Große Freiheit Ost - Marc Kayser - E-Book

Große Freiheit Ost E-Book

Marc Kayser

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Beschreibung

Die B96 ist die längste Bundesstraße Ostdeutschlands und führt von Zittau im Südosten bis nach Sassnitz auf Rügen hoch im Norden. Sie ist nicht irgendeine Verkehrsachse: Die berühmte, 520 Kilometer lange und inzwischen 83 Jahre alte Straße, die zu DDR-Zeiten F96 hieß, ist für die Menschen, die an und mit ihr leben, ein Stück gelebte Identität geworden und vereint dabei scheinbar unvereinbares: Freiheit, Sehnsucht, Ostsee-Urlaub, aber auch Lärm, täglichen Wahnsinn auf dem Arbeitsweg oder die vielen Grabkreuze entlang der Trasse, die vom Tod allzu vieler allzu junger Menschen künden. Begleiten Sie Marc Kayser auf einen charmanten Roadtrip der besonderen Art: Von den Ausläufern des Zittauer Gebirges bis an die Brandung der Ostsee erkundet er die B96 von Ort zu Ort und trifft interessante, witzige, einmalige Menschen. Die Sorben in der Oberlausitz, den letzten Schmied in Ebersbach, Inga, die Musikerin mit dem alten Framo im Vorgarten, oder Frank, den Kapitän auf dem Tollensesee: Was bewegt sie? Was bedeutet die B96 für sie? Verbindet sie alle etwas? Und was erzählen uns ihre Geschichten über das Leben im Osten heutzutage? Entstanden ist eine Entdeckungsreise in eine reiche, vielfältige, bunte, faszinierende Gegenwart, die vor Abenteuerlust und Neugier strotzt, eine Vermessung des Ostens von Süd nach Nord entlang ihrer wichtigsten Verkehrsader, eine packende Reportage über ganz normale Menschen und ihre Geschichten. In diesem Sinne: Gute Fahrt!

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Marc Kayser

Große Freiheit Ost

Auf der B96 durch ein wildes Stück Deutschland

Mit Fotografien von Nikola Kuzmanić

© Uwe Tölle

Marc Kayser, geboren und aufgewachsen in Potsdam, entstammt einer Arztfamilie. Er volontierte bei der Süddeutschen Zeitung, studierte an der Hochschule für Politik München, schrieb unter anderem für Die Zeit und die Die Weltwoche in Zürich. Er veröffentlichte zwei Romane im Heyne Verlag, war Mitautor zweier Sachbücher. Parallel zu seiner Arbeit als Autor schreibt Marc Kayser Reportagen, führt Interviews und entwickelt Formate und Filmstoffe für Buchverlage und Filmproduktionen.

Für meine Eltern

Für alle, die eine Straße wie diese aushalten, zu ihr halten und sie mit Familie, Freunden und Fremden mit Leben und Lebensfreude ausfüllen.

Alles in diesem Buch Berichtete fußt auf realen Begegnungen und Beobachtungen. Jedes der Gespräche wurde geführt, aber nicht alle Gespräche konnten vollständig wiedergegeben werden. So wie auch jede Wahrnehmung, Empfindung und Reflexion niemals vollständig und schon gar nicht objektiv sein kann. Und gerade für eine Straße gilt: Was verschwindet, ist für immer vergangen.

Stimmen am Wegesrand

»Wegen der Liebe bin ich immer F96 gefahren.«

Karl-Heinz Löwenau, Museumsangestellter, Stralsund

Ich erinnere mich daran, nach der Scheidung meiner Eltern mit meiner Schwester und meiner Mutter regelmäßig nach Ahrenshoop an die Ostsee in den Urlaub gefahren zu sein. Dazu wurde die B96 benutzt. Als Kind kam mir die Strecke wahnsinnig lang vor, die Fahrzeit wollte beim besten Willen nicht vergehen. Als Erwachsener fuhr ich die Straße bewusster, denn sie ist eine historische, wunderschöne und auch interessante Straße – die jeder Beschreibung lohnt. Liebeserlebnisse, wie sie vielleicht andere hatten, hatte ich aber entlang der B96 nie …

Gregor Gysi, Berliner und Politiker

Mein Kompass durch die DDR.

Bärbel Jung, Angestellte, Kaiseritz auf Rügen

Früher F96, heute B96 – das ist nicht nur eine Reise einmal quer durch Deutschland, sondern eine Fahrt durch die Geschichte unseres Landes. Man sieht sie, die Spuren der Vergangenheit, den Wandel der vergangenen 25 Jahre, erkennt die Kreativität der Bewohner, ahnt die Beschwernisse, die der Dauerverkehr für alle Anlieger mit sich bringt, kann Erdbeeren, Kirschen und Pilze am Wegesrand erwerben oder bei zu hoher Geschwindigkeit geblitzt werden. Überholen macht auf dieser Strecke meist wenig Sinn, also lassen Sie sich ein, auf die (Zeit-)Reise mit den Blicken nach links und rechts – halten Sie inne und spüren Sie den Geschichten nach, denen, die hier festgehalten sind, und denen, die Sie selbst entdecken.

Matthias Platzeck, Brandenburger und Politiker

Sie gab und gibt den Rhythmus meiner Tage vor.

Ina Handelmann, Galeristin, Glowe

Die F 96 ist ein Stück Identität gewesen.

Gudrun Stenzel, Marktfrau, Burg Klempenow

Auf der B96 komme ich zu meinen Partys.

Paul Nickel, Motorradfreak, Usadel

Die F96 war super. Aber die B96 muss weg. Sie macht uns krank.

Gerd Palm, Wutbürger, Fürstenberg

Viele Autos bleiben auf der verstopften B96 stecken. Auf Rügen hat das Warten bald ein Ende – nicht nur das Warten auf die B96, sondern auch das Warten im Stau. Und dennoch, bis heute heißt es an vielen Tagen: Problem verschoben, aber nicht behoben. So schnell, wie sich auf dieser Straße Staus aufbauen, so schnell können ich und die Bundesregierung keine Entlastungswege bauen. Und Pfingsten steht vor der Tür …

Angela Merkel, Bundeskanzlerin mit Wahlkreis an der B96

Prolog

1 Von Zittau nach Bautzen

Eine Straße wie die Welt

Kickstart und ein paar scharfe Gewehre

Die Braulady und ich, das Greenhorn

Dieser Mann ist der Hammer

Spinnen. Gedanken. Netze

Das Mädchen, das mich um den Verstand tanzt

Der Zauberlehrling von Čorny Chołmc

2 Von Senftenberg nach Berlin

Diese Gier nach Kohle, trinkt lieber Wein!

Besetzt oder befreit?

Wie man das Beste aus etwas macht

Das große Rauschen

Stunden der Wölfe

Im Osten nichts Neues?

Von Saufkobolden und Hassgeistern

Ja sagen und andere Schwierigkeiten

Wer austeilt, muss auch einstecken

Der Bürgerschreck aus Togliatti

Mit Inka Bause durch die Nacht

3 Von Berlin nach Fürstenberg

Der Patient vom Grabowsee

Im Keller des Kalten Krieges

Die Nacht am See

Von Heimatlust und Heimatfrust

Eine Liebeserklärung an Rheinsberg

Schicksalsjahre eines Arztes

When a man loves a woman

4 Von Rheinsberg an den Tollensesee

Wie ich eine Million Euro gewann

Wutbürger und das Leid der Frauen

Paul, der Mann mit dem Marsmobil1

Das Gut und die Bösen

Wer viel reist, soll gut essen

Paul, der Mann mit dem Marsmobil 2

5 Vom Tollensesee nach Greifswald

Wo Willkür der B96 den Namen klaute

Stillleben an einem schönen Stück Weg

Til Schweiger und die Liebe am Haff

Die schöne Tochter am Ryck

Karl-Heinz und die Liebesroute nach Leipzig

Mal richtig auf die Pauke hauen

6 Von Stralsund nach Rügen

Der Mann, der die Straße zur Kunst erklärte

Das Ufo am Strand

Im Osten geht die Sonne auf

Wo sich Superstars die Insel teilen

Der geheimnisvolle Alte

Der Tod und die Straße

Wo das Meer die Straße isst

Epilog

Danksagung

Bildnachweis

Prolog

Seit jeher reisen Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen. Die einen haben Sehnsucht, die anderen Fernweh. Die einen wollen fliehen, die anderen irgendwo ankommen, die einen sich verlieren, die anderen sich finden. Wir reisen auf Schiffen und fliegen in Flugzeugen, wir fahren auf Rädern, in Zügen und Autos. Ob über den See, auf dem Meer, auf Gleisen oder Straßen: Wir werden stets damit belohnt, ein Stück Welt zu erfahren, Fremdes und Neues entdeckt zu haben.

Die B96 hat mit der in der DDR berühmten F96 einen vielbefahrenen Vorfahren und führt dennoch längst nicht über eingefahrene Wege: Aus alt wurde mancherorts neu, aus Kindern wurden Erwachsene, aus Ruinen schöne Häuser und aus grauen Dörfern leuchtende Orte. Was immer bleiben wird: Die B96 beginnt am Gebirge und endet am Meer.

Auch andere Länder haben ihre berühmten Straßen: Die legendäre Route 66 in den USA, die wahrscheinlich bekannteste Straße der modernen Welt. Sie führt von Chicago bis nach Santa Monica. Die Basse Corniche an der Cote d’Azur, eine Verlängerung der legendären antiken Straße Via Aurelia, die von Nizza nach Monte Carlo führt und natürlich die Great Ocean Road in Australien, ein Mythos direkt am Meer. Alle diese Straßen verbinden Menschen und ihre Lebensorte. Sie erzählen schöne und grauenhafte Geschichten. Sie verteilen Armut und Reichtum, sie fordern Zeit und unsere Sinne. Sie haben einen Anfang und ein Ende – und dazwischen sehr viel Raum für Geschichten unseres Lebens. Willkommen zu einem Roadtrip auf der Sehnsuchtsstraße durch unser Land, durch ein wildes Stück Deutschland: auf der B96.

Dieser Stuhl versperrte die Weiterfahrt auf der B96 hinter Zittau. Eine gute Rastgelegenheit, um zu schauen, wie es in Richtung Norden weitergeht. Eine Umleitung war nämlich nicht ausgeschildert.

1 Von Zittau nach Bautzen

Eine Straße wie die Welt

Meine Reise beginnt im südöstlichsten Zipfel Deutschlands, am Rande des Zittauer Gebirges. Einer Gegend, in der die Menschen den Buchstaben R eigentümlich rollen, wo sich Polen, Tschechen und Deutsche sehr nahekommen. Die Luft ist mild, riecht nach Frühling, nach Sommer, nach Herbst. In Bäumen, Sträuchern, an Häuserwänden und Wäscheleinen haben Spinnen feine Fäden gesponnen. Vor mir liegen 520 Kilometer einer Reise, die durch drei wärmere Jahreszeiten führt. Die B96 ist eine Lebensader von kleinen und großen Orten. Eine Straße der Arbeit, auf der Fahrräder, Autos, Traktoren und Lkws rollen, Lasten und Lüste transportiert werden, schwere und leichte Gedanken. Eine Straße des Staus, der Eile, des Vergnügens. Die B96 macht mobil und fordert zugleich ihre Opfer. Neben alten Buchen stehen Holzkreuze, neben schönen Häusern steht Zerfall.

Die B96 ist eine Straße mit Geschichte. In der DDR hieß sie F96, war die längste Fernverkehrsstraße innerhalb der DDR und gleichzeitig eine Hauptverkehrsachse von Nord nach Süd. Sie verband die Menschen und trennte sie zuweilen. Als Kind war ich oft auf ihr unterwegs. Zum Zelten an den Müritzer Seen, auf dem Weg ans Meer nach Rügen oder als Flüchtiger aus der Enge meiner Heimatstadt Potsdam in Brandenburg. Es sind die Erinnerungen von einst, die mich antreiben, Geschichten zu suchen, die von Menschen und ihren Sehnsüchten, Träumen, Zweifeln und Niederlagen handeln. Erzählt bei Wind und Wetter, zwischen Tür und Angel, bei einem Kaffee oder einem kräftigen Schluck. Das Leben als Füllhorn mit guten und schlechten Zeiten.

Was passiert auf einer Straße, die ihren Anfang an einer unbedeutenden Kreuzung in Zittau nimmt – im Hintergrund das Gebirge – und an deren Ende das Meer und ein romantischer Sonnenuntergang warten? Obwohl ich diese Straße aus meiner Kindheit kenne, ist es ungewiss, ob das mehr als 500 Kilometer lange Band eine gute Straße ist. Konfuzius, dem chinesischen Philosophen, der 551 vor Christus geboren wurde, wird der Satz zugeschrieben, dass der Weg das Ziel sein sollte. Die B96 ist so ein Weg, auf dem der sich etwas Gutes tut, der seine Augen offen hält. Mal sehen.

Kickstart und ein paar scharfe Gewehre

ZITTAU. Der Ursprung der heutigen B96 liegt in der Einführung von Fernverkehrsstraßen durch die Weimarer Republik am 17. Januar 1932. Dabei wurde in Deutschland zum ersten Mal eine fortlaufende Nummerierung eingeführt. Die Fernverkehrsstraße 96 verlief in diesem Ursprungsnetz anders als heute, nämlich etwas südlicher. Nach der Umwandlung der Fernverkehrsstraßen 1934 in Reichsstraßen wurde der heutige Verlauf eingeführt, auf dem auch dieses Buch und seine Geschichten spielen.

Die B96 beginnt so unvermittelt an einer Kreuzung in Zittau wie sie in Sassnitz auf Rügen auch endet. Im Unterschied zu Sassnitz trägt sie hier einen Namen: Äußere Weberstraße. Ihr Weg führt durch das Zentrum der Stadt. Der Abend ist noch jung. Das Wirtshaus Zum Alten Sack, das seinen Namen von hier früher gelagerten Salzsäcken entlieh, lockt mit Zittauer »Teichelmauke«. In eine Portion Stampfkartoffeln wird ein Trichter geformt, der mit Rinderbrühe, Möhrengemüse und Rindfleischstücken gefüllt wird. Aber auch Sauerkraut soll sich schon mit der Teichelmauke verbunden haben. Sehr traditionell, sehr sättigend, aber vom Geschmack her ungewöhnlich.

Durch die Scheiben blitzt das Licht einer Laterne. In ihrem Schein funkeln die kleinen Tropfen eines unermüdlich fallenden Sprühregens wie winzige Diamanten. Es ist die Laterne von Jochen Kaminsky, einem Mann, der kostümiert ist wie ein Darsteller aus einer romantischen Oper. Er erzählt als Kunstfigur eines Nachtwächters Touristen Geschichten und Merkwürdigkeiten aus der Oberlausitz, führt sie bei jedem Wetter durch das Dunkel der Stadt. Kaminsky ist ein lebendes Lexikon, aus dem wasserfallartig Wissen über hier ansässige Damastspinnereien, Herrnhuter Sterne, Eibauer Bier, geheimnisvolle Spreequellen oder die sorbische Kultur fällt. Der Kellner, ein Typ wie ein Spanier von Ende zwanzig, mit zwei winzigen Metallringen in den Lippen, ist mindestens so beredt, und ehe ich es verhindern will, habe ich viel zu viel »Alten Zittauer« geschluckt, ein Kräuterlikör, der eine feine Note und unanständig viele Prozente hat.

Jochen Kaminsky fallen wahre und unheimliche Geschichten über seine Lausitzer Heimat nur so aus der Laterne. Deshalb wird er oft und gern des Nachts als Fremdenführer gebucht. Dieser Mann ist auch als Unterhalter ein Naturtalent.

BEI MITTELHERWIGSDORF. Am darauffolgenden Morgen erfüllt sich die Hoffnung, die hier oft begründet ist: Das Wetter ist gut. Die Oberlausitz gehört zu den Regionen Deutschlands, die vom Wetter oft verwöhnt werden. Deshalb ist schlau, wer hierher fährt, um zu wandern, zu entspannen und die Schönheiten der Landschaft und der pittoresken Dörfer rund um das Zittauer Gebirge mit allen Sinnen zu genießen.

Auf der Straße staut sich der Verkehr. Auto an Auto, Lastwagen an Lastwagen. Der Asphalt ist ruppig und ausgefahren. In der Oberlausitz ist die B96 keine vornehme Straße. Und oft wird es mir passieren, dass Bitumenkocher überraschend die Straße sperren, um Löcher zu stopfen. Nur wenige Kilometer hinter Zittau betreibt ein älteres Ehepaar einen schräg sortierten Laden mit Handfeuerwaffen, Lebensmitteln, Zeitungen und frischen Eiern. Ingrid und Gunther Lommatzsch.

»Was wollen Sie?«, fragt sie. »Eine Unterhaltung? Ne, ne, lassen Sie mal.«

»Ach«, schiebt Gunther nach, »was macht das alles für einen Sinn?« Mir fällt ein Spruch aus der Oberlausitzer Mundart ein: »Willst de woaas warn, doarfst de ne mahrn …« – was so viel heißt wie: Willst du was werden, dann darfst du nicht murren – aber murren tut er, der Gunther, wie einer, der alles erlebt und alles gesehen hat. Der Laden ist von außen eine Mischung aus Bungalow und exzentrischer Straßenbar. Die Sonne bricht jetzt aus eben noch regenschweren Wolken durch.

»Wir sind vor sechs Jahren überfallen worden«, erklärt Ingrid sogleich ihr Misstrauen. »Die Männer hätten mich fast umgebracht. Ich traue hier keinem.« Ihr Gesichtsausdruck zeigt, dass sie noch immer an dieser Erinnerung kaut.

»Ich will Ihr Geld nicht«, sage ich, »mich interessiert, wie Sie hier überleben können.«

Seit 1863 gibt es dieses Geschäft schon – damals verkaufte man Seifen und Nägel, Pasten und Öle. Heute teilt eine unsichtbare Grenze den Laden. Während auf Ingrids Seite Lebensmittel, Zeitungen und Tabak friedlich ausliegen, weckt der Nachbarraum eher martialische Gefühle. »Die Kundschaft kommt aus dem Dorf. Manchmal halten Durchreisende an, viel Geld bleibt nicht hängen«, sagt Ingrid. Sie zupft an ihrer Schürze, lächelt gequält.

Die Luftgewehre in Gunthers Shop sind schon älteren Kalibers, aber augenscheinlich Wertarbeit aus der früheren Jagdwaffenfabrik in Suhl. Mit Gaspatronen betriebene 45er Revolver und Combat-Pistolen sehen den Originalen täuschend ähnlich. Messer, Säbel und Schwerter sind teils scharf wie Rasierklingen.

»Wofür das alles?«, frage ich.

»Ich bin ein Waffennarr«, sagt Gunther und sieht dabei auf seine Frau, die nun schnell nachschiebt, dass man wieder zu tun habe, und mich zurück auf die Straße bittet.

Am Himmel braut sich etwas zusammen. Wind kommt auf. Er fegt die ersten Herbstblätter wie braune Gespenster durch die Luft und gegen die Frontscheibe meines Autos. Alte Apfelbäume mischen sich mit Pappeln, Birken und Linden. Felder ziehen sich weit hin. Am Horizont Linien des Zittauer Gebirges, gezeichnet wie Fieberkurven. Was für ein schönes Stück Deutschland!

Die Braulady und ich, das Greenhorn

ODERWITZ. Unter einer Brücke fließt ein Bach dahin. Er heißt Landwasser und gleich dahinter, direkt am Straßenrand, stehen hier und da noch die traditionellen Umgebindehäuser mit ihrem typischen Fachwerk, den Schieferschindeln am Obergeschoss und – wegen des feuchten Bodens – mit Holzbohlen als Stützen. »Modern« sucht man ohnehin vergebens, denn es scheint hier nicht der Stil der Menschen zu sein, Reichtum in Glas und Beton zu verbauen, sollten sie Geld besitzen.

Schilder versprechen Felsenkletterei und Rodelbahnen, Bauden mit lokaler Küche und Entspannung an Plätzen mit Panoramablick. Ich biege ab, lasse die B96 rechts hinter mir, folge einem dieser Schilder und fahre auf eine kegelförmige, imposante Erhebung zu. Der Spitzberg bei Oderwitz, eine Ansammlung zerklüfteter Felsen mit wilden Wegen, gelbblühenden Kräutern, auf seinem Plateau prangt eine Deutschlandfahne. Ein paar Schweißtropfen später trete ich mit meinem rechten Schuh eindrücklich neben der Fahne in den Staub und hinterlasse einen Fußabdruck für die Ewigkeit.

Der Berg ist einen halben Kilometer hoch. Das mag im Vergleich zur Zugspitze wenig sein – egal, die weite Sicht ins Tal auf einzelne Dörfer, Felder und die Eibau-Brauerei ist großartig. Zumal sich von hier oben die B96 wie ein asphaltierter Wurm durch die Landschaft schlängelt. Die Wolken kommen einem hautnah, wenn sie so tief hängen wie an diesem Tag. Glück hat der, der Glück erkennt, denke ich aphoristisch, auch wenn das Glück mich heute nass macht.

Klettern macht durstig, das weiß jeder. Und deshalb muss man etwas dagegen tun, sonst wird der Mensch grämlich. Ich besuche die Eibau-Brauerei unten im Tal, von der es heißt, dass sie ein wohlschmeckendes Bier braut und eine ziemlich große Auswahl an Biersorten in einem Werksladen verkauft. Ich will sie alle verkosten. Die Uhrzeit erscheint mir reif für ein solches Unterfangen, das Auto steht sicher.

Schreibe niemals über etwas, das du nicht probiert hast. Und so war die Eibauer Brauerei ein wichtiger Moment auf dem Weg durch das Land.

EIBAU. Carola Dellbrügge, eine blonde Frau mit einem herzhaften Lachen, ist Managerin und dafür zuständig, dass das Bier auch unters Volk kommt. Sie lotst mich über den Brauereihof an einer Unmenge an Bierkisten und Fässern vorbei – bis wir auf einer zweiachsigen Bierkutsche sitzen, auf der es sich famos trinken und reden lässt. Acht Millionen Liter braut das 1810 von König August I. bewilligte Unternehmen jährlich, exportiert vor allem nach China, was mich sofort verwundert, denn ich glaubte, die Chinesen trinken den ganzen Tag lang Tee aus bemalten Porzellantässchen.

»Sie sind ganz wild auf unser Eibauer«, sagt meine Gastgeberin. Als sei ich auch eine Art Markt an diesem Abend, registriert Carola aufmerksam, wenn ich eine Flasche geleert habe. Für ein Foto rücken wir eng zusammen, ihr Haar streift meine Wange, meine Schultern berühren die ihre. Mir wird unanständig heiß mit tausend Fantasien im Kopf.

Auch am nächsten Morgen gibt sich das Wetter launisch und pubertär. Zurück auf der Straße ist die Ansammlung von Autos und Lastwagen verdächtig lang. Eine gräuliche Wolke mäandert durch die feuchte Luft, und je weiter ich im Stau vorankomme, umso klarer wird mir, dass es auf dieser Straße wohl nicht mehr weitergeht. Bitumenkocher in orangefarbenen Overalls haben überraschend die B96 gesperrt, und zwar auf sehr unkonventionelle Weise. Sie stellten einen faulig anmutenden Holzstuhl mitten auf die Fahrbahn auf einen kleinen Berg aus Split, besprühten ihn mit einem Durchfahrtsverbot und machten sich an die Arbeit.

EBERSBACH. Ich parke mein Auto, setze mich auf den Stuhl und studiere den Atlas, um eine Umfahrung zu finden. »Ey, da sitzt jemand auf deinem Stuhl«, sagt ein Overall zum anderen. Nach etwa sechs Kilometern durch eine wildromantische Landschaft hat mich die B96 wieder, die in dieser Region im Übrigen mit ungewöhnlich vielen Kirchen gesegnet ist. Die Menschen, die hier leben, glauben an den einen Gott, aber auf sehr unterschiedliche Weise. Ein Glaubensgemisch aus sorbischen Katholiken, böhmisch-mährischen Brüdern und lutherischen Protestanten.

Die stille Barockkirche von Ebersbach, von der es heißt, Gott selbst habe ihre drei Emporen mit der Heilsgeschichte bemalt und ihre herrschaftliche Orgel gestimmt, ist ein protestantisch-lutherisches Juwel unter den Kirchen der Gegend. Spirituelle Besinnung kann auf einer Reise nicht schaden. Ich halte in der Kirche inne, zünde Kerzen für die Familie an und spiele kurz darauf in meinem Auto das »Gloria« aus Schuberts Messe in Es-Dur.

Dieser Mann ist der Hammer

Einer, der die Barockkirche als Nachbarn und die B96 als guten Kumpel hat, ist Dieter Tillack. Ein bemerkenswerter Mensch, klein und schmal gebaut, mit einem eisenharten Beruf. Tillack ist Schmied in dritter Generation. Er ist 58 Jahre alt, hat zwei Töchter, leider keinen Sohn.

Seine Werkstatt fällt mir auf, weil bläuliche Blitze durch die Fenster zucken. Ich halte, steige aus und sage zu ihm in seiner Werkstatt: »Ich hatte noch nie einen Schmiedehammer in der Hand, habe noch nie heißes Eisen bearbeitet. Darf ich es mal versuchen?« Tillack sieht mich an wie eine Erscheinung.

»Feuer ist aus«, brummt er schließlich. Er hat rußschwarze Hände, ein verschwitztes Gesicht. Mein Blick fällt auf ein Häuflein Steinkoks, auf eine Feuerstelle, auf einen Schornsteinauslass und ein Luftgebläse.

»Bitte«, sage ich, »machen Sie die Kohle heiß.«

»Dauert aber«, sagt er und sieht auf meine saubere Jeans, mein sauberes Hemd, meinen sauberen Cardigan.

»Ich warte gern«, antworte ich. 1914, der Erste Weltkrieg hatte gerade begonnen, gründete Tillacks Großvater die Ebersbacher Schmiede für die Herstellung von Hufeisen. Irgendwann später übernahm der Vater vom Vater, seit 15 Jahren schmiedet nun Sohn Dieter Tore, Gitter, Zäune, Leitern.

»Hufeisen braucht hier keiner mehr, und einen Erben habe ich auch nicht«, sagt Tillack sichtlich bekümmert.

Wenn Dieter Tillack schmiedet. hat er die B96 im Rücken. Der Mann ist nicht nur der Hammer, er kann ihn auch schwingen.

Wie ein Entomologe, der eine Schmetterlingssammlung akribisch in Schaukästen ausstellt, hat auch er seine Werkstatt eingerichtet: Fein säuberlich hängen Hunderte Zangen nebeneinander an der Wand, jederzeit griffbereit, gesäubert, vom Feuer leicht geschwärzt. Gerüche von Schwefel, Säure und Öl hängen in der Luft.

Eine viertel Stunde später glüht der Koks bei 1200 Grad. Tillack reicht mir eine Schmiedeschürze aus Leder, taucht eine Eisenstange in die Glut und drückt mir einen Hammer in die Hand. Der Meister schiebt das glühende Ende des Eisens auf einen Amboss.

»Wir bauen einen Kuhfuß«, sagt er. »Wir kloppen einen Spalt in die Spitze der Eisenstange. Sonst kriegt man damit keine Nägel raus.« Zehn Minuten später ist das Werkzeug geschmiedet.

»Für einen Anfänger nicht schlecht«, sagt er fein lächelnd.

Wir trinken ein Eibauer auf meine Initiation. Ich will ihn nicht beerben, schießt mir noch durch den Kopf, dann rolle ich den kurzen Weg über seinen Hof auf die Straße.

Spinnen. Gedanken. Netze

OPPACH. Es ist Freitagabend. Es geht nordwärts, nach Bautzen. Die meisten Felder sind abgeerntet, Traktoren ziehen mit Pflügen ihre Bahnen, der Mais ist erntebereit. Tiefhängende Wolken jagen ins Nirgendwo. Und brechen Sonnenstrahlen durch, trocknen sie auch schnell den nassen Asphalt. Ich stoppe an einem Apfelbaum, koste, nehme mir ein paar Früchte mit ins Auto, singe mit The Killers das Lied »Human« und treibe zügig mit dem Verkehr Richtung Norden. Meine Hände fühlen sich staubig an. Feiner Ruß ist unter meinen Fingernägeln. An der sächsischen B96 gibt es keine Waschräume und kaum Tankstellen. Das nervt.