf gelassen. Die Gemeindevertreter, besonders der junge und dynamische Bürgermeister Rudi Ahrens, hatten die Verbundenheit der Einwohner mit ihrer Gemeinde auf fatale Weise unterschätzt. Dabei hätten sie es ahnen können. Schließlich waren sie im vorigen Jahr dabei gewesen, als Tausende Bürger Alpens auf der Bönninghardt in einer vier Kilometer langen Menschenkette gegen den geplanten Kiesabbau protestiert hatten. Aber sie hatten es nicht geahnt. Lediglich Christoph Schmaleck von den Grünen hatte Bedenken geäußert. Niemand sonst hatte sich vorstellen können, dass dieser Erdhügel vor den Toren der Gemeinde den Lokalpatriotismus der Bürger neu entfachen würde.

Eine halbe Ewigkeit lagen die Grundmauern des alten Kasteeis bereits unter diesem Erdwall begraben. Für eine Restaurierung des Bodendenkmals war nie das nötige Kapital vorhanden gewesen. Die Idee, unter Einbezug der alten Fundamente die ehemalige Vorburg wieder aufzubauen und in ein Burghotel zu verwandeln, war verlockend gewesen. Als auch noch ein ortsansässiger Architekt und Projektleiter gefunden worden war, der darüber hinaus mindestens 30 Arbeitsplätze offerierte, hatte im Sitzungssaal parteienübergreifende Freude geherrscht. Darauf hatte zwischenzeitlich vor dem Hintergrund der immensen Auflagen, welche die Träger der öffentlichen Belange erwirkten – allen voran das rheinische Amt für Bodendenkmalpflege – niemand mehr gehofft. Fast alle Interessenten hatten ihr Angebot zurückgezogen oder ein deutlich erhöhtes nachgereicht, als die Nachricht durchgesickert war, dass eine archäologische Grabungsfirma die Bauarbeiten begleiten würde.

Camel, wie der Journalist aufgrund seines stetigen Konsums der gleichnamigen Zigarettenmarke genannt wurde, bahnte sich seinen Weg durch knöcheltiefen Schlamm zum Ort des Geschehens. Missmutig betrachtete der Einundfünfzigjährige den durchnässten Trenchcoat. Vor zwei Wochen hatte er den 35 Jahre alten Überzieher im Internet ersteigert. Es bereitete ihm zunehmend größere Mühe, an die begehrte Kleidung der Siebzigerjahre zu gelangen. An den Wochenenden fuhr er gelegentlich einige hundert Kilometer für ein seltenes Kleidungsstück aus dieser Zeit. Zum Glück genügte dem gertenschlanken Redakteur die Standardgröße. Er war mit Manfred Ackermann, dem Architekten des Burghotels, verabredet. Wobei von einer Verabredung eigentlich keine Rede sein konnte. Die Wahrheit bestand aus einem knurrigen »meinetwegen« am Telefon. Aber davon hatte ihm sein Redaktionsleiter nichts gesagt. Ohnehin war Camels anfängliche Hoffnung erloschen, sein Talent könne durch diese Story endlich über die Kreisgrenze hinaus beachtet werden. Die Berichterstattung verkam zunehmend zum provinzpolitischen Possenspiel.

Camel erinnerte sich zwei Monate zurück: Der fast sechzigjährige, korpulente Ackermann hatte ihn als Schmierfinken bezeichnet und aus seinem Büro geworfen. Ackermann galt als äußerst egoistisch und cholerisch. Aber er hatte Erfolg, was ihm zumindest Respekt einbrachte. Dennoch gab es für ihn mittlerweile ein nicht unerhebliches Imageproblem. Innerhalb weniger Monate hatte der ohnehin nicht sehr beliebte Ackermann es geschafft, den spärlichen Rest an Sympathie vollends zu verspielen.

Auf einem provisorischen Weg aus Gerüstbrettern gelangte Camel zur Rückseite der Motte. Achtlos warf er die Zigarette ins Gebüsch. Über den Schotterweg hinter ihm lief eine Horde Kinder vom nahe gelegenen Schulzentrum zum Supermarkt an der Weseler Straße. Als sie ihn sahen, brachen sie in lautes Gelächter aus.

Camel schüttelte verächtlich den Kopf. Die langen, dunkelblonden Haare und die Kleidung aus den Siebzigern prägten eben seinen individuellen Stil. Als er sich umdrehte, wurde er von einem korpulenten, älteren Mann mit blauem Helm angerempelt. Ihm folgten fluchend drei weitere Kollegen. Im Hintergrund, direkt vor dem Ausgrabungsort, sah er Ackermann mit einem Grabungstechniker streiten. Augenblicke später rannte dieser wutentbrannt los. Camel stellte sich quer auf den Weg und stoppte den Mann.

»Konrad Walther, Gemeinde Alpen. Ich soll hier Bauabschnittfotos für die Chronik machen. Gibt es Probleme?«

Peter Stolberg, wie ein Schild auf der gelben Regenjacke verkündete, stoppte abrupt, sah ihn mit gerötetem Kopf an. Seine Lippen vibrierten, der Blick fiel auf Camels Kameratasche.

»Da machen Sie mal direkt Beweisfotos. Der spinnt doch«, mit ausgestrecktem Arm deutete er auf Manfred Ackermann.

»Beleidigt den ganzen Tag meine Leute, schmeißt uns Knüppel zwischen die Beine, wo es nur geht, und dann«, er schluckte, »jagt er meine Leute weg und lässt mit der Baggerschaufel den Bunkereingang freilegen!«

Stolberg verlieh seinen Worten eine derart empörte Betonung, als sei es selbstverständlich, diese Arbeit von Archäologen ausführen zu lassen. Camel erinnerte sich an die Pressemappe zur Motte. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hatten die Alpener unter Anleitung erfahrener Bergleute einen Stollen quer durch die Motte getrieben und darin einen Schutzbunker errichtet. Zu seiner Verwunderung war dieser Bunker ebenfalls auf die Liste der Bodendenkmäler gesetzt worden. Camel fragte sich, was damit geschehen würde.

»In Ordnung, Herr Stolberg. Ich werde dem Gemeinderat umgehend Bericht erstatten.«

»Ich auch, darauf können Sie sich verlassen.«

Wütend stapfte der Grabungsleiter an ihm vorbei.

Camel stieg einen schmalen Pfad hinauf. Dabei musste er gebückt gehen, sich an Wurzelballen klammern, um nicht abzurutschen. Nach wenigen Metern erreichte er eine kleine Ebene. Man hatte zunächst einen Teil des Hügels, der der Weseler Straße zugewandt war, zur Hälfte abgetragen, um Platz für Bauwagen und schweres Gerät zu schaffen. Unterhalb des Plateaus befanden sich laut Aufzeichnungen die Überreste des ehemaligen Kasteeis. Sie mussten später sorgfältig freigelegt werden. Die Baugenehmigung war mit der Bedingung verknüpft worden, die alten Fundamente sichtbar in das Burghotel einzufügen. Allein zwei Wochen waren von der Grabungsfirma dafür veranschlagt worden, die mittelalterlichen Reste zu sichern, was Ackermanns Wut von Tag zu Tag ansteigen ließ.

Von der Weseler Straße führte eine kleine, geschwungene Auffahrt hierher. Manfred Ackermann stand wie ein Feldherr auf einem zerborstenen Betonquader, aus dessen Längsseite Muniereisen wie Speere herausragten. Neben ihm schien die Motte den Mund weit aufgerissen zu haben. Ein dunkles, metertiefes Loch befand sich in Brusthöhe in der steilen Erdwand. Ackermann schrie den Baggerführer an:

»Sofort aufhören! Genug für heute. Feierabend!«

Der Lärm des Baggers gab seiner Stimme keine Chance. Den Kopf zwischen übergroßen Ohrmuscheln eingekeilt, drückte der Maschinenführer langsam einen Hebel nach vorne. Wie das Maul eines Haifisches krallte sich die Schaufel in ihre Beute. Der Motor heulte auf, während der Eingang zum Bunker mit einem Ruck komplett aufgerissen wurde. Kleine Betonbrocken und Reste eines alten Bretterverschlages flogen durch die Luft. Mit einem mächtigen Satz sprang Ackermann aus der Gefahrenzone. Der Lärm verstummte. Zufrieden lächelnd kletterte der korpulente Mann von dem Bagger.

»Du Riesenpfeife! Ich hatte gesagt: Feierabend. Wie sollen wir den Bereich denn nun sichern? Da rennt mir doch jetzt jeder rein!«

Der Baggerführer machte ein betroffenes Gesicht, als würde er es maßlos bedauern, sein Lieblingswort überhört zu haben.

Camel konnte nicht widerstehen. Seine Augen glänzten beim Blick in das geheimnisvolle Dunkel. Er nutzte die Ablenkung, zog die kleine MagLite für Notfälle aus der Innentasche und lief durch die mannshohe Öffnung in den Bunker.

»Was macht der Schmierfink denn da?«, vernahm Camel die energische Stimme Ackermanns hinter seinem Rücken. Wenige Schritte später herrschten Stille und Dunkelheit um ihn herum. Hastig lief er weiter. Der Lichtkegel wanderte über alte, auf dem Boden verteilte Kleidungsstücke. Es roch klamm, Camel dachte an einen schlecht gelüfteten Kellerraum. Feuchtigkeit glänzte silbern an den Wänden. Er konnte nicht sagen, was er erwartete, ob es überhaupt eine Erwartung gab, die ihn vorantrieb. Er wusste nur, dass es in diesem Moment nichts gab, das ihn hätte aufhalten können. Einige Meter hinter sich vernahm er Schritte. Der Lichtkegel der kleinen Lampe reichte nicht sehr weit. Dahinter hielt eine bedrohliche Finsternis jede Gewissheit verborgen. Camel leuchtete so gut es ging die Umgebung aus. Der feuchte Lehm der Wände spiegelte das Licht der Taschenlampe. Halb verrottete Eichenbalken stützten die Decke und sorgten für unheimliche Schatten. Neben sich an der Wand verharrte eine pechschwarze Winkelspinne. Camel überlegte kurz, wovon sie sich in dieser tristen Umgebung ernähren konnte. Der etwa einen Meter fünfzig breite Gang ähnelte einem alten Bergwerksstollen. Nach ungefähr zwanzig Metern zweigte er rechtwinklig ab. Die Schritte kamen näher, Camel glaubte fremden Atem zu spüren. Er wich einer Stahlkonstruktion aus. Sie hatte Ähnlichkeit mit dem Gestell eines Doppelbettes. Aus der Dunkelheit tauchten schemenhaft Umrisse auf. Eine Pranke packte ihn an der Schulter, Camel riss sich los. Der Lichtkegel tanzte an der Decke entlang, verfing sich einen Augenblick im Gebälk unterhalb der Decke, während der Redakteur vorwärts stolperte. Hinter sich vernahm er ein schepperndes Geräusch.

»Au! Verdammt! Bleib stehen, Du Schmierfink!«

Im Gehen drehte Camel sich herum, richtete die Taschenlampe auf Ackermann. Der Architekt hielt schmerzverzerrt das linke Auge zu. Vom Bunkereingang waren Stimmen und Schritte vernehmbar. Der Journalist fuhr herum, lief schneller. Die Tatsache, dass Ackermann ihn aufhalten wollte, steigerte seine Neugier ins Unermessliche. Wilde Gedanken formten sich zu einem Knäuel, präsentierten seinem Bewusstsein das Bild einer alten Holztruhe. Gold, das die Nazis in den letzten Kriegstagen beiseiteschaffen wollten? Camel atmete in immer kürzeren Zügen. Wenige Meter vor ihm erkannte er etwas auf dem Boden. Den Lichtstrahl darauf gerichtet, verhedderten sich seine Füße in einem Seil. Panisch suchte er mit den Händen nach Halt. Die Finger berührten nur kalten, nassen Lehm. Camel verlor das Gleichgewicht. Er schlug mit dem Hinterkopf gegen einen Stützpfeiler, prallte ab und fiel der Länge nach auf den Boden. Der Aufprall hörte sich an, als wäre jemand in einen Haufen trockenes Brennholz gefallen. Sein Kopf dröhnte, Schritte wurden lauter. Die rechte Hand umklammerte die kleine MagLite so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten. Der Gang schien in seichten Bewegungen zu schaukeln. Camel drehte den Kopf zur Seite und hob den Arm, der die Lampe hielt. Wie ein Blitz durchzuckte der Schreck seinen Körper. Ruckartig spannte sich seine Muskulatur. Der Journalist blickte direkt in die leeren Augenhöhlen eines Totenkopfes. Eine Rippe rutschte von seinem Unterarm und fiel klackernd herab. Ackermann war inzwischen angekommen und starrte wortlos auf das Szenario. Wie in Trance erhellte Camel den Totenkopf. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Seine Finger tasteten den diffus glänzenden Schädel ab, bestätigten die Sensation. Raus hier, sofort, schoss es ihm durch den Kopf. Mit dem rechten Unterarm stützte er sich vom Fußboden ab. Hektisch befreite er seinen linken Fuß aus dem Seil, winkelte das Bein an. Halb gebückt nahm er den Schatten wahr, der über ihn hinweg huschte. Camel wollte sich herumdrehen, spürte in diesem Augenblick einen brachialen Schlag auf den Hinterkopf. Bewusstlos fiel er zu Boden.

Kapitel 3

Schwere Wolkenberge hingen am nächsten Morgen über der Stadt. Der Radiosprecher meldete Herbststürme in Ostdeutschland. Im Zimmer Nummer Siebzehn des Kommissariats an der Reeser Landstraße in Wesel wurde das Schweigen nur gelegentlich durch ebenso einsilbige wie nebensächliche Kommentare unterbrochen. Während Andreas Steilmann wie immer widerwillig den Bericht vom Vortag verfasste, blätterte sein Kollege Heinrich Grimm in den aktuellen geistigen Ergüssen des Innenministeriums, die sich in Form von Erlassen und Abhandlungen zu Dienstvorschriften auf seinem Schreibtisch stapelten.

»Das wird dich wohl kaum noch tangieren.«

Andreas Steilmanns Fröhlichkeit wirkte echt. Er schien es kaum abwarten zu können. Heinrich Grimm verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln. Schwermütig blickte der Hauptkommissar nach draußen. Neonlicht spiegelte sich in den Fenstern. Der Westwind hämmerte den einsetzenden Regen an die Scheiben. Die dicken Tropfen zerplatzten am Glas, krochen in langen Schlieren herunter. Er fühlte die Dunkelheit.

»Ich verstehe dich nicht, Heinrich.«

Andreas Steilmann, den die Kollegen aufgrund der dunklen Haare, der mandelbraunen Augen und einer leichten Ganzjahresbräune schlicht Adriano nannten, trieb den Stachel weiter in die Seele seines Mitarbeiters.

»Ich würde jedenfalls sofort mit dir tauschen.«

Die Lippen aufeinandergepresst, nickte Grimm. Das kann ich mir vorstellen, dachte er. Der Gedanke würde ihm sogar gefallen. Warum trifft es immer die Falschen? Einen Monat nach dem zweiundfünfzigsten Geburtstag in Pension, viele Kollegen beneideten ihn. Für Heinrich kam der Tag mindestens zehn Jahre zu früh. Er wollte sich nicht mit der Tatsache abfinden, den ganzen Tag seine nörgelnde Mutter ertragen und auf Annette warten zu müssen. Bei dem Gedanken an seine Freundin Annette Gerland, die als Weseler Staatsanwältin gleichzeitig seine Vorgesetzte war, besserte sich die Laune für einen kurzen Augenblick. Nach dem Krebstod seiner Frau vor acht Jahren war er lange Zeit auf dem besten Weg gewesen, ein griesgrämiger, introvertierter Einzelgänger zu werden. Freundschaften hatte er einschlafen lassen, Hobbys wie Radfahren oder Angeln keinerlei Interesse mehr gewidmet. Früher hatte er im Herbst und Winter regelmäßig das Heubergbad in der Stadtmitte besucht, bis das Wasser im Auesee warm genug war und er dort schon vor dem Dienst einsam das Gewässer hatte durchqueren können. Auch dazu hatte sich der bis dahin schlanke Grimm nicht mehr aufraffen können. Dieser Mangel an Bewegung in Verbindung mit den üppigen Mengen relativ fettreicher Hausmannskost, die seine Mutter ihm täglich servierte, war natürlich nicht folgenlos geblieben. Zunehmend enger werdende Kleidung hatte die Seele des Polizisten belastet, dafür gesorgt, dass er sich mehr und mehr zurückgezogen hatte. Ein Teufelskreis ohne Notausgang. Bis Staatsanwältin Annette Gerland aus der Eifel nach Wesel versetzt worden war. Einen Tag zuvor war Heinrich Grimm der festen Überzeugung gewesen, den Rest seines Lebens als Witwer zu versauern. Von Beginn an fühlte er sich von der smarten Juristin angezogen. Beim Blick in ihre Augen hatte er plötzlich das Gefühl, ein Buch aufzuschlagen. Sie hatten schnell festgestellt, dass sie sich sehr ähnlich waren. Eine zufallende Tür beförderte Heinrichs Gedanken zurück in die bitter schmeckende Realität.

Er musste sich mit der Pensionierung abfinden und hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das schaffen sollte. Es war unausweichlich, der Bericht der Polizeipsychologin Britta Obermann ließ keinen Spielraum für Alternativen. Lediglich den Zeitpunkt der vorzeitigen Pensionierung hatte er noch erfolgreich um fast zwei Jahre hinauszögern können. Wenn ihm eine gute Fee die Möglichkeit einräumen würde, einen Tag aus seinem Leben zu streichen, er würde keine Sekunde zögern.

Zwei Jahre waren seitdem vergangen, immer noch wachte Heinrich mitten in der Nacht schweißgebadet auf und sah diese Bilder vor sich.

Sie hatten den Unternehmer Wolf Eilers des zweifachen Mordes überführt. Dieser hatte nichts davon geahnt. Er hatte sich mit dem Journalisten Konrad Walther in der Zitadelle, den Resten des ehemaligen Fort Blücher, im Schatten der Rheinbrücke, verabredet. Er wollte Camel lediglich einschüchtern, wusste Heinrich heute. Damals, als er mit Adriano in das Gemäuer gestürmt war, hatte alles ganz anders ausgesehen. Eilers hatte die Waffe an die Schläfe des Reporters gepresst. Heinrich hatte die prekäre Lage entspannen, Eilers zur Aufgabe überreden, ihm die Sinnlosigkeit seines Handelns begreiflich machen wollen. Für Sekunden war es still geworden. Was dann geschah, spielte sein Bewusstsein immer und immer wieder wie einen Film ab:

Etwa fünf Meter vor ihm steht der sich windende, vor Angst zitternde Journalist. Heinrich blickt in die vor Panik weit aufgerissenen Augen. Völlig unerwartet schleudert Eilers plötzlich Camel zur Seite und hebt den Arm mit der Pistole. Er richtet die abschussbereite Waffe auf Adriano, der ihn wie versteinert ansieht. Heinrich bemerkt den sich krümmenden Zeigefinger und reagiert sofort. Ein Wimpernschlag – zu wenig für einen Gedanken – aber genug für den entscheidenden Reflex.

Es war der Bruchteil einer Sekunde, der seine Seele in ein Trümmerfeld verwandeln sollte. Immer öfter spürte er diese Leere in sich. Annette fiel es zunehmend schwerer, dieses Vakuum zu füllen. Sie gingen seit geraumer Zeit gemeinsam zu einem Therapeuten. Annette hatte ihn lange dazu überreden müssen. Sie hatte Sorge, dass dieses Erlebnis sich wie ein Dämon in ihre Beziehung schleichen, sie von innen aushöhlen könnte. Wie wäre das Leben wohl verlaufen, wenn er damals nicht seinen Dickkopf durchgesetzt hätte, sinnierte Heinrich. Wenn er auf seinen Vater gehört und den elterlichen Betrieb in Sonsbeck-Hamb als Hufschmied weitergeführt hätte? Es hätte diesen einen Schuss, der noch Jahre später in seinen Gedanken nachhallte, nicht gegeben. Bereits in der Polizeischule hatte man sie mit Statistiken beruhigt, die aussagten, dass die Mehrheit von ihnen die Waffe bis zur Pensionierung lediglich bei Übungen gebrauchen werde. Bis zur Pensionierung. Erst jetzt bemerkte er die bittere Ironie.

In über dreißig Jahren Polizeidienst war es das erste Mal gewesen, dass er seine Waffe außerhalb des Schießkellers benutzt hatte. Seitdem zitterten seine Hände, wenn er das kalte Metall nur berührte. Manchmal kam es ihm vor, als habe er den Geruch des verbrannten Schießpulvers noch in der Nase. Seiner Meinung nach hatte er es geschafft, das schreckliche Erlebnis von seinem Beruf zu trennen. Frau Obermann nannte diesen Aspekt in ihrem Gutachten allerdings »verdrängen«. Ein Unterschied, der seine Zukunft entscheiden sollte. Nach wie vor war Heinrich mit ganzem Herzen Polizist. Man hatte ihm goldene Brücken gebaut, eine Tätigkeit in der Verwaltung angeboten. Heinrich hatte barsch abgelehnt, er wollte sich nicht ausmustern lassen, wie er es ausdrückte. Günther Engels, ihrem Behördenleiter, war vor einer Woche die Aufgabe zugefallen, ihm die baldige Pensionierung mitzuteilen. Sie verrichteten seit über zwanzig Jahren gemeinsam ihren Dienst, Engels kannte Heinrich wie kein Zweiter. Über eine Stunde hatte er sich bemüht, das Gespräch in die richtige Bahn zu lenken. Dabei hatte er sich wirkungslos hinter Dienstvorschriften verschanzt, Heinrich war wütend aus Engels’ Büro gestürmt.

»Wir kommen sofort, niemand fasst etwas an!«

Die Freude war Heinrich anzusehen. Die fahle Gesichtsfarbe wich einem lebendigen Rosa.

»Das war die Gemeinde Alpen. Man hat auf einer Baustelle ein Skelett gefunden.«

Mit einer schnellen Armbewegung in Richtung Steilmann sprang Heinrich auf und riss die Jacke vom Haken.

»Sind die Knochen noch warm oder warum die Eile?«

Grimm winkte lässig ab. Einige Minuten später standen sie an einer Baustellenampel vor der alten Rheinbrücke. Der Turm wenige Meter neben der neuen Brücke, die den Strom bereits seit Ostern überspannte, aber noch nicht für den Verkehr freigegeben war, wirkte imposant. Heinrich verzog das Gesicht. Bei dem Gedanken an die neue Führung der B58, die sich wie ein Tranchiermesser durch das malerische Gest mit seinen alten Gehöften und den verschlungenen Wegen schneiden würde, beschlich ihn Wut und Ohnmacht. Ein weiteres Filetstück des Niederrheins, das der Mobilität, letztendlich also dem Kommerz geopfert wird, regte er sich erneut auf. Steilmann schwieg. Im Gesicht des Kollegen glaubte Heinrich ein leichtes Kopfschütteln bemerkt zu haben. Er wusste, womit Adriano sich beschäftigte.

»Hast du dich überhaupt um meinen Posten beworben?«

Adriano schluckte. Diese Frage schien er schon seit Tagen befürchtet zu haben. Seit zehn Jahren saß er an Grimms Seite. Es wäre nur logisch gewesen, sich auf das frei werdende Amt des Hauptkommissars zu bewerben. Gestern Morgen hatte Engels verkündet, eine vierzigjährige Kollegin namens Manuela Warnke würde den Posten in der nächsten Woche übernehmen.

»Natürlich. Engels sagte mir vor zwei Wochen, ich hätte Chancen«, er klang zynisch, »jetzt werde ich wohl als Oberkommissar in Rente gehen.«

Desillusioniert wandte Adriano sich ab. Sie hatten mittlerweile die Ortsdurchfahrt von Büderich passiert. Grimm wusste, dass Engels seinem jüngeren Kollegen diesen Posten nicht zutraute. Für Adriano war es ein Job wie jeder andere. Nach Dienstende streifte er ihn ab wie ein lästiges Übel. Den Dienstvorschriften genügte diese Auffassung, Engels aber verlangte mehr für das Amt eines Hauptkommissars. Heinrich hatte sich oft darüber gewundert, mit welcher Leichtigkeit der junge Kollege damals über die Situation hinweggekommen war. Kurz nach dem tödlichen Schuss hatte Adriano unter Schock gestanden. Aber bereits drei Tage später hatte er seinen Lebensretter aus lauter Dankbarkeit zum Essen eingeladen und war kurz darauf zum Alltag übergegangen. Adriano hatte sich nie in Heinrichs Lage versetzen können, seinem Kollegen nicht den Hauch von Mitgefühl entgegengebracht. Engels war aus demselben Holz geschnitzt wie Heinrich, er konnte ihn gut verstehen. Grimm war die zuweilen phlegmatische Arbeitsweise Adrianos ein Dorn im Auge. Allerdings hatte er sich in den letzten zwei Jahren mehr als einmal gewünscht, manche Dinge etwas gelassener sehen zu können. Viel zu sehr steigerte sich der Hauptkommissar in die Arbeit. Während einer Ermittlung konnte er vierundzwanzig Stunden am Tag an nichts anderes denken. Adriano war völlig anders. Heinrich dachte an den Sommer 2006. Während er einen Angelurlaub im Sauerland verbrachte, hatte Adriano ihn vertreten. Aus Bislich war ein ominöser Vorfall gemeldet worden. Eine Frau war dabei beobachtet worden, als sie nachts auf einem frischen Grab getanzt hatte. Heinrich hätte die Hintergründe so lange durchforstet, bis er eine logische Erklärung dafür gefunden hätte. Adriano hatte eine Anzeige nach StGb 164, Störung der Totenruhe, gefertigt und die Akte geschlossen. Später sollte sich herausstellen, dass es der Beginn einer Mordserie gewesen war. Ihre Behörde war von den Kollegen aus Krefeld und Düsseldorf nur milde belächelt worden. Diese Blamage verzieh Engels ihm wohl bis heute nicht.

Eine junge Frau, die einen Kinderwagen den Fußweg entlang der Platanen an der Weseler Straße in Büderich schob, spannte einen Regenschirm auf. Heinrich fragte sich, was wohl aus diesem Ort werden würde, wenn die Umgehungsstraße ihn demnächst vom öffentlichen Interesse abschnitt. Zehn Minuten später erreichten sie die Weseler Straße in Alpen. Grimm erinnerte sich an seine Jugend. Immer, wenn er bei seiner Tante an der Drüpter Straße auf der gegenüberliegenden Seite des alten Patersbau zu Besuch war, durfte er sich in dem Lebensmittelgeschäft an der Ecke eine Tafel Schokolade kaufen. Das Geschäft gab es nicht mehr, den Parkplatz nutzten die Mitarbeiter der Pflugfabrik Lemken.

Der Regen wurde stärker, Heinrich erkannte einen Streifenwagen auf dem Grünstreifen gegenüber der Motte. Das Auto parkte halb auf der Straße. Sie werden sich im Anschluss an diesen Einsatz vermutlich um Autofahrer kümmern, die dasselbe machen, dachte er. Einige Meter weiter an der Einfahrt zu einem Supermarkt stand ein alter Ford Mustang. Heinrich verdrehte genervt die Augen. Ihm war es unerklärlich, wie Camel so schnell an die Informationen gelangen konnte. Der Polizeifunk hatte diesmal nicht darüber berichtet. Der Reporter hatte ihm damals hoch und heilig versprochen, nie wieder auf eigene Faust zu ermitteln. Grimm wusste, dass ein Versprechen Camels nicht mehr wert war als einer seiner Artikel vom Vortag. Er fuhr hundert Meter weiter und parkte den Wagen auf einem Schotterplatz kurz vor dem Ortseingang. Adriano zog mit hängenden Mundwinkeln die Kapuze auf. Über die mit grobem Schotter versehene Baustellenauffahrt gelangten sie auf den Hügel. Ein Kollege der Schutzpolizei nahm sie in Empfang und führte sie zum Eingangsbereich des Bunkers. Ein schlanker Mann um die vierzig mit blonden Haaren und dunklem Kinnbart kam ihnen entgegen. Er trug einen schwarzen Trenchcoat und Regenschirm. Neben ihm stand eine schlanke dunkelhaarige Dame, die sie freundlich anlächelte.

»Rudi Ahrens, Bürgermeister der Gemeinde Alpen. Darf ich vorstellen«, er deutete mit einem Nicken auf seine Nachbarin, »Frau Hüsch vom Bauamt. Sie müssen von der Polizei sein.«

Heinrich hatte sich daran gewöhnt, offensichtlich das Gesicht eines Polizisten zu haben. Bei dem Gedanken an Camel war er allerdings froh, nicht für einen Journalisten gehalten zu werden. Er gab den Gemeindevertretern freundlich die Hand. Zwischen dem Bürgermeister und Frau Hüsch drängelte sich Manfred Ackermann. Der Architekt schob die beiden unsanft zur Seite. Mit einem herablassenden Blick auf Grimm und Adriano fuhr er sie an.

»Was haben Sie denn hier zu suchen?«

»Grimm, das ist mein Kollege Steilmann. Uns wurde ein Leichenfund gemeldet, Herr …«

»Ackermann. Ich bin der Leiter dieses Projektes. Leichenfund? Wer hat Ihnen denn den Blödsinn erzählt? Ein Haufen Knochen liegt in dem Bunker. Die können Sie gerne einsammeln und dann Avanti! Hier wird gearbeitet. Reicht schon, wenn diese Wühlmäuse von Braun den Betrieb aufhalten.«

Heinrich zwang sich zur Ruhe. Er war es gewohnt, in gewissen Kreisen nicht den allerbesten Ruf zu genießen, aber eine derartige Respektlosigkeit hatte er noch nicht erlebt. Der Bürgermeister rang sichtlich irritiert nach Worten. Die Peinlichkeit war dem Mittvierziger mit der sportlichen Figur anzusehen. Grimm drückte das Kreuz durch und trat dichter an den Baustellenleiter heran.

»Herr Ackermann, zuerst werden wir uns den Fundort ansehen, anschließend beurteilen wir die weitere Vorgehensweise. Niemand betritt die Baustelle, bevor wir sie freigegeben haben. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Seine Stimme klang ruhig und sachlich, lediglich ein dumpfes Grollen im Unterton deutete auf die Gefühlslage des Kommissars. Auf Ackermanns Stirn trat eine Ader hervor. Das Gesicht verdunkelte sich.

»Das hier ist eine Baustelle, wie Sie ganz richtig bemerkt haben. Hier wird gearbeitet, verdammt noch mal. Wir können es uns nicht erlauben, den ganzen Tag Fliegen zu zählen. Haben Sie eine Ahnung, was es mich kostet, wenn der Betrieb auch nur einen Tag ruht?«