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In diesem Roman, dessen Anfänge bis in das Jahr 1973 zurückreichen, wird literarisch ein Traum verwirklicht, der wohl nie Wirklichkeit werden wird. Die ersten 12 Kapitel erschienen vorab in der Anthologie »Gestern und morgen« unter dem Titel »Der Stockholm-Kurier«.
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Seitenzahl: 315
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Der Roman ‚Der Stockholm-Kurier‘ wurde 1973 geschrieben und wies 20 Jahre in die damalige Zukunft. Er erschien genau 50 Jahre später in der Anthologie ‚Gestern und morgen‘ und besteht aus zwölf Kapiteln. Ein neu hinzugefügtes dreizehntes zeigt auf, was 30 Jahre später aus der Windhoff’schen Batterie, der heutigen Brennstoffzelle, geworden ist. Neben der linearen Fortführung der Erzählung glättet es einige politische Irrtümer der 1970er Jahre und nimmt Bezug auf modernes Hexenwerk wie Internet und Smartphone, das seinerzeit nicht einmal angedacht war.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Es gibt praktisch nichts, das vom ehernen und wichtigsten Gesetz des wirtschaftlichen Wachstums, das da lautet ‚Stillstand bedeutet Rückgang‘, verschont bleibt. Dieses Gesetz ist der Grund dafür, dass jedes Jahr neue Straßen gebaut werden, jedes Jahr mehr Öl verbraucht wird, die Fernsehlotterie jedes Jahr mehr einspielen muss, um nicht in den Ruch zu kommen, sich auf dem ‚absteigenden Ast‘ zu befinden und nicht zuletzt in jedem Jahr zu Silvester mehr Millionen in den Himmel geschossen werden, allein zur Gaudi und Augenweide derer, die sie verpulvern.
So konnte man sich dieses Jahr an nahezu keinem Ort in Europa aufhalten, an dem man nicht mindestens eine Rakete aufblitzen sah oder einen Kracher detonieren hörte. Mitten zwischen diesen äußeren Anzeichen eines allgemeinen Taumels der Freude und Lebenslust ist es umso bitterer, arbeiten zu müssen, als es sonst schon der Fall ist. Nun, Professor Windhoff musste zwar nicht direkt arbeiten – immerhin befand er sich im 1.-Klasse-Abteil eines internationalen Schnellzuges, sehr komfortabel und ausgestattet mit Radio, eigener Toilette und Liegesitzen –, aber es war doch ratsam, die mitgenommenen Unterlagen noch ein letztes Mal zu überprüfen, bevor man morgen zu der entscheidenden Sitzung zusammenkommen würde. Man, das waren zunächst er selber, Professor Alexander Windhoff, Leiter der Entwicklungsabteilung bei der ‚Vereinigte Motorenwerke Süddeutschland AG‘, Sitz Offenburg, sodann Johannes Gruiten, der Direktor dieser Firma, Herr Lindholm, der Direktor und Eigentümer der gleichnamigen Firma in Stockholm und Dr. Habeas Mjölby, der Leiter der Entwicklungsabteilung bei Lindholm und somit ihm, Professor Windhoff, gleichrangig. Da die Sitzung in Stockholm stattfinden sollte, befanden sich Gruiten, Professor Windhoff und noch ein Herr namens Sneider in einem Abteil des ‚Stockholm-Kurier‘, in den sie, von Offenburg kommend, in Hannover zugestiegen waren, um das Reiseziel zu erreichen.
„Nun hören Sie doch endlich auf, sich den Kopf wegen der morgigen Verhandlungen zu zerbrechen, Professor", hörte Professor Windhoff die gutmütige Stimme seines Chefs mitten in seine Gedanken hinein, „er raucht ja schon fast!"
Da sich der Professor nun in seinem Gedankengang unterbrochen sah, konnte er sich auch an dem Gespräch beteiligen und hob deshalb den Kopf. „Tut mir leid, Herr Direktor, aber ich glaube, dass es unerlässlich ist, meine Konstruktionszeichnungen noch einmal auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, damit wir morgen etwas in der Hand haben, was die Schweden veranlasst, mit uns in Verhandlung zu treten.“
„Schon, schon", beschwichtigte ihn Gruiten, „aber denken Sie doch einmal daran, dass heute Silvester und gleich Mitternacht ist … Ah, da kommt schon der bestellte Sekt", unterbrach er seine eigenen Worte, als sich die Abteiltür öffnete und ein Angestellter der DSG drei Flaschen brachte. Gruiten nahm sie an sich, gab dem Kellner ein Trinkgeld und verteilte die Flaschen. Auch Herr Sneider ging nicht leer aus; gerne wäre sich Professor Windhoff über dessen Stellung innerhalb der VMS-Werke klar geworden. Gering konnte sie nicht sein, das war schon aus der gewissen Hochachtung zu ersehen, mit der der Direktor ihn behandelte. Auch war dem Professor unbekannt, warum dieser Herr Sneider sie begleitete. Da er jedoch bisher auf diesbezügliche Fragen nur ausweichende Antworten erhalten hatte, hatte er schließlich aufgegeben, danach zu forschen.
In diesem Augenblick sah man die ersten Leuchtkörper am Himmel aufglühen und der Lautsprecher verkündete: „In wenigen Sekunden ist es Mitternacht!" Als der Gongschlag erklang, waren die Gläser bereits gefüllt und Direktor Gruiten sagte: „Alsdann, meine Herren, Prosit Neujahr und auf gutes Gelingen unseres Projekts!" „Gleichfalls!" und „Prosit Neujahr!" schallte es ihm entgegen. Die schneidende Stimme Sneiders erklang: „Ich glaube, wir können das neue Jahr, das soeben angebrochen ist, symbolhaft als den Beginn einer neuen Epoche betrachten: der Epoche des Atommotors, und wir, die Süddeutschen Motorenwerke, werden sein Wegbereiter sein!"
„Nun, meine Herren, ganz so optimistisch wollen wir doch nicht sein", gab Professor Windhoff zu bedenken, „wir sollten nicht vergessen, dass es Atommotoren schon in den 50er Jahren gegeben hat, wenn sie auch so groß und plump waren, dass man sie nur in Schiffe einbauen konnte. Außerdem waren es im Grunde nichts als Dampfmaschinen, die statt eines Feuerchens unter dem Kessel einen Brocken radioaktiven Stoffes im Reaktor hatten. Die eigentlichen Wegbereiter des zukünftigen Atommotors, das heißt des Elektromotors mit Kernbatterie, sind jedoch nicht wir, sondern die Sowjets, die ja nicht nur bereits einen derartigen funktionstüchtigen Motor entwickelt haben, sondern ihn sogar schon planmäßig auf der neuen Eisenbahnstrecke Moskau – Leningrad einsetzen."
„Sicher, sicher! Aber überlegen Sie doch einmal, Professor, was für ein riesiges Ding die Atomlok ist. Sie ist über 40 Meter lang, wiegt fast 1000 Tonnen und hat bei einer Spurweite von 3,15 Metern doch nur 30.000 PS, oder, wie man heute sagt, ungefähr 22.200 kW; unsere modernen konventionellen E-Loks leisten immerhin fast halb so viel; wir brauchen also nur zwei unserer kleinen Loks hintereinander zu hängen und erreichen das gleiche. Wo bleibt denn da der Fortschritt?"
„Der Fortschritt liegt darin, dass über den Gleisen keine Drähte mehr notwendig sind; Sie wissen doch, dass die Gleislegung, verglichen mit den Kosten, die der Bau einer Autobahn verursacht, verhältnismäßig billig ist, dass die Elektrifizierung einer Strecke jedoch fast so teuer wie der Bau der besagten Autobahn ist. Hinzu kommen die vielen Kraftwerke, Unterwerke und Speisungsstellen, dann die Sturmempfindlichkeit und was weiß ich noch alles! Man elektrifiziert Strecken ja nur deshalb, weil sie sich doch – wenn auch auf Jahrzehnte hinaus – rentieren, eben weil ein Elektromotor, der ungefähr die gleiche Größe und das gleiche Gewicht wie ein Verbrennungsmotor hat, ungefähr das Dreifache leistet. Wenn es nun gelänge, den Strom direkt in der Lok oder im Auto, oder was man gerade antreiben will, zu produzieren, hätte der Elektromotor bei allen erdgebundenen Fortbewegungsmitteln endgültig gesiegt. Meiner Ansicht nach ist der Versuch, das Ziel über die Kernbatterie erreichen zu wollen, ein Irrweg. Ich glaube, dass es sehr viel sinnvoller ist, den Strom direkt aus den Elementen zu beziehen.“
„Ich weiß, Herr Professor, schließlich haben wir uns darüber oft genug unterhalten! Sie wissen aber genau, dass unsere Firma auf die Entwicklung einer kleinen, leichten Kernbatterie spezialisiert ist, die zudem zuverlässig und unfallsicher sein muss.
Sie hingegen versuchen immer wieder, mich für Ihre Vorstellungen, die ich persönlich für höchst utopisch halte, zu erwärmen. Aber lassen Sie sich gesagt sein, dass …“
Hier griff zum ersten Mal Sneider, der sich für technische Dinge nicht sonderlich zu interessieren schien und deshalb bisher geschwiegen hatte, in die über Gebühr hitzig zu werden drohende Diskussion ein: „Aber meine Herren", versuchte er zu beschwichtigen, „warum regen Sie sich denn so auf'? Denken Sie doch bitte daran, dass wir Neujahr haben und sehen Sie hinaus; Sie versäumen ja all die herrlichen Farbfontänen vor dem Fenster."
Erst jetzt sahen auch die beiden anderen, dass es draußen fast taghell geworden war; der Zug befand sich bereits im Weichbild der Stadt Lübeck, und überall stiegen grellbunte Lichtkometen gen Himmel, fuhren im Zickzackkurs irgendwelche Knallfrösche umher, wie festgefrorene Blitze aussehende gelbe Streifen hinterlassend, und entfalteten sich wie Blüten aussehende Farbozeane vor schwarzem Hintergrund. „Wie schön", murmelte Direktor Gruiten, fast ergriffen, vor sich hin. Bis an die Grenze des Sichtbaren, weit über den Horizont hinaus, eröffnete sich dem Betrachter das bunte Spiel und ließ den Eindruck entstehen, dass die gesamte Erde von einer Sonne umgeben sei, die wahllos üppige Licht- und Farbenspiele zu ihrem Trabanten schickte.
„Schade, dass das nicht vor zwanzig Jahren stattfindet; damals hätten wir noch die Fenster öffnen können und die entsprechende akustische Untermalung gehabt", meinte Gruiten.
„Damals waren die Feuerwerke aber längst nicht derart prächtig", warf Professor Windhoff ein, „außerdem hätten wir zwar die Fenster öffnen können, wären aber dafür auch nicht in den Genuss einer Klimaanlage gekommen. Es hat eben alles zwei Seiten. Ich muss sagen, dass es mir so, ohne Ton, wesentlich besser gefällt. Sie sieht viel gespenstischer aus, diese lautlose Farbenpracht."
In diesem Augenblick fuhr der Zug in den Lübecker Hauptbahnhof ein, dessen gewaltiges Tonnendach die Sicht verdeckte und so den Zauber zerstörte. Sneider schaltete das Licht wieder ein, das er vor ein paar Minuten unbemerkt gelöscht hatte. Als der ‚Stockholm-Kurier‘ den Bahnhof verließ, war die Herrlichkeit vorbei und man sah nur noch vereinzelt Leuchtkörper aufsteigen.
„Es ist in gewisser Weise bemerkenswert", ergriff Sneider nach einer längeren Zeit des Schweigens, das eine leichte Rührung der Drei offenbarte, schließlich wieder das Wort, „innerhalb von fünf Minuten mehrere Millionen verpulvert. Nicht nur bemerkenswert, sondern sogar beinahe verantwortungslos."
„Schon", stimmte Professor Windhoff zu, „ganz kühl und nüchtern betrachtet, haben Sie recht. Doch hat man es miterlebt, gibt es einem das Gefühl, dass es sich gelohnt hat.“
„Ich glaube, es ist müßig, sich darüber zu unterhalten, ob diese Ausgabe sinnvoll ist oder nicht", sagte Direktor Gruiten, „jedenfalls ist sie nicht zu ändern!“
„Sie haben recht, Herr Direktor", erwiderte Professor Windhoff, „ich möchte eher das vorhin unterbrochene Gespräch fortsetzen. Leider sind wir, glaube ich, etwas vom Thema abgekommen, indem wir wie immer bei unserem Generalthema gelandet sind, obwohl wir inzwischen wissen sollten, dass Diskussionen darüber zwischen uns stets ergebnislos enden.
Es ging, wenn mich nicht alles täuscht, darum, wer das Recht der erstmaligen Nutzbarmachung des Atommotors für sich reklamieren darf, und um die Vorteile des Elektromotors gegenüber allen anderen erdgebundenen Antrieben, denn um einen solchen handelt es sich ja schließlich bei dem sogenannten Atommotor.
Nun, bei Punkt 1 muss ich Ihnen widersprechen. Es dürfte ziemlich außer Zweifel stehen, dass den Russen hier der Lorbeer gebührt, und Sie wissen wahrscheinlich auch, warum; weil nämlich die Amerikaner und mit ihnen die Europäer, die trotz der ungeheuren geistigen und finanziellen Anstrengungen, die investiert wurden, erst allmählich Fuß fassen. Als sie ihr Raumfahrtprogramm forcierten und als ‚Belohnung‘ dafür auch als Erste auf dem Mars waren, vergaßen sie zum Ausgleich die Verkehrsprobleme des eigenen Planeten, während die Sowjetunion ihr Weltraumprogramm gehörig zurückgesteckt hatte und statt dessen das bisher beste, sicherste und vor allem billigste weiträumige öffentliche Verkehrsmittel entwickelt hat das zudem noch fast so schnell ist wie das Flugzeug, denn bei dieser Spurweite reicht die berühmte, fast zweihundert Jahre alte Schotterunterlage für Geschwindigkeiten bis zu 300-350 km/h dicke aus. Schneller zu fahren ist unnötig, da man bei diesem Tempo für keine Reise mehr als einen Tag braucht, und für ganz Eilige gibt es immer noch die Telegrafie. Nein, Herr Direktor, wir dürfen uns nicht anmaßen, als Erfinder der ‚drahtlosen E-Lok‘, wenn ich einmal so sagen darf, gelten zu wollen; an uns ist es lediglich, diese Antriebsart noch billiger und leistungsfähiger zu machen, dazu so kleindimensionierte Motoren zu entwickeln, dass sie eines Tages auch in Autos eingebaut werden können, damit diese nicht noch in hundert Jahren mit ihren stinkenden, unzuverlässigen und leistungsmäßig unzulänglichen Verbrennungsmotoren herumfahren!"
Direktor Gruiten hatte der satzbaumäßig fragwürdigen, aber leidenschaftlichen Rede schweigend zugehört. Nun sagte er begütigend: „Hm-m! Vielleicht haben Sie recht! Aber selbst dann könnte es uns noch gelingen, auf bestimmten Gebieten Pionierarbeit zu leisten. Ich denke noch nicht an eine Verwendung der Kernbatterie im Auto; mein nächstes Ziel ist ihre Verwendung in herkömmlichen Eisenbahnen."
„Dann würde die Bundesbahn sich vielleicht ärgern. Über 15.000 Streckenkilometer umsonst elektrifiziert", warf Sneider mit seiner leicht spöttisch klingenden Stimme ein. „Nun, nun", verteidigte Professor Windhoff seine Argumentation, „ich meinte das nur als Ausblick auf die Zukunft; vorläufig sind wir ja noch nicht einmal so weit, dass wir einen kompletten atomelektrischen Antrieb für die neuen Breitspureisenbahnen anbieten können; wir befinden uns schließlich im Versuchsstadium. Ich muss jedoch sagen, Herr Direktor, dass ich nicht an die Zukunft der herkömmlichen Bahnen glaube, denn die Spurweite ist einfach zu gering, als dass man die Geschwindigkeit noch wesentlich erhöhen könnte. Das russische Modell ist hingegen das bisher beste Konzept, was Kosten, Sicherheit und Schnelligkeit betrifft. Dieser Ansicht scheinen wir hier im alten Europa auch zu sein, denn man baut ja bereits eine Strecke gleicher Spurweite von Köln nach Stockholm."
„Das dürfte eher ein Triumph des fortschrittlichen Geistes sein, mein lieber Professor, denn wie Sie wissen, muss der Schnellzug Paris – Moskau heute noch in Brest umgespurt werden, ein Relikt aus prähistorischer Zeit. Aber etwas anderes: Sie nannten Punkt 1, was aber beinhaltet ihr Punkt 2, den Sie uns bis jetzt vorenthalten haben?"
„Ach so! Den hatte ich nur eingeplant, um auch etwas zu haben, worin ich Ihnen zustimme, denn die großen Vorteile des Elektromotors – hohe Leistungsfähigkeit, Einfachheit der Wartung und nicht zuletzt seine Sauberkeit und unübertroffene Umweltfreundlichkeit – sind die einzigen Gründe, die uns, Herr Direktor, zusammenarbeiten lassen. Sie wissen genau, dass ich im Grunde das Ziel auf einem anderen Wege zu erreichen hoffe als Sie. Meiner Ansicht nach sind Kernbatterien und Atomreaktoren überhaupt nicht geeignet für inneratmosphärische Aufgaben, da …“
„Darf ich Sie daran erinnern, dass gestern, also Silvester in fünf Jahren, der erste Breitspurzug von Köln nach Stockholm fahren soll? Um Ihren Ideen – die, wie ich zugeben will, eines Tages möglicherweise verwirklicht werden könnten – zum Durchbruch zu verhelfen, müssten wir eine Entwicklungszeit von ungefähr zehn Jahren einkalkulieren, und diese Zeit haben wir einfach nicht."
Professor Windhoff widersprach ungestüm, und es entspann sich wiederum eines jener Gespräche, wie sie schon oft und fruchtlos zwischen Direktor Gruiten und Professor Windhoff stattgefunden hatten und Sneider nun zu einem inneren Schmunzeln Anlass gaben. Es ist darum zwecklos, das Trio weiter zu begleiten; wir blenden vielmehr anderthalb Tage weiter in einen Raum der ‚Neue Rheinische Kraftwerkunion KG‘ in Köln, die bekanntlich die erbittertste Konkurrenz der Vereinigten Motorenwerke ist.
Es ist immer sehr betrüblich, wenn man nach einer langen Reihe von Feiertagen, wie das beim Weihnachts- und Neujahrsfest der Fall ist, die in idealer Weise hintereinanderliegen, wieder zur Arbeit muss; noch schlimmer ist es, wenn man keine Ahnung hat, was in den kommenden Wochen auf einen zukommen mag. In dieser Situation befand sich nämlich Herr Schmidt am 2. Januar um acht Uhr morgens, als er wieder einmal den gefürchteten langen Gang zum Büro seines Chefs Zimmer ging, und war dementsprechend schlechter Laune. Hinzu kam sein immer noch andauernder Kater von der Neujahrsnacht.
Justus Zimmer war der Leiter der Spionageabteilung der NRK und Karl-Dietrich Schmidt einer seiner Angestellten. Der lange Gang, wie ihn Zimmers Mitarbeiter heimlich nannten, war bei diesen berüchtigt, denn er führte zur Zentrale der Spionageabteilung, von der aus der respektgebietende, aber nichtsdestoweniger beliebte Zimmer seine Aufträge bekanntgab, die stets wesentlich weniger beliebt waren als er selbst. So konnte man unversehens in irgendeine Fabrik in Marokko oder im Hindustan geschickt werden, falls durchgesickert war, dass man dort möglicherweise im Begriff ist, eine neue Erfindung auf bessere Weise als die NRK selbst zu fördern oder zu entwickeln, oder überhaupt eine Erfindung zu machen, die würdig wäre, von ihr selbst ausgenutzt zu werden, oder, nicht zuletzt, wenn dort ein besseres System zur Spionage oder Spionageabwehr eingesetzt wird als hier.
Kein Wunder also, dass Schmidt mit ziemlich gemischten Gefühlen auf Zimmers Tür zusteuerte, sich zum tausendsten Mal fragend, warum um alles in der Welt er wohl diesen Beruf ergriffen hätte. Man musste mehrere Sprachen beherrschen, auch sonst ein ziemlich heller Kopf sein, man durfte nicht heiraten und musste alle Nase lang woanders leben und eine andere Rolle spielen; außerdem bestand immer die Gefahr, dass man am Ort der Tätigkeit unversehens verhaftet wurde, ohne dass die Abteilung den Versuch machte, ihn herauszuholen; in diesem Fall wurde er einfach aufgegeben. Höchstens hoffte die Firma, dass es ihm gelänge, sich selbst hinauszuwinden und wieder bei ihr zu melden, um den nächsten Auftrag entgegenzunehmen. Und bezahlt wurde das alles geradezu lausig. Er unterbrach sein Grübeln, als er vor der Tür stand. Er klopfte an und trat ein.
„Ah, mein lieber Schmidt, setzen Sie sich!'' empfing ihn sein Chef, „ich habe wieder etwas Besonderes für Sie!"
Na, das kann ja heiter werden, wenn er so freundlich ist, dachte Schmidt bedrückt.
Aber so schlimm wurde es gar nicht. „Es handelt sich um unsere alten Freunde, die Vereinigten Motorenwerke. Deren wichtigsten Köpfe sind in der Neujahrsnacht nach Schweden gefahren; vermutlich haben sie gestern geheime Kooperationsgespräche mit Lindholm geführt. Mit den wichtigsten Köpfen meine ich Gruiten, Professor Windhoff und vor allem diesen Sneider. Ich möchte wissen, was der bei den Verhandlungen verloren gehabt haben mag."
„Ja und, was soll ich da tun?"
„Sie haben drei, nein! sogar vier Aufgaben: Zum Einen sollen Sie herausfinden, was Sneider in Stockholm wollte, zum Zweiten, was die beiden Verbündeten ausgeheckt haben, zum Dritten, woran die Motorenwerke eigentlich arbeiten und zum Vierten, und das ist Ihre wichtigste Aufgabe, sollen Sie versuchen, Professor Windhoff für uns abzuwerben.“
„Nun gut; aber wissen Sie wenigstens ungefähr, woran man bei denen arbeitet?"
„Das wissen wir schon; es geht um die Entwicklung eines wirtschaftlichen atomelektrischen Antriebs. Die Motorenwerke wollen, soviel mir bekannt ist, den Durchbruch mittels herkömmlicher Kernbatterien erzielen, also auf die gleiche Art wie die Russen bei ihren neuen Atomloks auf der vor kurzem eröffneten Breitspurstrecke Moskau – Leningrad. Allerdings sollen die jetzigen Kernbatterien der Motorenwerke gegenüber den russischen bereits einen beträchtlichen Fortschritt darstellen …“
„Was geht das denn uns an? Soweit ich weiß, sind wir ein Kraftwerk und beschäftigen uns lediglich nebenbei mit neuen Antriebsarten. Unsere Hauptaufgabe ist nach wie vor, das halbe Ruhrgebiet mit Strom zu versorgen."
„Dass Sie sich da nicht täuschen! Wie Ihnen zu Ohren gekommen sein dürfte, hat die Deutsche Bundesbahn eine Art Preisausschreiben veranstaltet, welche Firma imstande sei, innerhalb von fünf Jahren einen Antrieb zu entwickeln, der jene Bedingungen erfüllt, die in jedem amtlichen Mitteilungsblatt der DB zu lesen sind. Das Hauptaugenmerk richtet die Bundesbahn dabei auf die Motorenwerke, aber es gibt natürlich noch mehrere andere Firmen, die gut im Rennen liegen, darunter auch – jetzt halten Sie sich fest – uns. Das zu Punkt 2 und 3, denn die Offenburger scheinen allein nicht mehr zurechtzukommen, ebenso Lindholm, das sich an einem gleichartigen Wettbewerb von schwedischer Seite beteiligt und das sich deshalb mit den Motorenwerken zusammentun will.
Punkt 1 ist von sich aus einleuchtend, denn wenn der Offenburger Oberspion sich persönlich herablässt, sich zu einem Verhandlungspartner zu begeben, dann muss dieser schon einiges zu bieten haben. Ich meine jetzt speziell auf dem Gebiet der Spionage und Spionageabwehr; also passen Sie bloß auf, Herr Schmidt! Wer weiß, was Sneider und sein schwedischer Kollege, den ich leider nicht kenne, ausgetüftelt haben … Warum grinsen Sie so?"
„Ach, ich denke nur daran, dass Sie von den Stockholmern und Offenburgern fast wie von einer Gangsterbrut sprechen. Darf ich Sie daran erinnern, dass wir schon seit Jahren mit den japanischen Buzzard-Werken ähnlich kooperieren wie es jetzt die Motorenwerke mit Lindholm versuchen?"
Jetzt musste auch Zimmer lächeln. „Gut, eins zu null für Sie, aber es liegt nun mal im Menschen, sich möglichst viele Vorteile verschaffen zu wollen und dasselbe, tun es andere, zu verurteilen. Na schön, aber nun zu Punkt 4! Wie wir feststellen konnten, befindet sich Professor Windhoff in den Motorenwerken auf ziemlich verlorenem Posten, weil er im Grunde ganz andere Pläne verfolgt als seine Vorgesetzten. Ich verstehe nicht viel von Technik, aber Professor Windhoff scheint irgendwie Strom direkt aus Wasserstoff oder einem anderen Element produzieren zu wollen, also ein Knallgasgebläse als Stromerzeuger oder so ähnlich; Sie werden sich jedenfalls näher damit beschäftigen müssen. Wie dem auch sei, wir versuchen das Ziel auf gleiche Weise zu erreichen wie der Professor. Sie sehen, das passt alles großartig zusammen. Und da der Professor eine Art Genie zu sein scheint, der sich nur deshalb nicht entfalten kann, weil er in Offenburg am falschen Ort ist, wir andererseits, wie mir der Direktor vertraulich mitgeteilt hat, so ziemlich am Ende unserer Weisheit sind, dürfte es Ihnen nicht allzu schwer fallen, den Professor zu uns herüberzuziehen. Sie bekommen die Vollmacht, alle nur möglichen technischen Hilfsmittel und ein Gehalt von fast unbeschränkter Höhe zu bieten.
So, das wäre, glaube ich, alles."
Während Schmidt sich erhob, fügte der Spionagechef hinzu: „Ich glaube, das ist kein allzu schlimmer Auftrag für Sie.
Nehmen Sie an irgendeiner Nervenzelle eine Arbeit an, notfalls bestechen Sie einen … Na, Sie kennen das ja! Und ich bitte Sie: Passen Sie auf Sneider und seine Spürhunde auf!"
„Vielen Dank, Herr Zimmer!" sagte Karl Schmidt; die beiden Männer tauschten einen Händedruck, dann drehte Schmidt sich um und verließ den Raum, mit gestellten Weichen für die kommenden Wochen oder Monate seines Lebens. –
Die Rückfahrt aus Stockholm verlief wesentlich schweigsamer als die Hinfahrt, größtenteils deshalb, weil die Gruppe zu zwei Dritteln unbefriedigt von der vorangegangenen Unterredung war. Direktor Gruiten hatte erkannt, dass man bei Lindholm weiter war als in Offenburg, was hauptsächlich auf eine neue Legierung zurückzuführen war, die man in Stockholm entwickelt hatte und die eine gegen radioaktive Strahlung besonders wirksame Abschirmung aufwies; so konnten die schweren, dicken Stahl- und Bleiplatten gespart werden, die das Hauptgewicht eines Atomreaktors ausmachen. Eine nach schwedischem Muster gebaute Lok hätte heute schon, bei gleicher Größe und gleichem Gewicht wie die sowjetische, das Doppelte an Leistung. Die Schweden konnten praktisch heute schon mit ihrer Konstruktion an die Öffentlichkeit treten. Dass sie es nicht taten und sich, obwohl sie es nicht nötig hätten, trotzdem mit den Motorenwerken auf einen Kooperationsvertrag einließen, hatte er nur diesem Dr. Mjölby zu verdanken, der mit dem Erreichten noch nicht zufrieden war und sich von den Motorenwerken weitere Impulse erhoffte. Dass der Vertrag sehr zu Gunsten der Lindholrnwerke ausgefallen war, war unter diesen Umständen zwar nachvollziehbar, für Direktor Gruiten aber nichtsdestoweniger sehr bedauerlich.
Noch unzufriedener war Professor Windhoff, denn er hatte erkennen müssen, dass man auch in Schweden nicht viel von seinen Vorstellungen hielt. Er war sich darüber im Klaren, was bei den anderen offensichtlich nicht der Fall war, nämlich, dass die Entwicklung der Kernbatterie an ihrem Ende angelangt war. Sicher, vielleicht erfand man einmal eine noch geeignetere Legierung, durch die man ein paar weitere Kilo zu sparen in der Lage wäre, oder es würden einige andere Verbesserungen eingeführt, aber im Grunde war der atomelektrische Antrieb ein unförmiges Ding, das höchstens für Schiffe oder Breitspureisenbahnen verwendbar war. Für Autos oder auch nur Normalspurbahnen war er schlichtweg nicht geeignet.
Es gab aber noch etwas anderes, das Professor Windhoff davon abhielt, den Atom-Elektromotor wie viele seiner Kollegen in den Himmel zu heben: Die Angst. Er wusste, dass er, würde er seine diesbezüglichen Bedenken laut äußern, sich vielerorts nur lächerlich machen würde, und die Spötter würden auf die vielen Kernkraftwerke hinweisen, die seit Jahrzehnten existierten, von denen es inzwischen Tausende gab und bei denen bis heute nichts passiert war. Kein Wunder, denn man achtete streng darauf, dass die ‚kritische Masse‘ weit unterschritten blieb und die radioaktive Strahlung durch dicke Bleiplatten völlig abgeschirmt wurde. Ein Atomkraftwerk konnte sich also im wahrsten Sinne des Wortes ‚mangels Masse‘ nie in eine Atombombe verwandeln, und die radioaktive Strahlung konnte nur mittels einer Bombe freigesetzt werden, was höchstens im Kriegsfall geschehen mochte, und dann, meinten die meisten Leute, käme es auf ein weiteres Missgeschick auch nicht mehr an. Letzteres konnte jedoch bei einer Atomlok, im Gegensatz zu ersterem, leicht geschehen, denn jedes Verkehrsmittel, sei es auch noch so sicher, war unfallgefährdet. Was passierte, sollte einmal eine Atomlok, aus welchem Grund auch immer, aus den Gleisen kippen und die Panzerung, die die radioaktive Strahlung davon abhielt, in der Außenwelt Unheil anzurichten, beschädigt werden, konnte sich jeder, der einmal Bilder von Strahlungsgeschädigten aus Hiroshima gesehen hatte, leicht ausmalen.
Deshalb verfolgte Professor Windhoff seit Jahren einen anderen Weg, auch wenn er ihm bisher nur Ärger und geringes Ansehen eingebracht hatte; er wollte versuchen, Wärmeenergie, die man auf beliebige Weise und in beliebiger Menge herstellen konnte, in elektrische Energie umzuwandeln. Er war immer wieder überrascht und enttäuscht, auf wie wenig Resonanz er mit dieser Vorstellung in seiner Umgebung stieß. Er hatte diesen Posten bei den Süddeutschen Motorenwerken nur angenommen, weil er gehofft hatte, Direktor Gruiten von der Richtigkeit seiner Ideen überzeugen zu können. Inzwischen arbeitete er seit zwei Jahren mit ihm zusammen, ohne auch nur einen Millimeter vorangekommen zu sein; er sah mehr und mehr ein, dass er sich in dieser Firma am falschen Platz befand. Er wusste aber nicht, wohin er sich nach einer eventuellen Kündigung wenden könnte, denn von Forschungen, die auf seiner Linie lagen, war ihm nichts bekannt.
Der einzige, der über die Ergebnisse dieser Reise glücklich war, war Sneider, der Chef der Spionageabteilung der VMS AG. Der Zweck seiner Begleitung hatte natürlich weniger im technischen Bereich gelegen als vielmehr darin, die neuen Methoden zur Ausfindigmachung von Werkspionen, die Professor Arnulf Jonasson, der Chefpsychologe der Lindholm-Werke, entwickelt hatte, zu erfahren. Sneider musste lächeln, als er an die Begegnung zurückdachte. Was für ein schlauer Fuchs! „Ich gehe davon aus", hatte dieser sinngemäß gesagt, „dass theoretisch jeder Mensch nach seinem Äußeren, seiner Handschrift, seinen Bewegungen usw. beurteilt werden kann. Das heißt natürlich nicht, dass jeder Psychologe auf Anhieb erkennen könnte, wen er vor sich hat, zumal sich unter Umständen einzelne Erkennungszeichen einer Persönlichkeit widersprechen können. Trotzdem lassen sich Charakter, allgemeine Verhaltensweisen, also ob einer mehr zum Phlegmatiker oder Sanguiniker neigt, und augenblicklicher Gemütszustand nach einem längeren Gespräch mit ziemlicher Sicherheit feststellen.
Der immer noch viel geschmähte, aber heutzutage unentbehrliche psychologische Test ist gewissermaßen Ersatz für dieses Gespräch, für das bei Masseneinstellungen oder psychologischen Nachprüfungen ganzer Belegschaften einfach nicht genügend Zeit und Psychologen zur Verfügung stehen.
Ich habe nun", war Professor Jonasson fortgefahren, indem er hinter sich gegriffen und einen Stoß Papiere zur Hand genommen hatte, „selbst einen Test entwickelt. Hier ist er“, und hatte die Papiere vor Sneider auf den Tisch geknallt.
„Wie Sie wissen, gibt es verschiedene Testarten: Intelligenztests, Eignungstests, Harmonietests zwischen Ehepaaren usw. Bei all‘ diesen Tests kommt am Schluss eine Maßzahl heraus, die idealerweise die Menge der erfüllten Bedingungen, die gefordert waren, angibt. Manchmal ist es auch nicht so, das ist allgemein bekannt, denn einige Testverfahren sind ausgesprochener Humbug, aber das nur nebenbei. Mit meinem Test sondere ich zielgerecht die Gesuchten von den anderen ab. Wer über der geforderten Zahl liegt, ist geeignet, die anderen eben nicht. Im Grunde ist also der Messwert lediglich ein zusätzlicher Kundendienst, der dem Tester angibt, in welchem Maß der Kandidat geeignet oder das nicht ist. Für meine Zwecke ist das nicht nötig; ich will nur herausfinden, ob einer Spion ist oder nicht.
Es genügt also als Ergebnis ein ‚Plus‘ oder ein ‚Minus‘. In dreijähriger Arbeitszeit habe ich einen Test ausgearbeitet, der mit, wie ich meine, hundertprozentiger Sicherheit durch dieses ‚Plus‘ oder ‚Minus‘ aussagt, wer ein Werkspion ist oder nicht.
Sie werden die Fragen vielleicht etwas merkwürdig finden, aber es interessieren schließlich nicht Geburtsort oder -jahr, sondern vielmehr die Neigungen, geheimen Wünsche und Komplexe des Bewerbers. Der Fragebogen ist so konzipiert, dass die scheinbar harmlosen Fragen einen Widerspruch im Gedankengang eines Spions entlarven, denn jeder Mensch ist so mit Komplexen und Vorurteilen beladen, dass sich ein geschlossenes Bild ergibt, wenn er es ehrlich meint. Meint er es nicht ehrlich, wird er reflexartig gewisse Komponenten, wenn auch unbewusst, zu unterdrücken versuchen. Ein geschickt aufgebauter Fragenkatalog wird diese Widersprüche unzweideutig aufdecken und, trotz einer gewissen Toleranzbreite, den Bewerber eindeutig klassifizieren."
Mit diesen Worten hatte Professor Jonasson Sneider die Testbögen übergeben. Der konnte zwar aufgrund mangelnder psychologischer Grundkenntnisse nicht beurteilen, ob und wie weit die Angaben des Professors stimmten, aber das war nur umso besser, denn desto schwieriger würde ein vollkommener Laie die ihm darin gestellten Fallen zu erkennen vermögen, falls sich der Test bewähren sollte. Und wenn er sich bewährte, würde sich das viele Geld, das die Motorenwerke dafür zu zahlen hatte, sicherlich lohnen.
Denn Sneider rechnete in Kürze mit Besuch: Er wusste nämlich, dass die Rheinische Kraftwerkunion sich ebenfalls mit dem von ortsfesten Anlagen unabhängigen Elektromotor befasste, und er wusste auch, dass sie so ziemlich am Ende ihres Wissens angelangt waren. Und er wusste noch etwas, was außer ihm niemand ahnte: Die Union versuchte der Lösung auf die gleiche Art näherzukommen wie Professor Windhoff es seit zwei Jahren bei Direktor Gruiten durchzusetzen versuchte. Es war also anzunehmen, dass man, falls das bei der Union bekannt war, jedenfalls versuchen würde, ihnen den Professor abzuwerben. Das hingegen konnte er nicht zulassen, denn die Motorenwerke waren ohne diesen – was ihm natürlich keiner gesteckt hatte, er sich jedoch an den fünf Fingern hatte abzählen können – praktisch aufgeschmissen. Sneider lehnte sich in dem bequemen Polster zurück. Sollen sie nur kommen, dachte er grimmig, ich bin gerüstet. –
Es gab aber noch jemanden, der ein gewisses Interesse an den offenburg‘schen Errungenschaften an den Tag legte, und dieser Jemand war Pjotr Wogolsk, der Direktor der Lokomotivwerke Woroschilowgrad zu Lugansk. Auch er war sich darüber im Klaren, dass die von seiner Firma gelieferten Atomlokomotiven, die jetzt den regulären Dienst auf der neuen Breitspurstrecke Moskau – Leningrad versahen, längst nicht der Weisheit letzter Schluss waren. Da er aber auch wusste, dass man in Deutschland fieberhaft an neuen Antriebsmöglichkeiten arbeitete, bestellte auch er am 2. Januar seinen Leiter der Spionageabteilung, Peter Arnowitsch, zu sich.
„Setz dich doch, Peter", begrüßte er ihn gleich beim Eintritt, „ich nehme an, du weißt schon, worum es geht. Ich habe hier – bei diesen Worten blätterte er in einigen deutschen Zeitungen herum, die vor ihm auf dem Tisch lagen – einige Berichte, in denen gerüchteweise von ein paar sensationellen Fortschritten in Punkto atomelektrischer Superantrieb die Rede ist. Erwähnt werden mehrere Firmen, der am meisten auftauchende Name ist jedoch zweifellos der der Offenburger Vereinigten Motorenwerke Süddeutschland. Du weißt, dass das Zentralkomitee von uns ungeduldig neue Entwicklungen erwartet. Da unsere Techniker jedoch dazu nicht in der Lage zu sein scheinen, ist es unerlässlich, dass du einen guten Mann nach Offenburg schickst, der uns die dortigen Neuerungen verschaffen kann, damit wir wenigstens die zum Vorweisen haben."
„Das lässt sich leicht machen; ich werde Ludwig Valveta, unseren besten Agenten, schicken", dachte Peter Arnowitsch mehr laut als dass er es zu seinem Chef sagte, „der Mann ist Deutschrusse und kann genauso gut deutsch wie russisch; niemand wird ihm in Deutschland den Ausländer anhören …“
„Das ist deine Sache; ich erwarte nur schnelle Erfolge", unterbrach ihn der Direktor. „Damit werde ich dir bald dienen können, Pjotr", erwiderte Arnowitsch und verließ den Raum. So kam es, dass sich von ganz anderer Seite noch jemand auf den Weg nach Offenburg begab.
Hier steh' ich nun, ich armer Tor, und bin nicht klüger als zuvor, dachte sich Karl Schmidt, als er die Stellenanzeigen durchgelesen hatte.
Seit etwa einer Woche studierte er sie ergebnislos im ‚Offenburger Tageblatt‘; die Motorenwerke suchten offenbar niemanden. Zwar hatte er bereits auf ihm verdächtig erscheinende Anzeigen, die unter Chiffre erschienen waren, geschrieben, aber stets waren es andere Firmen gewesen, die annonciert hatten. Auch auf die jetzt noch laufenden Schreiben wagte er nicht viel Hoffnung zu setzen.
Entmutigt ließ er das Blatt sinken und begann beinahe verzweifelt in dem Zimmer, das er sich gemietet hatte, auf und ab zu gehen. Mist, dachte er, Zimmer erwartet wöchentlich einen Bericht von mir; wie aber soll ich schreiben, wenn es mir bis jetzt noch nicht einmal gelungen ist, in der Firma unterzukommen. Du wirst alt, Karl; dazu hast du bisher immer nur zwei, höchstens drei Tage gebraucht.
Um die Schrecklichkeit dieser Erkenntnis etwas abzumildern, beschloss er schließlich, wieder einmal das nahgelegene Gasthaus aufzusuchen. –
„Entschuldigen Sie, ist dieser Platz noch frei?" unterbrach eine Stimme Schmidts durcheinanderlaufende Gedanken. „Ja, sicher“, erwiderte dieser und räumte seine mit Zeitungen vollgestopfte Aktentasche beiseite. Während der Fremde sich niederließ und nach der Speisekarte griff, fand Schmidt, mehr unbewusst, Zeit, ihn zu betrachten. Er war ein schlanker, wenn auch nicht allzu großer Mann mit weichen, fast schüchtern wirkenden Gesichtszügen.
Wegen seiner eleganten Kleidung hätte Schmidt ihn auf Anhieb als den Typ eines Juniorchefs, der seinen Posten von seinem Vater übertragen bekommen hatte und ihm nicht gewachsen war, katalogisiert.
„Entschuldigen Sie", wandte er sich erneut an Schmidt, „aber können Sie mir sagen, wo ich die Post finde? Ich bin nämlich fremd hier."
„Das bin ich zwar auch, aber wo die Post ist, kann ich Ihnen trotzdem sagen." Kein Wunder, dachte Schmidt, wenn man mehrmals täglich mit furchtbar schlechtem Gewissen daran vorbeigeht.
Wie zu erwarten war, entspann sich ein Gespräch, in dessen Verlauf Schmidt zu seinem Erstaunen zu hören bekam, dass sein Gegenüber kürzlich bei den Motorenwerken eingestellt worden war. „Wie ist Ihnen das denn gelungen? Ich suche nämlich, im Vertrauen gesagt, auch eine Stelle dort. Ich habe jedoch in der Woche, die ich jetzt die Zeitungen durchackere, kein Stellenangebot von dieser Firma entdecken können."
„Kunststück! Lassen Sie sich im Vertrauen von mir sagen, dass ich durch eine Empfehlung, durch Protektion gewissermaßen, hineingekommen bin. Andererseits, frage ich Sie, warum wollen Sie unbedingt dort anfangen? Es gibt, wie ich gehört habe, hier in der Gegend genug andere gut zahlende Firmen, die dauernd auf der Suche nach Arbeitskräften sind. Warum versuchen Sie's da nicht einmal?"
„Aus Profession, wenn ich so sagen darf. Ich bin – äh – Spezialist für Isolierplatten gegen radioaktive Strahlung, nichts Hohes, wie ich zugeben muss, aber doch ein recht guter Techniker." Schmidt atmete unhörbar auf. Wie gut, dass ihm das gerade noch eingefallen war, zumal er von dem angegebenen Wissensgebiet tatsächlich ein wenig verstand; er hatte einmal, bevor er Werkspion wurde, eine Lehre in dieser Richtung durchgemacht. „Ich glaube also, da ich weiß, dass man sich bei den Motorenwerken mit einem wirtschaftlichen atomelektrischen Antrieb befasst, dass ich dort genau am richtigen Platz wäre", schloss er harmlos.
„Das wird vielleicht sogar gehen, denn meines Wissens begnügt man sich immer noch mit einigen Starkstromtechnikern; die Reaktorplatten werden nach wie vor von den betriebseigenen Handwerkern nach Konstruktionsplan zusammengebaut. Ich glaube, da wäre ein Mann wie Sie nur zu empfehlen."
„Wären Sie …; wären Sie eventuell bereit, ein Wort für mich einzulegen? Hier meine Karte, und damit Sie wissen, wie Sie mich erreichen können." Es passte Schmidt durchaus nicht, auf diese Weise zu betteln, aber er musste in absehbarer Zeit eine Stellung bei den Motorenwerken finden, und diese Chance, die ihm vom Schicksal so unvermittelt geboten worden war, durfte er nicht verstreichen lassen.
Der andere sah ihn plötzlich so scharf an, wie Schmidt es von diesem kaum erwartet hätte. „Woher wissen Sie denn, dass ich so mächtig bin, dass eine Empfehlung nicht auf taube Ohren stößt? Vergessen Sie nicht, dass ich erst eine Woche da bin!"
„Ich weiß nicht, aber irgendwie sieht man Ihnen an, dass Sie kein Arbeiter oder niederer Angestellter sind." Der Angesprochene fühlte sich durch diese Worte offenbar geschmeichelt, denn seine so jäh gestrafften Züge entspannten sich und verwandelten sich in ein Lächeln. „Sie scheinen gute Menschenkenntnisse zu besitzen. Ich verrate Ihnen, dass ich Assistent bei Professor Windhoff – das ist der Obermächer der ganzen Forschungsabteilung – bin." Schmidt hätte fast aufgejubelt. Da hatte er schon einmal Verbindung mit einem sehr wichtigen Mann, über den er auch sicherlich viel erfahren konnte, sollte ihm der direkte Zugang zu Professor Windhoff verwehrt bleiben. Doch da fuhr sein Tischnachbar bereits fort: „Gelänge es Ihnen, den Posten, an den ich denke, zu erhalten, blieben wir also eng beisammen. Es ist zwar dumm, dass ich, kaum eine Woche da, jemanden protegiere, aber ich denke, ich kann die Notwendigkeit, einen Experten für radioaktive Strahlung einzustellen, durchaus plausibel machen.
Ich werde also versuchen, Sie bei uns einzuschleusen, denn ich glaube, dass wir gut zusammenarbeiten werden."
„Vielen Dank", sagte Schmidt, „ich werde mich, wann immer es möglich sein wird, revanchieren."
„Seien Sie nicht so siegessicher, Herr, äh, Schmidt", antwortete sein Gegenüber, „erstmal weiß ich nicht, ob man tatsächlich auf mich hören wird, und dann müssen Sie sich einer Art Eignungstest unterziehen; den müssen Sie unbedingt bestehen.
Ich muss das übrigens ebenfalls noch. Also, betrachten Sie sich bitte noch nicht als fest engagiert. Aber …; ich denke schon, dass es klappt."
Es passte Schmidt zwar nicht, dass er im Gelingensfall genau unter dem arbeiten sollte, von dem er dann total abhängig sein würde, aber einerseits war dieser gleichzeitig eine gute Brücke zu Professor Windhoff und andererseits bestimmt kein Tyrann. Naja, man muss eben nehmen, was sich bietet, dachte er. Währenddessen hatten beide sich erhoben und gaben sich die Hand.
„Also nochmals vielen Dank", sagte Schmidt, „und ich höre von Ihnen, Herr … ach ja, wie heißen Sie eigentlich?"
„Oh pardon, ich vergaß …; hier meine Karte! Und wünschen Sie mir viel Glück. Auf Wiedersehen, Herr Schmidt!"
„Auf Wiedersehen, Herr Valveta!" –
Wieder einmal hielt Zimmer einen seitenlangen Brief von Karl-Dietrich Schmidt in seinen Händen. Es handelte sich um ein für einen Unbeteiligten ermüdend langweiliges Schreiben, gerichtet an eine arme alte Tante. Für den Eingeweihten jedoch brauchte man nur auf die Blätter die richtige Schablone zu legen, um den eigentlichen Inhalt des Briefs lesen zu können, ein altbekanntes, aber sicheres Chiffre, denn die einzelnen Wörter waren durchaus nicht in derselben Reihenfolge zu lesen, wie sie auf dem Papier standen. Für jemanden, der diese Korrespondenz abfing, bestand also eine zweifache Schwierigkeit: Erst einmal hatte er herauszufinden, dass diese scheinbar harmlosen Schreiben Geheimbriefe waren, und zweitens musste er sie dann entziffern, was durch die Unzahl der Möglichkeiten so gut wie ausgeschlossen war.
Der Gedanke an dieses narrensichere System besserte jedoch Zimmers Laune nicht; sein bisher bester Agent, nämlich Schmidt, hatte sich in diesem Fall als ausgesprochen erfolglos erwiesen. Auch dieser Brief, den Zimmer jetzt in dechiffrierter Form vor sich liegen sah, verkündete keinerlei Fortschritte.
Ich bin jetzt Sicherheitsingenieur und dafür verantwortlich, dass die Reaktoren strahlungsundurchlässig sind. Ich habe festgestellt, dass sie wesentlich kleiner sind als es konventionelle mit gleicher Leistung wären; allerdings habe ich nicht in Erfahrung bringen können, wie das zugeht. Ebenso wenig weiß ich etwas von den Vorgängen in Stockholm; Direktor Gruiten sah ich nur bei meiner Einstellung und Sneider beim Eignungstest.
Professor Windhoff ist sehr mürrisch; aus ihm ist kaum etwas herauszubekommen, auch dürfte er kaum irgendwelchen Überredungsversuchen zugänglich sein. Bis jetzt leider Pleite auf ganzer Linie; tut mir leid. – Schmidt.